Der Geschmack von wildem Honig

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Der Duft von frischen Kräutern, köchelnden Soßen und frisch gebackenem Brot gehört zu Bella Vista wie die Apfelhaine und Lavendelfelder. Kein Ort ist Isabel lieber als dieser. Früher träumte sie davon, die Welt zu entdecken und sich kulinarisch inspirieren zu lassen. Doch irgendwo auf dem Weg hat sie ihre Abenteuerlust verloren. Ganz im Gegensatz zu Cormac O’Neill. Der Reporter hat die ganze Welt bereist und ist nun nach Bella Vista gekommen, um für ein Buch über Isabels Großvater zu recherchieren. Er spürt eine beinahe greifbare Sehnsucht in Isabel, die sie sich bemüht zu verbergen. Ein zehn Jahre altes Video von ihr, das er im Internet gefunden hat, soll sie daran erinnern, welche Träume sie einst hatte. Damit öffnet er eine Tür in ihre Vergangenheit, die besser für immer geschlossen geblieben wäre.


  • Erscheinungstag 10.02.2015
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493928
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Der Geschmack von wildem Honig

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ralph Sander

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Beekeeper’s Ball

Copyright © 2014 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-392-8

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

TEIL I

Eine Biene, die auf Nahrungssuche ist, wird nur in den seltensten Fällen stechen, es sei denn, sie erschreckt sich oder sieht eine Gefahr für den Bienenstock. Nimmt eine Biene eine Bedrohung wahr oder wird sie durch Pheromone alarmiert, die auf einen Angriff hinweisen, wird sie sich dem Angreifer entgegenstellen und ihn stechen. Der Stachel der Arbeiterbiene besitzt einen Widerhaken. Wird das Opfer gestochen, verfängt sich der Widerhaken in der Haut und der Stachel wird aus dem Körper der Biene gerissen, was innerhalb weniger Augenblicke zu deren Tod führt.

Der Stachel der Bienenkönigin besitzt hingegen keinen Wider haken.

Die Königin kann wiederholt zustechen, ohne zu sterben.

Bienenstich

Der traditionelle Bienenstich wird nach einem ziemlich aufwendigen Rezept hergestellt. Diese etwas vereinfachte Version schmeckt aber genauso köstlich. Am besten genießt man Bienenstich am Nachmittag bei einer guten Tasse Kaffee.

Teig

270 g Mehl

¾ TL Salz

4 EL Butter

2 Eier

2 EL Honig

60 ml warmes Wasser oder Milch

1½ TL Trockenhefe

Verrühren Sie alle Zutaten in einer Rührschüssel, bis Sie eine leicht klebrige, elastische Teigkugel erhalten. Legen Sie diese auf ein leicht geöltes Brett und kneten Sie den Teig 5 bis 7 Minuten lang, bis er sich gleichmäßig weich anfühlt. Falls Sie einen Mixer mit Teighaken haben, benutzen Sie stattdessen diese für 4 bis 7 Minuten bei mittlerer Geschwindigkeit. Legen Sie den Teig in eine mit Butter gefettete Schüssel und rollen Sie ihn herum, bis alle Seiten eingefettet sind. Decken Sie die Schüssel dann mit einem feuchten Küchentuch oder Klarsichtfolie ab und lassen Sie den Teig ca. 1 Std. gehen, bis er sich merklich vergrößert hat.

Nun geben Sie den Teig wieder auf ein leicht geöltes Brett und falten ihn einmal zusammen (dabei gibt er eventuell ein leicht seufzendes Geräusch von sich). Kleiden Sie dann eine gebutterte 25-cm-Springform oder eine 33 x 20 cm große Backform mit dem Teig aus. Keine Angst, wenn er sich anfangs wieder vom Rand löst. Nachdem er eine Weile geruht hat, wird sich das Gluten entspannen und der Teig lässt sich besser verarbeiten. Nach ungefähr 30 Minuten drücken Sie ihn noch einmal in Form.

Während der Teig ruht, bereiten Sie die Füllung zu.

Honig-Mandel-Glasur

6 EL Butter

2 EL Konditorsahne (36–40 % Fett)

75 g Zucker

165 g gehobelte Mandeln

3 EL Honig

eine Prise Salz

Die Butter in einem Topf bei mittlerer Hitze schmelzen. Zucker, Honig und Sahne unterrühren. Das Ganze zum Kochen bringen und 3 bis 5 Minuten köcheln lassen, bis ein goldfarbener Sirup entsteht. Gehobelte Mandeln unterrühren, leicht abkühlen lassen und dann vorsichtig auf dem Teig verteilen.

Den Kuchen bei 175 °C ca. 25 Minuten backen, bis die Glasur eine tiefgoldene Färbung erreicht hat und der Teig durch ist. Den Kuchen auf einem Gitter ganz auskühlen lassen.

Während der Kuchen abkühlt, können Sie die Cremefüllung zubereiten.

Vanillesahne

240 ml minus 2 TL leicht geschlagene Konditorsahne

480 ml Vanillesoße oder -pudding, entweder selbst gemacht, fertig gekauft oder auch als Pulver zum Anmischen, ganz nach Ihren Fertigkeiten und Wünschen

1 EL Honig

1 EL Bärenjäger oder ein anderer Honiglikör

Den abgekühlten Kuchen in Stücke oder Rhomben schneiden und mit der Vanillesahne, einem Schlückchen Medovina, Kaffee oder Tee servieren. Medovina ist ein süßer, aus Honig hergestellter Wein – das älteste bekannte alkoholische Getränk.

[Quelle: Variation eines traditionellen Rezepts]

1. KAPITEL

Die oberste Regel in der Bienenzucht lautete: Ruhe bewahren, und Isabel hatte sich geschworen, niemals dagegen zu verstoßen. Als sie jedoch den gewaltigen Schwarm Honigbienen betrachtete, der sich an dem Ast des Ligusterbaums versammelt hatte, fürchtete sie, ihren eigenen Schwur brechen zu müssen.

Die Imkerei war für sie noch Neuland, aber das konnte nicht als Entschuldigung herhalten. Sie hatte gedacht, bereit zu sein, um ihren ersten Schwarm zu fangen. Sie hatte jedes in der Stadtbibliothek von Archangel auffindbare Buch zum Thema Bienenzucht gelesen, sich ein Dutzend Videos im Internet angeschaut. Doch nirgendwo war ein Wort darüber verloren worden, dass das Summen von Tausenden Bienen das wohl unheimlichste Geräusch sein würde, das sie je in ihrem Leben gehört hatte. Es erinnerte sie an die Musik der fliegenden Affen in Der Zauberer von Oz.

„Denk jetzt nicht an fliegende Affen“, ermahnte sie sich im Flüsterton. Was natürlich dazu führte, dass sie an nichts anderes denken konnte.

Sie musste alle Willenskraft und Selbstkontrolle aufbringen, um sich nicht in den nächsten Bewässerungsgraben zu werfen und so laut sie konnte nach Hilfe zu rufen.

Dabei hatte der Tag so vielversprechend angefangen. Sie war bei Anbruch der Morgendämmerung voller Elan aus dem Bett gesprungen, um einen weiteren perfekten Tag in Sonoma zu begrüßen. Nur ein paar Nebelschwaden hatten sich von der Küste kommend bis in die Täler verirrt, wo sie sich wie ein Brautschleier auf das Grün und Gold der Hügel legten. Isabel hatte sich in aller Eile Shorts und T-Shirt angezogen und sich dann mit Charlie auf die morgendliche Gassirunde vorbei an Apfelbäumen und Walnussbäumen gemacht. Dabei hatte sie tief die nach Lavendel und frischem Gras duftende Luft eingeatmet. Der Himmel auf Erden.

In letzter Zeit wachte sie jeden Morgen sehr früh auf, weil sie zum Ausschlafen einfach zu aufgeregt war. Sie arbeitete an dem größten Projekt, an das sie sich je herangewagt hatte: die Umwandlung ihres Zuhauses in eine Kochschule. Die Arbeiten näherten sich ihrer Vollendung, und wenn alles nach Plan lief, würde sie pünktlich zur Erntezeit die ersten Gäste in der Bella Vista Cooking School willkommen heißen.

Die weitläufige, im Stil einer Mission erbaute Hazienda mit ihrer Apfelplantage und den Gemüsegärten war der ideale Ort für ihr Projekt. Das Anwesen war für sie und ihren Großvater alleine schon seit Langem eine zu schwere Belastung; zudem waren ihre eigenen Träume stets eine Nummer zu groß für ihr Budget gewesen. Kochen war ihre große Leidenschaft, und ihr gefiel die Vorstellung, einen wunderschönen Ort zu erschaffen, an dem sie mit anderen Träumern zusammenkommen konnte, um ihnen die kulinarischen Künste zu vermitteln. Und nun hatte sie endlich einen Weg gefunden, wie sie in das Haus hineinwachsen konnte, das sich immer zu riesig angefühlt hatte.

Isabel war entschlossen, das Haus auf jede nur mögliche Weise wiederzuerwecken, es mit der vibrierenden Energie der Lebenden zu erfüllen. Sie war so dankbar, endlich die Mittel zu haben, um diesen Ort zu seiner früheren Größe zurückzuführen.

Was bedeutete, die Hazienda der Welt wieder zu öffnen. Sie wollte mehr daraus machen als ein Anwesen, auf dem sie und ihr Großvater ihre Tage verbrachten. Sie hatte schon viel zu lange wie eine Einsiedlerin gelebt. Diesen Sommer stand eine Hochzeit mit ganz vielen Gästen an. Und im August würde sie die Schüler ihrer Kochschule beherbergen.

Den Kopf voller Pläne für den Tag war sie mit Charlie, ihrem hochbeinigen Deutschen Schäferhund, zu den Bienen gegangen. Bei den Bienenstöcken angekommen, die an einem Hang nahe einem zerfurchten Feldweg am Ende der Obstplantage standen, hatte sie das Geräusch der fliegenden Affen gehört und erkannt, woher es stammte – von einem Bienenschwarm.

Es war ein völlig natürliches Geschehen. Wie eine Königswitwe, die ihrer Nachfolgerin Platz machte, hatte die Bienenkönigin den Stock verlassen, um sich eine neue Unterkunft zu suchen. Dabei hatte sie mehr als die Hälfte ihrer Arbeiter mitgenommen. Durch die Beschäftigung mit der Fachliteratur wusste Isabel, dass sich ein solcher Vorgang nur selten so früh am Tag ereignete. Aber die Morgensonne schien inzwischen schon sehr intensiv, und Kundschafterbienen waren unterwegs, um nach dem idealen neuen Zuhause zu suchen, während sich der Rest an einem Ast festklammerte und geduldig wartete. Isabel als zuständige Imkerin musste den Bienenschwarm einfangen und ihn in einen leeren Stock schaffen, bevor die Späher zurückkehrten und den Schwarm an einen unbekannten Ort führten.

