Der Duft von Apfelblüten

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Eine Suche nach alten Schätzen und neuen Gefühlen.

Barfuß und mit einem Glas Wein in der Hand streift Tess über die Wiesen von Bella Vista. Während sie den Blick über die Apfelplantage und die fliederfarbenen Lavendelfelder schweifen lässt, verspürt sie eine ungeahnte Sehnsucht. Das gesamte Anwesen strahlt so viel Zusammenhalt und Familiensinn aus. Tief in ihrem Herzen hat Tess sich immer gewünscht, an einem solchen Ort zu leben. Dazuzugehören.
Doch dieses Paradies geht ihr verloren, wenn es Tess nicht gelingt, den alten Familienschatz zu finden. Mithilfe ihres Großvaters, den sie bislang nicht gekannt hat, einer Halbschwester, von deren Existenz sie nichts wusste, und eines Bankers, der mehr mit dem Herzen denkt, macht sie sich auf die Suche.


  • Erscheinungstag 10.03.2014
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493072
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Der Duft von Apfelblüten

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Ivonne Senn

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Apple Orchard

Copyright © 2013 by Susan Wiggs

erschienen bei: Harlequin MIRA, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption / Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ebookISBN 978-3-95649-307-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. TEIL

Stärkt mich mit Traubenkuchen, erquickt mich mit Äpfeln;

denn ich bin krank vor Liebe.

Das Hohelied Salomos, 2,5

Äpfel sind Sinnbilder, die so viel vermitteln – Heimat, Trost, Bekömmlichkeit, Gesundheit, Wissen, Schönheit, Einfachheit, Sinnlichkeit, Verführung … und Sünde. Der Gravensteiner (auf Dänisch: Gråsten-Æble) stammt aus Gråsten in Südjütland, Dänemark. Die Früchte reichen farblich von einem hellen Gelbgrün bis zu einem tiefen Rot und haben einen säuerlichen Geschmack. Es handelt sich um eine nicht sehr lang haltbare Sorte, die am besten frisch vom Baum genossen werden sollte.

PROLOG

Archangel, Kalifornien

In der Luft lag der Duft von Äpfeln, und die Obstplantage vibrierte von dem Summen der Bienen, die über den Scheffeln voller geerntetem Obst schwebten. Die Bäume waren in hervorragender Verfassung und warteten auf die Ankunft der Erntehelfer. Die Äste hatte man in Vorbereitung auf die Leitern beschnitten, man hatte das letzte lästige Murmeltier gefangen und woanders ausgesetzt, und die Wege zwischen den Bäumen waren begradigt worden, damit die Früchte beim Transport nicht zu sehr durcheinandergerüttelt wurden und keine Druckstellen bekamen. Der Morgen war noch kühl; zwischen den Zweigen hing ein leichter Nebel. Die Sonne ging hinter den Hügeln im Osten auf und versprach einen schönen warmen Tag. Bald würden die Pflücker eintreffen.

Magnus Johansen balancierte auf seiner Leiter und fühlte sich dabei so sicher wie ein Mann, der ein Viertel so alt war wie er. Isabel würde ihn schelten, wenn sie ihn so sähe, und einen Dummkopf nennen, weil er schon alleine anfing zu arbeiten, anstatt auf das Eintreffen der Pflücker zu warten. Aber Magnus genoss die Einsamkeit am frühen Morgen. Es gefiel ihm, die ganze Plantage in der warmen morgendlichen Stille für sich zu haben. Er war im achten Jahrzehnt seines Lebens. Gott allein wusste, wie viele Ernten er noch miterleben würde.

Isabel machte sich in letzter Zeit zu viele Gedanken um ihn. Sie neigte dazu, um ihn herumzuschwirren wie eine Honigbiene um die Wolfsmilch, die an den Rändern der Plantage wuchs. Magnus wünschte sich, sie würde sich nicht ständig solche Sorgen machen. Sie wusste doch, er hatte das Beste und das Schlimmste überlebt, was das Leben zu bieten hatte.

Um die Wahrheit zu sagen, machte er sich wesentlich mehr Sorgen um Isabel als sie sich um ihn. Es waren die Dinge, die sie nicht wusste, die ihm an diesem Morgen schwer auf der Seele lasteten. Er konnte sie nicht für immer im Dunkeln lassen. Der Brief auf dem Schreibtisch in seinem Büro bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen – wenn nicht ein Wunder geschähe, wäre Bella Vista bald verloren.

Magnus bemühte sich, die Sorgen einen Moment beiseitezuschieben. Er war früh aufgestanden und hatte seine Jeans und seine Stiefel angezogen, denn er hatte gewusst: Heute war der Tag. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, den Reifepunkt der Äpfel zu bestimmen. Erntete man zu früh, musste man später zu viel Zeit mit dem Nachpflücken vergeuden. Erntete man zu spät, riskierte man überreife Äpfel, die nicht mehr lange hielten.

An einigen Tagen kam er sich selbst überreif vor; ein Gefühl, das tief in seinem Knochen steckte. Doch nicht heute. Heute war er voller Energie, und sein Obst war auf dem Höhepunkt der Perfektion. Er hatte natürlich einen Stärke-Jod-Test durchgeführt, aber noch wichtiger, er hatte in einen Apfel gebissen und anhand der Festigkeit, der Süße und des Bisses gewusst, dass die Zeit reif war. In den nächsten Tagen würde es auf der Plantage so geschäftig zugehen wie in einem Bienenkorb. Er würde seine Äpfel in den bereitstehenden Kisten mit dem bunten „Bella Vista Orchard“-Logo auf die Märkte schicken.

Eine Traube aus drei glänzenden, rot gestreiften Gravensteinern hing einen guten Meter über seinem Kopf an einem Zweig. Die schwer zu erreichenden Äste wurden normalerweise beschnitten, doch dieser hier trug Früchte. Sich seiner Reichweite bewusst, beugte Magnus sich vorsichtig vor, pflückte die drei Äpfel und legte sie in seinen Korb. Heutzutage bevorzugten die meisten Pflücker den Einsatz einer Erntetasche, die das beidhändige Pflücken ermöglichte, doch Magnus war noch von der alten Schule. Nein. Er war alt. Punkt. Doch selbst jetzt stützte ihn das Land; der Rhythmus der Jahreszeiten und die jährliche Erneuerung sorgten dafür, dass er noch so kräftig und energiegeladen war wie als wesentlich jüngerer Mann. Er hatte vieles, wofür er dankbar sein konnte.

Aber auch vieles, was er bedauerte.

Als er die Äpfel von dem hohen Ast pflückte, wackelte die Leiter ein wenig. Er sah ein, dass er die anderen Äpfel lieber den Pflückern überlassen sollte, und kletterte zu Boden.

Als er seine Leiter zu einem anderen Baum trug, drang das hektische Summen von verstörten Bienen aus der Wolfsmilch an sein Ohr. Eine Honigbiene, begierig nach dem reichen Nektar der verschlungenen Blüten, war in einer Blume gefangen. Das kam öfter vor. Magnus fand ihre vertrockneten Körper oft zwischen den klebrigen Samenhülsen. Moderne Farmer versuchten, die Wolfsmilch auszurotten, aber Magnus ließ sie an der Grenze der Plantage wachsen als Lebensraum für Bienen und Monarchfalter, Finken und Marienkäfer.

Da er guter Laune war, befreite er die wütend summende Biene aus ihrem klebrigen Gefängnis, wobei eine Wolke von mit federigen Fallschirmen bewehrten Samenkapseln zu Boden rieselte. Ohne zu ahnen, dass die Süße, nach der es sie verlangte, tödlich war, tauchte die Biene sofort wieder in die Hecke ein und machte sich erneut daran, am Nektar zu nippen, selbst auf das Risiko hin, dabei ihr Leben zu lassen.

Magnus zuckte mit den Schultern und setzte seinen Weg fort. Wenn die Natur eine Kreatur an die süße Quelle lockte, konnte man nichts dagegen tun. Er stellte seine Leiter an den nächsten Baum und kletterte zu einem erhöht hängenden Ast hinauf. Dort, den Kopf über den Zweigen, atmete er tief die Schönheit des Morgens ein. Den Duft, der in der Luft lag, das Licht, das durch den Nebelschleier drang, die Konturen des Landes und den in der Ferne liegenden Dunst über dem Meer.

Eine leichte Wehmut, die auf einer Welle von Erinnerungen einhergeritten kam, erfasste ihn. Als wäre es erst gestern gewesen, sah er das sonnenüberflutete Land und Eva, die an der Sammelstelle stand und ihn anlächelte, während sie die Ernte überwachte. Seine Kriegsbraut, die mit ihm in Amerika ein neues Leben anfing. Sie hatten Bella Vista gemeinsam aufgebaut. Es war eine Schande, dass die Bank kurz davorstand, ihm alles wegzunehmen.

Trotz der Erfolge und der Tragödien, der Geheimnisse und der Lügen hatte es in Magnus’ Leben so viel Gutes gegeben. Er hatte sich eine Existenz mit der Frau aufgebaut, die er liebte, und das war mehr, als die meisten armen Seelen von sich behaupten konnten. Gemeinsam hatten sie eine Welt erschaffen, hatten ihre Tage in der Natur verbracht, knackige Äpfel und frisches, selbst gebackenes Brot mit Honig aus eigenem Anbau gegessen und ihren Überfluss mit den Arbeitern und Nachbarn geteilt … Doch dieser Segen hatte seinen Preis, einen, der von einer mächtigeren Instanz eingefordert werden würde, als er es war.

Das Telefon in seiner Tasche zirpte und zerstörte die Stille des Morgens. Isabel bestand darauf, dass er sein Handy immer dabei hatte. Es war ein ganz einfaches, mit dem man nur telefonieren konnte, dem aber alle anderen Funktionen fehlten, die ihn nur verwirrt hätten.

Die Leiter wackelte wieder, als er in die Hemdtasche griff und das Telefon herausholte. Die Nummer auf dem Display war ihm unbekannt.

„Hier ist Magnus“, sagte er; seine übliche Begrüßung.

„Hier ist Annelise.“

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Die Stimme klang dünner, älter, aber trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, oh so vertraut. Unter den leisen, zittrigen Tönen erkannte er den Klang einer wesentlich jüngeren Frau – einer Frau, die er auf ganz andere Weise geliebt hatte als Eva.

Er umklammerte das Telefon fester. „Wie zum Teufel bist du an diese Nummer gekommen?“

„Ich nehme an, du hast meinen Brief erhalten?“ Vermutlich ohne es selber zu merken verfiel sie in ihre gemeinsame Muttersprache Dänisch.

