Ransom Canyon

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Ransom Canyon – jetzt bei NETFLIX!

Eine unendliche Landschaft, atemberaubend schön und manchmal unbarmherzig: Das ist Ransom Canyon im Westen von Texas. Mutige Cowboys und reiche Rancher, liebevolle Familien, geheimnisvolle Einzelgänger, alte Dorfbewohner und Neuankömmlinge – sie alle treffen hier schicksalhaft aufeinander. Und finden manchmal sogar die große Liebe.

Rancher Staten Kirkland, der letzte Nachfahre des Gründervaters von Ransom Canyon, hat zweimal im Leben einen schweren Verlust erlitten. Immer wenn ein Sturm aufzieht, drohen ihn dunkle Erinnerungen zu überwältigen. Dann flieht er zu der schönen, zurückgezogenen Quinn O'Grady, sucht einen Abend lang Trost in ihren Armen. Er ahnt nicht, dass sie ein schmerzliches Geheimnis hat. Und dass ihr nur die Hoffnung auf seine Liebe jenseits aller Verschwiegenheit Kraft gibt …


  • Erscheinungstag 27.05.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751537056
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jodi Thomas

Ransom Canyon

1. KAPITEL

Staten

Staten Kirkland zog seinen Cowboyhut tiefer ins Gesicht, als er sich in den Wind drehte. Von Norden her nahte ein höllischer Wintersturm, und er würde schnell reiten müssen, um zurück nach Hause zu kommen, bevor das Unwetter seine volle Kraft entfaltete. Sein neues Pferd, das er letzte Woche gekauft hatte, war unerfahren und verängstigt von den Blitzen. Staten hatte keine Zeit, die Handschuhe in seiner Gesäßtasche anzuziehen. Er musste losreiten.

Als die graue Stute protestierend bockte, wickelte er die Zügel um die Hand. Das Leder schnitt in seine Handfläche, als er um die Kontrolle über das Pferd und die Erinnerungen kämpfte, die so drohend über ihm hingen wie die dunklen Wolken am Himmel.

In jener Nacht vor fünf Jahren hatte es in Strömen geregnet, nur war er nicht auf seiner Ranch gewesen, sondern gefangen im Flur des fünfzig Meilen entfernten Bezirkskrankenhauses. An einem Ende des Flurs hatte sein Sohn Randall gelegen und um sein Leben gekämpft, am anderen hatten sich die schreienden Reporter hinter dem Eingang gedrängt und Neuigkeiten verlangt.

Alles, was sie interessierte, war die Tatsache, dass der Großvater des Jungen ein Senator der Vereinigten Staaten war. Niemand hatte sich darum geschert, dass Staten versuchte, sie zurückzuhalten. Sie wollten nur ihre Schlagzeile. Und das Einzige, was Staten wollte, war, dass sein Sohn lebte.

Aber er hatte nicht bekommen, was er wollte.

Staten Kirklands einziges Kind und Senator Samuel Kirklands einziger Enkel war in jener Nacht gestorben. Die Reporter hatten ihre Schlagzeile bekommen, zusammen mit Bildern von Staten, wie er durch die Doppeltüren stürmte und auf jeden einschlug, der versuchte, ihn aufzuhalten. Er hatte zwei Reporter und einen Praktikanten auf dem Boden zurückgelassen, war aber nicht langsamer geworden.

Er war hinaus in den Sturm gerannt. In jener Nacht war ihm der Regen egal gewesen. Sein eigenes Leben war ihm egal gewesen. Zwei Jahre zuvor hatte er seine Frau verloren und jetzt würde er seinen Sohn wegen eines Autounfalls neben ihr begraben. Er musste vor dem Schmerz davonlaufen, der so tief in seinem Herzen saß, dass er nie heilen würde.

Fünf Jahre später tobte nun erneut ein Sturm, aber der Schmerz in seinem Inneren hatte nicht nachgelassen. Er ritt auf dem halbwilden Pferd zu seiner Ranch. Regen vermischte sich mit Tränen, die er niemanden sehen ließ. In jener Nacht hatte er sterben wollen. Er war ganz allein. Die Krankheit seiner Frau hatte Vater und Sohn verbittert und verloren zurückgelassen. Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte Randall sich vielleicht anders entwickelt. Wäre ruhiger gewesen. Wäre er mit ihrer Liebe aufgewachsen, wäre sein Junge vielleicht nicht so wild gewesen. Hätte sich nicht für so unbesiegbar gehalten.

Doch die Fahrt auf einer kurvenreichen Straße mit über hundert Meilen pro Stunde – hundertsechzig Stundenkilometern – hatte ihn das Leben gekostet. Das Auto, das ihm sein Großvater einen Monat zuvor zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte, war auf dem Weg zum Ransom Canyon aus der Kurve getragen worden und hatte sich überschlagen. Die Zeitungen hatten einen Sanitäter zitiert: „Gott sei Dank war niemand bei ihm. In diesem Sportwagen hätte keiner überlebt.“

Staten wünschte sich, er wäre bei seinem Jungen gewesen. An dem Tag, als er Randall neben seiner Frau begraben hatte, hatte er sich innerlich tot gefühlt, und er fühlte sich jetzt noch immer tot, als die Erinnerungen ihn überwältigten.

Im tobenden Sturm ritt er dicht am Rand des Canyons entlang und wünschte sich fast, die zerklüftete Erde würde auch ihn einfordern. Aber er war die fünfte Generation von Kirklands auf diesem Land. Nach ihm würde es keine Kirklands mehr geben und er würde nicht kampflos aufgeben.

Während des wilden Ritts erinnerte er sich an sein abgrundtiefes Entsetzen, als er seinen Sohn aus dem Wrack gezogen hatte, so verletzt und blutüberströmt, dass selbst er ihn nicht mehr erkannt hatte. In jener Nacht war Kirkland-Blut über den roten Staub des Canyons geflossen.

Staten spürte, wie sein Herz im Takt mit den donnernden Hufen seines Pferdes schlug. Als er durch das Tor der Double K Ranch ritt und das Pferd zur Scheune galoppieren ließ, atmete er tief durch. Er wusste, was er zu tun hatte. Als er aufblickte, sah er, dass Jake an der Scheunentür stand und auf ihn wartete. Das Rodeo hatte Spuren bei dem alten Mann hinterlassen, aber Jake Longbow war immer noch der beste Mitarbeiter auf der Ranch.

„Trockne sie ab!“, brüllte Staten über den Sturm hinweg, als er Jake die Zügel reichte. „Ich muss weiter.“

Der alte Cowboy nickte kurz, als hätte er schon gewusst, was Staten sagen würde. „Ich habe alles im Griff, Mr. Kirkland.“

Staten lief über die hintere Koppel und stieg in den riesigen Dodge mit Allradantrieb. Der Truck mochte zwar Diesel in rauen Mengen schlucken und sich holprig fahren, aber falls er heute Nacht von der Straße abkommen sollte, würde Staten sich nicht damit überschlagen.

Eine halbe Stunde später und zwanzig Meilen nördlich von Crossroads, Texas, fuhr er schließlich langsamer und bog auf eine Farm ein. Das Schild mit der Aufschrift „Lavendelweg“ hatte einige Einschusslöcher und musste dringend gestrichen werden. Selbst im Regen roch die Luft hier nach Lavendel. Er hatte es bis zu Quinns Haus geschafft. Eine einsam gelegene kleine Farm ohne Nachbarn in der Nähe.