Sie hatte bereits eine SMS an den lokalen Bienenexperten Jamie Westfall geschickt. Erst letzte Woche hatte er ihr einen Flyer in den Briefkasten gesteckt: Tausche Imkerdienste gegen Honigernte. Sie war ihm noch nie persönlich begegnet, trotzdem hatte sie für alle Fälle seine Telefonnummer behalten. Dummerweise war ein Schwarm in dieser Zwischenphase sehr flüchtig, und wenn der Mann nicht schnell kam, wäre Isabel auf sich allein gestellt. Sie hatte sich nun noch ihren Overall, den Hut mit Schleier sowie die Handschuhe übergezogen und näherte sich mit einer Baumschere und einem Karton mit Deckel dem am Ast hängenden Schwarm.

Das müsste eigentlich ganz einfach sein, dachte sie. Abgesehen davon, dass dieses Ding wie ein furchterregender, rötlicher, lebendiger Bart dort hing. Das Summen erfüllte ihren Kopf und floss dann durch ihren Körper wie das Blut durch ihre Adern. Sie rief sich in Erinnerung, dass sie keine Angst haben musste, trotz des angsteinflößenden Aussehens und wütenden Geräuschs des Schwarms. Die Bienen suchten nur nach einem Zuhause, das war alles. Diesen Wunsch konnte wohl jeder auf der Welt verstehen. Und gerade Isabel, denn sich irgendwo zu Hause zu fühlen war ihre größte Sehnsucht.

„Na gut“, murmelte sie, ohne die Ansammlung laut summender Bienen aus den Augen zu lassen. Ihr Herz raste. Die Aussicht, einen Bienenschwarm einzufangen, sollte sie eigentlich begeistern. Es war der ideale Weg, um weitere Bienenstöcke zu füllen, und verhinderte, dass die Bienen sich irgendwo niederließen, wo sie nicht erwünscht waren, beispielsweise in den preisgekrönten Apfelbäumen ihres Großvaters.

In diesem Stadium der Schwarmbildung waren die Bienen sehr sanftmütig. Da sie sich noch nicht um die Produktion von Honig kümmern mussten und auch kein Zuhause hatten, das es zu verteidigen galt, gab es keinen Grund, sich angriffslustig zu verhalten.

Charlie legte sich gleichmütig ins hohe Gras, um sich zu sonnen.

„Ich krieg das schon hin“, sagte sie. „Das ist der perfekte Schwarm. Haha. Verstehst du das, Charlie?“ Sie schaute zu dem dünnen Schäferhund. „Der perfekte Schwarm. Ich lach mich schlapp.“

Isabel kam es nicht seltsam vor, mit einem Hund zu reden. Das hatte sie schon immer getan. Als Einzelkind auf Bella Vista aufgewachsen, in der Abgeschiedenheit der Obstplantagen und Weingärten, streng behütet von den übervorsichtigen, aber liebevollen Großeltern, hatte sie schnell gelernt, sich selbst als Gesellschaft zu genügen. Als Erwachsene hielt sie sich anderen Menschen gegenüber zurück, weil das Leben es sie so gelehrt hatte.

„Jetzt geht’s los, Charlie“, sagte sie. „Ich fange an, also keine lauten Geräusche und keine plötzlichen Bewegungen.“

Sie griff nach dem Karton und stellte ihn unter den Ast, der sich unter dem Gewicht der Tiere leicht bog. Verdammt, war das ein riesiger Schwarm. Die Sonne brannte auf ihren Rücken und machte ihr bewusst, dass ihr die Zeit davonlief.

Mit zitternden Händen griff sie nach der Baumschere. „Jetzt“, sagte sie und wappnete sich. „Ich sollte nicht noch länger warten.“ Sie hatte genug von verpassten Chancen. Es war an der Zeit, zur Tat zu schreiten. Ihr Herz raste noch immer vor Nervosität, als sie die Schere ansetzte, zusammendrückte und den Ast durchtrennte. Ast und Schwarm landeten im bereitgestellten Karton – jedenfalls zum größten Teil.

Das Summen wurde lauter, und einzelne Bienen lösten sich aus dem Schwarm. Isabel stand kurz davor, die oberste Regel zu vergessen und in Panik auszubrechen. Wobei – wenn der Schwarm verschwände, was machte das schon? Es ging hier ja wohl kaum um eine Frage von Leben und Tod.

Aber um eine Frage des Stolzes. Sie wollte Bienen züchten. Bella Vista war schon immer eine bewirtschaftete Farm gewesen, deren Plantagen und Gärten die Familie Johansen seit Ende des Zweiten Weltkriegs ernährten.

„Also gut, Mädels“, presste sie hervor. „Weiter geht’s.“ Sie beugte sich vor und drehte den Ast behutsam so, dass er in den Karton passte. Die Bienen, die dabei herausfielen, krabbelten gleich wieder zu ihrem Schwarm hinein, denn nur das sicherte ihr Überleben.

Am ganzen Leibe zitternd, hob Isabel den Karton an. Er war schwer. Schwerer, als sie erwartet hatte. Und die Bienen wirkten aufgebracht. Sie bewegten sich schneller – oder vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Sie überlegte, ob es wohl bedeutete, dass die Kundschafter auf dem Rückweg waren.

Ein stechendes Gefühl in ihrer rechten Schulter ließ sie beinahe die Kontrolle verlieren. „Au“, rief sie. „Au, au, au. Ihr solltet eigentlich gutmütig sein. Was stimmt nicht mit dir?“ Sie musste das arme Tier wohl versehentlich in ihrem Overall eingeschlossen haben, und das war nun die Quittung dafür. An sich selbst gewandt fügte sie hinzu: „Langsam und vorsichtig. Angeblich bin ich gut darin, langsam und vorsichtig zu sein. Zu gut sogar, wenn es nach Tess geht.“

Ihre Schwester Tess war von ihnen beiden die deutlich Impulsivere, und manchmal trieben Isabels Bedächtigkeit und Vorsicht sie in den Wahnsinn.

Jetzt stand der entscheidende Augenblick unmittelbar bevor. Ihre nächste Aufgabe war es, den Schwarm in den bereitstehenden Bienenstock zu schaffen.

Genau in dem Moment bellte Charlie einmal, stand auf und trottete in Richtung Straße. Über das Summen der Bienen hinweg hörte Isabel das Geräusch eines Automotors. Ein Arbeiter auf dem Weg zur Obstplantage?

Sie drehte sich in dem Augenblick um, als ein bananengelber Jeep mit offenem Verdeck und Überrollbügel über die Hügelkuppe kam und so schnell über den zerfurchten Feldweg fuhr, dass der Kies unter den Reifen nur so spritzte. Etliche Bienen flogen hektisch aus dem Karton. Einige von ihnen landeten auf dem Schleier vor Isabels Gesicht.

Beruhige dich, hätte sie am liebsten geschrien. Du machst sie nur nervös.

Der Jeep kam in einer Staubwolke zum Stehen, und ein groß gewachsener Fremder sprang heraus, wobei er sich am Überrollbügel abstützte. Der Mann hatte lange Haare und breite Schultern, er trug eine olivgrüne Cargohose, ein schwarzes T-Shirt und eine Pilotensonnenbrille. An einem Bein trug er eine bewegliche Schiene, was ihn leicht humpeln ließ.

Jamie Westfall? überlegte Isabel. Im Moment hätte sie gegen ein wenig Hilfe nichts einzuwenden.

„Wohnen hier die Johansens?“, wollte der Mann mit tiefer Stimme wissen.

Charlie gab ein Schnauben von sich und setzte sich wieder ins Gras.

„Oh, gut, Sie haben meine SMS erhalten“, sagte sie und behielt dabei weiter den Karton mit dem schwirrenden Bienenvolk im Auge. „Perfektes Timing. Sie kommen gerade rechtzeitig, um mir zur Hand zu gehen.“

„Wie bitte? Nehmen Sie Drogen?“, erwiderte er und musterte sie argwöhnisch, als versuche er, durch ihren Schleier zu sehen. „Das ist ein gottverdammter Bienenschwarm!“

„Richtig. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht …“

„Verdammt, mich hat was gestochen!“ Er schlug sich gegen den Hals. „Was zum Teufel …? Himmel! Das ist ja bestimmt ein Dutzend von diesen Sch…! Himmelherrgott!“ Er fluchte weiter, während er aufgebracht nach einigen Nachzüglern schlug. Er fluchte sehr viel. Er unterbrach seine Schimpftirade bloß durch andere Schimpfwörter, ohne zu begreifen, dass er die Tiere mit seinem Herumgezappel nur noch aggressiver machte. Auch Isabel verspürte erneut einen schmerzhaften Stich, diesmal am Knöchel, wo die Beine des Overalls nicht hauteng abschlossen.

„Hören Sie auf. Sie machen sie nur noch wütender.“ Und so einer will ein Imker sein, dachte sie.

„Ach, meinen Sie? Tut mir leid, Lady, ich verschwinde von hier. Ich bin doch …“

„Ich dachte, Sie sind hier, um mir zu helfen.“ Das Summen schwoll weiter an, und es kam noch mehr Leben in den ohnehin schon hektischen Schwarm. „O nein …“ Sie stellte den Karton ab und wehrte mit der Hand ein paar Tiere ab. Die Kundschafter waren zurückgekehrt. Sie wurde schon wieder gestochen, dieses Mal am Handgelenk.

„Mein Gott! Passen Sie auf!“ Der seltsame Fremde packte sie, drückte sie zu Boden und warf sich schützend auf sie. Charlie setzte zu einem warnenden Bellen an.

Panik machte sich in Isabel breit, aber die hatte nichts mit den Bienen zu tun. Es war eine Panik, die sich wie eine kalte Stahlklinge anfühlte, und ehe sie sich’s versah, verlor sie sich und wurde in die Vergangenheit geschleudert, zurück an einen finsteren Ort, von dem sie damals geglaubt hatte, ihm niemals entkommen zu können. „Nein“, zischte sie rau. Sie wand sich unter dem Mann, drückte den Rücken durch, riss das Knie nach oben … und traf.

„Aah, heilige Scheiße, was haben Sie denn für ein Problem?“ Der Mann rollte sich zur Seite, zog die Knie an die Brust und drückte beide Hände gegen seinen Schritt. Die Brille rutschte ihm von der Nase, und er stöhnte laut auf.

Isabel robbte zur Seite, ohne ihren Blick von dem Mann abzuwenden. Er war groß, er roch nach Schweiß und dem Staub der Straße, und in seinen Augen blitzte der Schmerz auf. Aber wenigstens hatte er ihr nicht wehgetan.

Sie war von ihrer Überreaktion genauso überrascht wie er. Ganz ruhig, ermahnte sie sich. Kein Grund zur Panik. Ihr Puls beruhigte sich allmählich wieder. Schließlich wandte sie den Blick ab und sah gerade noch, wie der Schwarm sich erhob. Wie ein dichter Schleier aus schwerer Seide stieg er auf und segelte davon. Die Wolke aus Insekten wurde kleiner und kleiner, schwebte dahin wie ein losgerissener Ballon.

