Ransom Canyon: Rustler's Moon

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Ransom Canyon 2: Rustler’s Moon

Endlich – die lang ersehnte Fortsetzung von Ransom Canyon

Schicksalswege im Ransom Canyon: In einer mondhellen Nacht treffen drei Fremde aufeinander. Wenn der Morgen dämmert, wird für sie nichts mehr so sein, wie es vorher war.

Crossroads, der kleine Ort im malerischen, wilden Ransom Canyon, ist der perfekte Ort für einen Neuanfang. Und wenn es für Angela Harold einen Mann gibt, mit dem sie sich das gemeinsam vorstellen kann, dann ist es Wilkes Wagner. Bei dem schweigsamen Rancher fühlt sie sich sicher. Aber was, wenn er sie unwissentlich in Gefahr bringt?

Wilkes’ Träume, die texanische Kleinstadt zu verlassen, sind längst an der harten Realität gescheitert. Alles, was er vorweisen kann, ist die Devil's Fork Ranch. Doch dass er sich zu der stillen Angela hingezogen fühlt, kann er nicht leugnen. Egal, wie riskant das für sein einsames Herz ist.

Collegestudentin Lauren Brigman sehnt sich nach einem Zeichen von ihrem Schwarm Lucas. Sie will mehr für ihn sein als ein Mädchen, das er damals, als ein übermütiger Abend zu einer gefährlichen Nacht wurde, gerettet hat. Aber eine lebensverändernde Entscheidung könnte sie alles kosten – auch die erhoffte Chance bei Lucas.


  • Erscheinungstag 23.08.2025
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783751538152
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jodi Thomas

Ransom Canyon: Rustler’s Moon

PROLOG

Anna Maria Island, Florida, September

Angela Harold saß im vollgestopften Büro ihres Vaters, immer noch in dem schwarzen Kleid, das sie auf seiner Beerdigung getragen hatte, und starrte auf das gerahmte Bild auf seinem Schreibtisch, das sie ihm mit sieben Jahren geschenkt hatte. Ihr erster Angelausflug. Ihr Vater lächelte, die Sonne spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille. Sie stand neben ihm und hielt einen Fisch hoch, der halb so groß war wie sie.

Eine Erinnerung, die sie für immer in ihrem Herzen bewahren würde. Für Angela war dieses eine Foto zum Symbol für die Zeit geworden, bevor alles bergab gegangen war. Vor Florida. Vor der Krankheit ihrer Mutter. Bevor ihr Vater innerlich zu verkümmern begonnen und sie sich in ihrem Leben gefangen gefühlt hatte.

Doch jetzt zerfielen die Gitterstäbe, die sie hier festhielten, wie Zuckerwürfel im Regen. Sie hätte sich frei fühlen sollen, aber alles, was Angela spürte, war Angst. Wie ein gefangener Vogel, der auf eine offene Käfigtür starrte. Sie hatte Angst zu fliegen. Angst zu bleiben.

Die Polizei hatte ihr erklärt, dass ihr Vater beim Verlassen seines Büros überfallen worden war. Weder die Schläge, die er erlitten hatte, noch die Kopfverletzung durch den Sturz hatten ihn getötet. Aber sein Herz war nicht stark genug gewesen, um den Angriff zu überstehen. Es hatte erst vor drei Tagen aufgehört zu schlagen, aber Benjamin Harold hatte schon vor Jahren aufgehört zu leben, und ein Traum nach dem anderen war unerfüllt geblieben.

„Wer raubt an einem Sonntagabend einen Buchhalter aus?“, flüsterte Angela dem lächelnden Mann auf dem Bild zu.

Das Antiquitätengeschäft war an dem Tag geschlossen gewesen. Ihr Vater hatte gesagt, er ginge in den Laden, um die Bücher in Ordnung zu bringen. Wer auch immer ihn überfallen hatte, konnte höchstens ein paar Hundert Dollar aus seiner Brieftasche erbeutet haben. Von seinem schwachen Herzen hatte der Räuber nichts wissen können.

Aus Neugier schlug sie das Kassenbuch ihres Vaters auf. Sie war sieben gewesen, als sie nach Florida gezogen waren. Seitdem hatte ihr Vater die Buchführung für das Geschäft seines Bruders gemacht. Das Multimillionen-Dollar-Antiquitätengeschäft gehörte ihrem Onkel Anthony und er vertraute die Bücher niemandem sonst an. Anthony war zwar der Chef des Unternehmens, aber ihr Vater hatte ihm das Startkapital geliehen. Der letzte Eintrag war eine Überweisung vom Geschäfts- auf ein Nummernkonto.

Sie starrte auf das Buch, während sie über die Familiengeschichte nachdachte. Ihr Vater hatte seinem jüngeren Bruder Anthony fünfzigtausend Dollar geliehen, dazu die unbezahlbare Halskette, die er geerbt hatte, damit Anthony sie im Geschäft ausstellen konnte. Die Halskette war ein Erbstück und seit Generationen im Besitz der Familie: eine antike griechische Münze in einer Fassung aus Gold und Diamanten. Im Testament ihrer Großeltern war festgelegt worden, dass die Halskette an den ältesten Sohn gehen sollte und niemals aus Profitgier verkauft werden durfte.

Anfangs war die Kette die einzige Attraktion in einem Antiquitätengeschäft voller ansonsten recht zweifelhafter Schätze gewesen.

Als Gegenleistung für das Darlehen und die Leihgabe der Kette hatte Anthony zugestimmt, dass ihr Vater die Buchhaltung übernehmen würde. Solange er lebte, wäre ihm die Stelle sicher. In seinen Dreißigern hatte ihr Vater ein halbes Dutzend Jobs verloren und sich an seinem letzten Arbeitsplatz verletzt. Darum war ihm das Angebot zu gut erschienen, als dass er es hätte ablehnen können, auch wenn er und Anthony sich nie nahegestanden hatten.

Allerdings war ihr Vater die fragwürdigen Praktiken seines Bruders bald leid, auch wenn das Geschäft florierte und Anthony neue Läden an der gesamten Ostküste eröffnete. Ihr Vater wollte keinen Anteil an den Gewinnen und nahm nur sein Gehalt an, während Onkel Anthony reich wurde, indem er Antiquitäten verkaufte, die per Schiff aus China kamen.

Wenn ihre Mutter nicht krank gewesen wäre, hätte ihr Vater schon vor Jahren aufgehört. Langsam fortschreitender Krebs hatte ihren Körper zerstört. Zuerst ging man mit Operationen und Behandlungen gegen die Krankheit vor, bis ihre Mutter schließlich zu schwach war, um weiterzukämpfen. Angela blieb bei ihr und verpasste während ihrer Teenagerjahre Abschlussbälle, Verabredungen und Partys.

Für ein paar Stunden am Tag wurde das winzige Büro zum Zufluchtsort ihres Vaters vor der grausamen Realität, der Krankheit seiner Frau. Nach dem College bekam Angela einen Job in einem Museum in der Stadt und zog zu ihren Eltern, um ihnen zu helfen. Ihre Mutter brauchte inzwischen ständige Pflege, und Angela übernahm gemeinsam mit ihrem Vater die Nachtschichten.

Nachdem ihre Mutter zu Hause friedlich im Schlaf gestorben war, kam es Angela so vor, als würde sie auch ihren Vater verlieren. Er arbeitete sechs, manchmal sieben Tage die Woche in seinem Büro, meist bis spät in die Nacht. Zuerst hatte sie gedacht, er wollte einfach nur versäumte Arbeit aufholen, aber schließlich verstand sie, dass er sich versteckte und jeden Tag ein bisschen mehr aus dem Leben zurückzog.

„Irgendetwas stimmt nicht“, murmelte er manchmal, wenn er spät nach Hause kam. Mehr als ein Mal erwähnte er, wie besorgt er wegen der Buchhaltung des Unternehmens war.

Wenn Angela gefragt hatte, ob er mit seinem Bruder darüber gesprochen hätte, hatte ihr Vater nur gelächelt und gemeint, sie solle sich keine Sorgen machen – Anthony wolle nichts von Problemen wissen.

Als sie sich an seine Besorgnis erinnerte, nahm Angela das Foto von dem Tag beim Angeln in die Hand. Sie wünschte, sie hätte ihm helfen können. „Ich habe dich lieb, Dad“, flüsterte sie seinem Bild zu.