„Ja, habe ich. Und du hast vollkommen recht“, sagte er, obwohl er spürte, wie sein Herz bei dem Geständnis schneller schlug. „Es ist an der Zeit, ihnen alles zu erzählen.“

„Hast du es schon getan?“, fragte sie. „Magnus, das ist eine sehr einfache Unterhaltung.“

„Ja, aber Isabel … sie ist … ich möchte sie nicht traurig machen.“ Isabel – so schön und zerbrechlich und in so jungen Jahren schon so sehr vom Leben durchgerüttelt.

„Und was ist mit Theresa? Sie ist ebenfalls deine Enkelin. Wäre es dir lieber, sie erführe die Neuigkeiten von irgendeinem Fremden? Wir werden nicht jünger, du und ich. Wenn du nicht sofort etwas unternimmst, werde ich es tun.“

„Na gut.“ Kurz verspürte er brennenden Hass auf das Telefon, diesen kleinen elektronischen Eindringling, der einen strahlend hellen Tag verdunkelte. „Ich werde mich darum kümmern. Wie immer. Und wenn sie uns durch irgendein Wunder vergeben …“

„Natürlich werden sie das. Hör niemals auf, Wunder zu erwarten, Magnus. Gerade du solltest das am besten wissen.“

„Ruf mich nicht wieder an“, sagte er. Sein Herz trudelte in seiner Brust. „Bitte ruf mich nicht wieder an.“ Er steckte das Handy ein. Der Wind strich durch die Bäume und umhüllte ihn mit dem kräftigen Geruch von Äpfeln. Wilde Falken schimpften über ihm, und einer von ihnen stieß einen klagenden Schrei aus. Magnus griff nach einem weiteren Apfel, einer prallen Schönheit, die auf Armeslänge vor ihm hing. Die Schale glänzte so sehr, dass er sein Spiegelbild darin erkennen konnte.

Die Bewegung brachte die Leiter aus dem Gleichgewicht. Er griff nach einem Ast, verfehlte ihn aber, und dann gab es nichts mehr, woran er sich festhalten konnte, als die diesige Luft. Trotz der brutalen Heftigkeit des Unfalls war Magnus sich jeder einzelnen Sekunde seltsam bewusst, als würde der Sturz jemand anderem passieren. Um sich hatte er keine Angst – dafür war er inzwischen viel zu alt. Das Leben hatte ihm schon vor langer Zeit beigebracht, dass Angst und Glück nicht nebeneinander existieren konnten.

2. TEIL

Millionen Menschen sahen den Apfel fallen,

aber nur Newton fragte sich, warum.

Bernard M. Baruch

1. KAPITEL

San Francisco

Tess Delaneys To-do-Liste schwebte unsichtbar über ihrem Kopf wie der Flugverkehr über O’Hare. Verschiedene Kunden warteten darauf, von ihr zu hören. Mitarbeiter hetzten sie wegen irgendwelcher Berichte. Und es stand noch das alles entscheidende Treffen mit dem Firmenbesitzer an. Sie schob das beklemmende Gefühl beiseite und konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe – den Schatz seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.

Die aktuelle Mission führte sie in ein überladenes Apartment in Alamo Square. Miss Annelise Winther, achtzig Jahre alt und immer noch agil, führte sie in eine gemütliche Küche mit dünnen Spitzengardinen, rüschenbesetzten Stühlen und dem wunderbaren Duft nach Frischgebackenem in der Luft. Tess vergeudete keine Zeit und präsentierte den Schatz sofort.

Die Hände von Miss Winther, von Altersflecken übersät und mit arthritischen Gelenken, zitterten, als sie den antiken Anhänger entgegennahm. Selbst die knochigen Schultern unter dem rosafarbenen Strickschal bebten.

„Diese Kette gehörte meiner Mutter.“ Beim letzten Wort brach ihre Stimme. „Ich habe sie seit dem Frühling 1941 nicht mehr gesehen.“ Sie hob den Blick und schaute Tess an, die ihr am gescheuerten Kieferntisch gegenübersaß. In den Augen der Frau leuchteten Geschichten auf wie die Facetten eines Edelsteins. „Ich habe keine Worte, um meinen Dank dafür auszudrücken, dass Sie sie mir zurückgebracht haben.“

„Es war mir ein Vergnügen“, erwiderte Tess. „Momente wie dieser sind das Schönste an meinem Job.“ Ein Gefühl von Stolz und Erfüllung half ihr, das konstante Summen ihres Handys zu ignorieren, mit dem der Eingang weiterer Nachrichten angekündigt wurde.

Annelise Winther gehörte zu den Klienten, die Tess am liebsten waren. Sie war anspruchslos und verfügte nur über bescheidene Mittel, wenn man von dem etwas heruntergekommenen Zustand des weitläufigen Hauses im viktorianischen Stil, das so typisch für diese Stadt war, ausgehen konnte. Zwei Katzen, die Miss Winther als Golden und Prince vorgestellt hatte, lagen faul in der spätnachmittäglichen Herbstsonne, die durch das Erkerfenster fiel. Ein gesticktes Bild mit dem Satz „Lebe diesen Tag“ hing an der Wand.

Miss Winther nahm ihre Brille ab, putzte die Gläser und setzte sie wieder auf. Nach einem weiteren Blick auf Tess’ Visitenkarte sagte sie: „Tess Delaney, Herkunftsgutachterin, Sheffield Auction House. Nun, Ms Delaney, ich bin sehr froh, dass Sie nicht nur die Kette, sondern auch mich gefunden haben.“

In ihren Worten schwang ein leichter Akzent mit. „Ich habe die Sondersendung auf dem History Channel über das Krakauer Museum gesehen. Sie haben letzten Monat in Polen einen Preis verliehen bekommen.“

„Das haben Sie gesehen?“ Tess war verwundert, dass die Frau sie wiedererkannt hatte.

„Ja, das habe ich. Sie erhielten den Preis für die Wiederbeschaffung des Rosenkranzes von Königin Maria Leszczynka, der von den Nazis gestohlen wurde und Jahrzehnte verschollen war.“

„Das war … wirklich ein einmaliges Erlebnis.“ An dem Abend war Tess so stolz gewesen. Leider hatte sie niemanden an ihrer Seite gehabt, um diesen Triumph mit ihr zu feiern. Ihre Mutter hatte versprochen, zu kommen, doch dann in letzter Minute absagen müssen. So hatte Tess die Auszeichnung alleine vor einem kleinen Fernsehteam und einem Kultusminister mit schwitzigen Händen entgegennehmen müssen.

„In der Sekunde, in der ich Ihr Gesicht sah, wusste ich, dass Sie auch meinen Schatz wiederfinden würden.“ Miss Winthers Worte waren ein wenig überraschend. „Und ich bin so froh, dass Sie es waren. Ich habe speziell Sie angefordert.“

„Warum?“

Eine kleine Pause. Miss Winthers Gesichtszüge wurden ganz weich. Vielleicht hatte sie ihren Gedanken vergessen. Doch dann sagte sie: „Weil Sie die Beste sind. Oder etwa nicht?“

„Ich gebe zumindest mein Bestes“, versicherte Tess ihr. Sie fand die Unterhaltung ein wenig seltsam, aber in diesem Geschäft war sie verschrobene Klienten gewohnt. „Das Stück gehörte zu einer ganzen Sammlung von wiedergefundenen Gegenständen aus dem Zweiten Weltkrieg.“ Tess hielt inne und dachte an die anderen Exemplare – Juwelen und Kunst und Sammlerstücke. Die Mehrheit der Objekte konnte nicht zurückgegeben werden, weil ihre ehemaligen Besitzer längst tot waren. Sie versuchte, sich das fürchterliche Gefühl der Schändung vorzustellen, das die Familien empfunden haben mussten, als die Nazis in ihre Häuser eindrangen, ihre Schätze plünderten und vermutlich viele Familienmitglieder in den sicheren Tod schickten. Die verlorenen Kostbarkeiten zu finden und ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben schien nur eine kleine Wiedergutmachung zu sein, doch der Ausdruck in Miss Winthers Augen zeigte, wie wichtig diese Arbeit war.

„Sie haben ein Wunder vollbracht“, erklärte sie. „Ich habe gerade einem alten Freund am Telefon gesagt, dass man nie aufhören darf, Wunder zu erwarten.“

Für ein Wunder, dachte Tess, hat die Aufgabe aus ganz schön viel harter Arbeit bestanden. Aber die Dankbarkeit, die von der alten Dame ausstrahlte, machten die Suche, die Reisen und den Kampf mit der Bürokratie mehr als wett. Tess hatte sogar einen Experten beauftragt, der auf ihre Kosten jedes Kettenglied, jeden Stein und jede Facette des Schmuckstücks gereinigt hatte. „Das hier ist eine Kopie der Herkunftsurkunde.“ Sie schob das Blatt über den Tisch. „Quasi eine Geschichte der Kette von ihrer Entstehung bis zur Gegenwart – zumindest soweit ich ihre Ursprünge in Russland nachverfolgen konnte.“

„Es ist wirklich erstaunlich, dass Sie das gefunden haben. Als ich Ihre Firma kontaktierte, dachte ich …“ Ihre Stimme verebbte. „Wie um alles in der Welt ist Ihnen das gelungen?“

Anhand der einzelnen Punkte in dem Gutachten erklärte Tess, wie sie bei ihrer Recherche vorgegangen war. „Das Stück wurde mit anderen zusammen in Kopenhagen gefunden. Der Anhänger ist ein rosafarbener Topas mit filigranen goldenen Verzierungen. Die Kette und der Verschluss sind noch original. Das Schmuckstück ist von einem finnischen Designer namens August Holmström entworfen worden. Er war der Hauptjuwelier für das Haus Fabergé.“

Miss Winther hob die Augenbrauen. „Der Fabergé?“

„Genau der.“ Tess holte ihre Lupe heraus und zeigte auf einen winzigen Fleck auf der Kette. „Das hier ist Holmströms Markenzeichen. Seine Initialen zwischen einem doppelköpfigen Reichsadler. Er hat es entwickelt, um Fälschungen zu verhindern. Dieses spezielle Stück wurde das erste Mal in seinem Katalog von 1916 erwähnt. Er hatte es für eine exklusiven Laden in St. Petersburg entworfen, wo es von einem Mitglied des dänischen Diplomatenkorps gekauft wurde.“

„Das war mein Vater. Er hat die Kette von einer Geschäftsreise nach Russland mitgebracht. Ich habe meine Mutter nur selten ohne sie gesehen. Neben ihrem Ehering war sie ihr liebstes Schmuckstück. Er hat sie ihr zur Feier meiner Geburt geschenkt. Obwohl meine Eltern es nie ausgesprochen haben, nahm ich an, dass sie nach mir keine Kinder mehr bekommen konnten.“ In ihre Augen trat ein sehnsüchtiger Ausdruck, und Tess fragte sich, was sie wohl sah – ihren gut aussehenden Vater? Ihre Mutter, die den Anhänger dicht an ihrem Herzen trug?