„Sie kommen zu spät, jetzt sind sie alle weg“, sagte sie und rieb sich die Schulter. Finster dreinblickend stand sie auf und trat frustriert gegen den Karton. Von dem nun verwaisten Ast fielen ein paar tote Bienen herunter.

„Sie können sich auch gern später bei mir bedanken“, sagte der Mann, der sich inzwischen hingesetzt hatte und sie aus zusammengekniffenen Augen betrachtete.

„Bedanken?“, wiederholte sie ungläubig.

„Ja, bedanken!“, gab er schroff zurück.

„Was für ein Imker sind Sie eigentlich?“

„Ähm … sehe ich etwa aus wie ein Imker? Ich dachte, Sie sind hier die Bienenexpertin, oder ist das, was Sie da tragen, eine moderne Form der Burka?“

Sie nahm den Hut ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Die Haare klebten ihr an Kopf und Hals, so nass geschwitzt war sie von den schlussendlich nutzlosen Anstrengungen. „Sie sind nicht Jamie Westfall?“

„Ich weiß nicht mal, wer das ist. Wie ich schon sagte, ich bin auf der Suche nach der Farm der Johansens.“ Er sah sie forschend an. Ihr entging nicht das satte, dunkle Grün seiner Augen, das sie an Blattwerk im Schatten erinnerte. Dieser Mann sah verdammt gut aus, auch wenn sein Gesicht von den Bienenstichen ein wenig entstellt war.

„O mein Gott“, sagte sie. „Sie sind einer von den Handwerkern!“ Der Fliesenleger hatte sich für heute angekündigt, um in der Lehrküche die letzten Majolika-Fliesen zu verlegen.

„Wenn das Ihr normaler Umgang mit Handwerkern ist, dann möchte ich nicht erleben, was Sie mit jemandem anstellen, der es sich mit Ihnen verscherzt. Na ja, fangen wir einfach noch mal von vorn an.“ Vor Schmerzen leise stöhnend, stand er auf. „Ich bin Cormac O’Neill“, fuhr er fort. „Normalerweise würde ich Ihnen die Hand geben, aber Sie sind mir ein bisschen unheimlich.“

Der Name sagte ihr gar nichts. Auf der Liste der Handwerker, die im Lauf des letzten Jahres für sie gearbeitet hatten, stand kein O’Neill. „Und weswegen sind Sie hier?“, wollte sie wissen.

„Ich bin hier, weil ich … o Himmel … ich muss sterben.“ Er schlug sich auf seine nackten Arme, ins Gesicht und an den Hals.

„Was? Ach, jetzt hören Sie schon auf, so fest habe ich nun auch wieder nicht zugetreten.“ Und dann sah sie, dass er wie ein Sack Kartoffeln wieder zu Boden ging. „Wirklich?“, fragte sie. „Wirklich?“

„Ich bin gestochen worden.“

„Das sehe ich.“ Neben den Stichen im Gesicht sah sie jetzt auch Schwellungen am Hals sowie an Armen und Händen. „Tut mir leid. Aber das sind bloß Honigbienen“, fuhr sie fort. „Deren Stiche sind nicht tödlich.“

„Es sei denn, man ist höchst allergisch.“ Seine Stimme klang mit einem Mal, als sei seine Zunge angeschwollen, und sein Atem ging pfeifend.

Isabel kniete sich neben ihm hin. „Sie sind allergisch? Höchst allergisch?“

„Anaphylaxie“, antwortete er und riss am Kragen seines T-Shirts.

„Aber wenn Sie so allergisch sind, warum sind Sie mir dann zu Hilfe geeilt?“

„Weil Sie gesagt haben, ich käme gerade richtig und Sie bräuchten eine helfende Hand.“ Sein Gesicht lief rot an, die Augen bekamen einen glasigen Ausdruck. Er sah tatsächlich so aus, als würde er jeden Moment sterben.

Das sollte mich nicht überraschen, dachte Isabel, ich habe mit Männern noch nie viel Glück gehabt.

2. KAPITEL

Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und zog den Reißverschluss ihres Overalls auf, um in der Innentasche nach ihrem Handy zu suchen – bis ihr einfiel, dass sie es gar nicht mitgenommen hatte.

Cormac fasste sie am Handgelenk, die unverhoffte Berührung ließ sie erneut zusammenzucken. Dieses Mal schlug sie jedoch nicht um sich, sondern versteifte sich nur unter seinem kräftigen Griff. „Hey“, hustete er pfeifend hervor. Sein Kopf wurde knallrot, so sehr kämpfte er darum, Luft zu kriegen. „Tasche“, sagte er. „Da ist ein EpiPen drin. Schnell!“

Verdammt. Das wurde ja immer schlimmer. Er atmete so angestrengt ein, dass die Halsschlagadern deutlich hervortraten. Isabel lief zu seinem Jeep und entdeckte einen ziemlich ramponiert aussehenden Seesack. Er war extrem schwer und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Staub wirbelte auf. Isabel öffnete den Reißverschluss. Eine Duftwolke aus ungewaschenen Socken und Sonnencreme schlug ihr entgegen, während sie sich durch T-Shirts, Jeans und Badehosen wühlte.

„Sind Sie sich sicher, dass er hier drin ist?“, rief sie. Mit wachsender Ungeduld fing sie an, die Sachen hinter sich zu werfen. Briefe. Ein Knäuel aus Schnüren. Bücher. Wer ging mit so vielen Büchern auf Reisen? Und dann noch nicht mal Reiseführer wie Bali für Insider, sondern Ausgewählte Werke von Ezra Pound. Unendlicher Spaß. War das wirklich sein Ernst?

„Lila Kulturtasche“, keuchte er.

„Aha.“ Sie entdeckte die längliche Tasche und öffnete sie. „Wonach muss ich suchen? Was ist überhaupt ein EpiPen?“

„Eine Adrenalinspritze“, erwiderte er. „Durchsichtiges Röhrchen … gelbe Kappe.“

Die Kulturtasche war mit allem vollgestopft, was man als Reisender irgendwann irgendwo vielleicht mal gebrauchen konnte. Sie drehte die Tasche um und ließ den Inhalt auf den Boden regnen. Zahnbürste, Wattestäbchen, Zahnpasta, Tuben und Tiegel, Snacktüten aus dem Flugzeug, Einwegrasierer.

Dann stieß sie auf ein durchsichtiges Röhrchen mit einem medizinisch aussehenden Aufkleber und las die aufgedruckte Bedienungsanleitung.

„Spritzen Sie es mir schnell“, sagte Cormac. Hände und Gesicht waren noch stärker angeschwollen, seine Lippen hatten sich bläulich verfärbt. „Jagen Sie’s … mir einfach … rein!“ Dabei deutete er vage auf seinen Oberschenkel.

Sie zog die Kappe ab und schob die Nadel heraus. Sie kannte sich damit ein wenig aus, weil sie während ihrer Zeit auf der Kochschule auch einen Kurs über Lebensmittelallergien besucht hatte. „Ich habe so etwas noch nie gemacht.“

„Das ist kein … Hexenwerk.“

Mit einem entschlossenen Nicken eilte sie wieder zu ihm zurück und drückte ihm den EpiPen gegen den Oberschenkel. Vor Aufregung musste sie wohl einen falschen Winkel erwischt haben, da sich die kurze Nadel im Stoff seiner Hose verfing und ein wenig Flüssigkeit heraussprühte.

„O mein Gott!“, rief sie. „Ich habe die Nadel abgebrochen!“

„Nehmen Sie … den anderen … da sollte … noch einer sein.“

Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren, und stieß schließlich auf die zweite Spritze. Als sie zu ihm zurückkam, stellte sie verdutzt fest, dass er mittlerweile seine Hose ein Stück nach unten geschoben und einen sehr männlichen, sehr muskulösen Oberschenkel freigelegt hatte. Und ihr entging nicht, dass er keine Unterwäsche trug.

„Her damit“, japste er und nahm ihr das Röhrchen ab. Fast schon brutal presste er es sich aufs Bein. Dann ertönte ein deutliches Klicken, als er die Nadel herausdrückte.

Isabel ging in die Hocke und beobachtete den Mann. Ihre Panik verebbte langsam. Sie fühlte sich, als wäre sie von einem Laster überrollt worden. Und er sah aus, als wäre er von einem Laster überrollt worden. Er stützte sich auf einen Arm, die Hose um die Knie, ein Bein etwas schief abgewinkelt wegen der Beinschiene. Rote Flecken blühten auf seinen Wangen, den Handrücken, seinem nackten Hintern. „Wird jetzt alles wieder gut?“, fragte sie zögerlich. „Was müssen wir als Nächstes tun?“

Er antwortete nicht, sondern atmete pfeifend und rasselnd weiter, während er auf den staubigen Untergrund starrte. Ganz allmählich bekam sein Gesicht wieder ein wenig natürliche Farbe, und seine Atmung begann, sich zu normalisieren.

Sie saß unbeweglich da und starrte ihn an. Er hatte einen kleinen goldenen Ring im einen Ohr. Längeres, schmutzigblondes Haar. Das schwarze T-Shirt spannte sich um seinen Bizeps.

Wie hatte dieser Tag nur so aus dem Ruder laufen können? Es war noch nicht lange her, da war sie voller Tatendrang aus dem Bett gesprungen, den Kopf voller Pläne für die Umwandlung der Hazienda in die Bella Vista Cooking School. Und jetzt saß sie mitten auf einem Feld neben einem halb nackten Mann, der aussah, als wäre er einem Avengers-Film entsprungen.

Er drehte sich so, dass er sich abstützen und aufstehen konnte, dann zog er lässig seine Hose wieder hoch. „Sonderlich gut fühle ich mich nicht“, meinte er, während Isabel dachte, dass er aber verdammt gut aussah.

Ihr fielen drei Stachel auf, die in seinem Handrücken steckten, der so angeschwollen war, dass die Knöchel nicht mehr zu sehen waren. „Haben Sie eine Pinzette dabei? Ich könnte die Stachel rausziehen.“

„Keine Pinzette“, murmelte er. „Dadurch wird nur noch mehr Gift freigesetzt.“

„Ist Ihnen so was schon mal passiert?“

Er nickte. „Dadurch bin ich ja dahintergekommen, dass ich allergisch bin.“

„Steigen Sie ein“, sagte sie und deutete auf den Jeep. „Ich fahre Sie.“ Die nächsten Minuten verbrachte sie damit, seine Habseligkeiten zurück in die olivgrüne Tasche zu packen. Darunter befanden sich zwei Hartschalentaschen, der Form nach für eine Kamera und für einen Laptop. Noch mehr Bücher. Rasierschaum und Zahnpasta in einer Tube mit arabischen Schriftzeichen. Kondome in rauen Mengen. Eine Kombination aus Reisewecker und Bilderrahmen, in dem ein Foto einer dunkelhaarigen Frau mit ernster Miene und großen, gehetzt aussehenden Augen steckte.

