Frisch verliebt

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Mit der Liebe ist es wie mit einem Hefeteig: Man muss nur Geduld und ein warmes Plätzchen haben …

Backen und Liebe sind zwei Dinge, mit denen Claire Keyes sich überhaupt nicht auskennt. Ihre Musikkarriere hat der erfolgreichen Pianistin bisher weder Zeit für das eine noch das andere gelassen. Doch jetzt ist ihre Schwester Nicole erkrankt, und irgendjemand muss sich um die Familienbäckerei kümmern. Und auch wenn Claire noch nicht einmal Wasser kochen kann, ist sie fest entschlossen, ihrer Schwester beizustehen. Als dann auch noch der umwerfende Wyatt auftaucht, stellt Claire fest, dass es mit der Liebe ist wie mit einem Hefeteig: Man muss nur Geduld und ein warmes Plätzchen haben, dann geht sie von ganz alleine auf.


  • Erscheinungstag 03.10.2019
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751611
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Claire Keyes sprang sofort auf, als das Telefon klingelte, denn selbst ein Gespräch mit ihrer wütenden Managerin erschien ihr im Moment reizvoller, als den Berg schmutziger Wäsche zu sortieren, der sich mitten in ihrem Wohnzimmer türmte.

„Hallo?“

„Ja, hi! Hm, Claire? Hier ist Jesse.“

Wenigstens nicht Lisa, dachte Claire, erleichtert, dass es doch nicht ihre Managerin war.

„Jesse wer?“

„Deine Schwester.“

Claire schob mit dem Fuß eine Bluse aus dem Weg und sank aufs Sofa. „Jesse?“, hauchte sie. „Bist du es wirklich?“

„Huhu. Überraschung.“

Mit Überraschung war nicht einmal ansatzweise beschrieben, was Claire empfand. Seit Jahren hatte sie ihre jüngere Schwester nicht mehr gesehen. Nicht mehr, seit sie anlässlich der Beerdigung ihres Vaters versucht hatte, zu dem, was von ihrer Familie noch übrig war, eine Verbindung herzustellen, nur um sich dann sagen zu lassen, dass sie nicht willkommen war, niemals willkommen sein würde, und weder Jesse noch Claires Zwillingsschwester Nicole sich bemüßigt fühlen würden, Hilfe zu rufen, falls sie jemals von einem Bus überrollt werden sollte.

Claire konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie nach dieser Verbalattacke derart fassungslos gewesen war, dass ihr regelrecht der Atem stockte. Sie hatte sich gefühlt, als hätte man sie verprügelt und am Straßenrand liegen gelassen. Jesse und Nicole waren doch ihre Familie. Wie konnten sie sie nur derart ablehnen?

Da ihr nichts Besseres einfiel, hatte sie die Stadt verlassen und war nie wieder zurückgekehrt. Das war nun sieben Jahre her.

Mit einer Fröhlichkeit, die gezwungen wirkte, fuhr Jesse fort: „Also, wie geht es dir?“

Claire schüttelte den Kopf und versuchte klar zu denken. Dann aber sah sie sich in ihrem chaotischen Apartment um. Ein hüfthoher Berg Schmutzwäsche im Wohnzimmer, offene Koffer neben dem Flügel und ein Stapel Post, den sie mit aller Macht ignorierte; dazu kam noch eine Managerin, die ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen würde, wenn sie das ihrem Ziel näherbrächte.

„Prima“, log sie. „Und dir?“

„Viel zu fantastisch, als dass ich’s beschreiben könnte. Bei Nicole sieht es allerdings nicht so rosig aus.“

Claire nahm den Hörer fester in die Hand. „Was ist los mit ihr?“

„Nichts ... jedenfalls noch nicht. Sie muss sich aber operieren lassen. Ihre Gallenblase, irgendwie liegt die wohl nicht richtig oder so. Ich weiß nicht mehr genau. Jedenfalls können sie deswegen nicht diese einfache Operation mit den kleinen Einschnitten machen. Diese Lapi-irgendwas.“

„Laparoskopie“, murmelte Claire abwesend und schielte nach der Uhr, denn in einer halben Stunde begann ihr Unterricht.

„Genau, das war es. Stattdessen werden sie sie aufschneiden wie eine Wassermelone, und das bedeutet dann auch eine längere Genesungszeit. Mit der Bäckerei und allem ist das ein Problem. Normalerweise würde ich ja einspringen und helfen, aber im Moment geht das nicht. Es ist etwas ... kompliziert. Wir haben also darüber geredet und Nicole meinte, ob du nicht vielleicht gerne nach Hause kommen würdest, um dich um alles zu kümmern. Sie wüsste es echt zu schätzen.“

Nach Hause, dachte Claire voller Sehnsucht. Sie könnte wieder nach Hause. Zurück in das Haus, an das sie sich kaum noch erinnerte, das in ihren Träumen aber immer einen großen Raum eingenommen hatte.

„Ich dachte, du und Nicole würdet mich hassen“, flüsterte sie und wünschte, sie könnte es wagen zu hoffen, fürchtete sich aber fast davor.