Die Geschichten hinter den Schätzen waren meist unglaublich faszinierend, wenngleich oft bittersüß. Die traurigen waren besonders schwer zu ertragen. Es gab einfach Grausamkeiten, die für normale Menschen nicht zu verstehen waren; Ungerechtigkeiten, die man nicht begreifen konnte. Miss Winther musste noch sehr klein gewesen sein, als ihre Welt auseinandergerissen worden war. Wie viel Angst sie wohl gehabt hatte, wie verwirrt sie gewesen war?

„Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als einfach nur Objekte zurückzubringen“, sagte Tess. „Es wurde mit mehreren anderen Stücken im Lager eines ehemaligen Regierungsgebäudes gefunden. Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, die Archive durchzugehen. Die Gestapo behauptete, die Objekte nur zu Aufbewahrungszwecken an sich zu nehmen. Das war eine bekannte Masche. Das einzig Hilfreiche, was sie getan haben, war, genaue Listen über alles zu führen, was sie beschlagnahmten.“

An dieser Stelle wurde es ein wenig brenzlig. Wie viele Informationen brauchte Miss Winther wirklich? Musste sie wissen, was vermutlich mit ihren Eltern geschehen war?

Es gab Fakten, die Tess auf keinen Fall mit ihr teilen wollte. Zum Beispiel die Hinweise darauf, dass Hilde Winther ohne Genehmigung von einem korrupten Offizier festgenommen und vermutlich monatelang als Sexsklavin gehalten worden war, bevor man sie getötet hatte. Das war das Problem daran, die Geheimnisse der Vergangenheit ans Licht zu holen. Manchmal stellte man dabei fest, dass man sie besser begraben gelassen hätte. War es besser, um jeden Preis die Wahrheit zu enthüllen oder jemanden vor den grausamen Details zu beschützen, die er ohnehin nicht mehr ändern konnte?

„Dieses Schmuckstück ist von Ihrer Mutter konfisziert worden, nachdem man sie wegen des Verdachts, im Bispebjerg Hospital Spione, Saboteure und Widerstandskämpfer zu verstecken, verhaftet hatte. Laut dem Haftbefehl wurde sie beschuldigt, die schwere Krankheit ihrer Patienten nur vorzutäuschen, bis diese dann mysteriöserweise über Nacht verschwanden.“

Miss Winther hielt den Atem an, dann nickte sie. „Das klingt nach meiner Mama. Sie war so mutig. Sie hat mir erzählt, dass sie als Freiwillige im Krankenhaus gearbeitet hat, aber ich habe immer gewusst, dass sie dort wichtigere Arbeit leistet.“ In die Augen, die hinter den Brillengläsern funkelten, trat ein eisiger Schimmer. „Meine Mutter ist eines wunderschönen Frühlingstages vor meinen Augen weggezerrt worden.“

Tess überlief ein leichter Schauer. Sie hatte Mitleid mit dem kleinen Mädchen, das Miss Winther einst gewesen war. „Das tut mir leid. Kein Kind sollte so etwas mit ansehen müssen.“

Miss Winther hielt die Kette so, dass das Licht sich in dem großen rosafarbenen Topas fing. „Könnten Sie … könnten Sie sie mir umlegen?“, fragte sie.

„Natürlich.“ Tess trat hinter sie und schloss den Verschluss. Unter ihren Fingern spürte sie die zarten Knochen der alten Dame. Ihre Haare rochen nach Lavendel, und das Kleid unter ihrem rosafarbenen Schal war fadenscheinig und verwaschen. Tess durchlief ein wohliger Schauer. Dieser Fund würde Miss Winthers Leben verändern. Durch diese eine Transaktion könnte die Frau sich ein Leben in Luxus leisten.

Miss Winther griff mit einer Hand nach der Kette und berührte den Anhänger. „Sie trug sie an dem Tag. Noch während man meine Mama abtransportierte, befahl sie mir, um mein Leben zu rennen, und das habe ich getan. Ich hatte Glück – oder vielleicht war im Vorfeld etwas durchgesickert. Jedenfalls brachte mich ein Junge, der in der Holger Danske, der dänischen Widerstandsbewegung, war, in Sicherheit. Er war ein Held, wie in Das scharlachrote Siegel über die Französische Revolution, nur dass er echt war. Ohne ihn wäre ich heute nicht hier. Keiner von uns wäre das.“

Keiner von uns …? Tess fragte sich, auf wen sich das bezog. Vermutlich auf Geister aus der traurigen Vergangenheit der Frau. Sie fragte jedoch nicht nach; für heute standen noch andere Termine an, sie hatte keine Zeit für ausführliche Geschichten. Außerdem fühlte sie sich immer so wehrlos, wenn sie hörte, wie viel Opfer diese Tragödien gefordert hatten. Sie musste allerdings zugeben, dass die Liebenswürdigkeit und der Hauch von Heimweh, der sich in den Zügen der alten Dame spiegelte, sobald sie das wiedergefundene Schmuckstück um ihren Hals berührte, eine tief in ihrem Innern verborgene Saite zum Klingen brachte.

Wir beide sind ganz allein, dachte Tess. War Miss Winther schon immer allein gewesen? Werde ich immer alleine sein?

„Ich bin auf jeden Fall froh, dass Sie hier sind.“ Das Lächeln der alten Frau war sanft und zugleich seltsam vertraulich.

„Dies hier ist die Schätzung für das Schmuckstück. Ich denke, die Zahl wird Ihnen gefallen.“ Tess schob ein weiteres Papier über den Tisch.

Miss Winther schaute sich das Dokument an. „Hier steht, die Kette meiner Mutter ist 800.000 Dollar wert.“

„Das ist nur ein Schätzwert. Je nachdem, wie die Auktion verläuft, können es zehn Prozent mehr oder weniger sein.“

Miss Winther fächelte sich Luft zu. „Das ist ein Vermögen“, sagte sie. „Das ist mehr Geld, als ich mir jemals erträumt habe.“

„Es ist zwar nicht annähernd genug, um Ihren Verlust zu ersetzen, aber es ist eine schöne Summe. Ich freue mich wirklich für Sie.“ Tess war glücklich. In ihrem dünnen Schal und zwischen den ganzen alten Möbeln machte Miss Winther nicht den Eindruck einer wohlhabenden Frau, aber bald schon könnte sie trotzdem eine sein.

All die mühsame Arbeit für die Wiederbeschaffung des Objekts hatte zu diesem Augenblick geführt. Tess breitete einen mehrseitigen Vertrag auf dem Tisch aus. „Das hier ist eine Vereinbarung mit dem Sheffield Auction House, meiner Firma. Das ist ein Standardvertrag, aber Sie können ihn gerne noch einmal mit einem Experten durchgehen.“

Eine Küchenuhr klingelte, und Miss Winther stand auf. „Die Scones sind fertig. Ich mache sie mit Lavendelzucker, das macht sie ganz besonders köstlich. Ein altes dänisches Rezept für den Herbst. Sie bleiben schön sitzen, meine Liebe, während ich uns einen Tee mache.“

Tess biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht zu ungeduldig zu wirken, obwohl sie noch Termine hatte und auch im Büro einiges an Arbeit auf sie wartete. Ehrlich gesagt wollte sie keine Scones, egal, ob mit oder ohne Lavendelzucker. Sie wollte auch keinen Tee. Kaffee und eine Zigarette waren mehr nach ihrem Geschmack und passten außerdem besser zu ihrem Lebensrhythmus. Seitdem sie vor fünf Jahren das College beendet hatte, verlief ihr Leben im Eiltempo, und auch jetzt stand sie unter Zeitdruck. Je schneller sie den unterzeichneten Vertrag in die Firma zurückbrachte, desto schneller verdiente sie ihren Bonus und konnte sich auf die nächste Transaktion konzentrieren.

Doch die Natur ihres Berufs verlangte oft Geduld. Die Menschen entwickelten meist rasch eine Zuneigung zu ihren wiedergefundenen Sachen, und sie loszulassen brauchte manchmal seine Zeit. Miss Winther hatte sich mit den Scones sehr viel Mühe gegeben. Nach allem, was sie über die Familie Winther erfahren hatte, fragte Tess sich, woran die Dame wohl dachte, wenn sie sich an die alten Zeiten erinnerte – an Angst und Entbehrung? Oder an glücklichere Tage, an denen ihre Familie noch vollständig gewesen war?

Während sie in ihrer altmodischen Küche herumwuselte, blieb Miss Winther ab und zu vor einem kleinen gerahmten Spiegel an der Tür stehen und betrachtete mit einem versonnenen Blick die Kette. Tess überlegte, was sie wohl dabei sah – ihre hübsche, angebetete Mutter? Ein unschuldiges Mädchen, das keine Ahnung hatte, dass seine Welt schon bald entzweigerissen würde?

„Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit“, bat Miss Winther und goss Tee in zwei Porzellantassen. „Ich würde gerne mehr über Ihr Leben erfahren.“

„Ich denke, man könnte sagen, dass mir die Schatzsuche im Blut liegt.“

Miss Winther keuchte leicht auf, als würde Tess’ Geständnis sie überraschen. „Wirklich?“

„Meine Mutter ist als Expertin für die Ankäufe eines Museums zuständig. Und meine Großmutter hatte ein Antiquitätengeschäft in Dublin.“

„Also entstammen Sie einer Linie unabhängiger Frauen.“

Nett ausgedrückt, dachte Tess. Ihr Blick glitt in die Ferne. Sie neigte nicht dazu, sich mit ihren Klienten auf eine persönlichen Ebene zu begeben, um einen Deal abzuschließen, aber Miss Winther fand sie ehrlich sympathisch – vielleicht, weil sie ernsthaft an ihr interessiert schien. „Weder meine Mutter noch meine Großmutter haben je geheiratet“, erklärte sie. „Vermutlich werde ich diese Tradition fortführen. Mein Leben ist für eine feste Beziehung viel zu chaotisch.“ Ach Tess, hör dir mal zu, dachte sie. Wenn du es nur oft genug sagst, wirst du es irgendwann auch glauben.