Seine Sachen gehen mich nichts an, dachte Isabel und wuchtete die schwere Tasche zurück auf die Ladefläche des Jeeps. Dann hob sie seine Sonnenbrille auf, nahm den nun wieder leeren Pappkarton und stellte ihn auf die Rückbank. „Lauf los, Charlie“, sagte sie zu ihrem Hund und fuchtelte mit einer Hand. „Geh zurück nach Hause.“ Der Hund trottete hügelabwärts davon, und sie wandte sich dem Fremden zu. Cormac heiße er, hatte er gesagt. Cormac Irgendwas. „In der Stadt gibt es eine Klinik, in zehn Minuten sind wir da.“

„Ich brauche keinen Arzt“, beharrte er. Inzwischen sah er deutlich besser aus, sein Atem ging wieder regelmäßig, und sein Gesicht hatte eine normale Färbung angenommen.

„Auf dem EpiPen steht, dass man so schnell wie möglich einen Arzt aufsuchen soll.“ Das Letzte, was sie im Augenblick gebrauchen konnte, war, dass er plötzlich einen Rückfall erlitt. Sie stellte den Fahrersitz richtig ein, dann fuhr sie los. Der Wrangler-Jeep war ein älteres Modell mit Gangschaltung, aber da sie mit Traktoren und Lastwagen aufgewachsen war, hatte sie kein Problem damit. „Ich hatte Sie für Jamie gehalten“, sagte sie, während sie über den holprigen Kiesweg fuhren. „Den Imker.“

„Ich bin wie gesagt Cormac O’Neill“, erwiderte er. „Und ich bin weiß Gott kein verdammter Imker.“

„O’Neill“, wiederholte sie nachdenklich. „Sie stehen nicht auf der Liste der Handwerker.“

„Es gibt eine Liste? Wer hätte das gedacht?“ Er klammerte sich an seinem Sitz fest und wirkte mit einem Mal wieder blass und nervös. „Bin ich irgendwo falsch abgebogen?“

„Sie sind hier bei den Johansens.“ Der Jeep holperte über den ausgefahrenen Weg in Richtung der Hauptstraße, die in die Stadt führte. „Wir bauen im Moment um, und ich dachte, Sie sind einer der Handwerker.“

„Stimmt, Tess hat so etwas erwähnt.“

„Sie sind ein Freund von Tess?“ Isabel warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er war blass, und ein leichter Schweißfilm bedeckte sein Gesicht, vermutlich von dem Adrenalinstoß, den das Medikament ausgelöst hatte. „Meine Schwester hat Sie eingeladen? Oh, mein Gott, sind Sie etwa der Hochzeitsexperte?“

Er setzte zu einem keuchenden Lachen an, das in einem Hustenanfall endete. „Das ist wohl das letzte Thema, in dem ich ein Experte bin. Ich bin wegen Magnus Johansen hier. Kennen Sie ihn?“

„Was wollen Sie denn von meinem Großvater?“, fragte sie argwöhnisch. Tess, die sich mit Antiquitäten bestens auskannte, hatte einen Familienschatz zutage gefördert, der ein Vermögen wert war. Seitdem wurde ihr Großvater von Versicherungsvertretern bis zu Klatschreportern von allen möglichen Leuten heimgesucht.

„Ich schreibe an seiner Biografie.“

Mit finsterer Miene schaute sie auf die Straße. In letzter Zeit wollte die ganze Welt mehr über Magnus Johansen erfahren. „Seit wann?“

„Seit ich den Vertrag unterschrieben habe. Dann ist er also Ihr Großvater. Und Sie sind …?“

„Isabel Johansen.“ Ihr lagen tausend Fragen auf der Zunge, die alle diese angebliche Biografie betrafen. Nach einem Seitenblick sah sie, dass er sich nach hinten gelehnt und die Augen geschlossen hatte. Er war plötzlich wieder aschfahl. „Hey, geht’s Ihnen gut?“

Er winkte nur müde ab.

Während der Fahrt warf sie ihm immer wieder Blicke zu. Er hatte kantige Gesichtszüge, die durch den Dreitagebart ein wenig weicher wirkten. Und diese Schultern. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Männer mit breiten Schultern gehabt. Dazu große, kraftvolle Hände, die aussahen, als wären sie härtere Arbeit als das Verfassen von Biografien gewöhnt.

Kein Ehering. Mit ihren dreißig Jahren war das ein Detail, das Isabel sofort ins Auge fiel.

An der Stelle, wo der Feldweg auf die Hauptstraße traf, hielt sie kurz an. An der Ecke stand ein hübsches, weiß getünchtes altes Häuschen mit einer umlaufenden Veranda und Blumenkästen an den Fenstern. Über dem Eingang hing ein großes Schild: Things Remembered.

„Das ist der Laden von Tess“, sagte sie. „Woher kennen Sie meine Schwester?“

Von ihm kam nur ein unbestimmbares Keuchen.

„Schon gut.“ Sie winkte ab. „Wir können später immer noch reden.“

Ein Schild am Straßenrand lud Vorbeifahrende ein, sich die Antiquitäten anzusehen, Gourmetprodukte aus der Region zu probieren und in Kleinkram aus vergangenen Zeiten zu stöbern. Nicht mehr lange, und gleich daneben würde ein neues Schild stehen, das den Weg zur Bella Vista Cooking School wies. Was sie dem Fremden an ihrer Seite jedoch nicht sagte. Er schien sich gerade nicht groß für seine Umgebung zu interessieren, sondern saß mit nach hinten gelegtem Kopf und Schweißperlen auf der Oberlippe stumm neben ihr.

Isabel umklammerte das Lenkrad etwas fester, bog auf die Hauptstraße ab und gab Gas. Hinter einer Anhöhe tauchte vor ihnen das Städtchen Archangel auf. Mit seinen Häusern aus Stein und Holz, den hübsch angelegten Parks und Gärten sah Archangel so idyllisch aus wie ein Ölgemälde. Ringsum erstreckte sich die blühende Landschaft von Sonoma. Isabel hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Das hier war ihr Zuhause. War Sicherheit und Geborgenheit. Neben diesem großen, rotfleckigen Fremden fühlte sie sich allerdings nicht ganz so sicher und geborgen wie üblich.

Sie stellte den Wagen auf einem freien Parkplatz neben einem leuchtend roten BMW ab. Die Klinik befand sich an dem Platz vor einer alten Mission, an dem ebenfalls das Rathaus von Archangel und die Handelskammer lagen.

„Können Sie gehen?“, fragte Isabel ihren Beifahrer.

„Ja, ich glaube, ich habe meinen Stock irgendwo hinten hingelegt.“

„Sie bleiben sitzen, ich kümmere mich um den Stock.“ Sie stieg aus, ging hinten um den Jeep herum und wäre fast mit dem Mann zusammengestoßen, der mit dem Handy am Ohr zielstrebig auf den BMW neben ihr zuging.

Verärgert schnaubend machte er einen Satz zur Seite. „Hey, passen Sie doch auf, wo Sie …“ Dann ließ er die Hand sinken, in der er das Telefon hielt. „Isabel.“

Ihr Herz begann, panisch zu klopfen. „Was machst du denn hier?“

Sie hatte Calvin Sharpe nicht mehr gesehen, seit sie vor Jahren von Scham und Schmerz überwältigt fluchtartig die Kochschule verlassen hatte. Ihn jetzt wiederzusehen tat zwar nicht mehr weh, aber die Scham war immer noch da, wie ein schrecklicher Albtraum, den man einfach nicht abschütteln konnte. Sie kannte die Gerüchte, wonach er auf der Suche nach dem idealen Standort für ein neues Restaurant war, aber sie hatte sich geweigert zu glauben, dass er so dreist sein könnte, ausgerechnet nach Archangel zu kommen. „Ach, egal“, fuhr sie mit angespannter Stimme fort. „Interessiert mich gar nicht. Wenn du mich dann bitte vorbeilassen könntest …“

Doch das tat er nicht. Stattdessen machte er einen Schritt auf sie zu, wobei er sie von Kopf bis Fuß musterte. „Archangel ist tatsächlich genauso, wie du es beschrieben hast.“

Sie konnte nicht fassen, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der sie davon geträumt hatte, ihr Leben gemeinsam mit ihm hier in ihrer Heimatstadt zu verbringen. „Ich hab’s eilig“, sagte sie.

„Du siehst gut aus, Isabel.“

Das traf auch auf ihn zu, wie sie feststellen musste. Sein dunkles Haar passte gut zu den kantigen Gesichtszügen, die der Erfolg noch markanter gemacht hatte. Seine Zähne hingegen waren ein wenig zu weiß und zu gerade. Sie griff nach dem Stock, der auf der Ladefläche des Jeeps lag. „Ich habe für so was jetzt keine Zeit“, erwiderte sie ruhig.

„Wir sollten uns mal treffen.“

Ihr Magen verkrampfte sich. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass er nach so langer Zeit immer noch eine gewisse Macht über sie ausübte. Warum? Und warum ließ sie es zu?

Ein großer Schatten fiel auf Calvin. „Gibt es irgendein Problem?“, fragte Cormac O’Neill. Durch den roten Ausschlag im Gesicht wirkte er noch größer und bedrohlicher als ohnehin schon.

Calvin kniff die Augen ein wenig zusammen, dann präsentierte er jenes strahlende Lächeln, das ihn bei den Fernsehzuschauern so beliebt gemacht hatte. „Ich freue mich nur über das Wiedersehen mit einer alten … Freundin.“ Er achtete darauf, mit seiner Betonung zu suggerieren, dass sie mehr als nur Freunde gewesen waren. Zumindest hörte es sich für Isabel so an.

„Aha“, gab Cormac zurück. Irgendwie gelang es ihm, in dieses einzige Wort eine ganze Menge an Bedeutung hineinzulegen. Mit seiner abgetragenen Kleidung, den Schwellungen im Gesicht und auf den Handrücken, die eines Preisboxers würdig waren, wirkte er zudem wie jemand, mit dem sich keiner, der bei klarem Verstand war, anlegen wollte. „Die Lady hat doch gesagt, dass sie keine Zeit hat“, fügte er hinzu.

„Ja, genau. Wir haben’s eilig“, erklärte Isabel entschlossen und hasste es, dass ihr Herz immer noch wie verrückt schlug.

„Klar“, sagte Calvin so lässig, wie man es von einem redegewandten Fernsehkoch erwarten durfte. „Man sieht sich.“

O’Neill stand reglos da, während Calvin in seinen BMW stieg und mit einem wütenden Tritt aufs Gaspedal rückwärts aus der Parklücke schoss.