Quinn O’Gradys Heim erinnerte ihn immer an ein kunstvolles Puppenhaus: bunt bemalte Fensterläden und überall geschwungene Holzverzierungen. Die Leute sagten, das Haus sei so extravagant wie die Besitzerin unscheinbar. Aber Staten hatte sie nie so gesehen. Sie war schüchtern, war schon in der Grundschule für sich geblieben, aber sie war eine selbstbewusste Frau. Auf dem wertlosen Land, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten, hatte sie sich eine Existenz aufgebaut.

Er hatte vielleicht nie mehr als „Hallo“ zu ihr gesagt, aber Quinn O’Grady war die beste Freundin seiner Frau gewesen. Selbst nach der Hochzeit hatte Amalah noch regelmäßig Mädelsabende mit Quinn verbracht.

Gemeinsam hatten die beiden Frauen im Herbst Pfirsiche eingemacht und Quilt- und Töpferkurse in der Kirche besucht. Sie fuhren nach Dallas zu einer Kunstausstellung oder nach Canton zum größten Flohmarkt der Welt. Er konnte gar nicht zählen, wie oft seine Frau in Quinns alten grünen Pick-up gestiegen war und ihm einfach zugerufen hatte, dass sie einkaufen gingen, als wäre das alles, was er wissen musste. Meistens waren sie mit nichts als einem strahlenden Lächeln zurückgekommen.

In den ersten Jahren hatte Quinn nicht viel mit ihm gesprochen, aber sie war seiner Frau eine gute Freundin gewesen und nur das zählte. Als es mit Amalah zu Ende ging, hatte Quinn bei ihr im Krankenhaus gesessen, damit er nach Hause gehen, duschen und sich umziehen konnte. In jenem letzten Monat schien sie immer in der Nähe zu sein. Die beiden Frauen waren ihr ganzes Leben lang beste Freundinnen gewesen und das waren sie bis zum Ende geblieben.

Staten lächelte nicht, als er vor Quinn O’Gradys Haus den Motor abstellte. Er lächelte nie. Nicht mehr. Jahrelang hatte er hart gearbeitet, weil er dachte, er würde die Double K Ranch an seinen Sohn weitergeben. Wenn Staten starb, würde die Ranch wahrscheinlich versteigert werden, um die Kandidatur seines Vaters für den Senat zu unterstützen. Oder, wer weiß, vielleicht kandidierte der alte Mann das nächste Mal auch für den Gouverneursposten.

Obwohl Samuel Kirkland schon in den Sechzigern war, hielt ihn seine vierte Frau jung, jedenfalls behauptete er das. Er hatte sich nie besonders für die Ranch interessiert und hatte keine Nacht auf Kirklands Boden verbracht, seit Staten das Anwesen übernommen hatte.

Statens Gedanken wurden unterbrochen, als Quinn die Haustür öffnete und zu ihm hinausschaute. In der Hand hielt sie ein großes Handtuch. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und wartete darauf, dass er aus dem Wagen stieg und hereinkam. Sie war groß, fast eins achtzig, und trug ihre übliche schlichte Kleidung.

Er konnte sich Quinn nicht in Stöckelschuhen vorstellen. Ihr Haar war immer zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel. Seit dem ersten Schuljahr trug sie Jeans, nur damals hatte sie noch zwei Zöpfe gehabt.

Komisch, dachte Staten, als er ausstieg und durch den Regen rannte, eine Frau, die nichts mit Rüschen oder Spitze zu tun haben will, lebt in einem Puppenhaus.

Auf der Veranda schüttelte er sich wie ein großer, nasser Hund.

Quinn reichte ihm das Handtuch. „Als ich gesehen habe, dass ein Sturm aufzieht, dachte ich mir, dass du kommst. Zieh die schlammigen Stiefel aus. Zum Abendessen gibt’s Suppe. Ich habe Tacosuppe gemacht, als ich die Wolken von Norden heranziehen sah.“

Niemand kommandierte Kirkland herum. Niemand. Nur hier, in ihrem Haus, tat er, was sie sagte. Er würde vielleicht nie wieder einen Funken Liebe in sich haben, aber trotzdem respektierte er Quinn.

Seine Sporen klirrten, als er die Stiefel auf die Veranda stellte. Ohne Schuhe war er nur ein paar Zentimeter größer als sie, aber mit seinen breiten Schultern wahrscheinlich doppelt so schwer. „Hast du bei den Wolken vielleicht auch an Kokoskuchen gedacht?“

Sie lachte leise. „Ist im Ofen. Ich hole ihn gleich raus.“

Während das Gewitter vor ihrem Küchenfenster tobte, schauten sie gemeinsam zu, wie der stürmische Nachmittag in den Abend überging. Ihm gefiel, wie entspannt er mit ihr schweigen konnte. Manchmal sprachen sie über Amalah und erzählten einander lustige Geschichten aus der Kindheit. Er hatte das Gefühl, als wären er und Quinn die Überbleibsel. Mit Amalah war die beste von ihnen gestorben.

Doch heute Abend waren seine Gedanken bei seinem Sohn und Staten wollte eigentlich gar nicht reden. Als die Sonne unterging, fiel die Temperatur und der eisige Regen verwandelte sich in eine dünne Schicht aus weichem, matschigem Schnee.

Er griff nach seinem Teller und wollte aufstehen, doch Quinn hielt ihn zurück, indem sie seinen feuchten Ärmel berührte.

„Ich mach das schon“, sagte sie. „Trink deinen Kaffee aus.“

Einige Minuten lang saß er still und ruhig da. An diesem Ort verlangsamte sich sein Herzschlag und das Atmen fiel ihm leichter. Schließlich verließ er den Tisch und stellte sich schweigend hinter sie, während sie am Waschbecken arbeitete. Mit rauen Händen, die wund und verkrustet waren, wo die Zügel in die Haut geschnitten hatten, begann er, ihren Zopf zu lösen. „Das habe ich einmal gemacht, als wir in der dritten Klasse waren. Ich weiß noch, dass du kein Wort gesagt hast, aber Amalah meinte nach der Schule, ich sei ein Idiot.“

Quinn nickte, sagte aber nichts. Gemeinsame Erinnerungen hüllten sie ein.

Er mochte es, wie sich Quinns vom Sonnenschein geküsstes Haar anfühlte. Es war dick und abgesehen von den leichten Wellen vom Zopf hing es glatt herunter.

Sie wandte sich um, sah ihn stirnrunzelnd an und nahm seine Hand. Ohne Fragen zu stellen, hielt sie seine verletzte Handfläche unter fließendes Wasser und tupfte sie dann trocken. Als sie seine Hand eincremte, fühlte es sich wie eine Liebkosung an.

Er stand so dicht bei ihr, dass sich ihre Körper berührten. Er beugte sich hinunter und kitzelte ihren Hals mit einem leichten Kuss. „Spiel heute Abend für mich“, flüsterte er.

Sie schaute zu dem alten Klavier auf der anderen Seite des offenen Wohnbereichs hinüber und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht.“

Er fragte nicht nach dem Grund und versuchte auch nicht, sie umzustimmen. Das tat er nie. Manchmal spielte sie für ihn, manchmal ließ etwas tief in ihrem Inneren es nicht zu.

Ohne ein Wort zu sagen, zog sie ihn in das einzige Schlafzimmer. Während sie durch das Haus gingen, schaltete sie das Licht aus.