Geistesabwesend drehte sie den Rahmen um. War ihre Notiz noch da, die sie dort hineingesteckt hatte und auf der stand, wie lieb sie ihn hatte? Als sie den Rahmen öffnete, fiel ein kleines Stück Papier heraus. Sie erkannte ihre Schrift und die Herzchen, die rund um die Ränder gezeichnet waren.

Lächelnd zog sie es heraus und bemerkte, dass jemand etwas auf die Rückseite ihres Zettels gekritzelt hatte. Die Notiz trug die Aufschrift „An meinen Engel“ und das Datum von vor drei Tagen, dem Tag, an dem er gestorben war.

„Du musst von hier verschwinden“, stand auf dem Zettel. Fünf Worte waren in Großbuchstaben geschrieben.

LAUF WEG, VERSCHWINDE, TAUCH UNTER. Dein Leben hängt davon ab. Vertraue niemandem …

Der Satz war nicht beendet. Irgendetwas musste ihren Vater unterbrochen haben. Vielleicht ein Geräusch auf der Straße. Sie stellte sich vor, wie er den unvollendeten Zettel eilig in den Rahmen zurücksteckte und dann aufstand, um nachzusehen, was los war.

Eine Weile schaute sie zwischen dem Bild, dem Zettel und dem Kassenbuch hin und her. Florida war ihr Zuhause. Warum würde ihr Vater ihr sagen, sie sollte weglaufen?

Er musste gewusst haben, dass er in Gefahr war. Die Polizei hatte gesagt, die Telefonleitung zu seinem Büro wäre gekappt worden. Aber der oder die Einbrecher hatten nicht wissen können, dass er an diesem Abend wie üblich sein Handy zu Hause gelassen hatte. Und selbst wenn ihr Vater gewusst hätte, dass er in Gefahr war, warum hätte er ihr sagen sollen, sie sollte weglaufen oder von hier verschwinden?

Der Gedanke ließ sie erschaudern. Ihr Vater hatte die Notiz versteckt. Er hatte Angst gehabt, dass sie jemand finden würde. Jemand anders als sie.

Gesprächsfetzen aus den letzten Wochen gingen ihr durch den Kopf. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich auf eine Stelle als Museumsdirektorin in Texas zu bewerben, die er im Internet gesehen hatte. Um sie daran zu erinnern, hatte er die Stellenausschreibung sogar an die Pinnwand in der Küche gehängt. Es wäre gut für sie, mal wegzukommen, hatte er gesagt. Dann hatte er einen kleinen Wohnwagen auf einem Flohmarkt erstanden und ihn in der Garage voller anderem nutzlosen Gerümpel verstaut. Außerdem hatte er alle seine Aktien auf sie übertragen und behauptet, er hätte keine Zeit mehr, sich darum zu kümmern.

Vielleicht hatte er nicht mit einem Überfall gerechnet, sondern befürchtet, sein Herz könnte versagen. Oder hatte er Angst gehabt, man würde ihm etwas antun? Jetzt, im Nachhinein, fragte sie sich, ob er gewollt hatte, dass sie Florida verließ, damit er es auch konnte. Aber warum? Er hatte einen Job auf Lebenszeit gehabt. Selbst wenn Onkel Anthony zwielichtige Geschäfte machte, hätte Benjamin niemals seinen eigenen Bruder verraten.

Sie hatte geglaubt, dass all seine Veränderungen mit der Trauer um ihre Mutter zusammenhingen, aber jetzt sah sie das alles in einem anderen Licht. Ihr immer perfekt organisierter Vater musste einen Plan gehabt haben. Aber welchen?

Langsam begriff sie. Die Antwort war nicht in dem Bild zu finden oder in der Notiz, die er geschrieben hatte, sondern in dem Kassenbuch. Das Bankkonto, auf das er das Geld überwiesen hatte, gehörte ihr, und der Betrag entsprach genau dem, den er seinem Bruder vor Jahren geliehen hatte. Er hatte nicht einmal die Zinsen berechnet, die ihm zustanden.

Ihr Vater war vielleicht nicht in der Lage gewesen, Florida zu verlassen, aber er sagte ihr, sie solle es tun, und er hatte dafür gesorgt, dass sie die nötigen Mittel dazu besaß.

Nein, korrigierte sie sich, er sagte es nicht, sondern verlangte es. Sogar noch aus dem Grab heraus.

Angela stand auf, schob den Zettel zurück hinter das Bild, steckte den Rahmen und das Kassenbuch in ihre Handtasche und verließ das Büro ihres Vaters.

Wie konnte sie von hier verschwinden? Alle, die sie kannte, lebten in Florida, was zugegebenermaßen nicht allzu viele waren. Während ihrer Collegezeit hatte sie ein paar Jobs gehabt, aber dabei immer allein in einem Museum gearbeitet. Sie hatte keine wirklichen Freunde, an die sie sich wenden konnte, und die einzige Familie, die ihr noch geblieben war, war die von Onkel Anthony.

Sogar bei der Beerdigung hatten sie sie so behandelt, als könnte sie nach dem Tod ihres Vaters einen Teil der Harold Antiques Company für sich beanspruchen.

Sie brauchte Antworten. Vorher konnte sie nicht daran denken zu gehen. Morgen würde sie anfangen. Sie mochte vielleicht keine große Kämpferin sein, aber im Morgengrauen würde sie ihre Suche beginnen. Sobald sie Antworten auf die Frage hätte, warum ihr Vater eine so seltsame Nachricht hinterlassen hatte, würde sie seinen Rat befolgen. Sie würde von hier verschwinden. Hier gab es nichts mehr für sie. Ihre Verwandten würden sie nicht vermissen. Ihr Job war auf eine Teilzeitstelle reduziert worden. Seit der Rückkehr vom College hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, auch nur eine Freundschaft zu schließen.

Als sie in ihrem winzigen Zimmer ins Bett kroch, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Beinah konnte sie ihren Vater vor sich sehen, der ihr etwas zuflüsterte. „Gute Nacht, Liebes. Mögen die Engel heute Nacht über dich wachen.“

Er hatte vielleicht nie über etwas Ernsteres mit ihr gesprochen als über ihre Pläne für das Abendessen, aber sie hatte nie an seiner Liebe gezweifelt. Selbst an dem Tag, an dem er gestorben war, hatte er an sie gedacht.

„Gute Nacht“, flüsterte sie, als würde sein Schatten noch in der Tür verweilen.

Kurz nach Sonnenaufgang kam Angela aus ihrem Zimmer. Als sie die Küche des Strandhauses ihrer Eltern betrat, saß ihre Tante am Esstisch, als würde sie auf sie warten. Neben ihrem Ellenbogen stand eine halb leere Tasse Kaffee. Sie hatte die Post von drei Tagen geöffnet und wie Müll auf dem Tisch verstreut.

Crystal Harold war die dritte Ehefrau von Onkel Anthony, und Angela betrachtete sie als entfernt verwandte Tante. Nie hilfsbereit. Nie freundlich. Nie fürsorglich. Wenn Crystal auf Anna Maria Island war, dann nur, weil Onkel Anthony sie geschickt hatte.

Natürlich besaß sie einen Schlüssel, auch wenn sie nur selten zu Besuch kam.

Das Haus und das Auto, das Angelas Vater gefahren hatte, gehörten Harold Antiques. Nur eine weitere Methode, mit der Anthony seinen Bruder an das Geschäft gebunden hatte.

„Wo warst du, Liebes?“, fragte ihre Tante kalt. „Ich dachte, du wärst gestern nach der Beerdigung direkt nach Hause gefahren. Ich habe hier gewartet, bis es dunkel war.“

„Ich bin nur herumgefahren“, sagte Angela vorsichtig und erinnerte sich an die Notiz. Vertraue niemandem.

