Mistelzweig und Weihnachtszauber

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Das große Glück zum Fest der Liebe!

Ein Weihnachtsmärchen in Montana - Lisa Jackson

Ausgerechnet in Montana, das Chase nach einer Tragödie verließ, muss er nun die Feiertage verbringen. Doch als er die hochschwangere Lesley aus dem Schneesturm rettet, scheint ein Weihnachtswunder möglich.

Zwei Spuren im Schnee … - Penny Jordan

Hand in Hand im Schnee mit dem Mann, den sie liebt, davon träumt Heaven schon lange. Als es jetzt so weit ist kann sie es gar nicht genießen, denn sie befindet sich mit Jon auf der Flucht vor ihrem rachsüchtigen Ex-Chef …

Viel Liebe zum Fest - Cara Colter

Weiße Weihnacht in den verschneiten Bergen hat Beth ihrem kleinen Neffen versprochen! Ist es vielleicht nicht nur eine märchenhafte Winterlandschaft, die Beth in Kanada erwartet, sondern auch die große Liebe?

Dein Kuss unterm Mistelzweig - Julianna Morris

Weihnachten in der Familie, mit dem Mann, der Shannons Herz im Sturm erobert hat. Zärtlich küsst Alex sie unter dem Mistelzweig. Aber ist der attraktive Witwer wirklich schon bereit für eine neue Beziehung?


  • Erscheinungstag 10.10.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499906
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mistelzweig und Weihnachtszauber

Lisa Jackson

Ein Weihnachtsmärchen in Montana

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Penny Jordan

Zwei Spuren im Schnee …

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Cara Colter

Viel Liebe zum Fest

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Julianna Morris

Dein Kuss unterm Mistelzweig

MIRA® TASCHENBUCH



MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgaben:

Angel Baby

Copyright © 1998 by Lisa Jackson

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Figgy Pudding

Copyright © 1997 by Penny Jordan

erschienen bei: Mills and Boon Ltd., London

Guess Who’s Coming For Christmas?

Copyright © 2002 by Cara Colter

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Meet Me Under The Mistletoe

Copyright © 2005 by Julianna Morris

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Marlequin Enterprises, Toronto

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Harlequin Books S.A.

ISBN eBook 978-3-956-49990-6

www.mira-taschenbuch.de

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Lisa Jackson

Ein Weihnachtsmärchen in Montana

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Sonja Sajlo-Lucich

PROLOG

Dezember

Minneapolis, Minnesota

I’m dreaming of a White Christmas …“

Über dem Klingen der Kristallgläser, dem perlenden Lachen und den angeregten Gesprächen auf der Feier in der Firmenzentrale der Fortune Corporation war die Stimme der Sängerin nur noch schwach zu hören.

Chase Fortune beobachtete das festliche Treiben mit zynisch verzogenem Mund. Er war hier so fehl am Platze wie ein Ackergaul in Churchill Downs auf dem Kentucky Derby, aber im Moment war das eben nicht zu ändern.

Er trank einen Schluck aus der langstieligen Champagnerflöte und wünschte, er wäre überall anders, nur nicht hier auf der Geburtstagsparty zum achtzigsten Geburtstag seiner Großtante Kate, mitten im Herzen Amerikas.

Ein gut sechs Meter hoher Weihnachtsbaum, geschmückt mit unzähligen funkelnden Lichtern und festlichen roten Seidenschleifen, stand in der Mitte des Saals, während die Eisstatue bei der Tür, ein Engel mit Harfe und Flügeln und Heiligenschein, langsam zu schmelzen begann. Angestellte glichen die Namen auf den Einladungskarten mit denen auf der Gästeliste ab.

Das Ganze war ein Witz.

Chase zerrte am Kragen seines Smokinghemds, das ihn einzuengen schien, und stürzte dann den Rest Champagner hinunter. In dem großen Raum mit der hohen Decke tummelten sich die Verwandten, die er schon sein ganzes Leben kannte. Sie hatten sich in Schale geworfen und teure Geschenke mitgebracht – die alle für einen wohltätigen Zweck gespendet werden würden –, um Kate Fortune, der couragierten, eleganten Matriarchin seiner Familie die Ehre zu erweisen.

Was würde er jetzt nicht für ein eiskaltes Bier, seine staubigen Cowboystiefel und eine volle, verqualmte Bar geben, in der man auf dem Fernseher das Basketballspiel schauen oder sich fluchend über die Rinderpreise ereifern konnte. Alles untermalt von Musik von Garth Brooks oder Waylon Jennings, die aus den Lautsprechern an der Wand ertönte.

Stattdessen war er hier in der Stadt, sah den Regen an den Fensterscheiben herunterlaufen und konnte die Abneigung seiner Schwester Delia förmlich bis hierher spüren. Schon vor Langem hatten sie sich entfremdet, und auch hier unternahm Delia eine ganz bewusste Anstrengung, ihm aus dem Weg zu gehen. Nicht, dass es ihn auch nur einen Deut stören würde.

„Happy Birthday to you …“

Damit gelang es der großen, gertenschlanken Sängerin in dem eng anliegenden goldenen Kleid, die auf dem dunklen Haar eine neckisch schief sitzende Nikolausmütze trug, endlich die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen. Die Menge fiel in den Song mit ein, und Kate Fortune, der man auf die leicht erhöhte Bühne geholfen hatte, lächelte der Menge aus ihren hellwach leuchtenden blauen Augen zu – trotz ihrer Lebensjahre, deren Anzahl sie eigentlich in die Gruppe der „Älteren“ katapultiert hatte. Rüstig und elegant, wie sie war, lachte sie herzlich, als das Lied verklang, hielt eine kleine Rede und nahm Hände schüttelnd die Glückwünsche entgegen, umarmte Kinder und Enkel und aus welchen Nachzüglern auch immer ihre ausgedehnte Familie noch bestand.

Chase gehörte zu der letzten Kategorie. Während der Rest der Fortune-Familie wie eine Herde zusammenrückte, war er das mutterlose Kalb, der raubeinige Streuner. Freiheitsliebend und nicht bereit, konform mit dem zu gehen, was der Rest der Fortunes als das Beste ansah. Mit der Kosmetikfirma, Aktienpaketen, Unternehmenskonglomeraten und Firmenzusammenschlüssen konnte er nichts anfangen.

Und warum, zum Teufel, bin ich dann hier, wenn mich das alles nicht interessiert?

Er stellte das leere Glas auf einem silbernen Tablett ab, griff sich ein neues und stieß mit der Schulter eine der hohen Flügeltüren auf, die auf die überdachte Terrasse hinausführten. Die Luft war frisch und kalt, es roch nach Regen. Zwei Stockwerke tiefer fuhren Autos über die nassen Straßen und spritzten Pfützen auf. Das Brummen der Motoren war bis hier herauf zu hören, die Lichter der Stadt strahlten hell in der Dunkelheit, verliehen der Nacht eine festliche Atmosphäre. Unten an der Straßenecke läuteten ehrenamtliche Helfer mit Glocken und baten um Spenden.

„Habe ich doch richtig gesehen, dass du dich hier nach draußen verzogen hast.“

Überrascht wandte er sich um. Seine Großtante, eine Nerzstola um die Schultern, war nach draußen gekommen.

„Ich dachte mir schon, dass es da drinnen ein wenig zu eng für dich ist.“ Sie drehte den Kopf zur Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte, und schaute in den überfüllten Saal, wo die Party in vollem Gange war.

„Ein bisschen vielleicht schon, ja.“ Er lächelte seine Tante an. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kate.“

„In meinem Alter ist jeder Geburtstag ein besonderer Geburtstag, glaube mir“, erwiderte sie leise lachend. „Wer weiß? Es könnte ja der letzte sein.“

Das glaubte Chase keine Sekunde lang. Mit ihrer Lebensfreude und Energie würde sie wahrscheinlich noch die meisten ihrer Kinder und ein paar von ihren Enkeln überleben. „Das bezweifle ich.“

„So?“ Sie schritt zur Balustrade am Ende der Terrasse und blickte zu den Wolkenkratzern auf. Nieselregen fiel auf ihr Gesicht, sie blinzelte.

„Wie ist es dir gelungen, der Menge da drinnen zu entfliehen?“

„Oh, mit dem Alter erhält man auch gewisse Privilegien.“ Sie wandte sich zu ihm um. „Außerdem habe ich Sterling und Jake gesagt, dass ich nicht ständig behelligt werden will.“ Sterling Foster war Kates Mann und Anwalt, einer der wenigen, die wussten, dass Kate vor acht Jahren einen Flugzeugabsturz überlebt hatte, als jemand einen Anschlag auf sie verübt hatte. Jake war ihr ältester Sohn. „Außerdem wollte ich ein paar Minuten mit dir allein haben.“ Sie wurde ernst. „Ich habe dir nämlich ein Angebot zu unterbreiten.“

„Hört sich irgendwie riskant an“, witzelte er.

„Möglich.“ Wieder lachte sie leise. „Du hast den gleichen Humor wie dein Vater.“

„Mir ist nie aufgefallen, dass er Sinn für Humor hätte.“ Chase hatte nicht vor, in die Falle zu tappen und sich einreden zu lassen, er hätte auch nur die geringste Ähnlichkeit mit seinem alten Herrn. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Zeke Fortune alles gehabt – eine liebevolle Ehefrau, Kinder, die zu ihm aufschauten, ein gut gefülltes Konto und die verdammt beste Ranch in ganz West-Montana. Doch irgendwie war es ihm durch ein Zusammentreffen von schlechtem Timing, schlichtem Pech und einem wirklich miserablen Urteilsvermögen tatsächlich gelungen, sich all dies nehmen zu lassen. Und wenn Chase eines in seinem Leben nie wieder sein würde, dann ein Verlierer. Er hatte bereits genug verloren, mehr, als die anderen ahnten.

„Oh, Zeke besaß sogar einen ganz wunderbaren Humor.“ Kate seufzte bedrückt. „Aber dann hat das Leben ihm den Humor geraubt. Lass nicht zu, dass dir das Gleiche widerfährt, Chase.“

Es behagte ihm nicht, an seinen alten Herrn zu denken – oder an seine ganz persönliche Hölle. „Du erwähntest etwas von einem Angebot.“

„Mmm.“ Mit beiden Händen stützte sie sich auf die Balustradenmauer. Es schien ihr nichts auszumachen, dass der Wind an ihrer Frisur zerrte. „Eigentlich ist es ein ganz gradliniger Handel. Du weißt doch, dass ich vor ein paar Jahren schon für tot gehalten wurde. Und da jeder dachte, ich wäre bereits in die himmlischen Gefilde im Jenseits aufgefahren, hielt ich es für den passenden Zeitpunkt, die Erbanteile unter den Familienmitgliedern zu verteilen.“

Chase nickte. „Ja, ich erinnere mich noch.“

„Ich finde, es hat sich gut gefügt“, meinte sie nachdenklich. „Zum Beispiel habe ich meinem Enkel Kyle, wenn du dich entsinnst, eine ziemlich große Ranch in Wyoming überlassen. Natürlich gab es dabei einen Haken – er musste ein halbes Jahr auf der Ranch leben, bevor sie ihm richtig gehörte. Ich bin sicher, dass er mich mehr als ein Mal heimlich verflucht hat. Immerhin ist er ein Stadtmensch, und ich habe ihn damit gezwungen, seinen Lebensstil zu ändern. Doch es hat funktioniert.“

Ja, Chase konnte sich noch gut erinnern, und wenn er ehrlich war, dann musste er zugeben, dass der Neid damals an ihm genagt hatte, nachdem er gehört hatte, dass sein Playboy-Verwandter die riesige Ranch geerbt hatte. Allerdings hatte er damals eigene Probleme um die Ohren gehabt. Um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, gab er sich ungerührt und schob die Hände in die Hosentaschen. „Und was hat das jetzt alles mit mir zu tun?“

„Ich möchte dir etwas Ähnliches vorschlagen.“

Die Muskeln in seinem Nacken verspannten sich unwillkürlich, wie immer, wenn er ahnte, dass Ärger aufzog. „Was ist das für eine Art Vorschlag?“ Er selbst konnte das Misstrauen in seiner Stimme wahrnehmen.