Eine Weile stand er an der Tür und sah zu, wie sie ihre einfache Arbeitskleidung auszog: abgewetzte Jeans, ein verwaschenes, kariertes Hemd, das wahrscheinlich vor Jahren ihrem Vater gehört hatte, und ein T-Shirt, das ihren schlanken Körper umschmeichelte. Während ein Kleidungsstück nach dem anderen fiel, schimmerte ihre blasse Haut im schwachen Licht der Nachttischlampe.

Als er sich nicht bewegte, wandte sie sich ihm zu. Ihre Brüste waren klein, ihr Körper war schlank, ihr Bauch flach, weil sie nie ein Kind geboren hatte. Sie trug nur einen roten Slip.

„Zieh mich ganz aus“, flüsterte sie und wartete.

Er ging zu ihr. Wenn sie ihn nicht dazu aufgefordert hätte, hätte er sich nicht bewegt. Vielleicht war es nur ein Spiel zwischen ihnen oder sie hatten sich stillschweigend auf ungeschriebene Regeln geeinigt. Er erinnerte sich nicht.

Er zog sie an sich und hielt sie lange Zeit einfach nur fest. Irgendwie hatte er in der schlimmsten Nacht seines Lebens vor fünf Jahren an ihre Tür geklopft, schlammig, voller Trauer und verloren.

Sie hatte kein einziges Wort gesagt. Sie hatte nur seine Hand genommen. Während er versucht hatte, einen Weg zu finden, nicht mehr zu atmen und zu sterben, ließ er sich seine schlammverkrustete Kleidung von ihr ausziehen. Dann steckte sie ihn in ihr Bett, legte sich zu ihm und hielt ihn im Arm, bis er endlich eingeschlafen war. Auch er sagte kein Wort. Er ging davon aus, dass sie die Nachrichten über den Unfall gehört hatte. An der Traurigkeit in ihren hellblauen Augen erkannte er, dass sie seinen Schmerz teilte.

Tausend Gefühle gingen ihm in jener Nacht durch den Kopf, alle dunkel, aber Quinn hielt ihn fest. Hätte sie versucht, ihn mit Worten zu trösten, selbst mit wenigen, wäre er in eine Million Stücke zerbrochen.

Kurz vor Sonnenaufgang war er aufgewacht und hatte sich zu ihr umgedreht. Sie hatte ihn willkommen geheißen, nicht als Geliebte, sondern als Freundin, die ihm sanft zu verstehen gab, dass es in Ordnung war, sie zu berühren. Dass es in Ordnung war, sich festzuhalten.

In den fünf Jahren seit jener Nacht hatten sie lange Gespräche geführt, wenn er hin und wieder zu ihr kam. Sie hatten stürmische Nächte gehabt, in denen sie überhaupt nicht sprachen. Er liebte sie immer auf eine sanfte Weise, nie hastig, immer mit mehr Fürsorge und weniger Leidenschaft, als er sich gewünscht hätte. Irgendwie fühlte es sich so richtig an.

Sie hatte kein Interesse daran, mit ihm auszugehen oder etwas mit ihm zu unternehmen. Sie rief ihn nie an oder schickte ihm eine E-Mail. Wenn sie ihm in ihrer kleinen Stadt Crossroads begegnete, winkte sie ihm zu, aber in der Öffentlichkeit sprachen sie nie mehr als ein paar Worte miteinander. Sie hatte kein Interesse daran, ihren Nachnamen gegen seinen einzutauschen, selbst wenn er darum gebeten hätte.

Doch er kannte ihren Körper, wusste, was sie sich von ihm wünschte und wie sie gehalten werden wollte. Er wusste, wie sie schlief, an ihn gekuschelt, als wäre ihr kalt. Aber er kannte nicht ihre Lieblingsfarbe, wusste nicht, warum sie nie geheiratet hatte oder sich manchmal nicht ans Klavier setzen konnte. In vielerlei Hinsicht kannten sie sich überhaupt nicht.

Sie war seine Frau für schlechte Tage. Wenn die Erinnerungen ihn überwältigten, war sie seine Zuflucht. Wenn die Einsamkeit bis auf die Knochen schmerzte, war sie sein Heilmittel. Sie rettete ihn einfach dadurch, dass sie da war, indem sie wartete, indem sie einen Mann liebte, der keine Liebe geben konnte.

Während der Sturm wütete und sich beruhigte, zog sie ihn in ihr Bett. Sie liebten sich in der Stille des Abends, dann hielt er sie in den Armen und schlief ein.

2. KAPITEL

Als die alte Standuhr elfmal schlug, verließ Staten Kirkland Quinn O’Gradys Bett. Während sie schlief, zog er sich an, ohne das Licht einzuschalten, und betrachtete sie im Schein des Vollmonds. Sie hatte ihm gegeben, was er heute Abend gebraucht hatte, und wie immer hatte er das Gefühl, dass er ihr nichts gegeben hatte.

Als er auf ihre Veranda hinaustrat, betrachtete er die nasse Erde und dachte, wie leer sein Leben war, abgesehen von diesen wenigen Stunden, die er mit Quinn teilte. Er würde sie niemals lieben, weder sie noch sonst jemanden, aber er wünschte, er könnte etwas für sie tun. Dank harter Arbeit und geerbtem Land war er ein reicher Mann. Sie dagegen kam mit ihrer Farm nur knapp über die Runden. Er könnte ihr helfen. Aber er wusste, dass sie das nie zulassen würde.

Während er seine Stiefel anzog, fielen ihm ein Dutzend Dinge ein, die er rund um ihr Haus tun könnte. Zum Beispiel den alten Traktor reparieren, der seit Monaten draußen im Schlamm stand, oder ihr Bewässerungssystem modernisieren. Wenn sie seine Hilfe annehmen würde, bräuchte er keine Stunde, um den alten John-Deere-Traktor wieder zum Laufen zu bringen.

Aber sie würde nichts von ihm annehmen. Er kannte sie gut genug, um gar nicht erst zu fragen. An manchen Tagen war er sich nicht einmal sicher, ob sie Freunde waren. Vielleicht waren sie mehr. Vielleicht weniger. Er sah auf seine Handfläche hinunter, dachte daran, wie sie die Salbe aufgetragen hatte, und fragte sich, ob alles, was sie verband, Trauer war und das gelegentliche Bedürfnis, einen anderen Menschen zu berühren. Der Gedanke gefiel ihm nicht.

Die Fliegengittertür knarrte. Als er sich umdrehte, trat Quinn in einen alten Quilt gehüllt in die Nacht hinaus. Auf Zehenspitzen kam sie über die schneebedeckte Veranda auf ihn zu.

„Ich wollte dich nicht wecken“, sagte er. „Ich muss zurück. Morgen in aller Frühe kommen achtzig neue Jährlinge an.“ Er entschuldigte sich nie dafür, dass er ging, und das tat er auch jetzt nicht. Er sprach einfach nur Tatsachen aus.

Wegen der Viehdiebstähle in letzter Zeit und seines Plans, seine Herde zu vergrößern, musste er vielleicht mehr Leute einstellen. Wie immer hatte er das Gefühl, dass er auf seinem Land sein musste – und wachsam.

Sie nickte und stellte sich vor ihn.