„Ich denke, das liegt nur daran, dass Ihnen der Richtige noch nicht begegnet ist. Doch ein hübsches Mädchen wie Sie mit diesen wunderschönen roten Haaren … Es ist tatsächlich erstaunlich, dass noch kein Mann Sie weggeschnappt hat.“

Tess schüttelte den Kopf. „So leicht lasse ich mich nicht wegschnappen.“

„Ich war auch nie verheiratet.“ Ein sehnsüchtiger Schleier legte sich über Miss Winthers Augen. „Ich war nach dem Krieg sehr in einen Mann verliebt, aber er hat eine andere geheiratet.“ Sie blieb stehen, um noch einmal den Anhänger zu bewundern. „Die Arbeit als Schatzsucherin muss so aufregend sein.“

„Es bedeutet viel Recherchearbeit, was die meisten Leute sicher ermüdend fänden. So viele Sackgassen und Enttäuschungen“, erklärte Tess. „Die meiste Zeit verbringe ich damit, Archive, alte Akten und Kataloge durchzugehen. Das kann ziemlich frustrierend sein. Aber auch unglaublich befriedigend, wenn es mir dadurch gelingt, ein Schmuckstück wie Ihres dem Besitzer zurückzubringen. Und ganz, ganz selten pule ich auch mal die Farbe von einer wertlosen Leinwand ab und finde darunter einen Vermeer. Oder ich grabe unter einer Schäferhütte irgendwo auf einem Feld ein Vermögen aus. Manchmal ist meine Arbeit auch ein wenig makaber. Die Schätze wurden nicht selten in Särgen versteckt.“

Miss Winther erschauerte. „Das ist ja gruselig.“

„Für ihre Wertsachen suchen die Menschen sich oft Verstecke aus, in denen niemand freiwillig nachschauen würde. Ihre Kette wurde allerdings nicht an einem dramatischen Ort gefunden. Sie war mit einem Dutzend anderer illegal beschlagnahmter Stücke hübsch gekennzeichnet und katalogisiert.“

Miss Winther richtete die Scones in einem mit einer gestärkten Leinenserviette ausgelegten Korb an und brachte ihn zum Tisch.

Aus reiner Höflichkeit griff Tess zu.

„Es klingt, als würden Sie Ihre Arbeit lieben“, bemerkte Miss Winther.

„Ja, sehr. Sie bedeutet mir alles.“ In dem Moment, da sie die Worte laut aussprach, erfasste Tess ein Gefühl der Aufregung. Das Geschäft war schnell und unvorhersehbar, und jeder Tag konnte einem einen berauschenden Adrenalinstoß bringen – oder vernichtende Enttäuschungen. Sie hatte ein sehr erfolgreiches Jahr hinter sich, das sie dem, wonach sie sich so sehr sehnte und das sie brauchte wie die Luft zum Atmen, immer näher brachte: Anerkennung und Sicherheit.

„Das klingt wundervoll. Ich bin sicher, Sie bekommen genau das, wonach Sie suchen.“

„In diesem Geschäft bin ich nicht immer sicher, was das ist.“ Tess warf einen weiteren heimlichen Blick auf die Uhr am Herd.

Den Miss Winther bemerkte. „Sie haben doch sicher noch Zeit, um Ihren Tee auszutrinken.“

Tess lächelte. Sie mochte die Frau. „Ja, sicher. Möchten Sie, dass ich Ihnen den Vertrag hierlasse, oder …“

„Das ist nicht nötig“, sagte die alte Dame und berührte den rosafarbenen Topas. „Ich werde die Kette nicht verkaufen.“

Tess blinzelte und schüttelte leicht den Kopf. „Wie bitte?“

„Das ist der Anhänger meiner Mutter.“ Sie drückte ihn gegen ihren Busen. „Der ist nicht zu verkaufen.“

Tess sackte das Herz bis in die Knie. „Mit dem Verkauf könnten Sie den Rest Ihres Lebens in finanzieller Sicherheit leben.“

„Mir ist jedes Gefühl für Sicherheit für immer von den Nazis entrissen worden“, sagte Miss Winther. „Doch ich habe überlebt. Und jetzt haben Sie mir das Lieblingsstück meiner Mutter wiedergegeben.“

„Wie Sie sagen, es ist nur eine Sache. Ein Objekt, das Sie gegen Geborgenheit und Frieden eintauschen könnten.“

„Ich bin jetzt schon zufrieden und geborgen. Und wenn Sie nicht glauben, dass Erinnerungen mehr wert sind als Geld, dann schaffen Sie sich vermutlich nicht die richtigen Erinnerungen.“ Sie schenkte Tess einen wissenden und dennoch liebevollen Blick.

Tess versuchte, nicht an all die Stunden zu denken, die sie damit verbracht hatte, Aufzeichnungen zu durchforsten und penible Recherchen anzustellen, um dieses spezielle Schmuckstück seiner Besitzerin zurückzugeben. Wenn sie es täte, würde sie sich vermutlich aus lauter Frust die Haare ausreißen. Sie neigte dazu, sich vor ihren Erinnerungen zu verschließen, weil Erinnerungen einen Menschen verletzlich machten.

„Sie müssen mich für eine sentimentale alte Närrin halten.“ Miss Winther nickte. „Das bin ich auch. Das ist das Privileg des hohen Alters. Ich habe keine Schulden, keine Verbindlichkeiten. Es gibt nur mich und die Katzen. Und wir mögen unser Leben genau so, wie es ist.“

Tess nippte an dem starken Tee und zuckte bei dem bitteren Geschmack beinahe zusammen.

„Oh! Die Zuckerdose. Die habe ich ganz vergessen.“ Miss Winther schaute Tess an. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie zu holen? Sie steht in der Speisekammer.“

In der Speisekammer stand eine Ansammlung staubbedeckter Dosen und Einmachgläser. Die Wände und Regale waren voller Sammlerstücke, die meisten trugen noch die Aufkleber vom Flohmarkt.

„Sie befindet sich rechts von Ihnen“, sagte Miss Winther. „Auf dem Gewürzregal.“

Tess nahm die kleine, auf Füßen stehende Dose in die Hand. Sofort durchfuhr sie ein seltsames Kribbeln. Eine der ersten Lektionen, die sie in ihrem Beruf gelernt hatte, war, sich auf etwas einzulassen, das als „Gewicht“ oder „Gefühl“ eines Objekts bekannt war. Ein echtes, authentisches Stück hatte einfach mehr Substanz als eine Fälschung oder eine Kopie.

Sie stellte die angeschlagene Dose auf den Tisch und versuchte, ein Pokerface beizubehalten, während sie sie musterte. Der Schwung der Griffe und die unangestrengt bauchige Form waren unverkennbar. Selbst die matten Streifen des Alters konnten nicht verbergen, dass diese Zuckerdose aus Sterlingsilber bestand und nicht aus Blech.

„Erzählen Sie mir von dieser Zuckerdose“, bat Tess und nahm sich mit der kleinen Zange einen Zuckerwürfel heraus. Zuckerzangen. Die waren sogar noch seltener als die Dose.

„Sie ist schön, nicht wahr?“, fragte Miss Winther. „Aber teuflisch sauber zu halten. Unter praktischen Gesichtspunkten hätte ich sie damals bei dem Kirchenbasar nicht kaufen dürfen. Doch das ist schon Jahrzehnte her. Flohmärkte und Basare waren schon immer eine Schwäche von mir. Ich fürchte, ich habe alles, was bunt oder schön war und mir ins Auge gefallen ist, mit nach Hause gebracht. Sobald es dann aber hier ist, ist es reiner Zufall, ob ich es auch benutze oder nicht.“

„Das hier ist ein sehr schöner Fund.“ Tess hob die Dose an und erblickte das erwartete eingeprägte Markenzeichen am Boden.

„Wie meinen Sie das?“

Wusste sie das wirklich nicht? „Miss Winther, diese Dose ist von Tiffany – und sie scheint echt zu sein.“

„Meine Güte, was Sie nicht sagen.“

„Es gibt den berühmten Empire-Stil, der sehr selten ist und nur in limitierter Auflage produziert wurde. Ich müsste genauere Nachforschungen anstellen, aber mein Gefühl sagt mir, dass diese Zuckerdose sehr wertvoll ist.“ Was der alten Dame sicher egal war, da sie Artefakte ja Bargeld vorzog. „So oder so, es ist ein wunderschönes Stück“, schloss Tess.

„Was für ein überraschender Aspekt Ihrer Arbeit.“ Miss Winther schlug freudig die Hände zusammen. „Dass Sie manchmal über einen Schatz stolpern, wenn Sie eigentlich nach etwas ganz anderem auf der Suche sind.“

Tess sah zu, wie der Zuckerwürfel sich in ihrem Tee auflöste. „Das macht meinen Beruf so interessant.“

„Sagen Sie, wäre das denn etwas, das Ihre Firma verkaufen würde?“, wollte Miss Winther wissen.

„Das könnte sein. Obwohl, selbst mit der Zuckerzange ist es nur ein Einzelstück …“

„Ich meinte nicht nur die Zuckerdose, sondern das gesamte Service.“

Tess glitt der Löffel aus der Hand und landete klappernd auf dem Tisch. „Sie haben ein ganzes Service?“

2. KAPITEL

In San Franciscos bester Bar saß Tess an einem Tisch mit Aussicht und trank einen Martini mit eingelegter Olive. Die Oliven waren quasi ihr Abendessen. Wie immer hatte sie direkt bis zum Beginn der Happy Hour gearbeitet.

Sie arbeitete. Daraus bestand ihr Leben – und daraus bestand sie. Sie arbeitete … und sie schätzte sich glücklich, einen Beruf zu haben, den sie liebte. Doch Miss Winther zu treffen, die alte Dame ganz alleine mit ihren Katzen zu sehen, hatte Tess verstört. Die Begegnung hatte an ihre geheimsten Ängste gerührt – dass sie ihr Leben allein und umgeben von Schätzen verbringen würde, die sie mit niemandem teilen konnte. Zu arbeiten lenkte sie davon ab, zu sehr darüber nachzudenken, wie einsam sie war.

Sie schob den Gedanken beiseite und hielt sich die heutigen Erfolge vor Augen. Und die Tatsache, dass sie gute Freunde hatte, mit denen sie diese feiern konnte. Sie und ihre Freunde hatten eine feste Verabredung zur Happy Hour im Top of the Mark, der Bar, die das historische Mark Hopkins Hotel krönte, das auf dem Gipfel des Russian Hill thronte. Es war ein Wahrzeichen von San Francisco, sehr touristisch, aber bei Einheimischen bekannt für seine umwerfende Aussicht, die guten Martinis und vor allen Dingen die Livemusik.