„Sieh mich nicht so finster an, es gibt keinen Haken. Vertrau mir. Ich habe da eine neue Ranch in West-Montana, eine, die leider erhebliche Hilfe braucht, um wieder auf die Beine zu kommen.“ Sie rieb die Hände aneinander, massierte sich die Fingerknöchel. „Es versteht sich wohl von selbst, dass ich nicht mehr in der Lage bin, das selbst zu übernehmen, und du bist derjenige in der Familie, dem es wohl am ehesten gelingen kann. Erstens fällt das in dein Metier, und, wie der Zufall es will, liegt sie gleich bei dir um die Ecke.“

Chase glaubte nicht an Zufälle, aber das würde er jetzt nicht erwähnen.

„Also, es schaut folgendermaßen aus, Chase … Du hast ein Jahr, um die Ranch aus den roten Zahlen herauszuholen, die sie schon länger schreibt, und endlich Gewinn einzufahren. Wenn du das bis nächstes Jahr Weihnachten schaffst, gehört die Ranch und alles, was damit zusammenhängt, dir. Falls nicht … nun, dann musst du die Sache eben aufgeben.“

Er traute seinen Ohren nicht. Doch Kate, verflucht sollte sie sein, musterte ihn mit der Intensität einer echten Fortune. Diese kleine drahtige Frau war hart wie Stahl und zäh wie Leder. Sie hatte ihm den Köder hingeworfen, wohl wissend, dass er sofort danach schnappen würde. „Ist das dein Ernst?“

„Es ist mir todernst.“

Skeptisch kniff er die Augen zusammen, aber er konnte nicht den Hauch von Hintergedanken oder Täuschung in ihren Zügen erkennen – nur die Entschlossenheit, das Durchhaltevermögen und die Courage, die so typisch für die Einwohner von Minnesota war.

„Die Ranch wurde mir als Zahlung für alte Schulden überlassen. Und du, Chase, hast nun die Chance, sie zu deiner zu machen. Also, was hältst du davon?“

Er wollte antworten, doch in diesem Moment wurden die Flügeltüren von innen geöffnet. Eine Frau, das blonde Haar zu einem französischen Zopf geflochten, mit hellblauen Augen und ernster Miene, sah Kate eindringlich an. „Entschuldigen Sie die Störung, Miss Fortune, aber da sind ein paar Reporter, die mit Ihnen zu sprechen wünschen.“

Seufzend strich sich Kate mit der Hand über die Haare. „Ich komme gleich, Kelly. Meinen Großneffen Chase kennen Sie noch nicht, oder? Chase, das ist Kelly Sinclair, meine persönliche Sekretärin und Mädchen für alles.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, meinte Kelly verhalten lächelnd.

„Ebenfalls.“

Kate schlang sich die Pelzstola enger um die Schultern. „Ich komme gleich. Ich brauche nur noch ein paar Minuten.“

„Natürlich. So lange halte ich sie hin.“ Kelly zwinkerte Kate zu, bevor sie sich wieder ins Innere des Saales zurückzog.

Kate wandte sich wieder Chase zu. Trotz der Falten um Mund und Augen war sie noch immer eine faszinierende Frau. Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. „Die Pflicht ruft, fürchte ich.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, musterte ihren Großneffen, als würde sie herausfinden wollen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Unten auf der Straße ertönte eine Hupe, und aus dem Saal drang die Melodie von „Silver Bells“ bis auf die Terrasse. „Nun, Chase, wie lautet deine Antwort? Haben wir eine Abmachung?“

Darüber brauchte er gar nicht lange nachzudenken. Sein ganzes Leben schon arbeitete er darauf hin, irgendwann seine eigene Ranch zu besitzen, und dieses Angebot hier, wenn es denn tatsächlich ernst gemeint war, bot ihm eine einmalige Chance. Zudem war das Timing perfekt, kam genau zu dem Zeitpunkt, an dem er sich am Scheideweg befand. „Und ob, Ma’am.“ Er dehnte die Worte betont. „Ich wäre ja schön dumm, ein solches Angebot auszuschlagen.“ Um seine Zelte abzubrechen und weiterzuziehen, brauchte er nie lange. Von Fesseln gleich welcher Art ließ er sich nicht halten.

„Gut.“ Sie wirkte erleichtert. „Sterling hat den Vertrag schon dabei. Ich hielt es für besser, wenn wir es offiziell machen.“

„Danke.“ Er streckte ihr die Hand hin.

„Danke mir nicht zu früh, Chase.“ Sie legte ihre Finger in seine Hand, das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. „Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest.“

Jetzt kommt’s. Es war ja auch zu schön, um wahr zu sein. Jetzt kommt das dicke Ende. Der Haken. „Nämlich?“

Sie nahm ihre Hand zurück und schritt auf die Tür zu, blieb noch einmal stehen und schaute ihn über ihre Schulter an, verlieh der ganzen Situation noch mehr Dramatik. „Bei dem Objekt handelt es sich um die alte Waterman-Ranch in Larkspur.“

Chases Magen verkrampfte sich. Er hielt sein leeres Glas so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervorstachen.

„Sie grenzt an …“

„Dads Land.“ Dutzende von alten Erinnerungen, lange verblichen, erwachten erneut. Heiße Sommertage beim Heuwenden. Der alte Traktor, der schwarze Abgaswolken in den strahlend blauen Himmel schickte. Seine Mutter, die immer darauf bestand, dass vor jedem Essen gebetet wurde. Gestärkte Hemden am Sonntag. Das Lachen seines Zwillingsbruders Chet, der an dem dicken Seil schaukelte, bevor er sich mit Triumphgeheul in den kalten Teich fallen ließ. Der verkrüppelte alte Hund mit dem struppigen grauen Fell, der auf den Namen Beau hörte. Chase hatte das Gefühl, Sand im Mund zu haben, als er die Bilder vor sich sah, wie alles Vertraute, auf das er sich verlassen hatte, und jeder Mensch, den er geliebt hatte, aus seinem Leben verschwunden war. Einschließlich seiner Frau und seinem Kind.

„Chase?“ Kate lächelte nicht mehr. Ernst sah sie zu ihm hin, während der Regen unablässig auf die Stadt fiel. „Wenn du meinst, dass es zu viel für dich ist …“

Sein Kopf ruckte hoch, fest schaute er sie an. „Ich mach’s“, sagte er sofort, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Er würde also mit einer ganzen Wagenladung von Erinnerungen fertigwerden und sich der Tatsache stellen müssen, dass jeder, dem er vertraut hatte, ihn im Stich gelassen hatte … na und?

Seit Jahren wollte er seine eigene Ranch haben. Die Möglichkeit haben zu beweisen, dass er es besser konnte als sein alter Herr. Dass er, Chase Fortune, es allein schaffte. Er brauchte sich nicht auf seinen Familiennamen zu verlassen, um Erfolg zu haben. Kates Angebot war eine einmalige Chance. Und überhaupt … was hatte er schon zu verlieren? Nichts. Absolut nichts.

Er hielt die Tür auf und begleitete Kate in den Saal zurück. „Zeig mir einfach, wo ich unterschreiben muss.“

1. KAPITEL

Der Schneesturm, der über uns hinwegfegt, wird der schlimmste seit zwanzig Jahren, und das will was heißen, schließlich haben wir mehr als unseren fairen Anteil an Schneestürmen gehabt, nicht wahr? Der Strom wird vorsorglich abgeschaltet werden, die Straßen ab Helena West sind gesperrt. Also bleibt zu Hause, Leute, setzt euch Heiligabend vor das knisternde Kaminfeuer, gönnt euch einen Festtagsdrink, und hört weiter unser …“

Rauschen verschluckte den Rest dessen, was immer der Moderator noch sagte. Ein paar schwache Töne eines Country-Weihnachtsliedes drangen noch durch, dann nichts mehr. Entnervt schaltete Chase das kleine batteriebetriebene Radio ab.

Na, dann fröhliche Weihnachten, dachte er sarkastisch. Immerhin war die Hütte warm und schien auch größtenteils wetterfest. Am einen Ende des kleinen Cottages verströmte ein Holzofen Wärme aus der Kochnische, während das Feuer in dem aus Flusssteinen gemauerten offenen Kamin den Wohnraum beheizte. Außer ein paar Rissen in den Stämmen der Blockhüttenwände und einigen fehlenden Schindeln auf dem Dach war sein neues Heim am Fuße der Bitterroot Mountains so weit ganz gemütlich. Sturmlampen standen auf dem Kaminsims, und das Hirschgeweih über der Tür hatte er mit Tannen- und Mistelzweigen dekoriert. Das war Chases einziges Zugeständnis an die festliche Jahreszeit.

Sein Hund, ein nicht mehr ganz junger Mischling, dessen einst schwarze Schnurrbarthaare inzwischen grau geworden waren, hob auf Chases Rufen den Kopf.

„Komm, lass uns gehen, Rambo.“ Chase zog Handschuhe und seine Daunenjacke über. „Füttern wir die Rinder, solange wir noch können.“

Ein Mal mit dem Schwanz auf den Boden geklopft, ein leises „Wuff“ als Antwort, dann richtete der alte Hund sich auf seine arthritischen Pfoten auf.

Auf der hinteren Veranda zog Chase seine schweren Arbeitsstiefel an, setzte sich den Hut auf den Kopf, griff nach der Schaufel und lief in Richtung Scheune. Die seine Scheune werden würde, wenn es ihm innerhalb des nächsten Jahres gelang, die heruntergewirtschaftete Ranch in Montana in ein profitables Unternehmen zu verwandeln. Rambo rannte voraus, während der Schnee unablässig fiel. Eisige Flocken stachen in Chases Wangen, legten sich über Landschaft und Gebäude. Chase sorgte sich. Der Großteil seiner besten Tiere war sicher in den Stallungen und auf den Weiden in der Nähe des Wohnhauses untergebracht. Doch es gab noch genügend Vieh, das sich irgendwo auf dem zwanzigtausend Hektar umfassenden Land herumtrieb, welches sich bis in die umliegenden Hügel hinauf erstreckte bis hinunter zur Nachbarranch, auf der er aufgewachsen war. Mit zusammengekniffenen Augen sah er Richtung Norden, ob er das Haus der angrenzenden Ranch vielleicht durch den Schneesturm würde sehen können. Unmöglich. Er konnte ja kaum die Hand vor den Augen erkennen, geschweige denn ein Gebäude, das eine gute Viertelmeile entfernt war.

Durch den knietiefen Schnee bahnte er sich seinen Weg zum Stall. Eiszapfen hingen von den Regenrinnen, und das alte Rolltor war fast schon festgefroren.

Die Tiere im Stall waren unruhig. Im Licht der mit Notstrom betriebenen großen Lampe verteilte Chase Heu und Futter in die Krippen, füllte dann die Wassertröge nach. Zum Glück waren die Wasserrohre anständig isoliert gewesen, und er ließ die Wasserzufuhr so weit aufgedreht, dass es konstant tröpfelte, um ein Einfrieren zu verhindern.

Vom Stall aus stapfte er zu dem Unterstand weiter, ein riesiges Dach auf Holzpfählen, die einem Teil der Herde draußen Unterschlupf bot. Danach machte er sich mit Rambo an seiner Seite auf zu dem Stall, in dem die wenigen Pferde untergebracht waren. Der Geruch nach Hafer, Staub und Pferden begrüßte ihn, sobald er das Tor aufstieß. Die Tiere in ihren Boxen tänzelten und schnaubten, stellten die Ohren auf und beobachteten ihn neugierig mit schimmernden großen Augen, während er Heu verteilte.

Als er die letzte Schippe Hafer in die Tröge gab, trottete Rambo zum Tor und bellte leise. Der alte Hund stellte die Ohren auf und begann winselnd an der Tür zu kratzen.

„Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?“ Chase streifte sich die Handschuhe über, zog die Stalltür auf und starrte in die Dämmerung. Außer dem stetig fallenden Schnee war nichts zu erkennen. „Da ist doch nichts“, sagte er schon, aber dann bemerkte er doch etwas Ungewöhnliches – ein anhaltendes lautes Hupen. Angestrengt blickte er hinaus und sah dennoch bloß wirbelnde Schneeflocken. Und das Hupen war noch immer zu hören.