Staten wartete. Sie berührten sich nie, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Normalerweise ging er ohne ein Wort, aber heute Abend wollte sie ihm offensichtlich etwas sagen.

Noch etwas, das ich wahrscheinlich falsch mache, dachte er. Er machte ihr nie Komplimente, küsste sie nie auf den Mund, sagte nie ein Wort, wenn er sie berührte. Wenn sie nicht ab und zu kleine Laute der Lust von sich gegeben hätte, wäre er sich nicht einmal sicher gewesen, ob er sie befriedigt hatte.

Jetzt, da er ihr so nah war, fühlte er sich mehr wie ein Fremder als ihr Liebhaber. Er kannte den Duft ihrer Haut, aber er hatte keine Ahnung, was sie dachte. Sie verstand etwas vom Quilten und davon, wie man aus Lavendel Seife herstellte. Sie spielte Klavier wie ein Engel und besaß nicht einmal einen Fernseher. Er wusste, wie man eine Ranch führte, und sah sich von seinem Sessel aus jedes Spiel der Dallas Cowboys an.

Wenn sie sich jemals länger als eine Stunde unterhalten würden, fänden sie wahrscheinlich heraus, dass sie nichts gemeinsam hatten. In der Highschool hatte er an jeder Sportart teilgenommen und sie hatte sowohl im Orchester als auch in der Schulband gespielt. Er hatte die meisten seiner College-Stunden online absolviert, während sie für ihre Musikschule den ganzen Weg bis nach New York gefahren war.

Aber sie hatten denselben Menschen geliebt. Amalah war Quinns beste Freundin und seine einzige Liebe gewesen. Aber darüber sprachen sie nur noch selten. Eigentlich nie. Es war zu schmerzhaft für sie beide, vermutete er.

Es war jetzt ganz windstill, Feuchtigkeit hing wie unsichtbare Spitze in der Luft. Quinn sah eher aus, als wäre sie in ihren Zwanzigern als in ihren Vierzigern. Sie besaß ihre eigene sanfte Schönheit. Das war schon immer so gewesen und wahrscheinlich würde sie auch im Alter noch schön sein. Zu seiner Überraschung beugte sie sich vor und küsste ihn auf den Mund.

Er musterte sie. „Willst du mehr?“, fragte er schließlich. Wahrscheinlich war das das Dümmste, was man zu einer nackten Frau sagen konnte, die fünf Zentimeter von ihm entfernt stand.

Er hatte keine Ahnung, was „mehr“ sein konnte. Sie hatten immer nur einmal Sex, wenn überhaupt. Manchmal machte keiner den ersten Schritt und sie kuschelten sich einfach zusammen auf das Sofa und hielten sich im Arm. Quinn war keine leidenschaftliche Frau. Was sie taten, war nur die Befriedigung eines Bedürfnisses, das sie beide ab und zu hatten.

Ohne ein Wort zu sagen, küsste sie ihn wieder. Als ihre Wange sein stoppeliges Kinn berührte, war ihre Haut nass und schmeckte frisch wie der Regen.

Langsam schob Staten die Hände unter ihre Decke und strich über ihren warmen Körper, dann zog er sie näher an sich und küsste sie so innig, wie er seit dem Tod seiner Frau nicht mehr geküsst hatte.

Ihre Lippen waren weich und einladend. Als er mit der Zunge ihren Mund eroberte, fühlte sich das viel intimer an als alles, was sie je getan hatten, aber er hörte nicht auf. Sie wollte das von ihm, und er hatte nicht vor, es ihr zu verweigern. Niemand würde je erfahren, dass sie an manchen Tagen das Einzige war, was ihn aufrecht hielt.

Als er sich schließlich von ihr löste, war Quinn außer Atem. Sie lehnte die Stirn gegen sein Kinn und er wartete.

„Von jetzt an“, flüsterte sie so leise, dass er ihre Worte mehr spürte als hörte, „musst du mich zum Abschied küssen, bevor du gehst. Wenn ich schlafe, weck mich. Du brauchst nichts zu sagen, aber du musst mich küssen.“

Sie hatte ihn nie um etwas gebeten, und er hatte nicht vor, Nein zu sagen. Sanft streichelte er ihren Rücken und zog sie fest an sich. „Wenn es das ist, was du willst, werde ich es nicht vergessen.“ Er spürte ihr Herz klopfen und wusste, dass ihr die Bitte nicht leichtgefallen war.

Sie nickte. „Ja, das will ich.“

Er strich mit den Lippen über ihre und liebte es, wie sie seufzte, als wollte sie mehr. Dann zog sie sich zurück.

„Gute Nacht“, sagte sie, ging ins Haus und schloss die Fliegengittertür zwischen ihnen.

Er strich sich das Haar zurück und setzte seinen Hut auf. Schon jetzt verspürte er das Bedürfnis wiederzukommen. „Falls es dir recht ist, komme ich Freitagabend wieder. Es wird später. Vorher muss ich zu meiner Großmutter und ein paar Sachen für sie erledigen. Wenn du magst, kann ich gegrilltes Fleisch zum Abendessen mitbringen.“ Er fühlte sich, als würde er plappern, aber irgendetwas musste er sagen, und er hatte keine Ahnung, was.

„Und Gemüse“, ergänzte sie.

Er nickte. Sie wollte eine richtige Mahlzeit, nicht nur Fleisch. „Ich bringe auch Süßkartoffelpommes und Okra mit.“

Sie hielt die Decke fest, als wollte sie nicht, dass er ihren Körper sah, schaute nicht auf, als er hinzufügte: „Es war schön, dich zu küssen, Quinn. Ich freue mich darauf, es wieder zu tun.“

Mit gesenktem Kopf nickte sie, dann verschwand sie wortlos in der Dunkelheit.

Er würde Quinn nie verstehen, selbst wenn er hundert Jahre alt würde. In der Schule hatte sie nie einen Freund gehabt. Und Amalah hatte ihm nie erzählt, dass Quinn während ihrer Zeit auf dieser schicken Musikschule in New York jemanden gedatet hätte. Sie war in ihren Vierzigern, aber soweit er wusste, hatte sie noch nie ein Date gehabt, geschweige denn einen Liebhaber. Aber sie war auch keine Jungfrau mehr gewesen, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten.

Sie nach ihrem Liebesleben zu fragen, kam ihm viel zu persönlich vor.

Als er in seinen Geländewagen stieg, lenkte er seine Gedanken zu den Problemen auf der Ranch. Er musste mehr Männer einstellen. Diesen Monat hatten sie drei Rinder an Viehdiebe verloren. Während er den kommenden Tag plante, tat Staten das, was er immer tat: Er verdrängte Quinn in eine Ecke seiner Gedanken, wo sie blieb, bis er sie wiedersah.

Kurz darauf fuhr er durch die kleine Stadt Crossroads, die zwischen ihren beiden Farmen lag. Alle Geschäfte waren geschlossen. Nur eine Tankstelle hatte vierundzwanzig Stunden lang geöffnet, um die wenigen Durchreisenden zu versorgen, die tanken mussten oder mutig genug waren, das Essen zu probieren.