„Also, ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass du hierbleiben kannst, solange du willst. Das Haus gehört der Firma, genau wie die meisten Möbel, aber dein Onkel und ich möchten, dass du weißt, dass du, egal was passiert, immer noch zur Familie gehörst. Natürlich musst du nach Ablauf eines Monats Miete zahlen, und das Auto deines Vaters wurde bereits abgeholt. Ich bin sicher, mit deinem Abschluss in Museumswissenschaft wirst du irgendwo Arbeit finden. Vielleicht nicht in einem Museum, wie du geplant hattest …“ Sie musterte Angela von oben bis unten und fügte hinzu: „Obwohl die Leitung eines Museumsshops zu dir passen würde. Dieser Art von Leuten ist bestimmt egal, wie du dich anziehst oder dass du schüchtern bist. Museumsbesucher erwarten wahrscheinlich, dass das Personal ein bisschen schrullig oder seltsam ist.“

Mit ihren langen Fingernägeln klopfte Crystal gegen die Tasse. „Ich habe den Sinn von Museen oder Kunstgalerien noch nie verstanden. Wer will sich schon etwas ansehen, das man nicht kaufen kann? Anthony hat deinem Vater bestimmt ein Dutzend Mal gesagt, dass er dich dazu bringen soll, einen Abschluss zu machen, den du gebrauchen kannst, zum Beispiel in Buchhaltung. Dann könntest du jetzt die Position deines Vaters bei uns übernehmen.“ Sie gab ein Geräusch von sich, als würde sie husten, um ein Lachen zu verbergen. „Na ja, nicht heute. Am frühen Morgen hat jemand die Fenster des Buchhaltungsbüros eingeschlagen. Überall lagen nasse Unterlagen verstreut. Wenn ich an Geister glauben würde, könnte ich fast denken, dein Vater wäre noch einmal zurückgekommen.“

Angela schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht an Geister, und selbst wenn sie es getan hätte, wäre das Büro bestimmt der letzte Ort, an den ihr Vater zurückkehren würde.

„Du könntest heiraten, Angela“, riss Crystal sie aus ihren Gedanken. „Auf deine unscheinbare Weise bist du hübsch genug.“

„Wow, danke“, brachte Angela heraus. Sie wusste nur zu gut, dass sie nicht Crystals Idealbild von einer Heiratskandidatin entsprach – groß, braun gebrannt und blond. Ihre Tante hatte ihr sogar einmal vorgeschlagen, dass sie ihr rotes, lockiges Haar abschneiden und eine Perücke tragen sollte. Sie hatte Angela einen Jahresvorrat an Bräunungsspray gekauft und gemeint: „Selbst ein bisschen könnte vielleicht helfen.“

Crystal hatte sich immer so verhalten, als hätte sie Mitleid mit ihr. „Es ist nicht deine Schuld, Angela. Nicht jeder kann mit Schönheit gesegnet sein. Aber du bist intelligent. Es gibt bestimmt einen Mann in Florida, der auf so was steht.“ Crystal trank den Rest ihres Kaffees aus, als würde sie auf ein Dankeschön warten.

„Ich wäre gern allein, wenn es dir nichts ausmacht.“ Angela war im Moment nicht in der Stimmung für ein Makeover. „Es kommt mir vor, als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren.“

„Natürlich, Liebes.“ Ohne ein tröstendes Wort ging ihre Tante an ihr vorbei. „Wir reden in ein paar Tagen weiter.“

Angela bemerkte, wie sich die Katze ihrer Eltern an Crystals schwarzem Hosenbein rieb.

Ihre Tante trat schnell zurück und starrte wütend auf das Tier. „Jetzt, da deine Eltern nicht mehr da sind, wirst du diese hässliche Katze hoffentlich los. Ich habe deinem Vater gesagt, dass das Viech die Möbel beschädigen könnte, aber das schien ihm egal zu sein.“

„Natürlich“, antwortete Angela. „Ich bringe Doc Holliday morgen ins Tierheim.“

Ihre Tante nickte, als hätte sie das erste von vielen Streitgesprächen gewonnen. „Blöder Name für eine Katze, Angela, aber deine Seite der Harold-Familie habe ich noch nie verstanden. Dein Vater und Anthony waren zehn Jahre auseinander, aber ich schwöre, das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihr Nachname.“

„Diese Seite der Familie gibt es nicht mehr“, erwiderte sie. „Nur noch mich.“

Sobald Crystal hinausgegangen war, schloss Angela die Tür zu dem, was ihr Leben gewesen war.

Ihr ging durch den Kopf, dass Anthony und Crystal wussten, dass ihr Vater immer bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Auch von seinem schwachen Herzen hatten sie gewusst. Sie hatten sogar gewusst, dass er seit dem Tod seiner Frau nie sein Handy mitgenommen hatte, wenn er bis spät in die Nacht arbeitete.

Angela schüttelte den Kopf. Das war lächerlich. Vielleicht hatte ihr Vater die Nachricht einfach nur hinterlassen, damit sie nicht durchdrehte. Ihm war klar gewesen, dass Crystal und Anthony sie in den Wahnsinn treiben würden.

Erst im Nachhinein erkannte sie noch andere Anzeichen für seine Abreisevorbereitungen. Leere Kartons, die sich in der Speisekammer stapelten. Ein Dutzend Hundertdollarscheine, versteckt im Badezimmerschrank hinter den Medizinflaschen ihrer Mutter.

Als sie begann, die über den Esstisch verstreute Post zu sortieren, entdeckte sie unter dem Papierchaos eine Landkarte. Mit rotem Stift war eine Route von Florida nach Westen eingezeichnet, eine Stadt in West Texas war dick umrandet. In dem Moment verstand sie, was ihr Vater geplant hatte. Es war dieselbe Stadt, in der ein Museumsdirektor gesucht wurde.

Als sie die Augen schloss, konnte sie beinah seine Stimme hören. Könnte genau der richtige Ort für dich sein, Angie. Du weißt doch, wie sehr du die Geschichte von Texas schon immer geliebt hast. Sieht aus wie der perfekte Ort für einen Neuanfang.

Sie schnappte sich die Landkarte und fuhr zum Friedhof. Das Grab ihres Vaters war noch immer mit Blumen bedeckt.

Wenn sie doch nur noch ein Mal mit ihm reden könnte … Wenn er erklären würde, warum er das gesagt und auf den Zettel geschrieben hatte … Wenn er sie nur noch ein Mal in den Arm nehmen würde, damit sie sich sicher fühlen konnte …

Aber die Welt war still und Angela fühlte sich einsamer als je zuvor in ihrem Leben. Ein schüchternes Mädchen, ein Einzelkind, ein einsamer Mensch, der gern allein arbeitete. Und jetzt war sie ganz allein, wahrscheinlich für immer.

Sie sah auf das Grab ihres Vaters hinunter. „Gute Nacht, geliebter Daddy. Mögen die Engel über dich wachen. Auf Wiedersehen.“

Als sie ging, wusste sie, dass sie nie wieder zu diesem Platz aus Stein und welkenden Blumen zurückkehren würde. Ihr Vater war nicht hier. Er war jetzt bei ihrer Mutter.

Als Angela schließlich zu dem kleinen Haus ihrer Eltern am Wasser zurückfuhr, stand die Sonne schon tief. Alle Lichter waren an, und für eine Sekunde dachte sie, ihr Vater wäre daheim.

Langsam ging sie zur Haustür. War ihre Tante vielleicht zurückgekommen?

Glas knirschte unter Angelas Schuhen. Das kleine Fenster in der Tür war zerbrochen.

Ihr Herz hämmerte, als sie ihr Handy herausholte und wählte, dann ging sie zurück zu ihrem Auto und verriegelte die Türen, bis die Polizei eintraf. Zimmer für Zimmer durchsuchten sie das kleine Haus. Schubladen standen offen. Der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Die Schränke waren leer gefegt, der Boden mit zerbrochenem Geschirr übersät.

Die Durchsuchung ergab, dass nichts gestohlen worden war, nicht einmal das im Badezimmerschrank versteckte Bargeld oder ihr Laptop.

Die Polizei glaubte, es wären wahrscheinlich nur Jugendliche gewesen, aber Angela wusste, dass es um mehr ging.

Sie schloss das Haus ab und versuchte, sich ein wenig zu entspannen, damit sie schlafen konnte. Aber die Worte auf dem Zettel und die Ereignisse der letzten Tage verfolgten sie. Das Büro ihres Vaters war verwüstet worden … dann der Einbruch bei ihr zu Hause, so kurz nach dem Überfall auf ihren Vater … das konnte kein Zufall sein. Aus irgendeinem Grund war ihr Vater in Gefahr gewesen. In dem Moment wurde Angela klar, was sie zu tun hatte. Sie musste weglaufen.