„Na großartig“, stieß er knurrend hervor. Genau das, was er jetzt nicht gebrauchen konnte. Sicher, sein Pick-up hatte Allradantrieb, aber die Reifen waren komplett abgefahren, und die Gangschaltung hakte. Er glaubte kaum, dass er mit dem Wagen bei diesem Schnee weit kommen würde. Zu Pferd allerdings konnte er es schaffen. Er ging in den Stall zurück, um das größte Pferd der Ranch zu satteln. Öfter als Zugtier gebraucht, war der sandfarbene Wallach stark und sicher auf den Hufen, wenn auch nicht so schnell wie die Quarter Horses, dafür jedoch zuverlässig. „Komm, Ulysses.“ Chase nahm das Zaumzeug von dem Nagel an der Wand. „Scheint so, als gäbe es Arbeit für uns beide zu erledigen.“ Er warf eine Decke über den Rücken des Tieres, hob dann den Sattel darauf und schnallte ihn fest. Danach führte er Ulysses nach draußen. „Du bleibst hier“, befahl er Rambo, aber der Hund ignorierte ihn. Und schon stampfte der Wallach durch den hohen Schnee, mit dem alten Hund auf den Fersen, der praktisch springen musste, um mithalten zu können. Alles in allem ein ausgemachtes Desaster.

Noch immer plärrte die Hupe, und der Krach wurde lauter, je weiter Ulysses sich durch den Schnee auf die Hauptstraße zuschob. An den Bäumen, die die Auffahrt zu dieser heruntergekommenen Ranch säumten, konnte Chase bestimmen, wo genau er sich befand. Kate Fortune hatte nicht übertrieben – es würde schon ein Wunder nötig sein, wenn die Ranch bis zum nächsten Weihnachtsfest wieder laufen sollte.

Der Wallach schnaubte, als ein schwarzer Hügel in der ansonsten weißen Landschaft in Sicht kam. Chase fragte sich, welcher Trottel bei diesem Wetter eine Sonntagsspritztour machte, sowie er den Geländewagen deutlich erkennen konnte. Da hatte offensichtlich auch kein Allradantrieb mehr geholfen, das Auto war von der Straße gerutscht und steckte jetzt bis zur Achse im Graben fest.

Der Schnee hatte bereits die Fenster verdeckt. Chase stieg vom Pferd und klopfte mit der Faust an das Seitenfenster. Abrupt wurde das Hupen eingestellt.

„Hallo? Ist da jemand?“, erklang eine weibliche Stimme.

Also eine Frau. Natürlich, war ja klar. „Ja.“ Chase zerrte an der Beifahrertür. Mit einem Ächzen ging sie auf. Die Innenbeleuchtung flammte auf, und Chase starrte auf die Frau auf dem Fahrersitz – die kaum hinter das Lenkrad passte, weil sie hochschwanger war.

„Dem Himmel sei Dank.“ Grüne Augen sahen maßlos erleichtert zu Chase hin. Die Wangen der Frau waren rosig, ihre Lippen hatte sie besorgt zusammengepresst. „Ich hatte schon befürchtet … Ich meine … ooh …“ Sie senkte die Lider und krallte die Finger so fest um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Trotz der eisigen Kälte liefen ihr die Schweißtropfen an den Schläfen herab. Geräuschvoll stieß sie die Luft aus. „Nur gut, dass Sarah bei mir ist.“

„Sarah?“ Chase schaute in den Wagen. Soweit er das erkennen konnte, war die Frau allein. Auf der Rückbank standen nur eine Plastiktüte und eine Reisetasche, auf jeden Fall gab es hier keine andere Person. „Wer ist Sarah, und wo ist sie?“

„Hier. Zumindest war sie hier.“

„Sie sind allein in dem Jeep.“

„Doch, sie war hier. Ich glaube, sie … nein, ich weiß es … sie ist mein Schutzengel.“

„Aha“, meinte er spöttisch. Die Frau nahm ihn auf den Arm. Oder sie halluzinierte.

„Sie hat Sie zu mir geführt.“

Das konnte sie nicht ernst meinen, oder? Es sei denn, sie gehörte in die Psychiatrie. „Sicher. Wenn sie auf die Hupe gedrückt hat …“

„Nein …“, die Frau schüttelte den Kopf, und in der Dunkelheit leuchteten feuerrote Locken auf, „… das war ich.“ Verwirrt zog sie die perfekt geschwungenen Augenbrauen zusammen. „Denke ich zumindest …“

Die Frau war definitiv desorientiert. „Machen Sie sich deswegen jetzt keine Sorgen. Erst einmal müssen wir Sie aus dem Auto herausholen.“

„Doch, Sarah war hier. Bei mir.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als würde sie sich ebenfalls um ihren Geisteszustand sorgen. „Ich meine, das glaube ich … oh, aber vielleicht auch nicht …“

„Sie sollten jetzt wirklich besser aus diesem Wagen herauskommen.“

Sie schnappte nach Luft und begann laut zu atmen. Großer Gott, sie war schwanger und scheinbar in den Wehen! Sein Herzschlag stockte. Erinnerungen, so lebendig und klar, als wäre es gestern gewesen, stürzten auf ihn ein. Emily, seine Frau, die Liebe seines Lebens … Er biss so hart die Zähne zusammen, dass es wehtat.

„Warten Sie … geben Sie mir eine Minute.“

Chase wurde in die Gegenwart zurückgerissen. Die Frau hielt sich wieder am Lenkrad fest, und er konnte nur denken, dass, wenn wirklich ein Schutzengel bei ihr gewesen war, es dann höchste Zeit wurde, dass der wieder auftauchte und seine Aufgabe erledigte. Die Wehen folgten bereits viel zu schnell aufeinander.

„Entschuldigen Sie“, meinte sie, nachdem der Schmerz endlich nachgelassen hatte. Mit einer bebenden Hand wischte sie sich über den Mund und bemühte sich, tapfer zu wirken. „Ich war auf dem Weg ins Krankenhaus. Das Baby hat sich offensichtlich dazu entschieden, ein paar Wochen früher zu kommen als geplant. Der Schneesturm wurde immer schlimmer, und dann sprang mir auch noch ein Hirsch vor das Auto, und ich trat auf die Bremse und dann … Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern …“

„Ist jetzt auch nicht wichtig. Ich helfe Ihnen da raus, und dann bringe ich Sie zum Haus zurück.“ Er schaute ihr direkt in die verängstigt blickenden Augen. „Alles andere werden wir dann sehen.“

„Aber …“

„Hören Sie, Lady, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte … wir stecken mitten in dem heftigsten Schneesturm seit Jahren. Ich habe unzähligen Fohlen und Kälbern auf die Welt geholfen, glauben Sie mir. Und jetzt sollten wir uns wirklich in Bewegung setzen.“ Zum Debattieren war keine Zeit. Er half ihr dabei, über den Beifahrersitz nach draußen zu klettern, und sah sie zusammenzucken, als sie sich hinstellen wollte.

Sie schnappte nach Luft.

„Ist etwas mit Ihren Beinen?“

„Mein Knöchel. Ich muss ihn mir verstaucht haben. Oh Gott.“

„Kommen Sie, ich hebe Sie hoch auf Ulysses.“

„Ich weiß nicht, ob ich reiten …“ Als ihr klar wurde, dass es keine andere Möglichkeit gab, um zum Haus zurückzukommen, verstummte sie, biss die Zähne zusammen und ließ sich von Chase in den Sattel helfen.

„Sie haben recht, wir sollten uns beeilen“, sagte sie, und Chase fragte sich, wie lange sie das durchhalten würde – rittlings im Sattel auf Ulysses’ breitem Rücken, mitten in den Wehen. Den Kopf gegen den Schnee eingezogen, holte er ihre Reisetasche aus dem Wagen, nahm die Zügel in die Hand und stapfte die Schneise durch den Schnee zurück, die der große Wallach bereits freigetreten hatte.

Zweimal schrie die Frau auf und klammerte sich fest an den Sattelknauf, ihr Gesicht wurde so weiß wie die umliegenden Felder. Chase hielt beide Male an und wartete, bis die Wehen wieder nachließen. Er fragte sich, was um alles in der Welt er mit ihr tun sollte. Aber viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, und als das Ranchhaus in Sicht kam, verspürte er eine Mischung aus Erleichterung und nervöser Aufregung.

„Kommen Sie.“ Er hob sie vom Pferd und trug sie nach drinnen. Er hielt sich gar nicht erst damit auf, sich die Stiefel auszuziehen oder den Schnee von der Jacke zu schütteln, sondern brachte sie, ohne auf ihren Protest zu achten, direkt in sein Schlafzimmer.

„Aber ich kann doch nicht …“

„Sie haben wohl keine große Wahl.“

„Das ist doch Ihr Zimmer …“

„Und jetzt ist es Ihres.“ Behutsam legte er sie auf dem alten Himmelbett ab, das er mitgenommen hatte. Es war das Bett, das er mit Emily geteilt hatte. Das Bett, in dem ihr eigenes Kind gezeugt worden war. Das Bett, in dem sie geschlafen hatte, bis sie … „Ich bin gleich zurück“, erklärte er, die Stimme rau vor Emotionen. Die Erinnerungen an seine Ehefrau drängte er zurück in die hinterste Ecke seines Kopfes, dorthin, wo sie hingehörten. „Ich muss erst das Pferd in den Stall bringen. Rambo wird Ihnen solange Gesellschaft leisten.“ Mit einem Finger der behandschuhten Hand zeigte er auf den zitternden nassen Hund. „Sitz!“, befahl er und verließ den Raum.

Lesley war allein in dem fremden Schlafzimmer, nur mit einem uralten Hund, und sie wartete tatsächlich auf die Rückkehr eines Mannes, den sie nicht kannte, damit er ihr dabei half, ihr Kind auf die Welt zu bringen.

„Es ist nicht zu fassen“, murmelte Lesley vor sich hin. Das Letzte, was sie wollte, wirklich das Allerletzte, war es, von einem Mann abhängig zu sein. Das galt für jeden Mann, vor allem aber für einen Fremden. Doch sie hatte keine andere Wahl.

Du kannst wirklich dankbar sein, meldete sich eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Vor ein paar Tagen stand dieses Haus noch leer, und wenn dir das dann passiert wäre, wie hätte es dann für dich ausgesehen? Was wäre mit dem Baby passiert? Seufzend strich sie sich über den runden Bauch. Unter solchen Umständen sollte eine Frau ihr erstes Kind nicht kriegen. Aber die nächste Wehe rollte heran, und sie schloss die Augen, krallte die Finger in die wollene Tagesdecke, die auf dem Bett des Fremden lag. Der Schmerz schoss durch sie hindurch. Mühsam unterdrückte sie einen Schrei, schließlich erinnerte sie sich wieder an die Atemübungen. Sie fixierte einen Punkt auf der weißen Wand, es war das Schwarz-Weiß-Foto einer fünfköpfigen Familie, das über der Kommode hing. Die Wehe ließ nach, und Lesley sackte matt zusammen.

Wer war der Mann, der sie gefunden hatte? Wenn die Gerüchte stimmten, die in den Cafés, der Kirche und den Bars in der Stadt kursierten, dann musste er wohl zu der großen Fortune-Familie gehören. In der ganzen Stadt wurde nämlich gemunkelt, dass Kate Fortune, die Matriarchin der weit verzweigten und sehr vermögenden Fortune-Familie, die alte Waterman-Ranch als Zahlung für irgendwelche alten Schulden akzeptiert hatte. Man hatte angenommen, dass sie die Ranch sofort verkaufen und den Erlös einstecken würde, doch Lesley war da jetzt gar nicht mehr so sicher. Dieser große Mann, der sie gerettet hatte, strahlte die Arroganz und das Selbstbewusstsein aus, die der gesamten Familie angeblich angeboren sein sollten. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie und wo dieser schweigsame raue Cowboy in diese Dynastie passen sollte, die sich aus den Kindern und Enkelkindern von Kate und ihrem verstorbenen Mann Ben zusammensetzte und zu dem Models ebenso wie Piloten, Schriftsteller und Anwälte, Mediziner und Rancher gehörten. Außerdem war da noch mehr an ihm – etwas Gequältes, das er zu verbergen suchte.