Einen halben Block von der Tankstelle entfernt stand der Bungalow seiner Großmutter zwischen anderen Seniorenhäuschen. Eine riesige Laterne in der Mitte warf ein schwaches Licht auf die Veranda jedes Häuschens. Die winzigen weißen Gebäude erinnerten ihn an eine Wagenburg, die direkt neben der Hauptstraße aufgestellt war. Seine Großmutter hatte fünfzig Jahre lang auf dem Land der Kirklands gelebt. Aber nach dem Tod ihres Mannes war sie in die Stadt in die Seniorenresidenz gezogen. Früher war sie Lehrerin gewesen und jetzt wollte sie mit ihren Freunden zusammen sein statt allein in dem großen Haus auf der Ranch.

Staten fluchte amüsiert, als er sich an all ihre Anweisungen bei ihrem Umzug in die Stadt erinnerte. Sie wollte, dass ihr einziger Enkel jede Woche vorbeikam, um Batterien auszutauschen, Glühbirnen einzuschrauben und den Fernseher neu zu programmieren, den sie während der Woche immer wieder verstellte.

Ihm machte es nichts aus, bei ihr vorbeizuschauen. Abgesehen von seinem Vater, der Dallas als sein Zuhause betrachtete, war Granny Statens einzige Familie.

Eine Viertelmeile hinter der Hauptstraße von Crossroads erfassten seine Scheinwerfer vier Jugendliche, die zwischen der katholischen Kirche und der Tankstelle an der Straße entlanggingen.

Drei Jungen und ein Mädchen. Fünfzehn oder sechzehn, schätzte Staten. Für einen Moment stieg die Erinnerung an Randall in ihm auf. Bei seinem Tod war er ungefähr in ihrem Alter gewesen und hatte die gleiche blau-weiße Jacke des Footballteams getragen wie zwei der Jungen heute Abend.

Als er an ihnen vorbeifuhr, wurde Staten langsamer. „Braucht ihr eine Mitfahrgelegenheit?“ Die Lichter in der Kirche waren noch an und auf dem Parkplatz standen einige Autos. Es ist Samstagabend, erinnerte er sich.

Ein großer, spanisch aussehender Junge winkte. Staten glaubte, Lucas Reyes zu erkennen, den ältesten Sohn des Chef-Wranglers der Collins-Ranch. Staten erinnerte sich, dass der Junge einer von einem Dutzend junger Teilzeitkräfte auf der Ranch war.

Er hatte gehört, dass er ein fast ebenso guter Cowboy wie sein Vater war. Die magische Hand für Pferde musste sich zusammen mit der beeindruckenden Körpergröße vom Vater auf den Sohn vererbt haben. Der junge Reyes war zwar schlank, aber dank seiner Arbeit war er wahrscheinlich besser in Form als die Football-Jungs. Nach seinem Highschool-Abschluss würde Lucas Reyes ohne Probleme einen Job auf einer der großen Ranches bekommen, auch auf der Double K.

„Nein danke, Mr. Kirkland“, erwiderte der Reyes-Junge höflich. „Wir gehen nur zur Tankstelle, um eine Cola zu trinken. Reid Collins’ Bruder holt uns gleich ab.“

„Das ist kein Verbrechen, Mister“, antwortete ein rothaariger Junge in einer Footballjacke. Seine Worte kamen schnell und abgehackt und erinnerten Staten an seinen Sohn.

Die laute Stimme eines Jungen, der beweisen will, dass er ein Mann ist, dachte er.

Er konnte die Gesichter der beiden Jungen mit den Footballjacken nicht sehen, aber das Mädchen hob den Kopf. „Wir haben an einem Projekt für die Kirche gearbeitet“, antwortete sie höflich. „Ich bin Lauren Brigman, Mr. Kirkland.“

Staten nickte. Er erinnerte sich an Sheriff Brigmans Tochter. „Guten Abend, Lauren“, sagte er. „Schön, dich wiederzusehen. Viel Erfolg mit dem Projekt.“

Als er weiterfuhr, schüttelte er den Kopf. Normalerweise hätte er sich nicht die Mühe gemacht anzuhalten. Crossroads war zwar eine Kleinstadt in Texas, aber die Jugendlichen gingen ihn nichts an. Staten fluchte. Wenn er so weitermachte, würde er mit fünfundvierzig ein neugieriger alter Mann sein. Es schien noch gar nicht so lange her zu sein, dass er und Amalah nach der Kirche selbst zur Tankstelle gegangen waren.

Verdammt, vielleicht hatte ihn Quinns Bitte, sie zu küssen, mehr aus dem Konzept gebracht, als er gedacht hatte. Er musste seinen Kopf wieder klar bekommen. Sie war nur eine Freundin. Eine Frau, bei der er Zuflucht suchte, wenn die Stürme kamen. Mehr nicht. So wollten sie es beide.

Bis er am nächsten Freitagabend wieder an ihre Tür klopfte, musste er sich noch um eine Menge Ärger auf der Ranch kümmern.

Zwanzig Meilen entfernt kuschelte sich Quinn O’Grady auf ihrer Veranda in ihre Steppdecke und schaute zum Nachthimmel hinauf, denn sie wusste, dass Staten noch auf dem Heimweg war. Er kam immer wie ein tobender Sturm zu ihr und ging so ruhig wie die Morgendämmerung.

Doch heute Nacht hatte sie ihn mit ihrer Bitte überrascht. Als er um kurz nach elf gegangen war, hatte es sich anders angefühlt. Irgendwie fühlte sich ihre ganze Beziehung nach fünf Jahren plötzlich anders an.

Sie lächelte und freute sich, dass sie den ersten Schritt gemacht hatte. Sie hatte einen Kuss verlangt und er hatte nicht gezögert. Sie wusste, dass er aus Verzweiflung und Einsamkeit zu ihr kam, aber für sie war es immer mehr gewesen. Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie ihn nicht geliebt hatte.

Doch seit der Grundschule hatte Staten Kirkland ihrer besten Freundin gehört, und Quinn hatte sich geschworen, niemals zu versuchen, sich zwischen sie zu stellen. Selbst jetzt, sieben Jahre nach Amalahs Tod, gehörte ein Teil von Staten immer noch seiner Frau. Vielleicht nicht sein Herz, entschied Quinn, sondern eher seine Bereitschaft, sich auf jemanden einzulassen. Er war entschlossen, nie wieder jemanden an sich heranzulassen. Er wollte keine Liebe in seinem Leben. Er wollte nur überleben, nachdem er Amalah geliebt und verloren hatte.

Amalah hatte Mrs. Kirkland werden wollen, nachdem sie das erste Mal mit Quinn auf der Double K Ranch ausgeritten war. Sie hatte das große Haus geliebt, die Wohltätigkeitskomitees und die schicken Mittagessen. Sie wusste, wie man für die Presse lächelte, wie man sich kleidete und wie sie mit den Kirkland-Männern umgehen musste, um genau das zu bekommen, was sie wollte. Amalah war die perfekte Ehefrau für einen reichen Rancher gewesen.

Quinn hatte immer nur Staten gewollt. Aber niemals, nicht eine Sekunde lang, hätte sie sich Amalahs Tod gewünscht. Staten war eine Liebe, die Quinn tief in ihrem Herzen verschlossen hielt, weil sie von Anfang gewusst hatte, dass sie nie Wirklichkeit werden würde.

Nach dem Tod ihrer besten Freundin war Quinn niemals auf Staten zugegangen. Das konnte sie nicht. Es wäre nicht fair gewesen. Sie rief ihn nie an oder versuchte, ihn zufällig in der Stadt zu treffen. Amalah mochte nicht mehr da sein, aber Staten gehörte Quinn trotzdem nicht. Sie war nicht die Art von Frau, die in seiner Welt leben konnte.