Am nächsten Morgen fuhr sie in aller Frühe zur Bank und löste ihr Konto auf. Dann kaufte sie Katzenfutter und Plastikkisten. Um Mitternacht hatte sie alles gepackt. Die Steppdecken ihrer Mutter, die Angelausrüstung ihres Vaters, die Töpfe ihrer Großmutter und eine sehr hässliche Katze namens Doc Holliday.

Lauf weg, verschwinde, tauche unter. Immer wieder wirbelten die Worte in ihrem Kopf umher.

Noch immer hatte sie viel mehr Fragen als Antworten, aber der Einbruch hatte sie davon überzeugt, dass ihr Vater recht gehabt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. War der Tod ihres Vaters wirklich nur ein Herzinfarkt gewesen, ausgelöst durch einen zufälligen Überfall? Vielleicht ging ihre Fantasie mit ihr durch, aber sie war fest davon überzeugt, dass sie in Gefahr war und etwas unternehmen musste.

In ihrem schwarzen Regenmantel verließ Angela Harold das, was sie immer als ihr Zuhause betrachtet hatte. In der Tasche trug sie nur einen Brief mit der Anzeige für einen Job in einem kleinen Museum in Texas und fünfzigtausend Dollar in bar. Es war an der Zeit, den Rat ihres Vaters zu befolgen. Sie würde verschwinden.

1. KAPITEL

Crossroads, Texas

Oktober

Angela

Vertrocknetes Unkraut kratzte an Angela Harolds nackten Beinen, als sie über das heruntergekommene Gelände hinter dem Ransom Canyon Museum ging. Dunkle graue Wolken zogen über den Himmel. Der Wind stürmte, als wollte er sie zurück an die Ostküste treiben. Aber das Wetter war ihr egal. Sie hatte es hierhergeschafft. Sie hatte genau das getan, was ihr Vater ihr gesagt hatte.

Sie war verschwunden.

Eigentlich hatte Angela vorgehabt, sich frisch zu machen, bevor sie sich das Museum ansah, aber sie konnte nicht warten. Also erkundete sie in Sandalen, Shorts und Tanktop das Gelände hinter dem verrammelten Gebäude am Rande des Ransom Canyon.

Als sie vor fünf Tagen mit dem Vorstandsvorsitzenden Staten Kirkland gesprochen hatte, hatte er begeistert geklungen. Nachdem der letzte Kurator gegangen war, hatten sie das Museum schließen müssen, und innerhalb von sechs Monaten war sie die Einzige gewesen, die wegen der offenen Stelle angerufen hatte. Bevor das Telefonat beendet gewesen war, hatte Kirkland ihr eine dreimonatige Probezeit angeboten, wenn sie eine Frage beantworten könnte.

Angela hatte gedacht, er würde sich nach ihrer Erfahrung oder Ausbildung erkundigen, aber es war nur um texanische Geschichte gegangen.

„Was oder wer war die Gelbe Rose von Texas?“, hatte der Mann am Telefon in seinem typischen texanischen Tonfall gefragt.

Sie lachte. „Die Frau, die Santa Anna vor der Schlacht von San Jacinto bewirtet hat. Der Schlacht, die Texas die Unabhängigkeit brachte.“ Sie hatte diese Geschichte, die in den Geschichtsbüchern oft ausgelassen wurde, immer geliebt.

„Wir warten auf Sie, Mrs. Jones.“

Bevor sie ihm sagen konnte, dass ihr Name nicht Jones war, hatte er aufgelegt. In einem Anfall von Paranoia hatte sie einen falschen Namen angegeben, als sie einen Laptop und ein Telefon gekauft hatte. Und dann wieder bei der Bewerbung, weil sie dachte, sie wäre nur eine von Hunderten, die sich beworben hätten. Wenn er jetzt ihre Zeugnisse oder Referenzen überprüfte, musste sie sich eine weitere Lüge ausdenken. Das wäre einfacher als einen Mann namens Jones zu finden, ihn zu heiraten und mit nach Texas zu schleppen.

Angela war hundert Meilen gefahren, bevor sie beschloss, Kirkland zu sagen, dass sie den Namen Jones benutzt habe, weil sie verlobt gewesen sei. Aber ihr Zukünftiger habe sie vor dem Altar stehen lassen. Kirkland würde Mitleid mit ihr haben, aber das war immer noch besser, als ihren imaginären Ehemann umzubringen.

Am Montag würde sie alles klären. Sie würde sogar üben, wie sie es sagen würde.

Am Montag würde sie einen Hosenanzug anziehen und die Stelle als Museumsdirektorin für die dreimonatige Probezeit annehmen, aber heute würde es ihr reichen, einfach nur den Ort zu erkunden. Nach Tagen im Auto musste sie sich die Beine vertreten und die saubere Luft einatmen. Jahrelang hatte sie davon geträumt, in Texas zu sein. Ein wildes Land – ungezähmt, offen, frei. So etwas hatte sie noch nie gefühlt, aber jetzt würde sie es tun. Zum ersten Mal war sie frei, ihre eigene Zukunft zu gestalten.

Das Gelände hinter dem Museum war naturbelassen. Genauso musste es vor hundertfünfzig Jahren ausgesehen haben, als die Siedler in diesen oberen Teil von Texas gekommen waren.

Seit sie gelesen hatte, dass hier eine Stelle als Museumsdirektorin frei war, hatte Angela sich über die Gegend informiert. Die Geschichte war interessant, aber vor allem faszinierten sie die Menschen, die diese Grenzstadt gegründet hatten. Sie waren hart im Nehmen. Unbeugsam. Unabhängig. Ehrlich. All das, was sie nie gewesen war. Aber die ersten Siedler waren auch gebrochen, verzweifelt und verloren gewesen. Irgendwie hatten sie es geschafft, zusammenzuarbeiten und nicht nur Ranches und eine Stadt aufzubauen, sondern eine Zukunft.

Jetzt musste sie dasselbe tun, und das ohne die Hilfe von Familie oder Freunden.

Sie wusste nicht, ob sie hierhergehörte. Beim Anblick von Blut wurde sie ohnmächtig, gab beim ersten Anzeichen von Unstimmigkeit nach.

Blieb noch die Ehrlichkeit. Sie wollte gar nicht daran denken, wie unehrlich sie war. Sie hatte gelogen, um den Job als Kuratorin in diesem geschlossenen Museum zu bekommen.

Sie stand am Rand eines Canyons, der dreißig Meter steil abfiel, und ließ sich von den letzten Sonnenstrahlen das Gesicht wärmen. Sie musste sich von Grund auf ändern und ganz neu anfangen.

Irgendwann auf dem Weg zwischen Florida und Crossroads war sie zu dem Schluss gekommen, dass der Tod ihres Vaters kein Unfall gewesen war. Vielleicht hatte er etwas über die Firma oder seinen Bruder gewusst. Vielleicht hatte er mitbekommen, dass es Ärger geben würde. Warum hätte er ihr sonst gesagt, sie solle fliehen? Warum wäre es so wichtig gewesen, wenn ihr Leben nicht in Gefahr war?

Vielleicht hatte er vorgehabt, gemeinsam mit ihr unterzutauchen, doch die Zeit war ihm davongelaufen. Aber er hatte sie gut vorbereitet zurückgelassen. Er hatte Geld auf ihr Konto eingezahlt und ihr geraten, niemandem von diesem Job in Texas zu erzählen.

Der alte Wohnwagen, den er gekauft und in der Garage versteckt hatte, passte zu dem Plan. Im vergangenen Monat hatte er an ihrem Auto eine Anhängerkupplung installieren lassen.

Sie hatte ihm gesagt, sie wolle keinen Anhänger ziehen, aber er hatte erwidert, er wolle den Wohnwagen nicht mit seinem Firmenwagen ziehen, falls er ihn jemals brauchen sollte. Aber jetzt war sie diejenige, die ihn brauchte. Sie hatte getan, was er ihr in der Notiz aufgetragen hatte, und nun musste sie sich hier in Texas unauffällig unter die Leute mischen.

Der Job als Museumsdirektorin war der erste Schritt. Diesmal wäre sie keine Assistentin. Sie würde die Chefin sein. Diesmal gab es keine Tante, die jeden ihrer Schritte kritisierte.