Die nächste Wehe meldete sich an, und für die folgenden Sekunden hielt der Schmerz sie fest in seinem Griff. Lesley schloss die Augen, atmete flach und schnell. Vorerst war sie nicht in der Lage, noch weiter Gedanken über die Fortune-Familie oder ihren neuen Nachbarn nachzuhängen.

Das Leben wird definitiv nicht einfacher, entschied Chase, während er den Wallach mit einer Extraportion Hafer belohnte. Der Wind pfiff durch die verwitterten Stallwände. Die Holzbretter waren über siebzig Jahre alt, sie hatten ihren Dienst getan. Die eisige Kälte drang durch Astlöcher und Spalten ins Innere.

Wer wohl die Frau war, die sich jetzt in seinem Bett befand? Und wo war ihr Mann, der Vater des Kindes, dessen Geburt bevorstand? Auf weitere Komplikationen konnte Chase wirklich verzichten, aber diese schwangere Frau gehörte ganz gewiss in diese Kategorie. Das … und noch mehr. Er verriegelte das Tor hinter sich und stapfte durch den Schnee zum Haus zurück. Auf der hinteren Veranda zog er die Stiefel von den Füßen und hängte seinen Hut auf einen Nagel.

Im Haus schlüpfte er aus der Jacke und legte sie über die Lehne des Sessels, der vor dem Feuer stand. Danach ging er nach der Frau sehen. Sie ruhte auf dem Bett, ihr Mantel und Schal lagen auf dem Boden. Die Feuchtigkeit hatte das rote Haar dunkler werden lassen, es umrahmte ihren Kopf wie eine Wolke. Für einen Moment zog sich alles in Chase zusammen. Es war lange her, seit eine Frau in seinem Bett gelegen hatte, nicht mehr seit Emily. Ihre Reisetasche stand auf dem Schreibtisch, der offene Reißverschluss gab den Blick frei auf ordentlich gefaltete Anziehsachen für Mutter und Kind.

Ein altvertrauter Schmerz zerrte an seinem Herzen, als er an seinen eigenen Sohn dachte. Gesund geboren, so hatte man ihnen zumindest versichert, war der Junge dennoch vor seinem ersten Geburtstag gestorben.

„Hi“, grüßte die Frau ihn matt, und der Eispanzer um sein Herz bekam plötzlich einen Riss. Sie war so blass, wirkte so erschöpft.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte er.

„Sie meinen, im Vergleich zu sonst?“ Sie lächelte schwach, verfolgte argwöhnisch mit, wie er auf das Bett zuschritt.

Na, immerhin hatte sie Sinn für Humor. „Ich bin Chase Fortune.“

„Ich dachte mir schon, dass Sie irgendwie mit Kate zu tun haben müssen.“ Sie zupfte die Decke über ihren Bauch zurecht.

„Ihr Großneffe.“

„Ich bin Lesley Bastian.“

Bastian. Sie war also irgendwie mit dem Mann verwandt, der die Ranch seines Vaters aufgekauft hatte.

„Ich wohne direkt nebenan. Von hier aus in nördlicher Richtung.“

Sein Nacken verspannte sich. Sie lebte also in dem alten Ranchhaus, das er als Kind sein Zuhause genannt hatte. Na, wenn das nicht absolut perfekt war! Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. War sie Aaron Bastians Tochter? Seine viel jüngere Schwester? Oder etwa … Ein Schauer, so kalt wie der Dezemberfrost, fuhr in seine Seele. Sie konnte unmöglich mit ihm verheiratet sein. Aaron war doch viel zu alt für sie. Oder?

„Die Telefonleitungen sind zusammengebrochen. Ich kann also niemanden anrufen, um Bescheid zu sagen, dass Sie hier sind. Strom gibt es auch keinen mehr.“

Sie nickte, schnappte nach Luft. „Ich weiß.“

„Sie haben sich wirklich den unmöglichsten Zeitpunkt für eine Geburt ausgesucht.“

„Ich habe mir gar nichts ausgesucht.“

„Hat Ihr Mann wenigstens eine Ahnung, wo Sie sind?“

„Ich habe keinen Mann. Oh … oh … großer Gott.“ Hektisch richtete sie die grünen Augen auf ihn. „Ich glaube, es ist so weit. Sicher bin ich mir nicht, ich … oh … Es ist mein Erstes.“ Sie stöhnte laut, und Chase hielt ihre Hand. Ihre Finger waren so schmal und hell im Vergleich zu seinen, aber sie drückte seine Hand so fest, dass er befürchtete, sie würde ihm die Finger brechen.

Als die Wehe nachließ, richtete er sich wieder auf, ignorierte die Welle von Emotionen, die ihn drohte zu überwältigen. „Halten Sie noch ein paar Minuten durch, okay? Ich hole Handtücher, heißes Wasser, Desinfektionsmittel und noch ein paar andere Dinge. Ich bin gleich wieder da.“

Sie erhob keine Einwände, sah völlig mitgenommen aus.

Chase eilte ins Bad. Ihr Stöhnen drang bis zu ihm. Der Abstand zwischen den Wehen wurde immer kürzer. Er krempelte sich die Hemdsärmel auf und wusch sich gründlich die Hände. Während er sich die Hände abtrocknete, betrachtete er sich selbst in dem beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken. Harte graue Augen starrten ihm aus einem Gesicht entgegen, in das sich die ersten Falten eingegraben hatten, von zu viel Zeit draußen in der Sonne und zu vielen sorgenvollen und schlaflosen Nächten. „Du kannst das“, sprach er sich Mut zu. Für Zweifel war so oder so kein Platz.

Ein Kind war auf dem Weg in die Welt.

2. KAPITEL

Zwanzig Minuten später ertönte der kräftige laute Schrei eines Babys, eines kleinen Mädchens mit rotem Gesicht und schwarzem Schopf, in der Hütte.

Chase wurde übermannt von Gefühlen, denen er sich nicht stellen wollte. Er erinnerte sich an den Kreißsaal im Krankenhaus, in dem sein Sohn geboren worden war. Das Ärzteteam hatte ihm versichert, dass mit dem kleinen Jungen alles in Ordnung sei. Sie hatten gelogen. Sie alle hatten gelogen.

Aber an all das konnte er jetzt nicht denken. Er tat sein Bestes, um Lesleys kleine Tochter sicher zu halten. Die Nabelschnur war bereits durchtrennt. Behutsam legte er Lesley das Kind in die Arme.

„Sie ist wunderschön.“ Er war sowohl überrascht als auch entsetzt, dass ihm tatsächlich ein Kloß in der Kehle saß.

„Das ist sie.“ Lesleys Stimme klang heiser. Tränen schimmerten in ihren Augen. „Oh ja, das ist sie.“

Für einen Moment wandte Chase den Blick ab, ballte die Fäuste, damit das Zittern seiner Hände nicht zu offensichtlich wurde. Sein Herz hämmerte wie wild, in seinem Kopf pochte es dumpf, als alte Wunden wieder aufbrachen. Er ertrug es nicht, Lesley mit ihrem Baby auf dem Arm in seinem Bett zu sehen, mit dem Rücken in die Kissen gelehnt. Der kleine Raum war erfüllt von dem Geruch und den Geräuschen von Mutter und Kind. Lesley summte leise, die Schmerzen, vorhin noch so schrecklich intensiv, längst vergessen. Unauffällig verschwand er aus seinem eigenen Schlafzimmer und sagte sich, dass er sich nur zurückzog, damit Lesley und das Baby Zeit hatten, eine Bindung aufzubauen, oder wie immer man das heutzutage nannte. Nein, dass die Szene ihn daran erinnerte, wie Emily in dem Krankenhausbett ihren Sohn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, war bestimmt nicht der Grund.

„Komm endlich darüber hinweg, Fortune“, ermahnte er sich. Im Bad wusch er sich Hände, Arme und Gesicht und riss sich bewusst zusammen. Emily und Ryan waren nicht mehr hier. Punkt, aus, Ende der Geschichte.

Auf dem Weg zur Küche lief er an der offen stehenden Schlafzimmertür vorbei. Ein kleiner Raum, eigentlich nur die abgeteilte Ecke eines größeren Zimmers, aber er brauchte ja auch nicht viel Platz. Er hatte vor, den Rest seines Lebens allein zu verbringen. Hier. Auf diesem Land. Falls er es schaffen sollte, die Ranch innerhalb eines Jahres auf Vordermann zu bringen.

Jetzt allerdings sollte er seinem unerwarteten Gast etwas zu essen anbieten. Dinner am Heiligabend. Die Ironie des Ganzen ließ ihn verbittert lächeln. Seit Jahren schon hatte er Weihnachten mit niemandem mehr verbracht. Er war zu dem Schluss gekommen, dass der ganze Trubel und die Feierlichkeiten eindeutig überbewertet wurden.

Eigentlich hatte er vorgehabt, heute Abend eine von diesen gefrorenen Fleischpasteten zu essen. Er hatte sie auf dem Holzofen zubereiten wollen. Mit Weihnachtsgans, Truthahn oder selbst einem Schinken hatte er sich gar nicht weiter aufgehalten. Jetzt allerdings … Nun, da war ein gefrorenes Hühnchen, das im Lagerraum langsam auftaute. Das würde eben reichen müssen. Zusammen mit Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren legte er das Hühnchen in eine Kasserolle. Eine Prise Salz, etwas Pfeffer, und er schob das Essen in den Ofen. Gestern hatte er noch Fertigbrötchen gebacken. Die würde er oben auf dem Holzofen auftoasten.

„Das wird ein verdammtes Festessen“, murmelte er Rambo zu, der sich auf einer Flechtmatte unter dem Tisch niedergelassen hatte und Chase mit treuen Augen anbettelte, in der Hoffnung, dass etwas für ihn abfallen würde.

„Nachher.“ Chase setzte seinen Hut auf, zog Stiefel, Jacke und Handschuhe an und brachte noch mehr Holz von draußen herein, um das Feuer im Kamin zu schüren. Befriedigt, dass genug Holz für die Nacht im Haus war, ging er wieder hinaus, da er noch einmal nach den Tieren sehen wollte. Angestrengt, aber erfolglos versuchte er, in dem Schneegestöber etwas zu erkennen. Er konnte nur hoffen, dass auch die Letzten der Streuner es zumindest bis zum Unterstand geschafft hatten. Doch als er nachzählte, fehlten noch immer zwanzig oder dreißig Stück Vieh. „Na bestens“, sagte er auf dem Weg zur Hütte vor sich hin. Ein lausiger Start für dieses eine Jahr, in dem er die Ranch aus den roten Zahlen holen wollte.

Im Haus empfing ihn der Duft von gebratenem Hühnchen, vermischt mit dem Geruch von brennendem Holz und Kerosin. Er schaltete das Radio ein, hörte sich den deprimierenden Wetterbericht an und schritt, begleitet von einer mit statischem Rauschen untermalten Version von „O Come All Ye Faithful“, zum Schlafzimmer. Lesley war wach. Irgendwie hatte sie es geschafft, während seiner Abwesenheit mit dem Eimer warmen Wassers, den er neben dem Bett hatte stehen lassen, dem Schwamm und den Handtüchern sich und das Baby zu waschen. Das kleine Mädchen trug jetzt einen weißen Strampler, der allerdings gut zwei Nummern zu groß war.

„Fröhliche Weihnachten.“

Lesleys Lächeln war ansteckend. Chase fragte sich, ob sie möglicherweise die hübscheste Frau war, die er je getroffen hatte, mit ihren silbergrünen Augen und dem leichten Überbiss.

„Fröhliche Weihnachten“, erwiderte er brummend.

„Ich möchte Ihnen Angela vorstellen.“

Für einen Moment fragte er sich, ob sie wieder halluzinierte, aber sie senkte den Kopf und schaute auf das schlafende Baby hinunter.