Kaum war er weg, schwankte O’Neill und hielt sich am Jeep fest. Unter den roten Flecken war sein Gesicht kreideweiß. Schnell reichte sie ihm seinen Stock.

„Tut mir leid“, murmelte sie. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

„Was tut Ihnen leid?“, erwiderte er. „Dass Sie von einem Trottel belästigt wurden?“

„War das so offensichtlich?“

„Dass der Kerl ein Trottel war oder dass er Sie belästigt hat? Ja und ja. Wer zum Teufel war das überhaupt?“

„Nur jemand, den ich von früher kenne“, versuchte sie, die Sache runterzuspielen. „Kommen Sie, Sie brauchen einen Arzt.“ Sie eilte an seine Seite, als er sich leicht schwankend auf seinen Stock stützte. Aus Angst, er könnte seitlich wegkippen, legte sie einen Arm um seine Taille und zog ihn an sich. Guter Gott, diese Schultern. Sein Gewicht zwang sie fast in die Knie. Er roch wie ein Mann. Sie war sich seines muskulösen Körpers nur zu bewusst, als sie ihn in das Klinikgebäude und dann in eine Notfallpraxis geleitete und dem Mann hinter dem Empfang zuwinkte.

„Er ist allergisch gegen Bienenstiche“, rief sie. „Und er ist mehrfach gestochen worden. Er hat eine Injektion mit dem EpiPen bekommen, aber er muss von einem Arzt untersucht werden.“

Der Mann am Empfang betätigte eine Taste, ein Summen ertönte, und eine Krankenschwester in orangefarbener Kleidung kam ins Foyer. „Unterschreiben Sie bitte schon mal, das Formular können Sie auch später ausfüllen. Kommen Sie, ich bringe Sie ins Behandlungszimmer“, sagte sie, während sie O’Neills Gesicht betrachtete. Dann drehte sie den Kopf und sagte: „Hey, Isabel.“

Isabel sah genauer hin und erkannte erst auf den zweiten Blick Kimmy Shriver, eine Freundin aus ihrer Jugendzeit. In der Schule waren sie beide im 4H-Club gewesen. „Hi, Kimmy.“ Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf O’Neill. „Ich dachte, er wäre der Imker.“

Kimmy griff nach einem Klemmbrett und begleitete O’Neill zu dem mit Vorhängen abgeteilten Bereich, in dem er warten sollte.

„Wird er wieder gesund?“, fragte Isabel besorgt.

„Keine Angst, wir kriegen ihn schon wieder hin.“

„Das mit Ihren Bienen tut mir leid“, warf Cormac O’Neill ein.

„Tun Sie mir einfach nur einen Gefallen und sterben Sie nicht, okay?“ Nachdem er hinter dem Vorhang verschwunden war, setzte Isabel sich und blätterte in einer der herumliegenden Zeitschriften, um zu versuchen, die Begegnung mit Calvin Sharpe zu vergessen. Auf den zerfledderten Seiten fanden sich Artikel über Trennungen, Renovierungstipps, Rezepte, für die man Champignonsuppe aus der Dose benötigte, Anleitungen, wie man aus vier Schals einen Rock nähte, Ratgeber zum Thema „Was Sie tun können, wenn er Sie nicht bemerkt“. Sie legte die Illustrierte zur Seite und sah sich um, während sie überlegte, wie lange es wohl dauerte, diesem hünenhaften Fremden das Leben zu retten.

Sie warf doch noch einen Blick auf die Ratgeberseite. Geben Sie sich geheimnisvoll. Guter Tipp, dachte sie. Nur hatte sie nichts Geheimnisvolles an sich. Sie lebte in dem Haus, in dem sie auch aufgewachsen war, ihre große Leidenschaft waren das Kochen und die Veranstaltung von Kochkursen mit regionalen Zutaten. Damit hatte sie sich ihren Traum erfüllt. Einigen Leuten war es ein Rätsel, wieso sie immer noch Single war. „So hübsch, wie du bist, wirst du doch bestimmt von Männern umschwärmt …“ Aber eigentlich war das weder rätselhaft noch geheimnisvoll. Isabel wusste ganz genau, warum sie allein lebte und warum das auch so bleiben sollte.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Wartezimmers saß eine junge Mutter mit ihrem Kind, das einen mit Essensresten bekleckerten Strampelanzug trug. Die erschöpft wirkende Frau kämpfte mit dem Kind, um ihm grünlichen Schleim von der Nase zu wischen. In einer anderen Ecke saß eine ältere Frau und las in aller Ruhe ein Buch aus der Bibliothek. Isabel hatte genug Zeit ihres Lebens in dieser Klinik verbracht. Als kleines Kind war sie oft hergebracht worden, um die obligatorischen Impfungen über sich ergehen zu lassen, später hatten die für Kinder typischen Unfälle und Beulen sie hierher geführt: eine ausgekugelte Schulter nach einem Sturz vom Apfelbaum, eine Schnittwunde am Arm, die sie sich beim Überklettern eines Stacheldrahtzauns zugezogen hatte. Hohes Fieber in der Nacht, ausgelöst von einer Mittelohrentzündung. Und immer waren ihre Großeltern für sie da gewesen, um sie mit beruhigenden Worten zu trösten.

Später, als Bubbie krank wurde, war es an Isabel gewesen, sich Sorgen zu machen und ihrer Großmutter Mut zuzusprechen, auch wenn es ihr das Herz brach, mit anzusehen, wie sich ihr Zustand immer weiter verschlechterte.

Von Unruhe getrieben, überflog sie weiter die Seite und entdeckte noch einen Ratschlag. Brechen Sie aus Ihrer Routine aus. Tun Sie etwas Unerwartetes. Bienenzucht. Das war keine Routine, oder?

Wieder legte sie das Heft zur Seite und schlenderte zu einem Ständer, in dem Broschüren zu allen möglichen Themen steckten: Impfungen, lebensmittelbedingte Krankheiten, sexuell übertragbare Krankheiten, häusliche Gewalt. Liebe sollte nicht wehtun – sie wandte sich ab und zuckte unwillkürlich unter den dunklen Erinnerungen zusammen, die durch die Begegnung mit Calvin wieder lebendig geworden waren. Sie konnte sich noch gut an die Nacht erinnern, in der sie in halsbrecherischem Tempo die Strecke von der Kochschule in Napa hierher gefahren war. Aufgewühlt wie noch nie in ihrem Leben, hatte sie die Klinik betreten, nicht in der Lage, die Worte zu finden, um zu erklären, was ihr passiert war.

Sie hatte sich nichts gebrochen, sondern nur ein paar blaue Flecke, aber sie hatte geblutet. Eine Fehlgeburt, wie der untersuchende Arzt feststellte. Das kann vorkommen, hatte ihr die Krankenschwester erklärt. Viele Schwangerschaften überstünden die ersten Wochen nicht.

Man sprach sie auf die Angst an, die man ihr angesehen haben musste. Fragte, ob sie in Sicherheit war, ob man jemanden für sie anrufen könne.

Jetzt bin ich in Sicherheit, hatte Isabel geantwortet.

Der Arzt drängte sie, Anzeige zu erstatten, was Isabel – zu ihrem ewigen Bedauern – abgelehnt hatte. Sie hielt den Vorfall in ihrem Tagebuch fest, das sie seit ihrer Kindheit führte, schloss die Tür zur Vergangenheit und kehrte heim. Auf Bella Vista vergrub sie die Erinnerung zusammen mit ihrem Traum, einmal eine berühmte Köchin zu werden.

Im Laufe der nächsten Jahre hatte sie versucht, ihren Traum zu vergessen und den Aufstieg von Calvin Sharpe in der Welt der Meisterköche zu ignorieren, seine schmierige Fernsehsendung genauso wie seine Restaurantkette und seinen Versuch, so viel Profit wie möglich aus seiner Bekanntheit zu schlagen.

Warum war er ausgerechnet hierher gekommen? Überall in Sonoma gab es charmante Kleinstädte, die von Touristen besucht wurden. Warum also ausgerechnet Archangel? Und warum jetzt, wo sie endlich dabei war, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihr gefiel?

Abermals griff sie nach der Zeitschrift, um sich irgendwie abzulenken, dabei fiel ihr Blick auf einen weiteren Ratschlag in dem aufgeschlagenen Artikel: Reißen Sie die Mauern um sich herum ein. Er kann Sie nicht sehen, wenn Sie etwas verbergen. O Mann, was das Aufbauen von Mauern um sich herum anging, war sie eine Meisterin. Aber wie sollte ein Mann merken, wenn sie damit aufhörte?

Kleiden Sie sich sexy, lautete der nächste Punkt auf der Liste. Dieser Artikel war eindeutig nicht für sie geschrieben worden. Sie wischte über einen Grasfleck auf ihrem Imkeranzug und blätterte ungeduldig weiter.

Ein Artikel mit der Überschrift Hochzeitswunder sprang ihr entgegen. Na, das passte wenigstens. Als Tess’ Trauzeugin steckte Isabel knietief in den Vorbereitungen für die Hochzeit. Der Artikel riet dazu, alles so einfach wie möglich zu halten. Aber sicher, dachte sie. Bei Tess und Dominic war gar nichts einfach. Dominic hatte zwei Kinder aus seiner vorangegangenen Ehe und eine kleine Armee aus Verwandten, von denen ein paar sogar aus Italien angereist kamen. Die alle im Blick zu halten war schon kompliziert genug. Doch Tess war im siebten Himmel, was man ihr deutlich ansah, wenn man ihr nur in die Augen schaute.

Als kleines Mädchen hatte Isabel oft von ihrer eigenen Hochzeit geträumt. Aber von diesem Traum hatte sie sich genauso verabschiedet wie von ihrem Plan, Köchin zu werden. Es hatte genügend andere Dinge gegeben, um die sie sich hatte kümmern müssen – Bubbie, deren Krebsdiagnose und anschließende Behandlung einen dunklen Schatten über Bella Vista gelegt hatte, je schlechter es ihr ging, und erst recht, als sie schließlich gestorben war. Dann das Anwesen selbst, das tiefer und tiefer in Schulden versank, weil die Krankenversicherung sich geweigert hatte, Bubbies Behandlungskosten zu übernehmen. Kurz darauf war Großvater auf der Obstplantage von der Leiter gefallen und hatte wochenlang im Koma gelegen. Während dieser Zeit war Tess, von deren Existenz Isabel bis zu diesem Vorfall nichts gewusst hatte, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ihre rothaarige Halbschwester war der lebende Beweis dafür, dass ihr gemeinsamer Vater Erik bis zu dem Augenblick, da er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, ein Schwindler gewesen war.

Aber wie Bubbie zu sagen pflegte: Der Winter kann noch so schlimm sein, ihm folgt stets ein strahlender Frühling. Tess und Isabel waren bald beste Freundinnen geworden, und dank Tess’ beharrlicher Nachforschungen war es ihnen gelungen, die Katastrophe in letzter Sekunde abzuwenden und Bella Vista in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.