Dank ihrer rastlosen Kindheit war Tess beinahe ohne Familie oder Freunde aufgewachsen. Doch hier im Herzen von San Francisco hatte sie sich eine eigene Familie zusammengesucht. Eine kleine gesellige Runde von Menschen wie sie – junge Berufstätige, die unabhängig und ehrgeizig waren. Und lustig – Zigeuner und Genies, hart arbeitende Leute, die aber auch wussten, wie man feiert.

Da war Lydia, die Inneneinrichterin, die Tess ständig mit neuen Empfehlungen versorgte. Auf den Dachböden und in den Lagerräumen ihrer Kunden entdeckte sie Kostbarkeiten wie Duncan-Phyfe-Sofas und Stickley-Tische. Sie verstand den Adrenalinrausch der Schatzsuche besser als alle anderen, die Tess kannte. Die Dritte im Bunde war Neelie, eine Weinhändlerin, die manchmal Geschäfte mit dem Sheffield House machte. Sie hatte heute einen neuen Typen mitgebracht, Russell, der seinen Blick nicht von ihren Brüsten lösen konnte. Neelie schickte Tess heimlich Nachrichten aufs Handy.

Was hältst du von ihm?

Er kann seinen Blick nicht von deinen Brüsten lösen.

Bei dir klingt das so, als wäre das was Schlechtes.

Die beiden grinsten einander an und hoben ihre Gläser.

„Ihr seht aus, als führt ihr was im Schilde“, sagte Jude Lockhart, ein Arbeitskollege von Tess.

„Das liegt daran, dass es stimmt.“ Sie klopfte auf den freien Sitz neben sich.

Jude begrüßte die Frauen mit einem Kuss auf die Wange und schüttelte Lydias Freund Nathan die Hand. Neelie stellte ihm Russell, ihre Verabredung, vor.

Tess mochte die Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit ihrer Freunde. Sie mochte es, dass sie alle noch jung und unternehmungslustig genug waren, um sich nach der Arbeit zu treffen. Vor allem gefiel ihr jedoch, dass sie an diesem Abend etwas zu feiern hatte und ihre Neuigkeiten mit ihren Freunden teilen konnte.

„Ich habe heute den Jackpot geknackt“, sagte sie.

„Ohhh, erzähl“, bat Neelie. Sie wandte sich an Russell und erklärte: „Tess ist professionelle Schatzsucherin. Wirklich. Sie ist eine Art moderner Indiana Jones.“

„Nicht ganz“, sagte Tess. „Heute musste ich keine Schlangen abwehren.“ Sie erzählte ihnen von der Entdeckung des Tiffany-Services in Miss Winthers Wohnung. „Wie sich herausstellte, ist sie flohmarktsüchtig und sammelt alles, was ihr in die Finger kommt. Die meisten ihrer Sachen sind wertlos, aber ich habe auch noch ein paar interessante Stücke bei ihr gefunden.“ Sie beschrieb ein Set von Ludwig-Moser-Likörgläsern, den kleinen Holzschnitt, der von Charles H. Richert signiert war, und den Armreif aus Jade aus dem China der Vorkriegszeit. Miss Winther hatte keinerlei emotionale Bindung an die Stücke und sie nur zu gerne dem Sheffield House zur Versteigerung überlassen.

„Verdammt, Mädchen.“ Neelie hob ihren grünen Appletini. „Gute Arbeit.“

Alle an dem langen Tisch hoben ihre Gläser. „Wenn du nicht aufpasst, verdienst du dir noch eine Beförderung“, sagte Jude.

Tess verspürte einen Anflug von Nervosität. Sie wusste, dass sie für eine Stelle in New York im Gespräch war. Was auf mehr als nur eine Weise ein großer Schritt wäre. Es würde sie an die Spitze ihrer Profession katapultieren. Jude betrachtete sie mit einer Mischung aus Respekt und Neid. Irgendwie hatten sie es geschafft, Kollegen zu bleiben, ohne zu Rivalen zu werden.

Als Tess ihn das erste Mal auf einer Auktion in London gesehen hatte, hatte sie sich ziemlich in Jude verguckt. Man traf schließlich nicht jeden Tag einen Mann, der in Oxford studiert hatte und aussah wie ein Kinoheld der Fünfzigerjahre. Doch die Verliebtheit hatte nicht lange angehalten. Schnell hatte Tess erkannt, dass sie einander zu ähnlich waren – scheu, was Beziehungen anging, verwirrt von Menschen, die sich kopfüber in die Liebe stürzten und am Ende verletzt wurden. Irgendwann war zwischen ihnen eine angenehme Freundschaft entstanden. Sie waren Arbeitskollegen, Trinkkumpane und manchmal, während der einsamen Zeiten des Jahres – zum Beispiel an den Feiertagen –, taten sie gemeinsam so, als wäre Einsamkeit gar nicht so schlimm.

„Typisch Tess, in der Speisekammer einer alten Dame ein Vermögen zu finden“, sagte Lydia und kuschelte sich enger an Nathan. Die beiden tauschten einen intimen Blick, dann winkte Nathan den Kellner heran.

Jude nickte. „Tess scheint ein Händchen für alte Damen zu haben. Meine Lieblingsgeschichte von ihr ist die, als sie in einem Klavierhocker zwischen lauter Noten ein von Willie Mays signiertes Programmheft eines Giants-Spiels gefunden hat.“

„Oh ja. Die alte Dame meinte, er wäre so ein netter junger Mann gewesen.“ Bei der Erinnerung daran musste Tess lächeln. „Sie hatte keine Ahnung, dass sie jedes Mal auf einem Schatz saß, wenn sie sich hinsetzte, um ‚You’ll Never Walk Alone‘ zu spielen.“

„Ich schwöre, du bist wie Midas“, sagte Neelie.

Sie lachte. „Hey, sag das nicht. Midas war immerhin der Typ, der alles, was er anfasste, zu Gold machte – einschließlich seines eigenen Kindes.“

„Ich dachte, du magst keine Kinder“, sagte Jude.

„Aber ich mag Cheetos. Was würde wohl passieren, wenn alle meine Cheetos sich in Gold verwandelten?“

„Die Welt würde aufhören, sich zu drehen“, sagte Lydia. „Außerdem magst du sehr wohl Kinder. Du willst es nur nicht zugeben, aus Angst, dann uncool zu wirken.“

„Ich mag Kinder, und ich bin total cool“, sagte Neelie. „Und du kommst da auch noch hin, Tess. Selbst Menschen, die keine Kinder mögen, ändern ihre Meinung, wenn sie erst einmal eigene haben.“

„Hey, sprich nicht für andere“, protestierte Jude. „Pass gut auf, Russell. Hörst du das Ticken? Das ist ihre biologische Uhr.“

Russell legte einen Arm um seine Verabredung. „Ich denke, ich hab sie im Griff.“

„Hey, mich braucht man nicht in den Griff zu kriegen“, beschwerte sich Neelie. „Kuscheln, gerne. In den Griff kriegen – eher nicht.“

Tess’ Handy vibrierte, und sie schaute aufs Display, um zu sehen, wer anrief. Da sie die Nummer nicht kannte, ließ sie die Mailbox rangehen. Siehst du, dachte sie, ich bestehe doch nicht nur aus Arbeit. Ich kann sogar einem vibrierenden Telefon widerstehen.

„Wo wir gerade von tollen Sachen sprechen“, ergriff Nathan das Wort und deutete auf den Kellner, der mit einer Flasche Cristal und einem Champagnerkühler an den Tisch kam.

„Cristal?“, fragte Tess. „Ich wusste gar nicht, dass meine Geschichte so gut war.“

„War sie auch nicht. Aber es gibt andere großartige Neuigkeiten.“ Er stand in dem Moment auf, als zwei ältere Paare gefolgt von ein paar jüngeren Leuten die Bar betraten.

„Was ist hier los?“, wollte Jude wissen.

Mit offensichtlicher Begeisterung stellte Nathan allen seine und Lydias Eltern sowie verschiedene Brüder und Schwestern vor. Familienähnlichkeiten faszinierten Tess. Lydias Schwestern sahen aus wie zwei leicht veränderte Versionen von Lydia; sie hatten die gleichen braunen Haare und Stupsnasen. Nathans Dad war groß und schlank wie sein Sohn. Eine gewisse Aufregung lag in der Luft.

Familien waren das ultimative Rätsel. Sosehr sie Tess faszinierten, so chaotisch und kompliziert erschienen sie ihr. Trotzdem kam sie nicht umhin, sich zu fragen, wie es wohl war, von Leuten umgeben zu sein, mit denen man durch Blut und eine gemeinsame Geschichte verbunden war.

Ihre Freunde waren ihre Familie, ihre Arbeit war ihr Leben, und sie hatte einen Traum für ihre Zukunft. Doch ab und zu schlich sich eine intensive Sehnsucht in ihr Herz, so scharf wie eine dünne Messerklinge.

„Lydia und ich wollten heute alle hier versammeln“, erklärte Nathan. „Unsere Familie und unsere engsten Freunde. Denn wir haben euch etwas zu verkünden.“

„Nein!“ Neelie schlug die Hände vor den Mund, und ihre Augen funkelten vor Vergnügen.

Tess’ Herz schlug schneller, denn mit einem Mal wusste sie, was nun folgen würde.

Nathan strahlte so glücklich, dass Tess meinte, die Wärme seines Lächelns fühlen zu können. „Mom und Dad, Barb und Ed, wir sind verlobt!“ Lydia zog ein kleines grünes Kästchen aus ihrer Tasche und steckte sich den Diamantring an den Finger.

Lydias Mutter quiekte – quiekte –, und die beiden fielen einander mit selig geschlossenen Augen in die Arme. Die Schwestern gesellten sich dazu, und bald machten Umarmungen und Händeschütteln die Runde. Neelie, stets das Organisationstalent, übernahm es, das Datum, den Ort und die Weinliste der Hochzeitsfeier herauszufinden.

Als sie das glückliche Paar betrachtete, merkte Tess, dass ihr Tränen in den Augen brannten und ein Kloß in ihrer Kehle saß. „Herzlichen Glückwunsch, liebste Freundin“, sagte sie zu Lydia. „Ich freue mich so für dich.“

Lydia hielt Tess an den Händen. „Ich konnte es nicht erwarten, es dir zu erzählen. Ist das zu fassen? Ich werde heiraten!“

Tess lachte trotz der Tränen. „Wir haben immer gesagt, Hochzeiten sind etwas für Mädchen, die keine Fantasie haben.“ Sie dachte an die nächtlichen weinseligen Unterhaltungen in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim. Was war aus diesen Mädchen geworden? Das Trinken vermisste Tess nicht, aber die Kameradschaft. Obwohl sie sich für ihre Freundin freute, versteckte sich in einer dunklen Ecke ihres Herzens auch ein anderes Gefühl – ein leiser Anflug von Neid.