„Angela? So haben Sie sie genannt?“

„Angela Noel Chastina Bastian, um genau zu sein.“ Lesley errötete leicht. „Angela wegen des Engels …“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Noel, weil Weihnachten ist.“

„Dachte ich mir schon.“

„Und Chastina nach Ihnen, denn wenn Sie mich nicht rechtzeitig gefunden hätten, weiß ich nicht, was aus uns geworden wäre.“

„Daran sollten Sie jetzt nicht mehr denken“, erwiderte er und versuchte so, die gefährlich emotionsgeladene Stimmung in Schach zu halten, die sich in dem kleinen Raum ausbreiten wollte. Im Stillen ermahnte er sich, wachsam und vorsichtig zu bleiben. Es war so oder so schon eine außergewöhnliche Nacht, und ob nun freiwillig oder nicht … Lesley und er hatten gemeinsam die berauschende Erfahrung von Angelas Geburt durchlebt. „Vielleicht hätten Sie sie besser nach ihrem Dad nennen sollen.“

Lesleys Lächeln erstarb, und sie wandte den Blick ab. „Aaron hätte die Geste nicht zu schätzen gewusst.“

Sein Magen zog sich zusammen. Also war sie tatsächlich mit Aaron Bastian verheiratet oder war es gewesen. Bei der Vorstellung stieg Übelkeit in ihm auf. Doch hatte sie nicht gesagt, dass sie keinen Mann hatte? Waren sie geschieden? Gehörte ihr jetzt die Ranch?

Sie räusperte sich und nahm das Baby auf den anderen Arm. „Etwas riecht hier ganz wunderbar.“

„Wirklich?“

„Mmm.“ Als sie ihn anschaute, konnte er wieder diesen lebhaften Ausdruck in ihren Augen erkennen, der ihn zu faszinieren begann.

„Hoffen wir, dass es auch so schmeckt.“

„Erzählen Sie mir etwas von sich“, bat sie ihn.

Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht, und Chase fand die Geste enorm sexy, auch wenn er keine Ahnung hatte, weshalb das so war. Er wollte auch nicht genauer darüber nachdenken.

„Mehr, als dass Sie einer von Kates Großneffen sind, weiß ich nicht von Ihnen. Und davon gibt es einige.“

Er setzte sich auf den alten Schaukelstuhl, legte einen Fuß auf die Bettkante und warnte sich erneut in Gedanken, wachsam zu sein. Diese Frau, ob sie es ahnte oder nicht, weckte Gefühle in ihm, von denen er geglaubt hatte, dass sie schon lange gestorben waren. Für einen Moment überlegte er, ob er ihr sagen sollte, dass er auf dem Land aufgewachsen war, das jetzt ihr gehörte. Dass ihr Ehemann oder Ex den Besitz für einen Apfel und ein Ei gekauft hatte, nachdem Chases Vater die Ranch an den Rand des Bankrotts gewirtschaftet hatte. Aber wahrscheinlich wusste sie bereits bestens darüber Bescheid. Und außerdem … das war längst Vergangenheit … alte Geschichten. „Ich bin hier, weil ich eine Abmachung mit Kate getroffen habe“, erklärte er. „Um es mit einem viel zitierten Satz zu sagen – sie hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte.“ Er erzählte ihr von Kates Vorschlag, und während Lesley ihm zuhörte, rieb sie ihrer Tochter geistesabwesend über den schmalen Rücken. Eine Geste, bei der sich sein Magen verkrampfte, dennoch redete er weiter und schilderte, wie Kate ihn auf ihrer Geburtstagsfeier auf die Ranch angesprochen hatte.

„Ein Jahr ist nicht gerade viel Zeit, um hier etwas zu verändern.“ Nachdenklich hatte Lesley die Stirn gerunzelt.

„Ich hatte gerade nichts anderes vor. Auf drei Ranchs war ich Vormann – in Wyoming, Texas und zuletzt in West-Washington. Jetzt bin ich selbstständig.“ Davon, dass es schon immer sein Traum gewesen war, eine eigene Ranch zu besitzen, sagte er nichts. Aber von dem Moment an, da sein Dad die Ranch nebenan verloren hatte, war Chase entschlossen gewesen, einen eigenen Besitz zu finden und daraus ein Heim für sich zu machen. Was er ebenfalls nicht erwähnte, war die Tatsache, dass dieser Traum zusammen mit seinem Sohn gestorben war. „Doch jetzt sollte ich mir mal Ihren Knöchel anschauen.“

„Der ist in Ordnung“, behauptete sie, aber Chase hatte schon seinen Fuß vom Bett genommen und hob die Decke über ihren Füßen an. „Wirklich, Chase, Sie müssen nicht …“

„Schh.“ Er warf ihr einen Blick zu, der gleichzeitig milde und streng war, der sie allerdings deutlich warnte, den Mund zu halten. Zwar ärgerte sie sich darüber – wer glaubte er denn, wer er war, sie so einfach herumzukommandieren? –, aber seine Sorge rührte sie auch. Mit schwieligen Händen befühlte und untersuchte er behutsam ihren Fuß, ihre Ferse, ihren Knöchel, die Berührung sanft, fast sinnlich. Wie albern. Sie kannte den Mann doch kaum. Er war eben einfach nur vorsichtig.

Und genauso vorsichtig bewegte er ihren Fuß. Glühender Schmerz schoss ihr Bein hinauf.

„Au!“

„Das tut weh?“

„Und wie!“

Er zog die Brauen zusammen und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Entweder die Bänder sind überdehnt, oder aber Sie haben sich den Knöchel gebrochen.“

„Nein …“

„Das muss geröntgt werden.“

Lesley verließ der Mut. „Das wird schon wieder.“ Sie weigerte sich, Zweifel an den eigenen Worten zuzulassen. Sie konnte es sich nicht leisten, krank zu sein. Sie war eine alleinstehende Frau, jetzt mit einem Baby, um das sie sich kümmern musste. Sie konnte jetzt nicht ausfallen. Durfte es nicht und würde es auch nicht.

„Ich hole Ihnen ein Aspirin.“ Er sah sie für einen Moment stumm an, und ihr Herz machte einen dummen kleinen Hüpfer. Der Mann war auf eine raue Art attraktiv. Groß, schlank und drahtig, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er trug ausgewaschene Jeans, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten, einen dicken Wollpullover, und in seinem Gesicht stand ein Ausdruck, der zwischen mitfühlender Sorge und verärgertem Unmut schwankte. Seine stahlgrauen Augen schienen Geheimnisse zu bergen, die sie vermutlich nicht einmal erahnen konnte. Lesley war sich ziemlich sicher, dass sie hier einen Einzelgänger vor sich hatte, der Störungen in seinem Leben nur ungern hinnahm, ein Mann, der mit seinen höchsteigenen Dämonen zu kämpfen hatte.

Auf Socken lief er ins Bad und kehrte mit einem Glas Wasser und einer Schachtel Schmerztabletten zurück.

„Der Kaffee steht zum Warmhalten auf dem Ofen … Es gibt auch heißes Wasser, falls Sie etwas anderes trinken möchten. Irgendwo lassen sich bestimmt noch ein oder zwei Teebeutel in den Schränken auftreiben.“

„Danke, ich brauche nichts.“ Sie musste ein Gähnen unterdrücken. Verblüfft riss sie die Augen auf, da er die Decke erneut anhob und ein Kissen unter ihren Fuß schob.

„Der sollte hochgelegt werden. Ich gehe eben nach draußen und hole Schnee, um die Schwellung zu kühlen. Das hilft.“

„Sie brauchen sich keine solchen Umstände zu machen.“

„Doch, natürlich“, beschloss er entschieden und war schon verschwunden, um bald darauf mit einem Frischhaltebeutel voller Schnee zurückzukommen, den er auf ihren Knöchel legte. Sie schnappte nach Luft, sowie die Kälte durch ihre Haut drang. „Das wird helfen, glauben Sie mir“, versicherte er.

„Falls ich vorher keine Frostbeulen bekomme“, murrte sie und überraschte sich selbst, wie zickig sie klang. Aber es war ein langer harter Tag gewesen, und sosehr Chase Fortune sich auch um sie bemühte … es passte ihr nicht, gesagt zu bekommen, was sie zu tun hatte. Und außerdem tat ihr alles weh.

Nur einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem angedeuteten Lächeln, was sie ebenso irritierend wie extrem sexy fand. „Zum Essen wecke ich Sie.“

Essen. Das klang und roch himmlisch. Aber sie konnte nicht einfach hier in dem Bett dieses Mannes liegen, mit ihm speisen und erwarten, dass er sich um sie und ihre neugeborene Tochter kümmerte. Er war der Nachbar, ein Fremder. Ein Mann, den sie nicht kannte und dem sie nicht trauen sollte. Ein Mann, der seine eigenen Probleme hatte. Außerdem war es mehr als unangebracht, dass sie sich derart aufdrängte und ihm dann nachher verpflichtet war. Und was, zum Teufel, sollte das … zu denken, dass sein Lächeln sexy war? Das musste die Euphorie nach der Geburt sein, das Glücksgefühl, ihre Tochter in den Armen zu halten und zu wissen, dass das Baby gesund und in Sicherheit war.

„Hören Sie, Chase, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für alles, was Sie für mich und Angela getan haben. Ich weiß nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen kann. Aber ich will Ihnen nicht länger zur Last fallen. Ernsthaft, ich werde nach Hause gehen und …“

„Nein!“

Er stieß es so harsch aus, dass sie zusammenzuckte.

„Ich meine … das können Sie unmöglich ernst meinen“, sagte er leiser, doch jede Andeutung eines Lächelns war von seinem Gesicht verschwunden. „Vor weniger als sechs Stunden haben Sie ein Kind zur Welt gebracht, und scheinbar haben Sie noch immer nicht bemerkt, dass da draußen ein Schneesturm tobt. Ihr Wagen ist nicht fahrtüchtig, Sie haben sich Ihren Knöchel entweder verstaucht oder gebrochen. Sie haben keine Ahnung, wie kräftig Ihr Baby ist, und selbst falls Sie es bis zu Ihrem Haus schaffen sollten, was höchst unwahrscheinlich ist … Es gibt weder Strom noch Telefon. Das heißt, Sie können Ihr Heim weder beheizen noch jemanden zur Hilfe rufen, sollte es Probleme geben.“

„Sind Sie jetzt fertig mit Ihrem Vortrag?“, fragte sie scharf, obwohl sie genau wusste, dass er recht hatte.

„Für den Moment schon.“ Seine harten Züge entspannten sich ein wenig. „Bis Sie mit der nächsten hirnrissigen Idee aufwarten. Und jetzt ruhen Sie sich aus. So wie es aussieht, sitzen wir hier fest, bis der Sturm sich legt.“ Er blickte auf das schlafende Baby. „Nur wir drei zusammen.“

An dem Ausdruck in seinen grauen Augen konnte sie deutlich erkennen, dass er genauso unzufrieden mit der Situation war wie sie.

„Rufen Sie, wenn Sie irgendetwas brauchen.“ Chase drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Sein Hund jedoch ließ sich mit einem Schnaufen neben dem Bett nieder, als würde er Wache halten wollen. Der Lichtschein, der durch die offene Tür hereinfiel, spiegelte sich schimmernd in den traurigen dunklen Augen.

Nur wir drei zusammen. Die Worte hallten seltsam nach. Die letzten sechs Monate hatte Lesley sich daran gewöhnt, dass sie allein war – und sie hatte sich davon überzeugt, dass sie es gar nicht anders haben wollte. Eine alleinstehende Frau, die ihren Weg in einer Männerwelt ging. Sie war sicher gewesen, dass sie selbst nach der Geburt des Babys keinen Mann mehr in ihrem Leben haben wollte. Auf gar keinen Fall, unter keinen Umständen. Eine Ehe reichte ihr völlig.