Das Leben kann einen schon ganz schön ablenken, überlegte Isabel. Und das war auch gut so. Es hielt sie davon ab, sich auf Dinge zu konzentrieren, die sich ohnehin nicht ändern ließen – zum Beispiel die Tatsache, dass sie die Kochschule nie abgeschlossen hatte. Oder dass sie wegen einer einzigen gescheiterten Beziehung ihr Inneres mit einer harten, schützenden Schale umschlossen hatte, um so etwas nicht noch einmal zu erleben. Und jetzt galt es, ein neues Projekt zu verwirklichen, das jede freie Minute des Tages in Anspruch nahm: die Kochschule. Es stimmte, dass sie keinen offiziellen Abschluss eines renommierten Instituts vorweisen konnte, doch dafür besaß sie etwas, das ihr ohnehin niemand hätte beibringen können: ihr gottgegebenes Talent in der Küche.

An diese Begabung klammerte sie sich, ließ sich dankbar von dieser Leidenschaft mitreißen, die ihrem Leben einen erfüllenden Sinn gab. Sie war davon überzeugt, gut zu leben, und sich gut zu fühlen kam davon, dass man gut aß, die einfachen Dinge im Leben zu schätzen wusste und Zeit in der Gesellschaft von Familie und Freunden verbrachte. Und genau das war die Mission der Bella Vista Cooking School. Deshalb konnte sie jetzt beim besten Willen nichts gebrauchen, was sie davon abhalten würde, sich die Welt so zu erschaffen, wie sie ihr schon immer vorgeschwebt hatte.

Cormac O’Neill kehrte in den Warteraum zurück. Er trug einen Krankenhauskittel, der vorne vom Hals bis zum Nabel offen stand, sodass sie einen ungehinderten Blick auf Brust und Bauchmuskeln hatte. Und was für Bauchmuskeln das waren!

Er schien nicht zu bemerken, dass sie ihn anstarrte. „Der Patient lebt, solange nicht der nächste Schwarm über ihn herfällt“, sagte er. „Ich muss ein sauberes Hemd und mein Portemonnaie aus dem Wagen holen.“ Auf seinen Stock gestützt verließ er die Klinik und war ein paar Minuten später wieder da. Jetzt trug er ein schwarzes T-Shirt mit einem Illuminaten-Logo darauf. Der Stoff spannte sich über seiner breiten Brust, sodass sich die Muskeln deutlich abzeichneten.

„Ich bin froh, dass es Ihnen wieder besser geht“, erwiderte Isabel etwas verspätet und tat so, als hätte sie seine Muskeln gar nicht bemerkt.

Das Klemmbrett mit dem ausgefüllten Formular gab er zusammen mit seiner Versicherungskarte am Empfang ab. „Ich darf jetzt auch wieder Auto fahren“, fuhr er an Isabel gewandt fort. „Ich bringe Sie gleich nach Hause.“

„Okay.“ Sie gab es auf, ihn weiter verstohlen zu betrachten. Vermutlich hatte er es sowieso schon längst bemerkt. Sicher war er so etwas gewöhnt. Kein Mann konnte so aussehen – üppiges Haar, breite Schultern, stechend grüne Augen –, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Sie klemmte sich die Zeitschrift unter den Arm. Es war eine alte Ausgabe, da würde es niemanden stören, wenn sie sich das Heft auslieh, um den einen oder anderen Artikel zu Ende zu lesen.

„… wenn es Ihnen nichts ausmacht“, hörte sie O’Neill sagen.

„Ähm … wenn mir was nichts ausmacht?“, fragte sie und zwang sich, sich wieder auf ihn zu konzentrieren.

„Ich muss kurz bei der Apotheke vorbei. Die Ärztin hat dort angerufen und ein Rezept für mich durchgegeben. Sie meinte, sie sei nur ein Stück die Straße hinunter.“

„Ja, stimmt. Das ist der Laden mit der gestreiften Markise. Der ist quasi nebenan“, bestätigte sie, während sie die Klinik verließen. „Ich warte hier auf Sie.“

Sie nahm auf dem Beifahrersitz seines Jeeps Platz und sah O’Neill nach, wie er sich auf den Weg zur Apotheke machte. Auch wenn er humpelte und sich auf einem Stock aufstützte, hatte sein Gang dennoch etwas Schwungvolles.

Tara Wilson, die als Kassiererin in der Bank arbeitete, kam ihm entgegen, mit einem Pappträger voller dampfender Kaffeebecher aus dem Brew Ha Ha, dem gut besuchten Café am Platz. Als sie Cormac erblickte, hätte sie fast das Tablett fallen lassen.

Dann geht es nicht nur mir so, dachte Isabel und lehnte sich im Sitz zurück. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit versuchte sie, sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann ausgegangen war oder rumgeknutscht hatte. Ach, sie war so erbärmlich schlecht darin, sich mit Männern zu verabreden. Aber dieses Thema war bei ihr nie wichtig gewesen. Sie mochte dieses Gefühl der Verwundbarkeit nicht, das sich regte, sobald sie sich zu jemandem hingezogen fühlte. Also erlaubte sie es sich gar nicht erst, solche Empfindungen aufkommen zu lassen. Manchmal ließ es sich allerdings nicht verhindern.

Während sie wartete, blätterte sie in der Illustrierten, um sich davon abzuhalten, sich in seinem Wagen umzusehen. Trotzdem war es nicht leicht, zu widerstehen. Was man in einem Auto fand, verriet einem viel über den Menschen, der es fuhr. In diesem Wagen herrschte eine ziemliche Unordnung, aber es war nicht schmutzig. Auf dem Armaturenbrett stapelten sich Belege und Straßenkarten mit Eselsohren. Wer benutzte im Zeitalter von Smartphones und Navigationsgeräten denn noch Straßenkarten? Das Radio war auch ein altes Modell, eingestellt war es auf Pacifica Radio. In der Konsole lagen CDs – The Smiths, David Bowie, Led Zeppelin. Wer hatte heutzutage denn noch CDs? Ihr fielen ein paar Karten auf, die an der Sonnenblende steckten – irgendein Parkausweis, ein Führerschein, der nicht in diesem Bundesstaat ausgestellt worden war. Sie reckte den Hals und legte den Kopf schräg, um die Schrift zu entziffern. Es waren unbekannte Schriftzeichen, und auf dem teilweise verdeckten Foto trug er einen Vollbart.

„Saudi-Arabien“, sagte O’Neill und ließ sie vor Schreck zusammenfahren.

Sie räusperte sich. „Wie bitte?“

„Der Führerschein. Er ist aus Saudi-Arabien.“

„Leben Sie dort?“

Er warf den Beutel mit den Medikamenten auf die Rückbank, stieg ein und ließ den Motor an. „Ich lebe nirgendwo.“

3. KAPITEL

Isabel stand unter der Dusche und ließ das heiße Wasser auf sich niederprasseln. Es war noch nicht mal Mittag, und trotzdem war der ganze Tag bereits aus den Fugen geraten. Sie versuchte, das, was passiert war, zu verdrängen – den verlorenen Bienenschwarm, den Fremden, der unangemeldet bei ihr aufgetaucht war, die eilige Fahrt zur Klinik und das Zusammentreffen mit Calvin Sharpe.

Sie wollte daran glauben, dass sie mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte, dass sie inzwischen immun gegen ihn war, doch sie spürte noch Anklänge des naiven Vertrauens, das sie ihm entgegengebracht hatte. Ihm, dem Leiter des kulinarischen Instituts, ihrem Mentor, ihrem Liebhaber.

An dem Tag, an dem ihre Illusionen zerstört worden waren, war sie mit ihm in eine der Lehrküchen gegangen, um den Laptop mit der Webcam aufzubauen, mit der sie eine Präsentation aufzeichnen wollten. Sie hatte sich privilegiert gefühlt, weil er sie zu seiner Lieblingsschülerin auserkoren hatte. Dort hatte sie beschlossen, ihm zu sagen, dass ihre Periode überfällig und der Schwangerschaftstest, den sie zu Hause durchgeführt hatte, positiv ausgefallen war.

Sie war nicht davon ausgegangen, dass ihn die Nachricht erfreuen würde. Aber niemals hätte sie sich seine Reaktion ausmalen können. Wie ein Blitz war seine Wut aufgeflammt. Er hatte sie gegen den Edelstahltresen gedrückt und sie mit Schimpfwörtern bedacht, die sie in Stücke gerissen hatten. Und er hatte sie beschuldigt, ihm eine Falle gestellt zu haben. Die Ohrfeige, die er ihr gab, hatte sie zu Boden geworfen. Ihr Kopf war so hart auf den Fliesen aufgeschlagen, dass sie nur noch Sterne gesehen hatte. Der Angriff war, wie von einem zu schnell fahrenden Auto angefahren zu werden. So unaufhaltsam, so gewalttätig.

Erst viel später war ihr rückblickend bewusst geworden, dass alle Anzeichen und Warnhinweise vorhanden gewesen waren – sie hatte sie nur nicht zu deuten gewusst. Calvin war der klassische und unglaublich überzeugende Charmeur gewesen, der sie in seine aufregende Welt hineingezogen hatte.

Was sie nicht mitbekommen hatte, war, wie subtil er seine Macht und Kontrolle über sie allmählich ausgeweitet hatte. Er hatte angefangen, sie von den anderen Ausbildern an der Kochschule abzulenken, damit sie sich ganz auf ihn konzentrierte. Zu seiner Art, ihren Mentor zu spielen, gehörte es auch, sie auf eine unterschwellige Weise zu tadeln und ihr Selbstbewusstsein zu untergraben, was sie erst durchschaute, als es längst zu spät war. Er wusste die Antwort auf jede Frage: was sie anziehen sollte, wie sie sich frisieren sollte, in welchem Winkel sie das Messer halten sollte, wenn sie etwas in Würfel oder in Stifte schneiden musste. Er erwartete von ihr, dass sie jederzeit zur Verfügung stand. Anfangs genoss sie diese Aufmerksamkeit, die er ihr entgegenbrachte, aber mit der Zeit erkannte sie, dass er sie ihrer so lange gehegten Ziele beraubt hatte.

Ihre ungeplante Schwangerschaft hatte ihm die Macht und Kontrolle über sie entrissen. Mit seinen Drohungen in den Ohren hatte sie ihre Sachen gepackt und der Kochschule für immer den Rücken gekehrt. Ein Detail hatte er jedoch übersehen. Die Webcam ihres Laptops hatte den Vorfall aufgezeichnet. Doch damals war sie zu verängstigt gewesen, um eine Beschwerde bei der Schulleitung einzulegen oder ihn gar bei der Polizei anzuzeigen. Stattdessen hatte sie ihre Scham vergraben und sich an dem einzigen sicheren Ort versteckt, den sie kannte – Bella Vista.