„Das war, bevor ich wusste, wie sich wahre Liebe anfühlt.“ Lydia warf ihrem Verlobten einen anbetenden Blick zu, doch Nathan hatte sein freudestrahlendes Gesicht gegen eine Flasche Bier eingetauscht und nahm den weiblichen Überschwang der Gefühle gar nicht wahr. „Jetzt bin ich unerträglich. Ich träume in letzter Zeit nur noch davon, ein Nest zu bauen und Babys zu kriegen.“ Sie kicherte, als sie Tess’ entsetzten Gesichtsausdruck sah. „Keine Sorge. Das ist nicht ansteckend.“

„Ich mache mir keine Sorgen. Versprich mir nur, dass du dich auch weiterhin über andere Dinge unterhalten wirst.“

„Natürlich werde ich das. Keine Gespräche über häusliches Familienleben, bis du an der Reihe bist.“

Tess bewunderte den Ring, einen in Platin gefassten Diamanten im Marquiseschliff. Es war erstaunlich, ihre Freundin so stolz diesen Beweis dafür tragen zu sehen, dass sie geliebt wurde und nicht länger alleine war. „Das kann dauern“, sagte Tess. „Ich bin ehrlich gesagt gar nicht scharf drauf, an die Reihe zu kommen.“

„Das sagst du jetzt. Aber warte, bis du den Märchenprinzen triffst.“

„Wenn du ihn siehst, gib ihm gerne meine Nummer.“

Lydia ging, um ihren Schwestern und zukünftigen Familienmitgliedern den Ring zu zeigen. Neelie notierte sich bereits die Kleidergrößen der Angehörigen der Braut. Immer noch ein wenig erschrocken ob der Gefühle, die sich ihrer bemächtigt hatten, tupfte Tess sich die Augen mit einer Serviette trocken.

„Ich stimme dir vollkommen zu“, sagte Jude und gesellte sich zu ihr. „Das ist eine tragische Wendung der Ereignisse.“

„Sei nicht so gemein. Schau dir an, wie glücklich sie sind.“ Sie die sah, wie Lydias Familie sich um sie versammelte – Mom, Dad, zwei ihr ähnlich sehende Schwestern –, und verspürte wieder den Kloß im Hals.

„Schau dich mal an, ganz hingerissen von der Romantik des Ereignisses.“ Jude musterte das glückliche Paar. Lydia und Nathan schienen einander nicht aus den Augen lassen zu können.

Sie seufzte. „Ja, ich schätze, du hast recht.“

„Komm, Delaney. Du hast gerade noch gesagt, dass du gar nicht an die Reihe kommen willst. Und jetzt wirst du hier auf einmal ganz weich und sentimental.“

„Warum nicht? Es gibt viele Menschen, die weiche, sentimentale Sachen mögen.“

„Ja, Menschen in Altersheimen vielleicht.“

„Sei nett.“

„Ich bin immer nett.“

„Dann schenk mir noch ein Glas ein. Ich habe heute auch etwas zu feiern“, erinnerte sie ihn.

Er füllte ihr Champagnerglas auf. „Ach ja. Wir feiern die Tatsache, dass du die Firma um ein Holmström-Original gebracht hast.“

„Sei nicht verbittert. Wir haben dafür ein perfektes Tiffany-Service inklusive Zuckerzange bekommen. Und die ganzen anderen Sachen.“

„Ich hätte lieber alles. Was denkt die alte Lady sich nur? Dass die Kette ihre Mutter aus dem Todeslager der Nazis zurückbringt?“

„Oh, wie wäre es, wenn ich sie genau das frage?“ Tess trank einen Schluck Champagner.

„Okay, tut mir leid. Du hast sicher dein Bestes gegeben.“

„Sie ist eine sehr nette alte Dame. Herzlich und voller toller Geschichten. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihr verbringen können. Tu mir bitte einen Gefallen und verschaffe ihr ein Vermögen für das Tiffany-Service.“

„Natürlich. Ich gebe es unserem besten Gutachter. Übrigens, Nathans Bruder hat ein Auge auf dich geworfen.“ Er sah über ihre Schulter.

„Und?“

„Und – bist du frei?“

„Wenn du meinst, ob ich mich im Moment mit jemandem treffe, lautet die Antwort: nein.“

„Was ist aus dem Motorradtypen geworden?“

„Er ist ohne mich in den Sonnenuntergang gefahren“, gab sie zu.

„Und Popeye, der Segler?“

Sie lachte. „Du meinst den Kerl von der Marine? Eldon ist in den Sonnenuntergang gesegelt. Was ist das nur mit Männern und Sonnenuntergängen?“

„Ich sehe, dein Herz ist gebrochen.“

„Oder auch nicht.“ Um das Herz gebrochen zu bekommen, müsste sie es erst einmal jemandem schenken, und dazu war sie nicht bereit. Es war zu gefährlich, und Männer waren zu sorglos. Ihre Mutter und Großmutter waren der beste Beweis dafür. Tess war entschlossen, nicht in dritter Generation eine Verliererin zu werden. Sie wusste, worin sie gut war – in ihrer Arbeit. Da hatte sie die Kontrolle. Sie war erzogen worden, alles fest im Griff zu haben. Doch was Herzensangelegenheiten anging, konnte man nichts kontrollieren. Deshalb fand sie feste Beziehungen beunruhigend, vor allem in Anbetracht ihrer abtrünnigen Freunde, die sich auf einmal auf Ehen und Kinder einließen.

„Ich gebe den Versuch auf, mit deinen Männergeschichten mitzuhalten“, sagte Jude. „Es bleibt ja sowieso keiner lange genug, als dass ich mir den Namen merken könnte.“

„Autsch“, sagte sie. „Touché.“

„Bist du vielleicht eine heimliche Männerhasserin?“, fragte er. „Könnte das dein Problem sein?“

„Guter Gott, nein. Ich liebe Männer.“ Sie senkte den Blick und schaute dann aus dem Fenster. Die Nacht hatte eine Decke aus goldenen Sternen über die Stadt gebreitet. „Ich bin nur nicht sonderlich gut darin, sie zu halten.“

„Sollen wir uns ein Zimmer nehmen und ein paar Stunden wilden Sex haben?“, schlug Jude vor und strich ihr mit dem Finger von der Schulter bis zum Ellbogen.

Sie schlug seine Hand fort. „Spinn nicht rum.“

„Ich bin nur praktisch. Wir sind die Einzigen hier, die nicht vergeben sind, also dachte ich …“

„Was? Wir beide? Wir würden einander zerstören.“

„Mit dir bringt das überhaupt keinen Spaß, Schwester Maria Theresa. Wann wirst du dich endlich von meinem Charme einwickeln lassen?“

„Wie wäre es mit nie?“ Sie leerte ihr Champagnerglas mit einem Schluck. „Würde dir das passen?“

„Du bringst mich um. Na gut. Ich gehe auf die Pirsch, um mein armes lädiertes Ego wieder aufzumöbeln.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und schenkte ihr ein freundschaftliches Lächeln. „Bis später, meine Schöne. Ich muss jetzt einen One-Night-Stand organisieren.“

„Okay, das ist deprimierend.“

„Nein. Alleine nach Hause zu gehen ist deprimierend.“ Er machte sich auf in Richtung der stimmungsvoll beleuchteten Bar, an der die jungen Frauen aufgereiht standen wie die Enten am Schießstand.

Tess bezweifelte keinen Augenblick, dass Jude Erfolg haben würde. Was den ersten Eindruck anging, war er einfach unschlagbar. Nicht nur, weil er aussah wie direkt einer Armani-Kampagne entstiegen, sondern auch weil er so eine bestimmte Art hatte, eine Frau anzuschauen, bei der man sofort das Gefühl bekam, der Mittelpunkt seiner Welt zu sein.

Tess durchschaute ihn allerdings. Auf seine Weise war er genauso einsam und beschädigt wie sie.

Sie stellte ihr Champagnerglas ab und trat ans Fenster. In einer klaren Nacht wie dieser war San Francisco einfach magisch. Die Straßenlaternen zogen sich schimmernd wie eine Diamantkette um die Bucht, und der Himmel war so schwarz und weich wie Samt. Die Kabel der Brücken sahen aus wie goldfarbene Girlanden. Boote jeder Größe glitten über das Wasser. Die Hochhäuser ragten auf wie unterschiedlich hohe Goldbarren. Selbst der Verkehr in den Straßen tief unter ihr zog sich wie eine mit Rubinen besetzte Goldkette durch die Stadt. Tess war schon in unzähligen Städten auf der ganzen Welt gewesen. Paris. Johannesburg. Mumbai. Shanghai. Aber San Francisco war ihr immer noch am liebsten. Es war eine Stadt, in der Unabhängigkeit geschätzt und nicht bemitleidet oder als Problem angesehen wurde, das wohlmeinende Freunde sofort meinten, lösen zu müssen.

Sie näherte sich dem frisch verlobten Paar, um sich zu verabschieden. Als sie ihre Freunde so zusammen sah, lächelnd und mit geröteten Wangen, die Augen vor Glück funkelnd, wurde Tess von einem bittersüßen Gefühl ergriffen. Lydia war einer dieser Menschen, bei denen das Leben so leicht aussah. Sie war nicht so naiv, Nathan als perfekt anzusehen. Und doch vertraute sie ihm einfach ihr Herz an. Tess fragte sich, ob man diese Fähigkeit lernen konnte oder ob sie angeboren war.

„Ich mach mich auf den Weg“, sagte sie und zog Lydia in ihre Arme. „Ruf mich an.“

„Na klar. Pass auf dich auf.“

Tess verließ die Bar und stieg in den Fahrstuhl. Die Spiegel waren so angeordnet, dass sie sich bis in die Unendlichkeit spiegelte. Sie betrachtete das Bild – blasse Haut und Sommersprossen, welliges rotes Haar, ein Burberry-Trenchcoat, den sie in Hongkong für den Bruchteil des Preises erstanden hatte, den sie in den USA hätte zahlen müssen.

Sie schaute sich so lange an, dass sie sich selber fremd vorkam. Wie war so etwas möglich?

Aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, schlug ihr Herz auf einmal schneller und hämmerte wie verrückt gegen ihren Brustkorb. Guter Gott, wie viel hatte sie denn getrunken? Ihr Atem wurde flacher, ihre Kehle wurde eng. Sie umklammerte den Handlauf und versuchte, sich gegen den aufkommenden Schwindelanfall zu wappnen.