Sie merkte, wie ihr die Lider immer schwerer wurden, und überließ sich dem Schlaf, hoffte, dass Ruhe das Pochen in ihrem Knöchel und den dumpfen Schmerz von der Geburt in ihrem Unterleib mildern würde. Bevor sie endgültig in den Schlaf glitt, nahm sie sich noch vor, Chase Fortune nicht allzu viele Umstände zu bereiten. Für den Moment würde sie seine Gastfreundschaft akzeptieren, weil ihr gar nichts anderes übrig blieb, und sobald sie wieder auf eigenen Füßen stehen konnte, würde sie eine Möglichkeit finden, um sich für seine Hilfe bei ihm zu revanchieren.

Als sie aufwachte, konnte sie Musik hören. Über dem Klappern von Töpfen, dem Knistern des Feuers und Angelas leisem Atmen schwebte die Melodie eines Weihnachtsliedes. „The First Noel, the Angels did say …“

„Fröhliche Weihnachten“, wisperte sie ihrem Baby sanft zu und überließ sich erneut dem Schlaf, während Bilder von ihrer neugeborenen Tochter, von Schutzengeln und einem raubeinigen Rancher ihren Kopf füllten.

„Wääh!“

Das Schreien begann als klägliches Weinen, steigerte sich dann aber sehr bald zu einem herzhaften lauten Brüllen.

Chase zog gerade die Kasserolle mit dem Hühnchen aus dem Ofen. Er konnte Lesleys gedämpfte Stimme wahrnehmen, wie sie, noch schlaftrunken, beruhigend auf ihre Tochter einredete. Die Kleine hatte definitiv ein Paar gesunde Lungen!

Das Weinen verstummte praktisch sofort, und Chase vermutete, dass Lesley das Baby stillte. Er würde jetzt nicht stören, also zerteilte er das Hühnchen, legte Gemüse und Kartoffeln und die Hähnchenstücke auf zwei Teller und goss die Sauce darüber – wenn man den Bratensud denn als Sauce bezeichnen konnte.

Das Tablett mit den Tellern trug er zum Schlafzimmer. Lesley knöpfte gerade ihr Nachthemd zu, als er die Tür erreichte. Dennoch erhaschte Chase einen Blick auf eine perfekt gerundete Brust. Die dunkle, noch feuchte Brustwarze schien ihn verspotten zu wollen. Hastig schaute er in die andere Richtung, doch nicht schnell genug, sodass Lesleys Blick sich mit seinem verfing. Und für diesen kurzen Moment hatte er das Gefühl, komplett verloren zu sein.

„Wie … wie macht sie sich?“, fragte er, als er das Tablett auf dem Nachttisch absetzte.

„Ganz gut, glaube ich.“ Lesley runzelte die Stirn. „Ich meine, soweit ich das beurteilen kann. Sie trinkt gut und schläft ruhig, und sie hat kräftige Lungen.“

„Ist mir auch schon aufgefallen“, meinte er trocken. „Bin gleich wieder zurück.“ Auf dem Weg in den Wohnraum fragte er sich, wieso er das unkontrollierbare Bedürfnis zu haben schien, sie von vorne bis hinten zu bedienen. Sie schien ihm keineswegs die Art Frau zu sein, die so etwas erwartete, aber zum ersten Mal seit Emilys Tod regte sich der Beschützerinstinkt in ihm wieder. Er wollte sie und ihre kleine Tochter beschützen und den beiden helfen. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es ja nur für ein paar Tage war, nur bis sie wieder selbst für sich und das Baby sorgen konnte. Bis dahin wäre auch der Schneesturm vorbeigezogen, und sie wäre wieder auf sich allein gestellt. Er kramte in der Abstellkammer, wo er einen alten Fernsehtisch entdeckt hatte, staubte ihn mit einem nassen Lappen ab und kehrte mit dem Tisch und einer Sturmlampe ins Schlafzimmer zurück.

Hier öffnete er als Nächstes die unterste Kommodenschublade, stapelte die darin liegenden Jeans auf dem Schreibtisch und kleidete die Schublade mit einer weichen Decke aus. „Mir sind gerade die Wickeltische und Kinderbettchen ausgegangen“, erklärte er, während er Lesley das Baby aus den Armen nahm und behutsam in das improvisierte Bettchen legte. Die Kleine war warm und gab zufriedene, gurgelnde Laute von sich, aber Chase ermahnte sich, keine Gefühle zu entwickeln und auf Abstand zu bleiben. Der kleine Wurm war nicht sein Kind und in ein paar Tagen auch nicht länger in seiner Verantwortung. Zufrieden, dass Angela bequem und glücklich lag, richtete er sich auf und wandte sich Lesley zu. „Und jetzt können Sie in Ruhe essen, Lady.“

Misstrauisch sah Lesley auf das provisorische Bettchen runter. „Kann ihr da drinnen auch ganz sicher nichts passieren?“

„Nur wenn Sie aufstehen und auf sie treten. Doch ich glaube nicht, dass Sie mit Ihrem Knöchel dazu überhaupt in der Lage sein werden.“

„Ich weiß, aber …“

„Wenn Sie zur Toilette müssen, rufen Sie mich. Ich helfe Ihnen dann.“

Sie lief knallrot an. „Nein, das geht doch nicht. Ich meine, das schaffe ich schon selbst.“ Zweifelnd blickte er sie an, sagte aber nichts dazu. Er stellte ihr das Tablett auf den Schoß, nahm sich seinen Teller herunter und schaute zu, wie sie hungrig zulangte.

„Also, wo ist Angelas Vater?“, fragte er und tunkte ein Stück von dem aufgetoasteten Brötchen in die klumpige Sauce.

Lesley räusperte sich. „Aaron ist vor sechs Monaten gestorben.“

„Das tut mir leid. Mein Beileid.“

„Ja, mir tut es auch leid.“ Sie legte ihr Besteck ab. „Er war zwanzig Jahre älter als ich und … nun, er bekam einen Herzinfarkt.“ Sie senkte die Lider, Chase nahm an, aus Trauer. Aber an der Geschichte schien noch mehr dran zu sein, nur war auch deutlich, dass Lesley das nicht preisgeben würde. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, und die Sommersprossen auf ihrer Nase schienen dunkler hervorzutreten. Mit der Gabel schob sie das Gemüse auf dem Teller hin und her, und Chase entschied, sie nicht weiter zu bedrängen. Für einen Tag hatte sie wirklich genug durchgemacht. „Als er starb, riet mir jeder, ich solle die Ranch verkaufen und in die Stadt ziehen, doch ich wollte versuchen, ob ich es nicht auch allein schaffe. Jetzt zusammen mit meiner Tochter, natürlich.“

„Um etwas zu beweisen?“, vermutete er.

„Vielleicht.“ Mehr sagte sie nicht, und er hakte nicht nach.

Es war Jahre her, seit er den Heiligen Abend mit jemandem verbracht hatte. Trotz der vielen Verwandten, die er hatte, hatte er nach Ryans Tod beschlossen, die Feiertage allein zu verbringen. Hatte die Tradition von Thanksgiving und Weihnachten zugunsten stiller Einsamkeit ignoriert. An diesen Feiertagen war er bisher immer auf einem Pferderücken über schneebedeckte Hügel und Landschaften geritten und hatte sich gesagt, dass es einen Gott gab, dass seine Frau und sein Sohn im Himmel waren, dass er auch allein weiterleben konnte und niemanden brauchte. Jetzt allerdings … jetzt war er sich nicht mehr so sicher.

Innerhalb von wenigen Stunden war es Lesley Bastian und ihrer Tochter gelungen, an seiner Überzeugung zu rütteln. Während er auf einem zähen Bissen Hühnchen kaute und das Spiel des goldenen Lichtscheins von der Sturmlampe auf Lesleys feinen Gesichtszügen mitverfolgte, überfiel ihn die dumpfe Vorahnung, dass die Witwe von nebenan dabei war, sein Leben für immer zu verändern. Allerdings war er sich nicht sicher, ob es sich für ihn dadurch zum Besseren wenden würde.

3. KAPITEL

Wenn du weißt, was das Beste für dich ist, dann bleibst du hier in diesem Bett, bis ich dich zum Krankenhaus fahren kann, damit ein Arzt sich deinen Knöchel anschaut.

Chases Worte schienen noch immer in der stillen Hütte widerzuhallen, als Lesley sich angestrengt aufrappelte. Das Baby schlief in seinem provisorischen Bettchen, Chase war unterwegs, und sie … sie würde sich nicht von ihm herumkommandieren lassen, auch wenn er auf seine raue Art ein wunderbarer Mensch war. In den letzten Tagen hatte er sie von vorn bis hinten bedient, hatte sich sowohl um seine Ranch als auch um ihre Tiere gekümmert, doch sie hielt diese Untätigkeit keine Minute länger aus. Sie musste mit ihrem Leben weitermachen, und bei der Vorstellung, dass ein Mann, gleich welcher Mann, Chase Fortune mit eingeschlossen, ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte, sah sie rot. Der Moment war so gut wie jeder andere auch, um zu testen, ob sie nicht wieder stehen konnte.

Vorsichtig stellte sie den Fuß auf den Boden und probierte, sich aufzurichten … Der Schmerz schoss von ihrem Fuß ins ganze Bein hinauf.

„Mist.“ Ihr wurde schwindlig und schwarz vor Augen, sie ließ sich zurück auf die Matratze fallen. Trotzig beschloss sie dann jedoch, dass sie sich von so einem dummen verstauchten Knöchel nicht kleinkriegen lassen würde. Also startete sie einen neuerlichen Versuch. Immerhin ließ der Schmerz dieses Mal schneller nach. Die Zähne zusammengebissen, balancierte sie auf ihrem gesunden Fuß und griff nach dem Gehstock, den Chase auf dem Speicher gefunden hatte. Dann humpelte sie in den Wohnraum, wo ein warmes Feuer im Kamin loderte.

Sie war mit Angela allein. Chase war draußen und suchte nach den fehlenden Tieren.

Sie lehnte sich an die Anrichte und schaute sich zum ersten Mal genauer in dem Haus um. Es war eher karg eingerichtet, die Möbel gebraucht und bunt zusammengewürfelt. Aber irgendwie entstand so das authentische Bild einer urigen Berghütte. Das Sofa musste früher einmal dunkelgrün gewesen sein, jetzt war es ausgebleicht und abgewetzt. Über einem alten Ohrensessel hing ein Schlafsack, der wohl als Chases Bettdecke herhielt. Ein alter Ledersessel vor dem Kamin und daneben ein Klapptisch teilten den Raum von der Kochecke ab, wo ein ovaler Tisch mit vier Stühlen, von dem keiner zum anderen passte, das Esszimmer bildeten.

Durch ihre Fragen hatte sie erfahren, dass das meiste Mobiliar bereits hier im Haus gewesen war. Sie nahm an, dass Chase Fortune ein Mann war, der wenig Wert auf Habseligkeiten legte und mit dem Nötigsten zufrieden war. So konnte er mühelos jederzeit von einem Ort zum nächsten ziehen, woran er offensichtlich gewöhnt war.

In der Küche goss Lesley sich einen Kaffee aus der Thermoskanne ein und starrte durch die Eisblumen am Fenster zur Scheune hinaus. Der Schnee türmte sich auf dem Dach, Eiszapfen hingen vom Rand herunter und glitzerten in der Wintersonne. Unter dem Unterstand scharten sich Angus-Rinder und die Hereford-Kühe mit den weißen Blessen zusammen, kauten ihr Heu wider, andere Tiere drängten sich auf dem plattgetrampelten Schnee in der Sonne zusammen.

Sie nippte gerade an ihrer Tasse, da lief ein Beben durch das ganze Haus. Der Kühlschrank sprang stotternd wieder an, Deckenlampen flammten auf.

Der Strom war zurück! Endlich! Lesley schaltete den Fernseher ein und sah die bekannten Gesichter einer Soap Opera über den Bildschirm flimmern. „Wunderbar.“ Ihre Laune besserte sich sofort. „Willkommen zurück im einundzwanzigsten Jahrhundert!“ Entschlossen humpelte sie zu dem Wandtelefon am anderen Ende des Raumes. Und hätte am liebsten laut gejubelt, als sie den Hörer abnahm und ein klares, deutliches Freizeichen an ihr Ohr drang. Nach einer halben Woche!