Angela lächelte. Wahrscheinlich war ihre Tante inzwischen im Strandhaus vorbeigekommen, um mit ihr zu reden. Immerhin war eine Woche vergangen. Sie würde den Schlüssel im Briefkasten finden. Keine Nachricht. Keine Nachsendeadresse. Keine Freunde waren benachrichtigt. Alle Post, die ihr Leben auf Anna Maria Island betraf, war unzustellbar.

Angela hatte sogar ihren Handyvertrag gekündigt und das Telefon von der Bradenton Brücke geworfen, bevor sie das Festland erreichte.

Verschwinde, stand in der Nachricht ihres Vaters. Sie hatte genug Spionagefilme gesehen, um zu wissen, was das bedeutete.

Sie berührte ihre Halskette. Eine Nachbildung der griechischen Münze, die im Laden ihres Onkels ausgestellt war. Sie hatte daran gedacht, sie zusammen mit ihrem Telefon ins Meer zu werfen, aber sie würde sie immer an ihren Vater erinnern. Die echte Münze hatte viele Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern verursacht.

Ihr Vater betrachtete sie als Familienschatz. Onkel Anthony wollte sie an den Meistbietenden verscherbeln. Sie hatten sich auf einen Kompromiss geeinigt und Kopien angefertigt, die sie für ein paar Hundert Dollar pro Stück verkauften.

Als sie das Knirschen von Kies hörte, wandte sie sich um und sah, wie ein weiß-blauer Sheriffwagen auf den Parkplatz des Museums fuhr. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie war durch das halbe Land gefahren, aber der Ärger war ihr gefolgt. Irgendwie musste ihr Onkel sie aufgespürt haben. Aber wie? Sie hatte ihr altes Auto auf einem Vierundzwanzig-Stunden-Walmart-Parkplatz in Orlando abgestellt und war zu Fuß über die Straße gegangen, um einen Pick-up mit einer Anhängerkupplung für ihren Wohnwagen zu mieten.

Bevor sie die Staatsgrenze zu Florida überquerte, hatte sie den Pick-up zurückgegeben. Sie hatte eine Schrottkarre gekauft und bar bezahlt, aber der Wagen war nicht stark genug, um den Anhänger zu ziehen, und hatte ihr zweihundert Meilen lang nur Ärger gemacht. Zwei Tage später in Georgia hatte sie ihn und ihren alten Wohnwagen bei einem Mechaniker gegen einen Van eingetauscht, und zwar in einer Stadt, die zu klein war, um ein Stoppschild zu haben. Der Mann sagte, er würde den Fahrzeugbrief per Post schicken, aber sie hatte ihm einen falschen Namen und eine falsche Adresse gegeben.

Was, wenn der Wagen gestohlen wäre? Die Polizei könnte sie verhaften, und sie könnte nicht beweisen, dass sie ihn gekauft hatte.

Angela sah den Streifenwagen an, der neben ihrem Van anhielt. Ihre Freiheit hatte keine Woche gedauert. Vielleicht hatte ihr Onkel eine Vermisstenanzeige aufgegeben? Das hätte sie nicht überrascht. Ihre Tante hatte wahrscheinlich allen erzählt, dass sie, Angela, so tief trauerte, dass man sie nicht alleinlassen konnte.

Ein Mann in Uniform stieg aus dem Wagen. Als er auf sie zukam, erwartete sie, dass er seine Waffe ziehen würde. Schließlich war sie mit siebenundzwanzig von zu Hause weggelaufen. Alle ihre Verwandten würden schwören, dass die stille Angela so etwas nie tun würde.

„Entschuldigen Sie, Miss“, sagte der Mann, als er näher kam. „Das Museum ist seit Monaten geschlossen. Wir haben an der Abzweigung ein Verbotsschild aufgestellt, aber das haben Sie wohl übersehen.“

In ihren Shorts, ungeschminkt und mit ihrem roten Haar, das zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden war, sah sie wahrscheinlich eher wie ein Mädchen als eine Frau aus. Sie konnte beinah die vertrauten Worte ihrer Mutter hören, sie wäre zu mollig, zu gedrungen für kurze Hosen.

„Es tut mir leid. Ich habe das Schild nicht gesehen.“ Sie richtete sich auf und versuchte, nach mindestens eins fünfundsechzig auszusehen, obwohl sie wusste, dass sie ihr Ziel um fünf Zentimeter verfehlte.

Langsam ging sie auf den Polizisten zu und tat ihr Bestes, um professionell zu wirken. „Ich bin Angela …“ Sie zögerte und versuchte, sich an den Namen zu erinnern, den sie in der Bewerbung angegeben hatte. Sie hatte ihn völlig vergessen. „Smith.“ Sie schüttelte den Kopf, um ihr müdes Gehirn aufzuwecken. „Jones.“ Ja, natürlich. Es konnte doch nicht so schwer sein, sich das zu merken.

Da! Sie hatte es herausgebracht. Nachdem sie drei Tage lang nicht gesprochen hatte, waren ihr die Worte nicht leicht über die Lippen gekommen.

Sie starrte auf sein Namensschild. Sheriff Brigman sah aus, als würde er die Lüge mühelos durchschauen. Er nahm seinen Stetson ab, als wollte er Zeit gewinnen, aber ihr entging nicht, wie er sie vom Pferdeschwanz bis zu den Sandalen musterte.

„Willkommen in der Stadt, Mrs. Jones. Kirkland hat mir gesagt, dass Sie kommen.“

Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Er erinnerte sie an einen Sheriff aus den Tagen des Wilden Westens. Gut gebaut, ein Hauch von Grau in seinen Koteletten. Seine eiskalten Augen verrieten, dass er jeden Job zu Ende brachte, egal was es kostete, ganz gleich, ob es darum ging, Verbrecher zu fangen oder seine Frau zu befriedigen.

Im Geiste gab sie sich eine schallende Ohrfeige. Nicht der richtige Zeitpunkt zum Flirten oder Träumen. Sie musste sich überlegen, was sie sagen sollte. War es zu früh, um nach einem Anwalt zu fragen? Sollte sie ein Geständnis ablegen? Aber worüber? Sie war sich nicht einmal sicher, welche Verbrechen sie begangen hatte. In ihrem Alter war Weglaufen wahrscheinlich nicht illegal, und sie hatte irgendwo gelesen, dass man sich einen Decknamen zulegen konnte, wenn man nichts verbrochen hatte.

Als sie keinen Kommentar abgab, fügte der Polizist mit dem Cowboyhut hinzu: „Ich schätze, Sie konnten es nicht erwarten, das Museum von innen zu sehen. Sind Sie gerade erst angekommen?“

Sie nickte und war dankbar, dass er nicht hinzufügte: „Angezogen wie eine Fünfzehnjährige.“ Mit etwas Glück hatte er nicht bemerkt, dass sie sich offenbar nicht an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Oder vielleicht dachte er, sie hätte Alzheimer im Frühstadium.

„Ja, tut mir leid, ich bin seit zwölf Stunden unterwegs, darum bin ich ein bisschen zerstreut. Ich wollte mir vor Einbruch der Dunkelheit noch schnell den Canyon ansehen. Es ist wunderschön hier draußen.“

Brigman nickte, während er beobachtete, wie das letzte Sonnenlicht auf die Canyonwände fiel und die Felsen golden färbte. „Um diese Zeit komme ich gern hierher. Es erinnert mich irgendwie an ein großartiges Gemälde. Egal was für einen Tag ich hinter mir habe, hier draußen ist alles ruhig.“

„Das sehe ich.“ Sie hatte befürchtet, sie würde das Meer und die wunderschönen Sonnenuntergänge auf Anna Maria Island vermissen, aber der Ransom Canyon besaß seine ganz eigene wundervolle Schönheit. Sie hatte das Gefühl, der Canyon würde ihr sofort ans Herz wachsen.

„Von Ihrem Büro aus hat man eine großartige Aussicht, Mrs. Jones.“ Er deutete auf ein großes Fenster im zweiten Stock des Gebäudes, das wie eine riesige Scheune aussah.

Angela lächelte. „Das hat mir keiner gesagt, sonst wäre ich vielleicht die ganze Nacht durchgefahren.“

Beide gingen in Richtung des Parkplatzes.

„Kommt Ihr Mann mit dem Umzugswagen nach?“ Sheriff Brigman hatte eine Art, beiläufig Fragen zu stellen, als wäre er einfach nur freundlich.