Heute war sie mit noch einer unerwarteten Begegnung konfrontiert worden – mit einem Mann, mit dem sie keine gemeinsame Vergangenheit hatte. Cormac O’Neill schien nicht gemein zu sein, aber er brachte sie aus einem ganz anderen Grund aus der Ruhe. Er ließ sie nämlich darüber nachdenken, wie einsam sie sich manchmal fühlte, selbst wenn sie beschäftigt war.

Spül es weg, sagte sie sich, während das heiße Wasser über ihren Körper lief. Spül den Tag einfach weg und drück auf Neustart. Sie benutzte Seife, die mit Honig und Lavendel von Bella Vista hergestellt war. Als sie das Aroma des Seifenschaums inhalierte, wünschte sie, sie könnte den ganzen Tag einfach nur hier stehen. Aber das ging nicht. Sie hatte zu viel zu tun. Und sie würde nicht zulassen, dass ein Fremder namens Cormac O’Neill ihre Tagesplanung komplett über den Haufen warf; es reichte, dass sie durch ihn bereits jetzt mit allem zwei Stunden im Rückstand war.

Sie stellte das Wasser aus, trocknete sich ab und zog einen leicht gerafften Rock an, dazu Sandalen und eine dünne, locker sitzende Bluse, bei dieser Wärme genau die richtige Kombination. Ihre dunklen, dichten Locken – ein Erbe ihrer Mutter, die sie nie kennengelernt hatte – würden heute in der Sonne trocknen. Der Frühling stand in voller Blüte, und vor ihr lag eine lange Liste von Aufgaben, angefangen mit einem prüfenden Blick auf die Handwerker, die eine Pergola über dem neuen Bereich des Innenhofs befestigten, der erweitert worden war, um mehr Gästen Platz zu bieten.

Rund um den Brunnen standen schmiedeeiserne Stühle und Bistrotische mit kobaltblauen Majolika-Fliesen. Dieser Platz unter freiem Himmel würde ein Ort der Zusammenkunft werden. Als Erstes für die Gäste von Tess’ und Dominics Hochzeit, im Herbst dann für die Teilnehmer ihrer Kochschule. Isabel wollte, dass alles so schön und einladend aussah wie auf einer alten kalifornischen Hazienda, weshalb sie jedes kleine Detail bis hin zum letzten Eckchen Kalksteinklinker genau geplant hatte.

Bisher war Bella Vista immer ein Privathaus gewesen, doch diesen Sommer würde es sich der Welt öffnen. Das Anwesen hatte lange Zeit wie ein verzaubertes Königreich im Dämmerschlaf gelegen, doch nun wachte es endlich auf, ließ neue Energie hinein. Neues Leben.

Obwohl sie sich um so vieles kümmern musste, kehrten Isabels Gedanken immer wieder zu Cormac O’Neill zurück. Sie rief sich in Erinnerung, dass er mit ihrem Großvater zu tun hatte, nicht mit ihr. Eine Biografie. Wieso hatte Großvater ihr nichts davon gesagt?

Auf ihrem Weg nach unten in die Küche blieb sie vor dem großen Spiegel im Flur stehen. Aus einem unerfindlichen Grund fiel ihr einer der Ratschläge ein, die sie im Wartezimmer der Klinik in der Illustrierten gelesen hatte: Kleiden Sie sich sexy. Nein, das passte einfach nicht zu ihr. Sie bevorzugte weite Kleidung, locker sitzende Kleidung. Das Figurbetonteste, was sie besaß, war ihre Küchenschürze. An manchen Tagen wünschte sie, sie hätte den angeborenen Blick ihrer Schwester für Mode, aber wenn Isabel versuchte, nur nach ihrem Gefühl zu gehen, kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, das Verkleiden spielte. Sie hatte sich bislang nicht mal für ihr Trauzeuginnenkleid entscheiden können.

Isabel betrat die Küche und sah Tess am Küchentresen stehen. Sie schaute aus dem Fenster, während sie ein Stück Bienenstich aß, gefüllt mit köstlicher Creme und mit Mandeln bedeckt. „Wenn du nicht endlich aufhörst, mir ständig was zum Naschen hinzustellen“, beklagte sich Tess, „werde ich niemals in mein Hochzeitskleid passen.“

„Der Kuchen war ja auch für die Arbeiter gedacht“, erwiderte Isabel, die schnell gemerkt hatte, dass Handwerker Bestleistungen erbrachten, wenn man ihnen regelmäßig frisch gebackenen Kuchen anbot.

Tess warf ihre glänzenden roten Haare zurück. Sie hatte sie wachsen lassen, um sie bei ihrer Hochzeit hochgesteckt tragen zu können. „Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen. Wo warst du eigentlich den ganzen Morgen?“

„Ich war mit deinem Freund beschäftigt. Cormac O’Neill.“

„Oh, ist er hier?“, fragte Tess erfreut.

In seiner ganzen Pracht. „Er wurde von Bienen gestochen und hatte eine allergische Reaktion. Ich bin mit ihm in die Stadt zur Klinik gefahren.“

„O Gott! Ist er …“

„Es geht ihm wieder gut. Er hat mir erzählt, dass er hergekommen ist, um an Großvaters Biografie zu arbeiten. Weißt du irgendwas darüber?“

„Na klar.“ Sie blätterte in ihrem Notizbuch für die Hochzeit, das randvoll war mit Listen und Fotos von Blumen, Gerichten und Dekorationen.

„Wieso hast du mir nichts von diesem Projekt erzählt?“ Isabel war ein wenig gereizt. Innerhalb eines einzigen Jahres waren sie beide sich so nahegekommen, als hätten sie sich schon ein Leben lang gekannt, aber hin und wieder kam es zu Spannungen zwischen ihnen. So wie jetzt. Es gab immer noch Gebiete, auf denen sie sich bislang nicht angenähert hatten.

„Wir haben erst gestern erfahren, dass Mac zur Verfügung steht. Ich hätte es dir noch erzählt, aber im Moment habe ich tausend Dinge zu tun, und du hast auch genug auf dem Zettel mit den Hochzeitsvorbereitungen und den Planungen für deine Kochschule. Die Idee wurde ziemlich schnell geboren. Ursprünglich hatte Mac keine Zeit, und dann auf einmal doch, also habe ich die Gelegenheit ergriffen. Magnus’ Geschichte muss einfach aufgeschrieben werden, und Cormac O’Neill ist dafür genau der Richtige.“

„Du hättest das mit mir absprechen sollen.“

„Ja, stimmt, das hätte ich. Hör zu, wenn es ein Problem ist, ihn hier im Haus zu haben, können wir ihn auch anderswo einquartieren. Er könnte zum Beispiel bei Dominic im Haus wohnen.“

„Das Letzte, was dein Verlobter jetzt braucht, ist noch ein weiterer Hausgast, wo schon halb Italien zu seiner Hochzeit kommt. Es ist okay, dein Mac kann gerne eine Weile hier wohnen. Es ist ja nicht so, als hätten wir zu wenig Platz.“ Sie sah sich in der großzügigen, hellen Küche um, in der ihre Großmutter ihr alles übers Kochen beigebracht hatte, was sie wusste. „Seine Unterbringung bereitet mir auch gar kein Kopfzerbrechen. Ich frage mich nur, ob Großvater wirklich will, dass alle Welt seine Lebensgeschichte erfährt.“

„Ja, das will er. Aber er will auch, dass sie richtig erzählt wird, und da kommt Mac ins Spiel.“ Tess leckte kurzerhand die restlichen Krümel von ihrem Teller. „Mein Gott, ist das köstlich. Die Handwerker werden nie wieder von hier wegwollen. Wenn du sie weiter so verwöhnst, werden sie wahre Wunder vollbringen. Können wir diesen Kuchen zum Hochzeitsfrühstück haben? Mann, ich bin echt besessen, oder?“

„Du bist die Braut. Du sollst von deiner Hochzeit besessen sein.“

„Okay, aber sag mir bitte Bescheid, wenn ich völlig unausstehlich werde.“

Isabel freute sich für Tess, Dominic und seine Kinder, aber manchmal, wenn sie nachts wach lag, verspürte sie einen unwillkommenen Anflug von Neid. Bei Tess sah das mit der Liebe so einfach aus, während Isabel schon seit Jahren kein Date mehr gehabt hatte. Sie wusste, sie musste die Mauern einreißen, die sie um sich herum errichtet hatte. Aber wie machte man das?

Schnell verscheuchte sie den Gedanken. „Lenk nicht ab“, sagte sie. „Cormac O’Neill.“

„Du wirst froh sein, dass er derjenige ist, der Magnus’ Leben aufzeichnen wird. Unser Großvater hat eine besondere Geschichte zu erzählen, eine wichtige Geschichte. Es geht nicht nur um Familienstolz, Iz. Er spielte eine zentrale Rolle im dänischen Widerstand. In Dänemark lebten zur Zeit der deutschen Besetzung achttausend Juden, und Magnus und seine Gruppe halfen dabei, siebeneinhalbtausend von ihnen in Sicherheit zu bringen. Das ist ein seltener Lichtblick in einer der düstersten Zeiten. Aber vor allem ist diese Biografie etwas, das Magnus will.“

Isabel schob eine noch feuchte Haarsträhne hinters Ohr und schaute aus dem Fenster. Von dieser Seite der Küche aus konnte sie die zahlreichen Baumreihen sehen, die zum Teil schon jahrzehntealt waren. Die Blütenblätter fielen wie Schnee zu Boden, während die neuen Früchte im Wachsen begriffen waren. Dieser Anblick hatte etwas Beruhigendes. Sie liebte Bella Vista, sie liebte den Rhythmus der Jahreszeiten, und sie war glücklich, ein Teil davon zu sein.

„Ja“, bestätigte sie leise. „Davon hat Großvater gesprochen.“ Weder sie noch Tess sprachen das Offensichtliche aus – dass ihr Großvater nicht mehr der Jüngste war. „Erzähl mir mehr über diesen Mann.“

„Er schreibt Sachbücher“, antwortete Tess. „Er hat dafür schon alle möglichen Literaturpreise bekommen, und sein Agent hat auch bereits einen Verleger an der Hand – vorausgesetzt, das Projekt kommt zustande. Aber im Moment ist nur wichtig, dass er hergekommen ist. Ich glaube, er ist genau der Richtige für Magnus.“

„Wo soll er schlafen?“, wollte Isabel wissen.

„Ich habe mir überlegt, dass wir ihm Eriks Zimmer geben.“

Erik – Isabels und Tess’ Vater. Er war gestorben, noch bevor eine von ihnen beiden zur Welt gekommen war. So waren zwei von ihm schwangere Frauen allein zurückgeblieben, ohne dass die eine etwas von der anderen gewusst hatte. Seit Isabel und Tess sich begegnet waren, hatten sie stundenlang über diese Situation spekuliert, aber keine befriedigende Antwort auf die Frage finden können, was Erik dazu veranlasst hatte, sich so zu verhalten.