Zwei Jahre vergingen nach Amalahs Tod. Staten kam ab und zu vorbei, nur um nach Quinn zu sehen, aber wegen ihrer Schüchternheit waren ihre Gespräche immer nur kurz.

Dann starb Randall.

Sie hatte im lokalen Radiosender von dem Autounfall gehört und um den Jungen geweint, den sie sein ganzes Leben lang gekannt hatte.

Tränen für das viel zu früh beendete Leben eines Jungen und für einen Vater, von dem sie wusste, dass er litt, aber zu dem sie nicht gehen konnte. Sie hätte nicht gewusst, was sie sagen sollte. Er wäre von Menschen umgeben gewesen und Quinn hatte vor den meisten Menschen Angst.

Als sie in jener Nacht ein Klopfen an ihrer Tür hörte, hätte sie fast nicht aufgemacht. Dann sah sie Staten. Er war gebrochen, brauchte jemanden und sie konnte ihn nicht abweisen.

In dieser Nacht hatte sie ihn in den Armen gehalten und gedacht, dass er sie nur dieses eine Mal brauchte. Am nächsten Morgen würde er wieder stark sein und sie würden wieder einfach nur höflich zueinander sein. Aber für diese eine Nacht konnte sie helfen.

Am nächsten Morgen war er ohne ein Wort gegangen. Sie hätte nie erwartet, dass er zurückkommen würde. Aber er kam zurück. Dieser starke, harte Mann verlangte nie etwas von ihr, aber er nahm, was sie ihm anbot. Die Vernunft sagte ihr, dass es nicht von Dauer sein würde. Er hatte sie beide als Überbleibsel bezeichnet, als wären sie zwei Ladenhüter. Aber Staten war kein Ladenhüter. Eines Tages würde er nicht mehr unter den Stürmen leiden. Eines Tages würde er wieder leben, und wenn er das tat, würde er den Weg zu ihrer Tür vergessen.

Während die fünf Jahre vergingen, sammelte Quinn Erinnerungen, die sie in ihrem Herzen bewahren wollte, wenn er nicht mehr kam. Auch wenn es vielleicht nicht viel war, wollte sie geküsst werden. Nicht aus Leidenschaft oder Verlangen, sondern sanft.

Jedes Mal, wenn er ging, konnte es das letzte Mal sein. Sie wollte sich daran erinnern, dass er sie zum Abschied geküsst hatte, auch wenn es in dem Moment keinem von ihnen klar gewesen war.

3. KAPITEL

Lauren

Der nächtliche Mond leuchtete zwischen Gewitterwolken hindurch, als Lauren Brigman Schlamm von ihren Schuhen wischte. Die Jungs waren in die Tankstelle gegangen, um Cola zu holen. Sie wollte eigentlich nichts trinken, aber wenn sie nicht mit den anderen gegangen wäre, hätte sie in der Kirche bleiben und mit Mrs. Patterson reden müssen.

Aus irgendeinem Grund glaubte Mrs. Patterson, sie müsste jede Gelegenheit nutzen, um mit der Tochter des Sheriffs ein „Mädchengespräch“ zu führen, nur weil deren Mutter nicht mehr da war.

Lauren wollte der alten Frau sagen, dass sie schon mit sieben Jahren aufgeklärt worden war und wirklich keine mütterliche Freundin brauchte. Außerdem war es ja nicht so, als wäre ihre Mutter gestorben. Sie lebte in Dallas. Sie war einfach gegangen. Aber nur weil sie den Anblick von Laurens Vater nicht ertragen konnte, hieß das nicht, dass sie Lauren nicht fast jede Woche anrief. Vielleicht hatte ihre Mom einfach genug von den täglichen Vorträgen des Sheriffs gehabt. Lauren hatte jeden einzelnen von Pops Vorträgen so oft gehört, dass sie sie auswendig kannte.

Sie war Klassenbeste und würde in weniger als drei Jahren aufs College gehen. Sie hatte nicht vor, schwanger zu werden oder Drogen zu nehmen oder in eine der anderen beängstigenden Situationen zu geraten, die Mrs. Patterson und ihr Vater ständig andeuteten.

Ihr Vater wollte nicht einmal, dass sie vor ihrem sechzehnten Lebensjahr auf ein Date ging. Aber wenn sie sich die Jungs anschaute, die sie aus der Highschool kannte, verzichtete sie sogar freiwillig auf jedes Date, bis sie achtzehn war. Vielleicht war die Auswahl auf dem College besser. Einige dieser Jungs waren so dumm, dass sie sich wunderte, wie sie es schafften, sich jeden Morgen ihren Cowboyhut aufzusetzen.

Reid Collins kam als Erster aus der Tankstelle, in jeder Hand eine Dose Cola. „Ich habe dir eine mitgebracht, obwohl du gesagt hast, du willst nichts trinken“, verkündete er, als er näher kam. „Willst du dich bei mir anlehnen, während du deine Schuhe sauber machst?“

Lauren verdrehte die Augen. Seit er ein paar Zentimeter gewachsen war und in der Schulmannschaft spielte, glaubte Reid, er wäre ein Geschenk Gottes an die Mädchenwelt.

„Warum?“, fragte sie und warf den Stock weg. „Ich kann mich an die Mauer lehnen. Und komm ja nicht auf die Idee, wir hätten ein Date, Reid, nur weil ich mit dir zur Tankstelle gegangen bin.“

„Ich date keine Mädchen aus der Unterstufe“, blaffte er. „Ich bin einer der besten Spieler unserer Mannschaft, weißt du. Ich könnte wahrscheinlich jede aus der Oberstufe daten, die ich will. Außerdem bist du für mich wie eine kleine Schwester, Lauren. Wir kennen uns schon seit der ersten Klasse.“

Sie überlegte, ob sie erwähnen sollte, dass es keine große Leistung war, einer der besten Spieler zu sein, wenn die gesamte Football-Mannschaft aus nur vierzig Spielern bestand, und zwar einschließlich der Trainer und Wasserträger. Aber mit Reid zu streiten hatte keinen Sinn. Er war reich geboren und dachte, er wüsste alles besser als jeder andere. Diese Krankheit war vermutlich unheilbar.

„Wenn dir kalt ist, darfst du meine Jacke anziehen.“ Als sie nichts sagte, prahlte er: „Nach einem Monat Training musste ich mir eine neue eine Nummer größer bestellen.“

Sie tat es nur ungern, aber wenn sie ihm nicht bald ein Kompliment machte, würde er nie aufhören anzugeben. „Du siehst toll aus in der Jacke, Reid. Selbst von den Spielern aus der Oberstufe sind nicht halb so viele so groß wie du.“ Vom Hals abwärts konnte man nichts gegen Reid sagen. In ein paar Jahren würde er ein echter Hingucker sein. Er besaß das gute Aussehen der Collins-Familie – zusammen mit ihrem Markenzeichen, dem rostroten Haar, das nicht ganz braun und nicht ganz rot war. Aber trotzdem würde sie sich niemals für ihn interessieren.