„Ich bin nicht verheiratet“, sagte sie. Dann fiel ihr ein, dass in der Bewerbung ihr neuer Name als Jones angegeben war.

„Mein Telefonat mit Mr. Kirkland war zwei Tage vor meinem geplanten Hochzeitstermin.“ Sie tat ihr Bestes, untröstlich auszusehen, aber das war nicht einfach, denn sie hatte ihr Herz noch nie verschenkt. „Am Abend vor der Hochzeit haben wir alles abgesagt.“

Der Sheriff musterte sie, als wartete er auf weitere Informationen.

„Es hat nicht funktioniert. Mein Verlobter wollte nicht umziehen.“ Sie zuckte mit den Schultern, als würde sie mit den Tränen kämpfen. „Nach unserer Trennung dachte ich, ein sauberer Schnitt wäre das Beste, also habe ich weitergemacht wie geplant und bin nach Texas gekommen.“ Da es den Verlobten Jones nie gegeben hatte, hatte es nicht wirklich wehgetan, ihn zu verlassen. „Ich hatte meine E-Mails und Konten bereits auf Jones umgestellt.“

Brigman hob eine Augenbraue. „Haben Sie vor, seinen Namen zu behalten?“

Angela unterdrückte ein nervöses Kichern. „Was Namen angeht, bin ich sentimental. Ich habe festgestellt, dass sein Name das Einzige war, was ich an dem Mann mochte. Sobald ich mich eingelebt habe, werde ich alles wieder ändern. Natürlich läuft mein Führerschein immer noch auf meinen Mädchennamen.“

In ihrem Kopf herrschte das reinste Chaos. An diesem Punkt würde jede Möglichkeit, aus dieser kleinen Lüge herauszukommen, sie am Ende wie eine Idiotin dastehen lassen.

Zum Glück hatten sie ihren Wagen erreicht. Noch ein paar Lügen mehr, und der Sheriff würde wahrscheinlich herausfinden, dass sie auf der Flucht war, und sie verhaften oder einweisen lassen.

„Waren Sie schon bei Ihrem neuen Haus?“, fragte er, als er ihre Autotür öffnete.

„Wissen Sie, wo es ist?“

Mr. Kirkland hatte erwähnt, dass er ihr einige Informationen per E-Mail schicken würde, aber sie hatte vergessen nachzuschauen.

„Sicher.“ Er grinste und sah jünger aus. „Das ist eine kleine Stadt, Mrs. Jones, ich meine …“ Er wartete darauf, dass sie die Pause füllte.

„Harold“, antwortete sie.

Der Sheriff nickte. „Kirkland sagte, Sie wollten eine möblierte Wohnung mit zwei Schlafzimmern mieten, in der Katzen erlaubt sind. Die halbe Handelskammer hat sich auf die Suche nach etwas ganz Besonderem für Sie gemacht. Wir können hier nicht viele professionelle Kuratoren bekommen. Ich könnte Ihnen die Wohnung zeigen, die wir für Sie ausgesucht haben, und auch die, die auf Platz zwei rangiert. Ich habe für beide den Schlüssel, Miss Harold.“

„Bitte nennen Sie mich Angela, Sheriff.“

Er legte zwei Finger an die Krempe seines Stetsons und salutierte. „In Ordnung, Angela. Ich bin Dan. Was willst du zuerst sehen? Ein hübsches kleines Haus zwischen

den beiden Kirchen in der Stadt oder eine Blockhütte am See? Das Haus zwischen den Kirchen bietet mehr Platz, aber das Haus am See liegt direkt am Ufer.“

„Ich nehme das Haus am See“, antwortete sie sofort und hätte ihn fast umarmt. Wasser. Sie wäre in der Nähe von Wasser.

„Dann fahr hinter mir her.“

„Ich möchte keine Umstände machen“, sagte sie. „Wenn du mir den Schlüssel gibst, kann ich es wahrscheinlich auch allein finden.“

„Das macht keine Umstände. Mein Haus am See liegt auf dem Weg zu deinem. Es ist kein Umweg für mich.“

Als sie dem Wagen des Sheriffs durch die kleine Stadt Crossroads folgte, kämpfte Angela gegen eine weitere Welle der Panik an, die sie anscheinend so oft überkam wie Schluckauf. Dieses offene Land, wo jeder meilenweit in alle Richtungen sehen konnte, schien kein besonders guter Ort zum Verstecken zu sein. Wahrscheinlich wusste die Hälfte der Leute in der Stadt, wo sie wohnte. Wie hatte sie nur glauben können, dass sie hier sicher wäre?

Was, wenn Anthony hinter ihr her war? Wenn er sie fand? Wenn er oder einer seiner Komplizen ihren Vater ermordet und es wie einen Raubüberfall hatte aussehen lassen, würde man vielleicht auch sie umbringen. Vielleicht dachte ihr Onkel, ihr Vater hätte ihr mehr erzählt als nur die Tatsache, dass die Bücher nicht stimmten. Oder er glaubte, sie besäße etwas, das ihm gehörte. Schließlich hatte jemand das Haus ihrer Eltern auf den Kopf gestellt, weil er etwas gesucht hatte.

Wenn man sie aufspürte, würde sie natürlich schwören, dass sie nichts wusste. Aber würde man ihr glauben, wenn ihr Vater hinter Anthonys illegale Geschäfte gekommen war? Was auch immer ihr Vater gehört oder in den Büchern gefunden hatte, musste etwas Schlimmes sein. Ein Geheimnis, für das jemand sogar töten würde?

Wieder ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf. Die Polizei sagte, der Überfall auf ihren Vater sei nur einer von einem halben Dutzend in der Gegend an dem Wochenende gewesen. Wahrscheinlich sei es um Drogen gegangen.

Der Ermittler hatte ihr nicht allzu viel Hoffnung gemacht, dass der Mörder jemals gefunden würde. Dunkle Gasse. Keine Zeugen. Er sagte sogar, ihr Vater sei mit etwas geschlagen oder gestoßen worden und dann nach hinten gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen.

Angela wusste, dass der Polizeibericht nicht die ganze Geschichte erzählte. Ihr Vater hatte gewusst, dass Ärger auf ihn zukam. Wer auch immer ihn getötet hatte, musste seine Gewohnheiten gekannt haben. Wer ihn ausgeraubt hatte, wusste vielleicht, dass dies einen Herzinfarkt auslösen könnte. Irgendetwas hatte ihren Vater davon abgehalten, mit seinen Informationen zur Polizei zu gehen, und dieses Etwas – oder dieser Jemand – musste der Grund sein, warum ihr Vater sie in sicherer Entfernung hatte wissen wollen.

Allerdings hatte sie keine Beweise. Keine Fakten.

Ihr blieb nur, alles hinter sich zu lassen und nie mehr zurückzublicken. Sie vertraute ihrem Vater. Wenn er sagte, sie solle weglaufen, würde sie es tun.

Der Sheriff im Wagen vor ihr würde ihr erster Freund sein. Dieser Ort würde ihr Zuhause werden. In drei Monaten würde sie so sehr Teil dieses wilden Landes sein, dass sie fast glauben würde, sie wäre hier geboren.

2. KAPITEL

Wilkes

Devil’s Fork Ranch

Wilkes Wagner starrte seinen Onkel an und fragte sich, wer von ihnen wohl den Verstand verloren hatte. Gesunder Menschenverstand war in der Familie Wagner nicht sehr verbreitet, aber Großonkel Verns Vorschlag war geradezu lächerlich.

„Ich habe darüber nachgedacht, und das ist die einzige Möglichkeit, Junge“, wiederholte der alte, vom harten Leben gezeichnete Cowboy, als wäre Wilkes zehn und nicht zweiunddreißig. „Sieh’s doch mal so: Wir züchten auch Rinder, oder nicht? Warum suchen wir uns nicht einfach eine Frau mit allen wichtigen Eigenschaften aus und paaren uns mit ihr? Es sind bestimmt nur ein paar Versuche nötig, bis wir mindestens einen Nachkommen für die nächste Generation zeugen. Und die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, dass wir beim ersten Versuch einen Jungen bekommen.“

„Du meinst, dass ich eine Frau heiraten soll, oder?“ Wilkes war sich nie sicher, wann sein Onkel einen Scherz machte.