Ihr Herz raste, das Lächeln auf ihrem Gesicht war so breit, dass es fast wehtat. Sie hatte so viele Leute anzurufen und von Angela zu berichten.

Ganz oben auf der Liste standen ihre Eltern. Also wählte sie die Nummer in Seattle und trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen die Wand, wartete darauf, dass am anderen Ende jemand ranging.

Es klingelte einmal, zweimal, dreimal …

„Kommt schon, einer muss doch da sein.“

„Hallo?“

Tränen schossen ihr in die Augen, sowie sie die Stimme ihrer Mutter hörte. „Hi, Grandma“, grüßte sie.

Erst blieb es still, dann tönte ein begeisterter Aufschrei durch die Leitung. „Lesley? Das Baby ist da? Frank! Frank! Geh an den anderen Apparat, es ist Lesley. Sie hat das Baby bekommen! Wo bist du, Liebes? Ist alles in Ordnung mit euch? Was ist passiert? Gott, wir haben uns solche Sorgen gemacht.“

Ein Klicken ertönte, und endlich vernahm sie die Stimme ihres Vaters. „Les?“

„Hi, Daddy.“ Vor Erleichterung und Freude rannen ihr die Tränen über die Wangen. „Mom hat recht, du bist jetzt Großvater. Angela Noel Chastina Bastian hat auf Heiligabend das Licht der Welt erblickt, und sie ist wunderschön.“

„Na, da brat mir doch einer …“, war alles, was ihr Vater flüstern konnte.

Ihre Mutter schniefte, und Lesley konnte nicht anders, trotz der Tränen lachte sie. Im Grunde ihres Herzens waren sie alle butterweich. „Wie schon gesagt, wir waren so besorgt“, wiederholte ihre Mom jetzt. „Wir konnten dich nicht erreichen, konnten nicht einmal zur Polizei durchkommen … und … und im Fernsehen berichteten sie ständig, dass der Schneesturm der schlimmste seit den Wetteraufzeichnungen ist.“ Ihre Stimme brach. „Und dann haben sie Bilder von verunglückten Autos und erfrorenen Rindern gezeigt und … Oh, ich bin so unglaublich froh, dass du und das Baby … dass ihr in Sicherheit seid.“

„Ja, ich auch.“

„Bist du zu Hause?“

„Nein, bei einem Nachbarn. Wenn Chase nicht gewesen wäre …“

Lesley wollte sich gar nicht vorstellen, wie es dann hätte enden können. Kurz schilderte sie, was in den letzten Tagen passiert war, ließ allerdings die Ereignisse, die ihre Eltern nur aufregen würden, wohlweislich aus und konzentrierte sich hauptsächlich auf Angela und die Geburt. „Ich habe wohl echtes Glück gehabt.“

„Und ob“, stimmte ihre Mutter herzhaft zu und versprach, Tochter und Enkelin zu besuchen, sobald das Wetter es ermöglichte.

„Sie wird kommen, und wenn sie zu Fuß durch den nächsten Schneesturm marschieren muss“, kommentierte ihr Dad lachend. Schon seit Jahren wünschten sich Lesleys Eltern, endlich Großeltern zu werden, doch Lesleys Schwester Janie hatte keinerlei Interesse daran, Mutter zu werden. Als Anwältin und mit einem Anwalt aus ihrer Kanzlei verheiratet, genoss sie viel lieber das Leben einer Karrierefrau in San Francisco, ohne sich von Kindern einschränken zu lassen.

„Dieser Chase, hilft er dir noch immer?“, wollte ihr Vater wissen.

„Ich bin noch bei ihm, aber ich glaube, heute oder morgen kann ich wieder heim. Falls doch nicht, dann könnt ihr mich hier erreichen.“ Sie gab Chases Telefonnummer an ihre Eltern durch. Danach redeten sie noch eine Weile über das Weihnachtsfest und planten schon Angelas Zukunft, bevor sie sich verabschiedeten. Lesley rief anschließend noch ihre Schwester an, erreichte sie allerdings nicht und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Sie humpelte schon zum Schlafzimmer, da klingelte das Telefon. Sie dachte, ihre Mutter hätte noch etwas vergessen, und ging zurück. Kaum dass sie den Hörer abgenommen hatte, erschien Chase auf der Veranda.

„Hallo?“, meldete sie sich und lächelte Chase zu, der sich den Schnee von Jacke und Hut klopfte.

„Oh … hallo“, erklang eine weibliche Stimme am anderen Ende. Eine junge weibliche Stimme, die zudem überrascht schien, so als hätte sie nicht damit gerechnet, eine Frau am Telefon zu haben. Und so albern es war, Lesleys Stimmung verdüsterte sich. „Hier ist Kelly Sinclair. Ich hätte gern Chase Fortune gesprochen.“

„Er kommt gerade herein.“ Die Enttäuschung, die sie verspürte, verdrängte Lesley. Chase stieß die Tür mit der Schulter auf und ließ den Blick durch den Raum wandern. „Wir haben wieder Strom.“

„Ja, endlich.“ Sie reichte ihm den Hörer und zwang sich zu einem Lächeln. „Es ist Kelly.“

Fragend zog er die Augenbrauen in die Höhe. „Wer?“

„Kelly Sinclair.“

„Oh. Gut.“ Sein Verhalten änderte sich sofort, der hart arbeitende, raubeinige Cowboy wurde zu einem umgänglichen und charmanten Mann. Er griff nach dem Hörer und grinste. „Fröhliche Weihnachten … nun, nachträglich. Wir waren hier eingeschneit. Doch das wisst ihr sicher schon.“

Angela begann zu weinen, und bevor Lesley hier Chases Privatgespräch belauschte, würde sie sich lieber ins Schlafzimmer verdrücken.

„He, warte. Ich helfe dir“, meinte er, doch Lesley straffte die Schultern. Nein, sie brauchte sich nicht von ihm helfen zu lassen.

„Es geht schon“, erwiderte sie.

„Bist du sicher …? Was?“, sagte er dann zu der Frau am anderen Ende der Leitung.

„Oh, nein, nein, nur die Nachbarin. Ja, wir hatten hier über die Feiertage ein wenig Hektik.“

Nur die Nachbarin. Lesley biss die Zähne zusammen, bis es wehtat, ihre Finger umklammerten den Stock noch fester. Natürlich war sie nur seine Nachbarin, was hatte sie denn gedacht? Ja, seit vier Tagen steckten sie zusammen fest, und in dieser Zeit hatte sie hinter Chases harte Fassade sehen können, hatte den mitfühlenden, verständnisvollen Mann hinter dem harschen Ausdruck in seinen grüblerischen Augen und hinter den harten Linien in seinem Gesicht erkennen können. Obwohl er es vermieden hatte, Angela zu halten, war er stets besorgt um das Wohlergehen des Babys. Er kümmerte sich um Lesley und tat alles dafür, dass sie schnell wieder auf die Beine kam. Außerdem hatte sie beobachtet, wie er dem alten Hund Leckerbissen vom Tisch zusteckte und ihm die Ohren kraulte. Und bei seiner Sorge um die ihm übertragene Herde schien es sich um wesentlich mehr zu handeln als um das reine Geschäft. Chase Fortune hatte wahrscheinlich ein Herz aus purem Gold, nur war er verdammt gut darin, es zu kaschieren.

Angela, die kleinen Fäustchen geballt und das Gesichtchen dunkelrot angelaufen, schrie mit aller Kraft, die sie hatte. „Schh, ist doch schon gut, ich bin ja hier.“ Lesley nahm ihre kleine Tochter auf den Arm, setzte sich mit ihr auf das Bett und knöpfte sich das Nachthemd auf. Während die Kleine gierig trank, schloss Lesley die Augen. Es war unmöglich, das Telefonat, das Chase in dem anderen Zimmer führte, nicht mitzuhören.

„… so weit gut, wie es unter den Umständen zu erwarten ist … Ja, eine Komplikation, mit der ich nicht gerechnet hatte, aber bei uns ist alles in Ordnung.“ Ein tiefes leises Lachen. „Ich weiß, ich weiß, aber das ist nur befristet, glaub mir … Natürlich ist mir bewusst, dass ich genug Arbeit hier habe, für Ablenkungen bleibt mir gar keine Zeit.“ Seine Stimme nahm einen Tonfall an, der Lesleys Herz zusammenpresste – intim, scherzend, neckend. Wer immer Kelly Sinclair war … sie war offensichtlich eine sehr wichtige Person in Chases Leben.

„Ich schätze, wir haben seine Gastfreundschaft schon zu lange in Anspruch genommen“, flüsterte Lesley ihrem Baby zu und ignorierte den schmerzhaften Stich, der durch ihr Herz fuhr. „Wir sollten uns überlegen, wie wir nach Hause kommen.“

Es wurde Zeit, Chase sein Leben wieder zurückzugeben und mit ihrem eigenen fortzufahren.

„Selbstverständlich melde ich mich“, versprach Chase. Kate hatte ihre Sekretärin damit beauftragt, Chase anzurufen, um zu erfahren, wie er vorankam. Ein paar Minuten hatte er sich mit Kelly unterhalten, bis seine Großtante endlich ans Telefon gekommen war, und hatte dabei auch erwähnt, dass er einem Baby auf die Welt geholfen hatte.

„Ja, ich verlasse mich darauf, schließlich habe ich auch ein Interesse an meinem Einsatz“, meinte Kate lachend.

„Ist mir klar.“ Mit zusammengekniffenen Augen schaute er zum Fenster hinaus auf die schneebedeckten Felder und die kleine Herde aus verstreuten Tieren, die er gefunden und zur Scheune zurückgetrieben hatte.

„Und pass auf die Witwe und ihr Neugeborenes auf.“

Er zögerte merklich.

„Die beiden sind doch noch bei dir, oder?“

„Für eine Weile, ja.“

Kate seufzte. „Gott sei Dank hast du sie noch rechtzeitig entdeckt. Manchmal denke ich, wir alle haben unseren eigenen Schutzengel.“

Er erwiderte nichts darauf. Was hätte er auch schon sagen können? Dass Lesley so verwirrt gewesen war, dass sie sich eingebildet hatte, ein Schutzengel säße mit ihr im Wagen?

„Muss schwer für dich sein“, wagte Kate sich weiter vor. „Mit den Feiertagen und allem anderen …“

Chase verspannte sich. „Es geht schon.“

„Wirklich?“

Er wusste, wonach Kate fragte, aber darauf würde er nicht antworten. Konnte es nicht. Sein Sohn hatte nicht einmal bis zu seinem ersten Weihnachten überlebt, und seine Frau … Emily hatte sich die Schuld gegeben und sich am Silvesterabend das Leben genommen, hatte ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten in Wodka aufgelöst. „Ich komme schon zurecht, Kate“, versicherte er.

„Davon bin ich überzeugt, Chase. Nur vergiss nie … niemand ist eine Insel.“

„Nicht?“

„Noch schöne Feiertage.“

„Ja, dir auch.“ Chase legte auf, und in ihm wuchs das Gefühl, dass an der Vereinbarung mit seiner alten Großtante mehr dran war, als es vielleicht den Anschein hatte. Doch Kate irrte sich. Ein Mann konnte eine Insel sein. Unabhängig, eigenständig. Vor Jahren schon hatte Chase sich davon überzeugt, dass er niemanden brauchte, nicht einmal seine Familie. Dass er es allein schaffen würde. Dass er jetzt Lesley Bastian getroffen hatte, änderte nichts daran.

Er legte noch zwei Eichenscheite in den Holzofen nach, danach ging er nach Lesley schauen. Sie lag im Bett mit geschlossenen Augen, das Baby saugte an ihrer Brust. Etwas in seinem Innern zog sich zusammen, er wandte den Blick ab, konnte nicht damit umgehen, sie derart entblößt zu sehen. Doch es war faszinierend und sinnlich auf eine ursprüngliche Art, und es ließ Hitze an seinem Nacken aufsteigen und rief die dazu passende Reaktion im unteren Teil seines Körpers hervor.

Es schien immer richtiger – sie in seinem Bett, das winzige, frisch gewickelte Neugeborene, das entweder in ihren Armen oder in dem provisorischen Kinderbettchen schlief.