Vielleicht habe ich mir etwas eingefangen, überlegte sie, als das Gefühl nicht nachlassen wollte, sondern sie den ganzen Weg bis in die opulente Lobby des Hotels begleitete. Nein. Sie hatte keine Zeit, krank zu werden. Das kam überhaupt nicht infrage.

In der Lobby gab es ebenfalls überall Spiegel, und ein Blick hinein verriet Tess, dass sie nicht aussah wie eine Frau, die jeden Augenblick zusammenbrechen könnte. Aber sie fühlte sich so, und das Gefühl trieb sie zur Tür hinaus. Sie eilte in die Nacht hinaus und in Richtung Lower Nob Hill, ihrem Wohnviertel. Sie verzichtete auf ein Taxi. Ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft würde ihr sicher guttun.

Ihre Absätze klackerten nervös auf dem Gehweg. Das metallische Kreischen einer Straßenbahn stach ihr in die Ohren. Ihr Blick schwankte zwischen verschwommen und klar, als würde sie durch ein Fernglas schauen und versuchen, die Schärfe einzustellen. Ihr Herz raste immer noch, ihr Atem ging schnell und flach. Vielleicht liegt es am Champagner, dachte sie.

Wenn sie einen Hausarzt hätte, würde sie ihn anrufen. Doch sie hatte keinen. Mein Gott, sie war neunundzwanzig. Ärzte waren etwas für kranke Leute. Sie war nicht krank. Sie hatte nur ab und zu das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren.

Sie holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer ihrer Mutter, ohne jedoch große Hoffnung zu haben, sie auch zu erwischen. Shannon Delaney reiste irgendwo in Frankreich in der Auvergne herum – einer Gegend, die berühmt war für ihre Geschichte, ihre Weine und ihre Landschaft … und ihr schlechtes Handynetz.

„Hey, ich bin’s“, sagte sie, als die Mailbox sich meldete. „Wollte nur mal hören, wie es dir geht. Ruf mich an, wenn du kannst. Mal sehen, was gibt’s hier Neues? Lydia und Nathan haben sich verlobt, aber das interessiert dich nicht, weil du weder Lydia noch Nathan kennst. Ach ja, und ich habe heute ein komplettes Tiffany-Service gefunden. Und noch ein paar andere Sachen. Also melde dich.“

Sie steckte das Handy weg und fragte sich, wann das zittrige Gefühl wohl wieder vergehen würde. Eine Zigarette, das war’s, was sie jetzt brauchte. Ja, sie war Raucherin. Diesem Laster war sie vollkommen gedankenlos auf ihrer ersten Geschäftsreise nach Frankreich verfallen. Sie wusste, welche schlimmen Nebenwirkungen es für die eigene Gesundheit und die ihrer Mitmenschen hatte. Und natürlich hatte sie vor, eines Tages damit aufzuhören. Bald schon. Aber nicht heute Abend.

Sie stellte sich in den schützenden Eingang eines Hauses und suchte in ihrer Handtasche nach der rot-weißen Packung. Dann kam die wahre Herausforderung – Streichhölzer zu finden. Wie immer herrschte in ihrer Tasche ein heilloses Chaos aus Lippenstiften, Quittungen, Busfahrkarten, Notizen, Informationen über die Fälle, an denen sie gerade arbeitete, und Visitenkarten von Leuten, deren Gesichter sie schon lange wieder vergessen hatte. Außerdem hatte sie immer das Werkzeug ihrer Zunft dabei wie eine Lupe und eine kleine Taschenlampe. Sie stieß sogar auf den kleinen Beutel mit Lavendelscones, den Miss Winther ihr mitgegeben hatte.

Endlich fand sie, was sie suchte – eine Packung Streichhölzer von Fuego, einem trendigen Bistro, in dem sie mal eine Verabredung gehabt hatte. Mit einem Typen, der sie aus welchen Gründen auch immer nie wieder angerufen hatte. Sie konnte sich nicht an ihn erinnern, aber sie wusste noch, dass der Salat mit Birnen und Blauschimmelkäse ein Gedicht gewesen war. Vielleicht war sie deshalb nicht noch mal mit dem Mann ausgegangen; er war nicht so erinnerungswürdig wie der Käse.

Als sie die Zigarettenschachtel öffnete, sah sie, dass nur noch eine Zigarette übrig war. Egal. Vielleicht würde sie morgen aufhören. Sie steckte sich den Filter zwischen die Lippen und zündete ein Streichholz an, das jedoch vom Wind sofort wieder ausgepustet wurde. Sie nahm ein neues.

„Entschuldigung.“ Eine Frau, die einen klapperigen Einkaufswagen vor sich herschob, blieb neben Tess auf dem Bürgersteig stehen. Der Korb war vollgepackt mit Plastiktüten, in denen sich Dosen, ein zusammengerollter Schlafsack, Kleidung und ein handgeschriebenes Pappschild befanden. Vor dem Wagen lief ein kleiner, zerzauster Hund. Seine Knopfaugen fingen den gelben Schein der Straßenlaternen ein, während die Frau den Einkaufswagen quer gegen die ansteigende Straße stellte.

Tess war in dem Hauseingang gefangen. Sie konnte schlecht einfach weitergehen, den Blick abwenden und so tun, als hätte sie die Frau nicht gesehen.

„Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?“ Die Frau klang höflich, aber auch sehr erschöpft und ein wenig außer Atem von dem schweren Weg bergauf.

„Das ist leider meine letzte.“

„Ich will ja auch nur eine.“

Resigniert steckte Tess die Zigarette in die Schachtel zurück und reichte sie der Frau. „Hier. Nehmen Sie.“

„Danke“, sagte sie. „Haben Sie auch Feuer?“

„Na klar.“ Sie gab ihr auch noch die Streichhölzer.

Mit stark zitternden Händen steckte die Frau Zigarette und Streichhölzer ein.

„Wie wäre es mit ein paar hausgemachten Scones?“ Tess hielt der Frau den Beutel von Miss Winther hin.

„Sicher. Danke.“ Die Frau nahm sich einen und biss hinein. „Haben Sie die gebacken?“

„Nein. Ich kann weder backen noch kochen. Eine …“ Freundin? „Eine Kundin hat sie gemacht.“ Sie versuchte, sich nicht an dem Gedanken aufzuhängen, dass sie mehr Kunden als Freunde hatte.

„Die schmecken verdammt gut.“ Den letzten Bissen gab sie dem Hund, der sich benahm, als wäre es Manna vom Himmel. „Das findet Jeroboam auch.“ Sie lachte leise, als der Hund an ihr hochsprang, um ihr Kinn abzulecken. „Passen Sie gut auf sich auf.“ Damit schob sie ihren Wagen wieder bergab. „Und Gott segne Sie.“

Tess schaute ihr hinterher und dachte über die Ironie der Worte der Obdachlosen nach. Passen Sie gut auf sich auf.

Sofort war das Unbehagen wieder da. Es überrollte sie mit neuer Kraft, und schnell setzte sie sich in Bewegung, verfiel beinahe in einen Laufschritt, um … ja, um wohin zu gelangen? Und warum die Eile?

„Ganz ruhig“, flüsterte sie im Takt ihres Atems. Sie wiederholte den Satz wie ein Mantra, doch es half nichts. Sie rannte zu ihrem Haus und stocherte einen Moment mit dem Schlüssel im Schloss herum, bevor sie die Tür mit zitternden Händen öffnete. Dann rannte sie durch den leichten Geruch nach Küchendünsten und Möbelpolitur die Treppe hinauf

„Du bist zu Hause“, sagte sie, als sie endlich in ihrer Wohnung angekommen war und sich in dem vertraut chaotischen Apartment umsah. Koffer und Taschen in verschiedenen Stadien des Auspackens lagen und standen überall herum. Wäsche, die gewaschen oder weggeräumt werden musste. Stapel von Büchern und Papieren. Kreuzworträtsel und Arbeitsunterlagen. Sie war so sehr mit Reisen und Arbeiten beschäftigt, dass sie nur selten lange genug daheim war, um aufzuräumen.

Trotzdem liebte sie ihr Zuhause. Sie liebte Altes. Der braune Klinkerbau war ein Überlebender des Erdbebens und Feuers von 1907 und trug stolz eine entsprechende Plakette der Historischen Gesellschaft. Das Gebäude hatte eine gruselige Geschichte – es war einst der Tatort eines Verbrechens aus Leidenschaft gewesen –, doch das machte Tess nichts aus. Sie war nicht abergläubisch.

Die Wohnung war voller Dinge, die sie im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte, weil sie ihr gefielen oder sie faszinierten. Es war eine gelungene Mischung aus Erbstücken und Kitsch, deren verbindendes Element darin bestand, dass jedes Stück eine Geschichte hatte. Wie ein Tonkrug, an dessen unterem Rand eine Liebesgeschichte in Bildern erzählt wurde und in dem sie einen Zettel gefunden hatte, auf dem stand: Mögen wir lange laufen. Gilbert. Oder die antike Uhr an der Wohnzimmerwand, deren geschnitzte Ziffern jeweils einem der zwölf Kinder des Uhrmachers nachempfunden waren. Sie mochte das Ungewöhnliche, sofern es einst von jemand anderem geschätzt worden war. Ihre Post quoll aus einer antiken Kiste, die eine Taubenuhr beinhaltete, mit der damals die Flugzeiten bei Brieftaubenwettrennen gemessen worden waren. Eine Messingplakette verriet, dass ein Vater diese Kiste seinem Sohn geschenkt hatte. Tess hängte ihre große Handtasche an einen schmiedeeisernen Geländerknopf, der einst das Treppengeländer in einer Stadtbücherei geziert hatte, die abgebrannt und innerhalb weniger Wochen durch die tatkräftige Hilfe aller Gemeindemitglieder wieder aufgebaut worden war.

Sie fand die Schätze anderer Menschen einfach unglaublich faszinierend. Sie trugen die Scharten und Fingerabdrücke der Geschichte und ihrer ehemaligen Besitzer. Vermutlich hatte Tess diese Leidenschaft entwickelt, weil sie in ihrer Kindheit so viel Zeit in dem Antiquitätengeschäft ihrer Großmutter verbracht hatte. Da ihre eigene Familie nur so klein war, hatte sie sich früher immer vorgestellt, wie es wohl wäre, Geschwister, Tanten und Onkel zu haben … und einen Vater.