„Natürlich! Für solche Sachen gibt es eine Reihenfolge. Du müsstest sie zuerst heiraten, sie dann schwängern und auf einen Sohn warten.“ Der alte Mann zündete sich eine Pfeife an, die aussah, als hätte sie die Schlacht von Alamo überstanden. „Sieh’s doch mal positiv, die Hälfte deines Lebens ist sowieso schon vorbei. In einer unglücklichen Ehe mit einer nörgelnden Frau würden dir die letzten dreißig oder vierzig Jahre endlos vorkommen. Und für die Farm wäre es auch gut. Wir würden alle lieber länger arbeiten, nur um nicht früh nach Hause zu müssen.“

Wilkes rollte mit den Augen. Er brauchte noch einen Drink. Oder noch besser, er gab Großonkel Vern noch ein paar, der dann mit etwas Glück einschlafen würde. Um den Cowboy bei Laune zu halten, fragte Wilkes: „Und nach welchen Eigenschaften würde ich bei dieser Zuchtbraut suchen?“

Vern lächelte, als hätte er den Streit gewonnen. „Stämmig. Du willst doch keins dieser dürren Mädchen, die nur Gemüse essen. Sie muss schon ein bisschen Fleisch auf den Rippen haben. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich in einer kalten Nacht an ein dürres Mädchen zu kuscheln. Das habe ich einmal in Amarillo gemacht, und gegen Mitternacht habe ich beschlossen, dass es wärmer wäre, in einem Schneesturm nach Hause zu fahren.“

Wilkes schnappte sich einen Stift vom Pokertisch und schrieb auf die Rückseite seines Ranch- und Pferdemagazins. Nicht dünn.

Sein Onkel lehnte sich in dem alten Schaukelstuhl zurück, der in einem Planwagen zur Devil’s Fork Ranch gekommen war. „Sie muss kochen, putzen und nähen können, sonst müsste sie für jede Kleinigkeit in die Stadt fahren – um eine Haushälterin zu engagieren, Lebensmittel oder neue Kleidung zu kaufen, nur weil ein Knopf fehlt.“

„Ich fürchte, das alles ist heutzutage schwer zu finden.“ Das Einzige, was die vier oder fünf Frauen, mit denen Wilkes in den letzten sechs Jahren ausgegangen war, zum Abendessen zustande gebracht hatten, waren Tischreservierungen. Er würde eine Frau schon als Köchin bezeichnen, wenn sie wüsste, wie man Popcorn in der Mikrowelle zubereitete.

Sein alter Onkel achtete nicht auf ihn. Er war in Gedanken versunken. „Und sie muss Geld haben, aber keins, das irgendwann reinkommt, sondern sie muss es auf der Bank haben. Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass ihr Vater dich mag, denn wenn er das nicht tut, streicht er sie vielleicht aus seinem Testament. Dann sitzt du da mit einer armen Frau mit den Ansprüchen einer reichen.“

Reich, kritzelte Wilkes.

„Und dumm.“ Onkel Vern zog an seiner Pfeife. „Ein intelligentes Mädchen wird dich niemals heiraten, auch wenn du gut aussiehst. Wenn sie eine gute Schulbildung hat, will sie bestimmt arbeiten gehen oder den ganzen Tag rumsitzen und lesen.“

Wilkes hatte genug davon, sich über seinen alten Onkel lustig zu machen. Vern war das dümmste und jüngste von vier Kindern. Alle seine Brüder und Schwestern behaupteten, er wäre als Baby einmal zu oft auf den Kopf gefallen. Er hatte seine ganzen siebenundsiebzig Jahre auf der Ranch der Wagner-Familie gelebt. Die Regel war, dass derjenige, der Devil’s Fork leitete, auch ein Auge auf Vern haben musste. Wilkes’ Vater und Großvater hatten das getan und jetzt war Wilkes an der Reihe. Die wenigen anderen Verwandten, die klug genug gewesen waren, in die Stadt zu ziehen, wollten nie wieder zurückkommen und den Job übernehmen.

Diese verrückte Idee, die sich Vern heute Abend überlegt hatte, war die bisher schlimmste.

Wilkes beugte sich vor und sah seinem Onkel in die vom Whisky glasigen Augen. „Ich bin gerade mit dem Kalben beschäftigt, Onkel. Denkst du, du könntest nach einer möglichen Frau für mich Ausschau halten? Sie sollte nicht allzu schwer zu finden sein. Pummelig, mag Rindfleisch und ist reich und dumm. Sie trägt ein selbst genähtes Kleid und wahrscheinlich tropft ihr frisch gekochte Marmelade vom Kinn. Oh, das habe ich vergessen: Man muss sie leicht schwängern können, weil ich sie nicht oft besuchen werde.“ Wilkes unterdrückte ein Lachen. „Diese Eigenschaft könnte durch bloßes Anschauen allerdings schwer rauszufinden sein.“

Vern verstand den Scherz nicht. Er schaukelte so weit zurück, dass ihn der Schwung nach vorn einen Moment später aus dem Stuhl und auf seine wackeligen Beine brachte. „Ich werde mein Bestes für dich tun! Das verspreche ich. Vielleicht fahre ich morgen nach Crossroads und hänge ein paar Zettel auf. Ich glaube, ich war seit dem Frühling nicht mehr in der Stadt, und die Franklin-Schwestern sagen immer, dass sie mich vermissen.“

Wilkes lachte. „Tu das, Onkel Vern.“

Der alte Cowboy ging auf die massiven Doppeltüren des Ranchhauses zu und murmelte: „Mir macht dieses Gespräch mit dir keinen Spaß, Junge, aber du kommst in Sachen Nachwuchs nicht voran. Ehe du dich versiehst, ist deine beste Zeit vorbei – oder du bist tot. Wer wird dann die Ranch leiten? Du hattest mal ein Mädchen. Und hast sie gehen lassen, also müssen wir schnell handeln, bevor du noch älter wirst und für den Rest deines Lebens allein schläfst.“

Da verstand Wilkes. Der Grund, warum sein Onkel darauf bestanden hatte, heute Abend zu trinken und zu reden, war der, dass er Angst hatte, dass er Wilkes überleben und niemand Devil’s Fork übernehmen würde. Vern hatte sein ganzes Leben auf der Ranch verbracht und sich nie Sorgen um Geld oder die nächste Mahlzeit machen müssen. Er hatte die Schule so sehr gehasst, dass seine Mutter ihn nach der siebten Klasse hatte abgehen lassen. Er liebte es, mit Pferden zu arbeiten, in seinem kleinen Haus zu leben und mit seinem Pick-up herumzufahren. Jetzt fürchtete er sich davor, allein hier zurückzubleiben.

Wilkes folgte seinem Onkel auf die Veranda und sah zu, wie Vern zu seiner hundert Meter entfernten Blockhütte humpelte. Das Licht, das aus den Fenstern im zweiten Stock des Haupthauses fiel, erhellte den Weg des alten Mannes. Das riesige Haus war vor fünfzig Jahren gebaut worden, um ein Dutzend Kinder aufzunehmen. Jetzt lebte hier nur noch eins. Wilkes.

Vern hatte zugesehen, wie sein Bruder – Wilkes’ Großvater – die Ranch übernommen hatte. Nach dessen Tod hatte Wilkes’ Vater die Ranch geführt. Vern sagte, er wolle einfach nur Cowboy sein. Der Job des Chefs passe nicht zu ihm.

Onkel Vern war Wilkes ganzes Leben lang da gewesen, war immer Teil von seinem Leben gewesen. Er hatte mit den Rancharbeitern das Vieh gehütet, mit seinem Vater die Pferde trainiert und jeden Abend am Familientisch im großen Haus gegessen. Dieses Leben war alles, was er kannte. Alles, was er kennen wollte.

Wilkes schüttelte den Kopf, während sein Herz wegen Vern Wagner schmerzte. Sein Großonkel hatte lange genug gelebt, um von seinem Helden und Lehrer zu einem Freund zu werden. Und nun trug Wilkes die Verantwortung für ihn. Vern hatte ihm das Reiten beigebracht, mit ihm geschimpft, wenn er das Weidegatter offen ließ, und ihm jedes Jahr Feuerwerkskörper gekauft, selbst wenn Wilkes’ Mutter gesagt hatte, sie würde sie auf der Ranch nicht erlauben. Zu seiner Zeit hatte der alte Mann vielleicht mit ein paar Mädchen getanzt, aber er hatte nie geheiratet. Er war der Familie und der Ranch treu.