„Also, wenn ich nächsten Monat meinen Führerschein bekomme, hast du dann Lust auf eine Spritztour?“

Lauren lachte. „Das fragst du schon, seit ich in der dritten Klasse war und du dein erstes Fahrrad bekommen hast. Die Antwort ist immer noch Nein. Wir sind Freunde, Reid. Wahrscheinlich werden wir immer Freunde bleiben.“

Sein Lächeln wirkte, als hätte er es vor dem Spiegel geübt. „Ich weiß, Lauren, aber ich möchte dir ab und zu eine Chance geben. Weißt du, manche Jungs wollen nicht mit der Tochter vom Sheriff ausgehen. Und ich sage es nur ungern, babe, aber wenn du da nicht ein bisschen zulegst, wird das auf dem College nicht gut ankommen.“ Er besaß die Frechheit, auf ihre Brust zu zeigen.

„Ich weiß.“ Sie schaffte es, einen traurigen Blick aufzusetzen. „Den Sheriff als Vater zu haben ist das Päckchen, das ich tragen muss. Die Hälfte der Jungs in der Stadt hat Angst vor ihm. Als könnte er sie verhaften, nur weil sie mit mir reden. Was er vielleicht sogar tun würde.“ Sie hatte nicht vor, mit Reid über ihre fehlenden Kurven zu sprechen.

„Nein, es ist nicht direkt Angst vor ihm“, korrigierte Reid sie. „Ich denke, es sind eher Schusswunden, vor denen sie Angst haben. Jedes Mal, wenn ein Junge dich ansieht, fängt dein alter Herr an, seine Dienstwaffe zu streicheln. Eine ziemlich nervtötende Angewohnheit, wenn du mich fragst. Ich glaube, ich bin der Einzige, der neben dir stehen darf, und das auch nur, weil unsere Väter Freunde sind.“

Sie schmunzelte. Reid war verwöhnt, eingebildet und egozentrisch, aber er hatte recht. Wahrscheinlich würden sie immer Freunde sein. Ihr Vater war der Sheriff, und seiner war der Bürgermeister von Crossroads, obwohl er fünf Meilen außerhalb der Stadt auf einer Ranch in der Nähe vom Ransom Canyon lebte.

Bei ihrem Glück war Reid wahrscheinlich der einzige Junge im ganzen County, mit dem ihr Vater ein Date erlauben würde. Ihr mürrischer alter Pop litt unter dem, was sie „Polizistenkrankheit im Endstadium“ nannte. Er glaubte, dass jeder außer seinen wenigen Freunden ein Krimineller war, dass man jeden Autofahrer unter dreißig anhalten und durchsuchen sollte und niemandem, der jemals Gras geraucht hatte, je wieder trauen konnte.

Jetzt kam Reids ewiger Schatten Tim O’Grady mit einem riesigen Eisgetränk aus der Tankstelle. In dem durchsichtigen Becher mischten sich rote und gelbe Zuckerschichten mit Kirsch- und Ananasgeschmack.

Während Reid gut proportioniert war, wirkte Tim schlaksig und ungelenk, so als wäre er aus unpassenden Teilen zusammengesetzt. Seine Arme waren zu lang. Seine Füße wirkten zu groß und sein Zahnspangenlächeln war zu breit für seinen Mund.

Als er einen kräftigen Schluck von seinem Getränk nahm, taumelte er und hielt sich die Stirn, als wäre sein Gehirn eingefroren.

Lauren lachte, als er herumtanzte wie eine Marionette mit verdrehten Fäden. Timothy, wie ihn die Lehrer nannten, brachte einen immer zum Lachen. Er war vielleicht nicht besonders tiefsinnig, aber er hatte die Fantasie eines geborenen Geschichtenerzählers.

„Vielleicht hätte ich mir in so einer kalten Nacht kein eiskaltes Getränk holen sollen“, murmelte er zwischen zwei Schlucken. „Wenn ich von innen heraus erfriere, stellt mich als Statue auf der Hauptstraße auf.“

Lauren kicherte.

Als Letzter aus ihrer kleinen Gruppe kam Lucas Reyes heraus. Er hatte nichts gekauft, aber offenbar hatte er nicht mit ihr alleine draußen stehen wollen. Sie kannte ihn seit ein paar Jahren, vielleicht auch länger, aber er sprach nie mit ihr. Wie Reid und Tim war er ein Jahr älter als sie, aber weil er selten etwas sagte, nahm sie ihn meistens nicht wirklich wahr.

Im Gegensatz zu ihnen besaß Lucas keinen Familiennamen, der ihm schon auf hundert Meilen die Türen öffnete.

Sie lebten alle vier östlich von Crossroads entlang der gewundenen Schlucht, die Ransom Canyon genannt wurde. Lauren und ihr Vater wohnten in einem der Häuser in der Nähe des Sees, genau wie Tim und seine Eltern. Die Ranch von Reids Familie lag fünf Meilen weiter draußen. Wo Lucas mit seiner Familie lebte, wusste sie nicht. Vielleicht auf der Collins-Ranch. Sein Vater arbeitete auf der Bar W Ranch, die seit über hundert Jahren der Collins-Familie gehörte. Der Bereich um das Hauptgebäude der Ranch sah aus wie ein kleines Dorf.

Reid wiederholte den Plan. „Mein Bruder sagte, er bringt zuerst Sharon nach Hause, dann kommt er zurück und holt uns ab. Aber wenn die beiden miteinander beschäftigt sind, kann das auch eine Stunde dauern. Wir können also genauso gut wieder zurückgehen und uns auf die Kirchenstufen setzen.“

„Toller Plan“, beschwerte sich Tim. „Alles ist geschlossen. Hier draußen ist es eiskalt, und diese Stadt ist so tot, dass man sie begraben sollte.“

„Wir könnten uns zu Fuß auf den Weg nach Hause machen“, schlug Lauren vor und zog eine kleine Taschenlampe aus ihrem Schlüsselbund. Ihr Vater bestand darauf, dass sie die Lampe immer bei sich trug.

Der Canyon-See war keine Meile entfernt. Wenn sie sich bewegten, würden sie weniger frieren. Wahrscheinlich könnte sie zu Hause sein, bevor Reids dummer Bruder die Lippen von Sharon losreißen konnte. Wenn die Gerüchte stimmten, ließ Sharon sich sehr gern küssen, und zwar nicht nur auf die Lippen.

„Besser, als hier rumzustehen“, stimmte Reid zu, während Tim einen Klumpen Erde in Richtung Tankstelle kickte. „Ich laufe lieber, als rumzusitzen. Und wenn wir zurück zur Kirche gehen, kommt wahrscheinlich Mrs. Patterson raus, um uns Gesellschaft zu leisten.“

Ohne abzustimmen, gingen sie los. Lauren gefiel der Gedanke nicht, in eins der schlammigen Schlaglöcher am Straßenrand zu stolpern, die man unter der frischen Schneeschicht nicht mehr erkennen konnte. Aber es klang immer noch besser, als vor der Tankstelle herumzustehen. Außerdem brauchte sie im hellen Mondlicht nicht einmal ihre winzige Taschenlampe.

Nach ein paar Metern fielen Reid und Tim zurück, um sich Zigaretten anzuzünden. Zu ihrer Überraschung ging Lucas weiter neben ihr.

„Du rauchst nicht?“, fragte sie, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen.