Heute Abend boten ihre Schätze ihr jedoch keinen Trost. Sie tigerte auf und ab und wünschte sich, sie hätte das letzte Glas Champagner nicht getrunken. Wünschte sich, nicht ihre letzte Zigarette weggegeben zu haben. Wünschte sich, sie könnte Neelie oder Lydia anrufen, ihre besten Freundinnen. Doch Lydia war ganz mit ihrer Verlobung beschäftigt, und Neelie hatte einen neuen Freund. Tess brachte es einfach nicht über sich, ihnen den fröhlichen Abend mit einem lächerlichen Hilferuf kaputt zu machen.

„Ja, du bist lächerlich, das bist du“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Es gibt überhaupt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Was, wenn du wirklich in Schwierigkeiten stecktest? Was, wenn es dir so ginge wie den Winthers im von Nazis besetzten Dänemark? Das wäre etwas, worüber man sich den Kopf zerbrechen könnte.“

Dann dachte Tess an die Bettlerin, die vermutlich auch Sorgen hatte, und doch der Welt mit erschöpfter Akzeptanz entgegentrat. Sie schien mit den Scones und dem Hund zufrieden gewesen zu sein. Vielleicht sollte ich mir auch einen Hund zulegen, dachte Tess. Aber nein. Sie reiste zu viel, um sich auch nur um einen Farn zu kümmern, geschweige denn um einen Hund.

Doch egal, wie sehr sie sich auch bemühte, das Hämmern ihres Herzens in der Brust zu ignorieren, sie konnte ihm nicht entkommen. Das war das Einzige, wovor sie bisher noch nicht hatte weglaufen können – vor sich selbst.

3. TEIL

Meine Liebste, nimm ein wenig Lavendel oder, besser noch,

einen Fingerhut voll Wein;

deine Lebensgeister sind sehr schwach, meine Süße.

John O’Keeffe, A Beggar on Horseback, 1798

3. KAPITEL

Archangel, Kalifornien

Er wanderte am Highway entlang“, sagte Bob Krokower mit Blick auf den langbeinigen Schäferhundmischling am Ende der Leine. „Fay und ich dachten, Charlie wäre ein schöner Gefährte für unseren Ruhestand, aber wie sich herausstellt, passen wir nicht wirklich gut zusammen.“

Dominic Rossi betrachtete die riesigen Pfoten und die schelmisch funkelnden Augen des großen Junghundes. Dann schaute er wieder Bob an, seinen Bankkunden, der inzwischen auch ein Freund war und der den Hund quer über das Feld und den Angel Creek, der zwischen ihren Häuser verlief, hierhergezerrt hatte. „Ich habe schon zwei Hunde“, sagte er. „Iggy und Dude.“ Beide stammten ebenfalls aus der Tierrettung. Einer war ein verrücktes kleines italienisches Windspiel aus einer Massenzucht, und in dem anderen hatten so viele Rassen mitgemischt, dass Dominic sich manchmal nicht sicher war, ob es sich überhaupt noch um einen Hund handelte.

„Wir können ihn nicht behalten. Wir fahren heute übers Wochenende mit den Enkelkindern weg. Er ist sehr freundlich.“ Bob rückte seine Baseballkappe zurecht. „Hier ist ein großer Futtersack. Der Junge kommt gut mit anderen Hunden zurecht. Und auch mit Kindern. Er liebt Kinder. Er kommt nur nicht mit Rentnern klar.“

Dominic hatte für den heutigen Tag eine meterlange Liste mit Dingen, die zu erledigen waren. Darunter die Kinder von seiner Exfrau abholen. Von der Rettung eines Streuners hingegen stand nichts darauf. Wie immer war er früh aufgestanden und hatte den Tag mit einer Runde durch seinen Weinberg begonnen. Trauben anzupflanzen und Wein zu keltern war seine Leidenschaft, aber er war weit davon entfernt, davon leben zu können. Er musste es zwischen seine Arbeit und seine Pflichten als alleinerziehender Vater quetschen und wechselte die Rollen inzwischen mühelos.

„Hör mal“, sagte Bob, „wenn du ihn nicht nehmen kannst, kann ich ihn bestimmt zum Tierheim in Healdsburg bringen und …“

Dominic schaute in die braunen Augen des Tieres, obwohl er wusste, ein Blick in die treuen Augen eines Hundes reichte, und es war um einen geschehen. Genauso wie jetzt. „Lass ihn hier. Mir fällt schon was ein.“

Bob drückte ihm die Leine in die Hand. „Du kannst wirklich gut mit Hunden und Menschen umgehen. Ich bin sicher, er lebt sich hier ganz schnell ein. Dank dir tausendmal, Dominic.“

Nachdem er den Hund in guten Händen wusste, machte Bob sich wieder auf den Weg. Dominic schaute ihm hinterher. Bob kannte ihn einfach zu gut. Er wusste, dass Dominic Rossi Schwierigkeiten hatte, das Wort Nein auszusprechen. „Charlie, hm?“, sagte er zu dem Hund. „Du siehst mir nach einem ganz schönen Kaliber aus, aber ich werde ein Zuhause für dich finden. Da fällt mir gerade ein, ich habe den Wagners noch gar kein Geschenk zu ihrem Einzug vorbeigebracht.“ Kurt Wagner hatte sich gerade für ein Darlehen qualifiziert, das aus einem Programm stammte, das Dominic in der Bank eingeführt hatte. Es unterstützte Veteranen beim Hauskauf. Vielleicht wäre Kurt bereit, dem Hund ein Zuhause zu geben. Wobei, sehr wahrscheinlich war das nicht. Kurts Frau war schwanger, da wäre ein noch nicht ausgewachsener Vierbeiner vermutlich zu viel.

Nachdem er sichergestellt hatte, dass die Leine ordentlich am Halsband befestigt war, ließ Dominic seinen Blick über die sanften Hügel des Johansen-Grundstücks schweifen. Die Apfelbäume von Bella Vista zogen sich in geraden Reihen über einen in der Ferne liegenden Kamm, der an Dominics Besitz grenzte. Die Ernte müsste inzwischen in vollem Gange sein, doch auf Magnus’ Plantage war es seltsam still, und es war keine Menschenseele zu sehen.

Der Gedanke an Arbeit erinnerte ihn daran, dass er sich besser auf den Weg machte. Er atmete noch einmal die klare Morgenluft ein und ermahnte sich, dankbar zu sein für das Leben, das er hatte. Selbst wenn es nicht das Leben war, das ihm für sich vorgeschwebt hatte. Seine Karriere als Navypilot war vorbei gewesen, als eine Mission zu einem Unglück geführt hatte. Jetzt war er alleinerziehender Vater hier in Archangel, dem Ort, in dem er inmitten der sonnenverbrannten Felder und Weinberge aufgewachsen war. Ein Platz für Träumer und Künstler, für Farmer und Familien. Die wilde, trockene Landschaft durchzogen Straßen, die von knorrigen alten Eichen gesäumt waren und zu einer Bilderbuchstadt voller kleiner Läden und Cafés führten. Es war nicht das Schlimmste, wieder hier zu sein. Er konnte Wein anbauen und herstellen, etwas, wovon er schon lange geträumt hatte, auch wenn sein Tag nicht genügend Stunden hatte, um sich mit vollem Herzen darum zu kümmern. Das Leben war im Großen und Ganzen gut – solange er sich auf die Dinge konzentrierte, die er hatte, und nicht auf die, die er vermisste.

Charlie gähnte laut und leckte sich über die Lefzen.

„Ich weiß, Kumpel. Überlegen wir mal, was wir mit dir machen.“ Er dachte erneut an Magnus und dessen Enkelin Isabel. Vielleicht war es auf der angrenzenden Plantage so leise, weil Magnus’ Geldprobleme sich zugespitzt hatten. Mit einem Gefühl, als wäre er der Sensenmann persönlich, hatte Dominic seinem ältesten und liebsten Kunden vor Kurzem persönlich einen Brief überreichen müssen. Bei der Erinnerung an das schwierige Gespräch zuckte er immer noch zusammen.

„Es tut mir leid. Ich habe alles getan, um es aufzuhalten oder wenigstens hinauszuzögern.“

„Ich weiß. Du hast mir ein paar zusätzliche Jahre verschafft.“ Der alte Mann hatte einen beinahe philosophischen Gesichtsausdruck zur Schau getragen. In seiner Miene lag nicht der Hauch von Angst.

Dominic hatte die Zwangsvollstreckung so lange wie möglich aufgeschoben, bis die Bank, für die er arbeitete, von einer anderen Bank übernommen wurde. Die neue Bank – ein weltumspannender Koloss – war nicht so verständnisvoll gewesen. „Verdammt. Ich hasse diese Seite des Geschäfts, aber ich habe zwei Kinder und kann nicht riskieren, meinen Job zu verlieren.“

„Ich verstehe das. Ich finde schon eine Lösung.“

Dominic dachte, dass es für Magnus keine Lösung mehr gab, doch das behielt er für sich.

Wie immer dachte Magnus an sich selbst zuletzt. „Was mit deiner Familie passiert ist, tut mir sehr leid, Dominic.“

Dominic nickte. „Danke.“

„Wir beide haben jetzt mal ein wenig Glück verdient, oder?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Ich verstehe das. Du bist ein junger Mann, der Verantwortung für seine Kinder trägt. Das alles ist nicht deine Schuld. Manchmal glaube ich, du nimmst das schwerer als ich.“ Magnus hatte seine stets präsente Wurzelpfeife in die Hand genommen. Er hatte zwar vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, doch die Pfeife steckte immer in seiner Hemdtasche. „Sag, hast du dich um das Testament gekümmert? Du bist immer noch damit einverstanden, mein Testamentsvollstrecker zu sein?“

„Natürlich, wenn du das möchtest.“

„Ja, das möchte ich.“

Dominic riss sich von der Erinnerung los. Er versuchte immer, so gut es ging zu helfen. Aber manchmal war sein Bestes nicht gut genug.

Er zupfte kurz an der Leine und machte sich auf den Weg in den Garten. Charlie konnte bei ihm bleiben, bis er ein neues Zuhause für ihn gefunden hatte. Sein Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer.

„Dominic Rossi.“

„Hier spricht Ernestina Navarro. Ich bin im Valley Medical Krankenhaus.“

Magnus’ langjährige Haushälterin. „Was ist los?“, fragte Dominic.

„Haben Sie nicht von dem Unfall auf Bella Vista gehört?“

„Was für ein Unfall?“

„Der alte Magnus ist von der Leiter gefallen.“

Mist. „Nein.“ Mit einem Schlag war sein ganzer Tag auf den Kopf gestellt.

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