Wilkes sah zu, wie das Licht in Verns Hütte anging. „Ich sollte mich besser nach einer dicken, reichen Frau umsehen, damit ich Verns nächsten Schutzengel zeugen kann“, murmelte er halb im Scherz, während er den Rest seines Whiskys trank.

Danach stand er auf und ging ins obere Stockwerk hinauf. Er schlief im zweiten Zimmer neben der Treppe. Das erste war das Hauptschlafzimmer und größer, aber als Wilkes nach Hause zurückgekehrt war, um die Ranch zu übernehmen, hatte er das Gefühl gehabt, das größere Zimmer nicht zu verdienen.

Das tat er immer noch nicht.

Als er am nächsten Morgen in die Stadt fuhr, um Material für die Zäune zu kaufen und mit einem Freund zu frühstücken, dachte Wilkes über das Gespräch vom Vorabend nach. In einer Sache hatte Vern recht. Wilkes hatte einmal eine Freundin gehabt. Die perfekte Frau. Er hatte Lexie Davis vom ersten Moment an geliebt, war ihr durch die Highschool und das College gefolgt, aber sie hatte nie wirklich ihm gehört.

Als er einen Monat nach dem Collegeabschluss zur Armee gegangen war, hatte sie versprochen, auf ihn zu warten, und das hatte sie auch getan – allerdings nicht sehr lange. Dreiundsechzig Tage nach seinem Abschied hatte sie ihm einen Brief geschrieben. Darin hatte einfach nur gestanden, dass sie jemand anderen kennengelernt hätte.

Unter In Liebe, Lexi hatte sie hinzugefügt: Spar dir die Mühe, mir zu antworten.

Wilkes hatte sich hundertmal gesagt, dass er über sie hinweg sei. Vielleicht war es nicht jedem bestimmt, die ewige Liebe zu finden. Vern jedenfalls nicht. Aber an dem Tag, an dem Lexie aus seinem Leben verschwand, war etwas in Wilkes zerbrochen, und er fürchtete, dass es nie wieder heilen würde.

Verdammt. Vern hatte recht. Vielleicht sollte er darüber nachdenken, eine Frau zu finden, aber das war nicht gerade leicht. Er sollte eine richtige Liste machen. Seine Punkte wären allerdings das genaue Gegenteil von Verns Anforderungen. Er mochte langbeinige Frauen mit nachtschwarzen, taillenlangen Haaren und Augen, in denen das Lachen tanzte. Frauen wie Lexie.

Lexie, die Frau, über die ich hinweg bin, erinnerte sich Wilkes.

Während er darauf wartete, dass seine Einkäufe eingeladen wurden, ging er die breite Hauptstraße entlang. Das Geschäftsviertel von Crossroads sah aus, als wären die Läden im Sonderangebot gekauft worden – alles verschiedene Größen und Stile und unterschiedliches Alter. Nichts passte zusammen. Crossroads war eine Stadt, die man eher skurril als malerisch nennen würde.

Er entdeckte einige Geschäfte, die neu eröffnet worden waren, seit er das letzte Mal in der Stadt gewesen war. Geschäfte, die in leer stehende Ladenlokale eingezogen waren. Glänzend wie neue Zähne in einem alten Mund, dachte er. Die Veränderung ließ die kleine Stadt ein bisschen wohlhabender erscheinen.

Aus einem leeren Ladenlokal war der Secondhandshop Ewiges Andenken geworden. Seiner Meinung nach mussten die Leute, die Krimskrams kauften, damit er dann herumlag und Staub ansetzte, Waisen sein. Jedes Mal wenn einer seiner Verwandten starb, erbte er eine weitere alte Truhe mit „wertvollen“ Familienstücken wie Laternen und staubigen Quilts. Manchmal fragte er sich, ob seine Ururgroßeltern ihren Kram mit einem ganzen Planwagenzug und nicht nur in einem Wagen aus der Alten Welt nach Texas gebracht hatten.

Wilkes betrat den neuen Laden, in der Hoffnung, er könnte hier einige von seinen Sachen loswerden. Altes Werkzeug, Butterfässer, Wandtelefone, all das hatte er im Angebot.

Zwei Frauen in den Vierzigern kicherten, als er eintrat und die Tür hinter sich schloss. Er kannte nur ihre Nachnamen. Die Franklin-Schwestern. Wahrscheinlich hatten sie Vornamen, aber wenn seine Mutter ihn vor Jahren auf sie aufmerksam gemacht hatte, hatte sie immer nur gesagt: „Das sind die Franklin-Schwestern. Die Armen. Gott segne sie.“

Er war zwanzig, als er herausgefunden hatte, warum sie „die Armen“ waren. Offenbar hatten sie sich Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger beide in denselben Jungen verliebt – einen gut aussehenden Roma-Jungen mit Schlafzimmeraugen und dem Nachnamen Stanley. Er brannte mit einem Mädchen aus einer anderen Roma-Familie in der Stadt durch, und beide Franklin-Schwestern waren untröstlich. Unter Tränen schworen sie, er sei der einzige Mann, den sie je lieben würden und dass sie niemals heiraten würden.

Manche fanden das traurig, andere hielten es für eine Ausrede, denn die beiden hätten wahrscheinlich sowieso nicht geheiratet. Mit achtzehn brachten sie bereits jeweils über neunzig Kilo auf die Waage und mit fünfundzwanzig hatten sie noch einmal fünfundzwanzig oder dreißig Kilo zugenommen. Mit dreißig hatten sich bei beiden schon leichte Schnurrbärte gezeigt.

Selbst im Dunkeln hätte niemand sie für hübsch gehalten. Aber sie waren süß wie warmes Toffee. Alle paar Jahre eröffneten sie ein neues Geschäft in der Stadt. Soweit Wilkes sich erinnern konnte, hatten sie einen Süßigkeiten-Shop, einen Laden für Quilts und einen für gebrauchte Bücher gehabt.

Er lächelte die beiden Schwestern an. „Guten Morgen, Miss Franklin und Miss Franklin.“ Auch wenn sie rund und behaart waren, hatten die beiden Damen etwas Liebenswertes an sich.

Beide kicherten. „Wie können wir dir helfen, Wilkes?“, sagten sie sofort.

Wilkes wollte nicht wie der Dorftrottel dastehen, also sagte er: „Ich suche ein Andenken für einen Freund, der zu Besuch kommt.“

„Kennen Sie ihn gut?“, fragte die kleinere Miss Franklin.

Wieder log Wilkes. „Nein. Er kommt nur auf einen Kaffee vorbei. Er denkt darüber nach, Rancher zu werden.“ Dumme Lüge, dachte Wilkes, aber er hatte sich schon zu tief darin verstrickt, um noch einen Rückzieher zu machen.

„Da haben wir genau das Richtige.“ Jede Frau nahm eine Schachtel aus den Stapeln hinter der Theke.

Wilkes interessierte sich nicht für den Inhalt. Er wählte die kleinste und bedankte sich. Als er ihnen einen Zwanziger überreichte, war er nicht überrascht, nur Münzen zurückzubekommen. Während eine Schwester seinen Einkauf einpackte, unterhielten sie sich über Onkel Verns Gesundheit.

Als sie ihm die Schachtel reichten, begann eine Miss Franklin, all ihre unverheirateten weiblichen Verwandten zu erwähnen. „Fran ist frisch geschieden, wissen Sie, aber sie ist eine ganz Liebe.“

Die andere Schwester meldete sich zu Wort. „Avis ist ein bisschen älter als Sie, aber sie ist wirklich hübsch, und Sie kennen doch Molly und Doris. Ich glaube, Sie sind mit ihnen zur Schule gegangen. Beide waren letztes Jahr verlobt, aber es hat nicht geklappt.“

Wilkes wusste nicht, was er sagen sollte. Er war schon zu einem Dutzend Dates mit alleinstehenden Verwandten überredet worden und sie waren alle schlecht ausgegangen.

Die größere Miss Franklin musste die Botschaft verstanden haben, aber sie war noch nicht bereit aufzugeben. „Ich nehme an, Sie haben gehört, dass Lexie Davis wieder ...

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