„Nein, das kann ich mir nicht leisten“, überraschte er sie. „Ich habe Pläne, und Lungenkrebs gehört nicht dazu.“

Vielleicht machte die Dunkelheit das Reden einfacher oder vielleicht wollte Lauren sich nicht so allein in den Schatten der Nacht fühlen. „Ich dachte schon allmählich, du wärst stumm. Wir hatten ein paar Kurse zusammen und du hast nie ein Wort gesagt. Selbst heute Abend warst du der Einzige, der nicht über sein Projekt gesprochen hat.“

Lucas zuckte mit den Schultern. „Ich sehe keinen Sinn darin. Ich mache nur wegen des Preisgelds mit, nicht um die Welt zu retten oder eine bessere Zukunft aufzubauen.“

Sie kicherte.

Auch er lachte, als merkte er, dass er sich gerade über den Sinn des ganzen Projekts lustig gemacht hatte. „Außerdem“, fügte er hinzu, „kommt man in ihrer Nähe nicht oft zu Wort.“ Er nickte zu den beiden Jungs in ihren Mannschaftsjacken hinüber. Während eine Rauchwolke über ihnen aufstieg, fielen die beiden immer weiter zurück.

Sie verstand, was er meinte. Reid und Tim gingen vielleicht sechs Meter oder mehr hinter ihnen. Beide redeten über Football, und keiner von beiden schien Wert darauf zu legen, dass der andere ihm zuhörte.

„Warum hängst du mit ihnen rum?“, fragte sie. Lucas schien nicht zu ihnen zu passen. Er war fleißig und ruhig und weder im Sportverein noch in anderen Vereinen, soweit sie wusste. „Normalerweise bleiben die Footballer unter sich.“

„Ich wollte heute Abend an meinem Projekt arbeiten, und Reid hat mir angeboten, mit ihm nach Hause zu fahren. Footballstorys zu hören ist besser, als bei diesem Wetter zu laufen.“

In der Dunkelheit stolperte Lauren in ein Schlagloch. Lucas’ Hand schoss vor und fing sie auf. Er half ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden, dann ließ er sie los.

„Danke. Du hast mir das Leben gerettet“, scherzte sie.

„Wohl kaum, aber wenn, hättest du jetzt eine Blutschuld bei mir.“

„Müsste ich sie bezahlen?“

„Natürlich. Das ist Ehrensache. Du müsstest mir auch das Leben retten oder du wärst für immer ein Feigling.“

„Ein Glück, dass du mich nur vor dem Stolpern bewahrt hast. Sonst müsste ich dir jahrelang hinterherlaufen und auf eine Chance warten, meine Schuld zurückzuzahlen.“ Sie rieb sich den Arm, wo er sie berührt hatte. Er war stärker, als sie gedacht hätte. „Stemmst du Gewichte?“

Wieder lachte er leise. „Das nennt man Arbeit. Bis ich sechzehn war, habe ich jeden Sommer und die Wochenenden auf der Ranch von Reids Vater gejobbt. Seit ich alt genug bin, springe ich auch bei den Kirklands als Cowboy ein. Ich spare jeden Cent für mein College-Schulgeld. Darum habe ich auch noch kein Auto. Auf dem College brauche ich keins und mein ganzes Geld wird für Bücher draufgehen.“

„Aber du bist doch erst im dritten Jahr. Du hast noch anderthalb Jahre Highschool vor dir.“

„Ich kann meinen Abschluss vorzeitig machen. Die Highschool ist Zeitverschwendung. Ich habe Pläne. Mit der Arbeit kann ich hundertfünfzig Dollar am Tag verdienen, und mein Vater glaubt, dass ich in diesem Frühjahr und Sommer jeden Tag, den ich nicht in der Schule bin, als Cowboy arbeiten kann.“

Sie stolperte erneut und er hielt sie wieder fest. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, aber sie hätte schwören können, dass er sie etwas länger berührte als nötig. 

„Du bist interessant, Lucas Reyes.“

„Eines Tages werde ich das sein“, sagte er. „Wenn ich auf dem College bin, kann ich in den Ferien und am Wochenende nach Hause kommen und auf der Ranch arbeiten. Im Sommer kann ich ein paar Online-Kurse belegen, zu Hause wohnen und genug sparen, um das nächste Jahr zu bezahlen. Egal, was ich dafür tun muss, ich gehe auf die Tech.“

„Hast du auch vor, das College in drei Jahren zu schaffen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber bevor ich zweiundzwanzig bin, habe ich den Abschluss.“

Keiner in ihrem Alter hatte je so über die Zukunft gesprochen. Als wäre diese Zeit in ihrem Leben nur eine Durchgangsphase zu etwas viel Wichtigerem. „Wenn du dein Ziel erreicht hast, möchte ich, dass wir Freunde sind.“

„Ich hoffe, wir werden mehr als Freunde sein, Lauren.“ Er sprach so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie richtig gehört hatte.

„Hey, ihr zwei Loser da vorne!“, rief Reid. „Ich habe eine Idee.“

Lauren wollte das Gespräch mit Lucas noch nicht beenden, aber wenn sie Reid ignorierte, würde er nur noch lauter werden. „Was?“

Reid holte sie ein und legte die Arme um ihre und Lucas’ Schultern. „Wie wär’s, wenn wir in das Gypsy House einbrechen? Ich habe gehört, da spuken die Roma, die dort vor hundert Jahren gestorben sind.“

Tim holte sie ein. Wie immer stimmte er Reid zu. „Schaut, da drüben hinter den Bäumen. Das Haus wartet nur auf uns. Ich habe gehört, wenn man mit den Knochen eines Toten rasselt, sprechen die Geister zu dir.“ Tims Augen leuchteten im Mondlicht. „Ich hatte mal einen Cousin, der sagte, er hätte in dem alten Haus Stimmen gehört, obwohl keiner außer ihm da war.“

„Das ist keine gute Idee.“ Lauren wollte Reid abschütteln, aber er hielt ihre Schulter fest.

„Komm schon, Lauren, geh einmal in deinem Leben ein Risiko ein. Da drin wohnt seit Jahren keiner mehr. Wer soll uns Ärger machen?“

Tims Fantasie ging mit ihm durch. Seiner Meinung nach konnten alle möglichen Dinge passieren. Sie könnten eine Leiche finden. Geister könnten sie aus dem Haus jagen oder vielleicht würde einer von ihnen von einem Geist besessen werden. Vielleicht wohnten sogar Zombies in den Trümmern von alten Häusern?

Lauren rollte mit den Augen. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, dass Tim von einem Zombie erwischt wurde. Ein Zombie-Teenager mit Zahnspange war zu viel.

„Es ist nur ein altes, verrottendes Haus“, sagte Lucas so leise, dass es außer Lauren keiner hörte. „Wahrscheinlich gibt es dort Ratten oder morsche Böden. An so einem Ort sind Unfälle vorprogrammiert. Wie wär’s, wenn du bei Tageslicht zurückkommst, Reid, wenn du es unbedingt erkunden willst?“

„Wir gehen jetzt“, verkündete Reid, während er Lauren von der Straße zu den Bäumen schob, die vorbeifahrenden Autos die Sicht auf das alte Gehöft versperrten. „Stellt euch mal die Story vor, die wir am Montag allen erzählen können. Wir waren in einem Spukhaus und haben überlebt.“

Die Vernunft sagte Lauren, dass sie heftiger protestieren sollte, aber mit fünfzehn kam ihr die vernünftige Entscheidung nicht so verlockend vor wie die Aussicht auf ein Abenteuer. Wenigstens einmal hätte sie auch eine Story zu erzählen. Wenigstens dieses eine Mal … würde ihr Vater es nicht herausfinden.

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