Die Richtung, die seine Gedanken einschlugen, ließ ihn stutzen. Was dachte er da nur? Vor Sekunden noch war er auf dem richtigen Weg gewesen, und jetzt starrte er auf eine schlafende Frau mit ihrem Kind, und schon begann er, an sich selbst zu zweifeln.

„Angela und ich werden morgen früh nach Hause gehen“, verkündete sie plötzlich und überraschte ihn damit. Er hatte gedacht, sie würde schlafen, ihm war nicht klar gewesen, dass sie ihn hier im Zimmer bemerkt hatte.

„Du kannst doch kaum laufen.“

„Ich schaffe das schon.“ Sie hob die Lider, und das leuchtende Grün ihrer Augen traf ihn mit voller Wucht. Grün mit silbernen Flecken. Sie schaute ihm offen und direkt ins Gesicht. „Ich habe mich lange genug aufgedrängt.“

„Sie haben schon den nächsten Schneesturm vorausgesagt.“

„Dieses Mal werden wir vorbereitet sein.“

„Ich kann dich da drüben nicht ganz allein lassen“, beharrte er.

„Ich glaube nicht, dass du da viel mitzureden hast.“

„Nicht?“, fragte er herausfordernd. „Und wie willst du rüberkommen? Taxis gibt es hier draußen nicht.“

„Was ist mit deinem Pick-up? Ich habe heute Morgen gehört, wie du ihn gestartet hast. Ich gehe mal davon aus, dass du Schneeketten aufgezogen hast, oder? Im Radio haben sie berichtet, dass die meisten Straßen größtenteils frei und befahrbar sind. Ich denke, ich sollte einen Abschleppdienst damit beauftragen, meinen Wagen aus dem Graben zu ziehen, und du kannst Angela und mich nach Hause bringen.“

„Ich weiß wirklich nicht, ob ich das gut finde.“ Er rieb sich den Nacken. Zwar konnte er sie nicht ewig hier festhalten, und das wollte er ja auch gar nicht, aber die Vorstellung, dass sie mit ihrem Baby in dem alten Ranchhaus bei dieser eisigen Kälte allein war, behagte ihm nicht.

Nicht nur behagte es ihm nicht, es beunruhigte ihn. Sehr.

„Es ist höchste Zeit, Chase“, entgegnete Lesley entschieden. „Du hast dein Leben, und ich habe meins. Ich schätze wirklich, was du für Angela und mich alles getan hast, aber ich muss wieder allein für mich und meine Tochter sorgen.“

„Du gehst da ein ziemliches Risiko ein.“

„Und es ist mein Risiko.“

„Lesley, überleg dir das noch einmal gründlich.“

„Das habe ich bereits“, sagte sie fest.

Es hatte keinen Zweck, sich mit ihr zu streiten, also musste er etwas mit ihr aushandeln. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie durchdringend an. „Wenn du darauf bestehst …“

Sie schob das Kinn vor. „Das tue ich.“

„Fein. Dann fahre ich gleich rüber und überprüfe, ob es Strom bei dir daheim gibt, dass die Heizung nicht eingefroren ist und ob du fließend Wasser hast. Und wenn das Haus dann morgen warm genug für Angela ist, fahre ich euch hin.“

„Aber …“ Lesley wollte schon protestieren, doch dann warf sie die Hände in die Luft. „Na schön, einverstanden.“ Sie hatte ganz offensichtlich Mühe, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Irgendwie war sie heute gereizt, vermutlich weil es sie nervte, schon so lange in der Hütte festzusitzen. „Da hängt ein Schlüssel versteckt hinter einem Kranz an der Hintertür.“

„Dann mache ich mich am besten gleich auf den Weg und schaue mich mal dort um.“ Er pfiff nach Rambo und verließ das Haus. Wenn die Frau unbedingt stur sein will … auch gut, dachte er. Doch sie hatte ja recht, er konnte sie nicht gegen ihren Willen hier festhalten. Auf der hinteren Veranda knöpfte er sich die Jacke zu, schlüpfte in seine Stiefel und setzte sich den Hut auf den Kopf. Die Trampelpfade zu Ställen, Scheune und Garage, die er größtenteils vom Schnee geräumt und festgetreten hatte, waren noch immer frei. In den letzten beiden Tagen hatte es nicht mehr geschneit. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hinauf. Die bleiernen Wolken, die sich da oben wieder zusammenbrauten, machten ihm allerdings Sorgen. Wie sollte Lesley zurechtkommen, wenn der nächste Schneesturm heraufzog und sie ohne Strom in ihrem Haus saß? Was wäre dann mit dem Baby?

„Ihr Problem“, murmelte er vor sich hin, wobei ihm klar war, dass er sich selbst belog. Alles, was mit Lesley Bastian und ihrer neugeborenen Tochter geschah, betraf auch ihn. Das war unvermeidlich.

Der Schnee knirschte mit jedem Schritt unter seinen Schuhen, während er zu seinem Pick-up stampfte. Als hätte er es geahnt, hatte er heute Morgen die Ketten aufgezogen. Er zog die Tür auf der Beifahrerseite auf, ließ Rambo auf den Sitz hechten, dann schritt er um den Wagen herum und stieg ein.

Der Motor protestierte, wollte bei der Kälte nicht anspringen. Chase versuchte es erneut, gab Gas, und endlich sprang der alte Truck stotternd an. Chase legte den ersten Gang ein. Die Ketten gruben sich in den Schnee, und der alte Wagen fuhr an. Vorsichtig lenkte Chase das Auto die Auffahrt hinunter, bog auf die Landstraße ein und kam schließlich an Lesleys Jeep im Graben vorbei. Innerhalb weniger Minuten erreichte er die Einfahrt, in die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr eingebogen war. Das Haus lag nur ein paar Hundert Meter von der Hauptstraße entfernt, doch der Schnee war tief, und der Pick-up schlingerte mehrmals, bevor Chase endlich vor der Garage parken konnte. Es war ein altes Gebäude, das Dach hing durch, aber Chase sah die Bilder so deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen – sein Vater, der sich mit einem schmutzigen Lappen das Öl von den Händen wischte, nachdem er stundenlang an den Motoren der diversen landwirtschaftlichen Maschinen gearbeitet hatte. Ständig waren irgendwelche Reparaturen nötig geworden.

Jetzt kletterte Chase aus dem Pick-up und marschierte durch den Schnee zum Gartentor. Die Angeln quietschten. Der hohe Schnee fungierte wie eine Bremse an den Staketen, Chase musste einiges an Kraft aufwenden, bevor es ihm gelang, das Törchen aufzuschieben. Danach durchquerte er den Garten, in dem Delia, Chet und er in ihrer Kindheit ihr Fort gebaut und gespielt hatten. Er ging die Treppenstufen der hinteren Veranda hoch. Dort trat er sich erst den Schnee von den Stiefeln, fand dann den Schlüssel genau an der Stelle versteckt, wo Lesley gesagt hatte. Chase ließ sich in die stille, kalte Küche ein – und wurde zwanzig Jahre in der Zeit zurückkatapultiert.

Natürlich war der Raum heute anders eingerichtet, die Wände in einem blassen Gelb gestrichen. Die Tapete mit dem Erdbeerdekor, die seine Mutter ausgesucht hatte, gab es nicht mehr, genauso wenig wie das Linoleum mit dem Ziegelsteinmuster. Holzbohlen, die zu den Schränken passten, waren verlegt worden, aber die Aufteilung des Zimmers war dieselbe geblieben, auch wenn ein neuer Tisch mit den dazugehörigen Stühlen in der ehemaligen Essecke seiner Eltern stand. Die Absätze seiner Schuhe klackten hallend durchs leere Haus, als er den Flur entlanglief und ins Obergeschoss hinaufging, zu dem Zimmer, dass er sich früher mit Chet geteilt hatte. Statt der Etagenbetten mit den karierten Tagesdecken befanden sich hier jetzt ein Schreibtisch mit Computer, ein Drucker und noch weitere Bürogeräte. Eine komplette Wand war mit Regalen zugestellt, voll mit Büchern und Ordnern, aber die alte Fichte, die ihre Äste zum Haus hinstreckte, stand noch immer direkt vor dem Fenster.

Der Raum seiner Schwester Delia war in ein Kinderzimmer verwandelt worden, möbliert mit Kinderwiege und Wickeltisch. In dem dritten Schlafzimmer, in dem früher seine Eltern geschlafen hatten, befand sich ein großes Bett, eine antike Kommode mit einem ovalen Spiegel und ein winziger Stubenwagen.

Chase eilte wieder nach unten. Die Erinnerungen blitzten wie Bilder in seinem Kopf auf, liefen wie Filmausschnitte vor seinen Augen an – seine Mutter, die Wäsche in der heißen Montana-Sonne auf die Leine hängte, sein Vater, der stolz verkündete, dass er die Hilfe der Fortune-Familie nicht nötig hatte, sein Bruder, der wild winkte, während der Traktor ächzend den trügerischen Anhang hinauftuckerte. Denk nicht daran, ermahnte Chase sich grimmig. Er war wieder im Wohnzimmer angekommen, und sein Blick fiel auf die Furche in der Fensterbank. Sie stammte von seinem Stiefelabsatz, als ein Streit mit seinem Zwillingsbruder in eine handfeste Rauferei ausgeartet war.

Verdammt, Chet, wieso musstest du sterben?

Wie von allein ballten sich die Finger seiner Hände zu Fäusten. Es war so lange her, und doch waren die Wunden noch immer frisch. Seither hatten viele Menschen ihn verlassen …

„Reiß dich am Riemen“, befahl er sich laut. Er würde sich nicht von verstaubten Erinnerungen in Zeiten zurückziehen lassen, die besser vergessen werden sollten. Er marschierte zu der Abstellkammer, in der der Sicherungskasten hing, prüfte, ob alle Sicherungen eingeschaltet waren, bevor er den Anzünder im Brenner startete.

Innerhalb weniger Sekunden schossen die Flammen hoch, der Brenner tat seine Arbeit und begann zu heizen, die Pumpen schickten Hitze durch die Rohre. Chase schloss hinter sich ab und ging über den Trampelpfad, den er in den letzten Tagen ausgetreten hatte, zu dem Stall, in dem die Pferde untergebracht waren. Jeden Tag hatte er die Tiere für eine kurze Zeit nach draußen auf die schneebedeckte Weide geführt, damit sie überschüssige Energie loswerden konnten. Auch heute tat er es, beobachtete sie dabei, wie sie durch den Schnee galoppierten, wie die trächtigen Stuten schnaubend den Kopf zurückwarfen und in die Sonne blinzelten, deren Strahlen sich in Eis und Schneekristallen brachen. Die Tiere schnaubten und wieherten, ihr warmer Atem bildete kleine Nebelwolken in der kalten Luft.

Wie viele Winter war Chase zusammen mit seinem Vater über Eis und durch Schnee gestapft, um die Tiere in den Ställen zu versorgen? Wie oft hatte er mit dem Hammer die Eisschicht auf den Wassertrögen eingeschlagen, wie oft Heu- und Strohballen vom Heuboden getreten, um dann die dicken Taue mit einem stumpfen Taschenmesser durchzusägen …

Eine Weile hing er den nostalgischen Gedanken nach, solange er die Pferde auf der Weide frei laufen ließ, danach trieb er sie wieder in den Stall zurück und verriegelte das Tor. Ein Blick in den Himmel verriet ihm, dass sie noch mehr Schnee zu erwarten hatten. „Möge Gott uns helfen“, murmelte er und beschloss, dass, sollte tatsächlich noch mehr Schnee auf das vor Kälte erstarrte Land fallen, Lesley und ihre Kleine bei ihm würden bleiben müssen.

Autor

Lisa Jackson

Fragt man Lisa Jackson nach ihrer Inspiration für die über 50 Romane, die die Bestsellerautorin aus Oregon geschrieben hat, dann erzählt sie gern von ihrer Kindheit. Sie war ein fantasiebegabtes Kind, das bei Mondlicht heimlich das Haus verließ, um Fahrrad zu fahren oder ohne Sattel zu reiten.

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Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel.
Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...

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