„Wieso ausgerechnet Eriks Zimmer?“

„Weil es frei ist und er keine besonderen Ansprüche stellt. Außerdem dachte ich, Eriks Zimmer wäre eine gute Wahl. Wegen der Geschichte, weißt du? Wenn Mac seine Arbeit gut machen soll, dann muss er ganz in die Geschichte der Familie eintauchen.“

Diese Vorstellung bereitete Isabel erhebliches Unbehagen. „Und wenn wir das gar nicht wollen?“

„Unser Großvater will es. Ich schwöre dir, alles wird gut. Mach dir keine Gedanken.“ Tess stellte den Teller in die Spüle, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und trank einen Schluck. Sie schien niemals wirklich ruhig zu sein, weder körperlich noch mental. Immer überlegte sie, plante, machte, tat. Sie strahlte eine Energie aus, bei der selbst Koffein Herzrasen bekam. „Tut mir wirklich leid, Iz. Sei nicht böse, okay?“

„Ich werde nie böse“, gab Isabel zurück.

„Ich weiß. Das ist schon beinahe unheimlich. Ich werde bald Stiefmutter von zwei schulpflichtigen Kindern sein, da brauche ich dringend Nachhilfe von dir, um zu lernen, etwas entspannter zu sein.“

Isabel musste kurz an Calvin Sharpe denken und fühlte sich alles andere als entspannt. „Hey, das passt zwar gar nicht zum Thema, aber warst du eigentlich beim letzten Treffen der Handelskammer?“

„Ja, ich bin schließlich ein eingetragenes Mitglied. Im Dezember wollen sie Things Remembered auf ihrer Website präsentieren. Cool, oder?“

„Ja, sehr cool. Ähm … wurde eigentlich auch über dieses neue Restaurant gesprochen, das in Archangel eröffnen soll? Im Newsletter stand etwas darüber …“

„Ja, ich glaube, das soll eine ganz große Sache werden. Irgendein bekannter Koch … Cleavon oder Calvin oder so …“

„Calvin Sharpe. Ein Fernsehkoch.“ Isabel ließ sich nichts anmerken. Du wirst nie böse. Großartig. Wirklich großartig.

„Ja, genau. Sieht supergut aus, und er hatte einen ganzen Tross Leute im Schlepptau. Ah, jetzt fällt’s mir wieder ein. Er wird das Restaurant ‚CalSharpe’s‘ nennen. Kennst du den Typen?“

Isabel zuckte mit den Schultern. „Er war vor Jahren einer meiner Ausbilder an der Kochschule.“

„Und? Wie ist er so?“

„Er ist einer von den Leuten, die davon überzeugt sind, dass die Sonne jeden Tag nur ihretwegen aufgeht“, antwortete sie. „Aber kochen kann er. Und wie es scheint, hat er ein ganzes Restaurant-Imperium aufgebaut.“ Mehr wollte Isabel dazu nicht sagen. „Aber zurück zu dem anderen Mann. Cormac O’Neill. Du nennst ihn nur Mac?“

Tess fasste sie am Arm und zog sie mit sich ins Wohnzimmer. „Komm, ich zeige dir was.“

Sie führte Isabel in den großen Raum, der bereits für die Kochschule eingerichtet worden war. Es war ein helles, luftiges Zimmer mit frisch geweißten Wänden und hohen Decken, Regalen voller Kochbücher, einigen antiken Möbelstücken und Bubbies altem Stutzflügel. Während ihrer Kindheit war die Leiter, die an den hohen, eingebauten Bücherregalen lehnte, für Isabel der Weg in eine andere Welt gewesen. Genau das hatten Bücher ihr geboten – all die Reisen, die sie unternehmen wollte. Reisen in ferne, fremde Reiche. Schon als kleines Mädchen hatte sie zu der Sorte von Reisenden gehört, die die Welt lieber aus der Sicherheit ihres eigenen Zuhauses hatten erkunden wollen.

Nun war sie zur Verwalterin dieses Ortes geworden. Für sie selbst war Bella Vista von der Essenz des Lebens erfüllt, es war ein Ort der Sicherheit und Beständigkeit in einer Welt, die nicht immer nett zu ihr gewesen war. Ihre Mission war es, diesem Ort neues Leben einzuhauchen und ihn nach schweren Zeiten in eine bessere Zukunft zu führen. Der Unfall ihres Großvaters im letzten Jahr hatte Isabel in ihren Grundfesten erschüttert. Magnus war für sie nicht nur eine Vaterfigur, er war auch neben Tess ihr einziger Verwandter.

Isabel liebte es immer noch, sich Fotos von den Schlössern am Rhein, dem Ayers Rock in Australien, der Amalfiküste in Italien anzuschauen. Manchmal, wenn sie sich diese Bilder ansah, verspürte sie eine tiefe Sehnsucht, doch sobald es darum ging, wirklich an einen dieser Orte zu reisen, hielt sie irgendetwas immer zurück. Für sie waren Abenteuer viel ansprechender, solange sie sie auf den Seiten von Reiseführern erlebte.

Tess nahm einen Stapel neuer Bücher aus einem Regal und legte sie auf den Deckel des Flügels. „Ich bin Mac das erste Mal begegnet, als ich in Krakau gearbeitet habe. Ich war da auf der Suche nach der Herkunft einiger Gemälde, die von den Deutschen im Krieg gestohlen worden waren. Mac schrieb an einem Artikel über die Rückgabe von Beutekunst aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich tauche übrigens in einer Fußnote in einem seiner Bücher auf.“ Sie schlug ein dickes Werk mit dem Titel Hinter dem Eisernen Vorhang auf. „Er berichtet hier von dem Schatz von Krakau.“

In Isabel flammte Bewunderung für ihre Schwester auf. Sie beide waren getrennt voneinander unter völlig verschiedenen Bedingungen aufgewachsen. Isabel hier auf Bella Vista, während Tess mit ihrer Mutter, einer Expertin für den Ankauf von Kunstgegenständen für Museen, um die Welt gereist war. Isabel konnte sich gut vorstellen, wie Tess alte Artefakte untersuchte, um die Wahrheit über sie herauszufinden. Immerhin hatte sie bei einem Auktionshaus in der Bay Area einen hohen Posten bekleidet, bei dem sie nach verschollenen Schätzen gesucht und anschließend die Herkunft bestimmt hatte. Ihr Fachwissen hatte entscheidenden Anteil daran gehabt, Bella Vista vor dem Bankrott zu bewahren.

Aber die Rettung des Anwesens hatte auch sehr viel ungewollte Aufmerksamkeit auf Bella Vista gelenkt. Isabel bezweifelte, dass Cormac O’Neill sich ohne die Geschichten, die Tess während ihrer Recherche aufgedeckt hatte, für ihren Großvater interessieren würde. Und dann war da noch diese Klage … eingereicht von Lourdes Maldonado, der gerissensten Anwältin von ganz Archangel. Sie war eine Nachbarin und ehemalige Freundin, die es plötzlich auf irgendeine Art von Entschädigung abgesehen hatte.

„Du hast eine so erstaunliche Karriere gehabt“, sagte Isabel und setzte sich über all ihre düsteren Gedanken hinweg. „Fehlt dir deine Arbeit nicht?“

„Hin und wieder schon. Ich hatte wirklich einen tollen Job in der Stadt“, stimmte Tess ihr zu. „Es war lange Zeit großartig, aber hier habe ich etwas noch viel Großartigeres gefunden.“ Ihr Blick wurde träumerisch, so wie immer, wenn sie an ihren Verlobten dachte. „Ich weiß, ich benehme mich ziemlich albern. Aber ganz ehrlich, Iz, ich hätte nie gedacht, dass sich Liebe so anfühlen könnte. Eines Tages wirst du das verstehen. Wenn dir der richtige Mann begegnet.“

„Darauf würde ich nicht wetten“, gab Isabel zurück.

„Nicht mal dann, wenn er so aussieht?“ Tess hielt ihr das Buch hin.

Isabel nahm es und drehte es so, dass sie das Foto des Autors auf der Rückseite betrachten konnte. Es zeigte eine deutlich bessere Version des verschwitzten, fluchenden und von Bienenstichen übersäten Reisenden, den sie kennengelernt hatte. „Oho.“

„Ganz meine Meinung.“ Tess sah sie strahlend an. „Wir haben ihn natürlich nicht wegen seines Aussehens ausgewählt, aber schaden kann es auch nicht. Wenn hier schon jemand herumwuselt und unsere Familiengeschichte recherchiert, ist es doch nett, wenn er auch noch gut aussieht. Er ist übrigens Single.“

„Das heißt, irgendwas stimmt nicht mit ihm. Oder er leidet unter Bindungsängsten.“

„Weder noch“, entgegnete Tess und wurde auf einmal ernst. „Er ist Witwer.“

4. KAPITEL

Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer“, sagte Isabel, während sie auf Cormac zuging, der gerade sein Gepäck aus dem Jeep holte.

Er drehte sich zu ihr um und grinste sie an. „Ich möchte wetten, dass Sie das schon immer mal sagen wollten? ‚Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer‘“, wiederholte er gespielt förmlich.

„Genau. Ich meine, bitte hier entlang“, ließ sie sich auf das Spiel ein.

„Danke. Und danke auch dafür, dass Sie mir heute Morgen geholfen haben. Ich schätze, ein Ausflug zur Notaufnahme stand heute bestimmt nicht auf Ihrer Liste.“

„Der steht nie auf der Liste. Wie fühlen Sie sich?“

„Bestens. Es geht nichts über eine Spritze mit künstlichem Adrenalin, um erfolgreich in den Tag zu starten. Ich habe mich bereits ein bisschen umgesehen und ein paar Telefonate erledigt. Ist Ihr Großvater zu Hause?“

„Ja, so wie immer. Entweder bastelt er in seiner Werkstatt, oder er ist draußen auf der Obstplantage bei den Arbeitern. Ich bin mir sicher, er freut sich schon darauf, Sie kennenzulernen.“ Sie ging vor ihm her zum Eingang, der seit der Renovierung sehr viel hermachte. Ein liebevoll gestalteter Torbogen umrahmte die Aussicht auf den großen sonnigen Innenhof. Die beiden Flügel der Hazienda erstreckten sich um die Hügelkuppe herum, auf der das Haus errichtet worden war. Die weiß getünchten Außenmauern bildeten einen deutlichen Kontrast zum blauen Himmel. Mitten auf der weitläufigen offenen Fläche sprudelte ein Brunnen, Sonnenlicht wurde vom Wasser reflektiert. Zwei Katzen – Lilac und Chips – streiften umher, wobei Lilac sich immer in der Nähe der dunkelgrauen Katze hielt, als wollte sie das andere Tier vom Brunnen fernhalten. Die Arbeiter legten letzte Hand an die Pergola, durch die ein im Schatten liegender Bereich für die Bistrotische entstand.

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