„Wir waren damals doch völlig durcheinander. Es war eine sehr emotionsgeladene Zeit. Ehrlich, wir haben schon seit Längerem davon gesprochen, dass wir uns mit dir in Verbindung setzen sollten, und Nicole hätte dich auch – ähem – selbst angerufen. Aber ihr geht es nicht gut und sie hatte Angst, du könntest Nein sagen. Im Augenblick wäre sie nicht in der Lage, damit umzugehen.“

Claire stand auf. „Ich würde niemals Nein sagen, und natürlich werde ich kommen. Ich will es wirklich, denn ihr seid doch meine Familie, ihr beide.“

„Prima. Wann kannst du hier sein?“

Claire besann sich auf die Katastrophe, in die ihr Leben sich verwandelt hatte, und dachte an die aufgebrachten Anrufe ihrer Managerin Lisa. Dann waren da noch die Meisterklasse, die sie besuchen sollte, und die wenigen Unterrichtsstunden, die sie selbst am Wochenende geben musste.

„Morgen“, sagte sie entschlossen. „Ich kann morgen da sein.“

„Könntest du mich nicht einfach jetzt erschießen?“, fragte Nicole Keyes, während sie den Küchentresen abwischte. „Im Ernst, Wyatt. Du musst doch eine Waffe haben. Bitte, tu es! Ich werde auch irgendwas schreiben, dass es nicht deine Schuld ist.“

„Tut mir leid. In meinem Haus gibt es keine Waffen.“

In meinem ebenso wenig, dachte sie niedergeschlagen und warf das Spültuch wieder ins Becken.

„Schlechter könnte das Timing für meine dämliche Operation gar nicht sein“, jammerte sie. „Sie haben mir gesagt, dass es sechs Wochen dauern wird, bis ich wieder arbeiten kann. Sechs Wochen. Die Bäckerei wird nicht von allein laufen. Und wage nicht, mir damit zu kommen, dass ich Jesse um Hilfe bitten soll. Das ist mein voller Ernst, Wyatt.“

Ihr zukünftiger Exschwager hielt die Hände hoch. „Ich schwöre, ich werde nichts dergleichen sagen.“

Sie glaubte ihm, und das nicht etwa, weil sie annahm, ihn eingeschüchtert zu haben, sondern weil sie wusste, er verstand, dass ihre Bauchschmerzen sicher auch an der entzündeten Gallenblase lagen, vor allem aber daran, dass ihre Schwester Jesse sie hintergangen hatte.

„Ich hasse das. Ich hasse es, dass mein Körper mich so hängen lässt. Was habe ich ihm je angetan?“

Wyatt zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. „Setz dich lieber. Es bringt doch nichts, sich so aufzuregen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich vermute es mal.“

Weil es leichter war, als darüber zu streiten, ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch die Energie für einen Streit hatte.

„Was habe ich vergessen? Ich glaube, ich habe alles erledigt. Du hast doch daran gedacht, dass ich mich eine Zeit lang nicht um Amy kümmern kann, oder?“

Amy war seine achtjährige Tochter, die Nicole an ein paar Nachmittagen in der Woche betreute.

Wyatt beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Entspann dich. Du hast nichts vergessen. Ich werde jeden zweiten Tag in der Bäckerei vorbeischauen. Die Leute, die für dich arbeiten, sind in Ordnung. Sie haben dich gern und sind loyal. Alles wird gut gehen. In ein paar Tagen bist du wieder zu Hause und kannst anfangen, dich zu erholen.“

Sie wusste, dass er damit nicht nur die Operation meinte, sondern ebenso die Sache mit ihrem Exmann in spe.

Anstatt aber nun über dieses Ekelpaket Drew nachzudenken, starrte sie Wyatts Hand auf ihrem Arm an. Er hatte große Hände mit Narben und Schwielen. Er war ein Mann, der wusste, wie man für seinen Lebensunterhalt arbeitete. Ein aufrichtiger Mann, gut aussehend und witzig.

Sie hob den Blick und sah in seine dunklen Augen. „Warum konnte ich mich nicht in dich verlieben?“, fragte sie ihn.

Er lächelte. „Die Frage gebe ich dir zurück, Schwesterchen.“

Sie würden perfekt zusammenpassen ... wenn es nur einen Hauch erotischer Anziehung zwischen ihnen gäbe.

„Wir hätten uns mehr Mühe geben und miteinander schlafen sollen“, murmelte sie.

„Stell es dir doch einfach mal eine Minute lang vor“, forderte er sie auf. „Und dann sag mir, ob es dich antörnt.“

„Das kann ich nicht.“ Es war schon richtig, der Gedanke an Sex mit Wyatt machte sie zwar irgendwie nervös, aber nicht auf angenehme Weise. Dafür war er viel zu sehr wie ein Bruder für sie. Wenn doch nur sein Stiefbruder Drew dieselbe Reaktion bei ihr ausgelöst hätte. Zwischen ihnen aber waren unglücklicherweise ganze Feuerwerke explodiert. Feuerwerke, die einen verbrannten.

Sie ließ das Thema fallen und musterte Wyatt. „Genug von mir. Du solltest wieder heiraten.“

Er griff nach seinem Kaffeebecher. „Nein danke.“

„Amy braucht aber eine Mutter.“

„So dringend nun auch wieder nicht.“

„Hier in der Gegend gibt es tolle Frauen.“

„Dann nenn mir eine außer dir.“

Nicole dachte eine Minute lang nach, dann seufzte sie. „Was dagegen, wenn ich später auf das Thema zurückkomme?“

Am frühen Nachmittag landete Claire auf dem Sea Tac Airport. Sie war ziemlich stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, ihre Reise allein zu organisieren. Sogar einen Mietwagen hatte sie gebucht. Normalerweise hätte sie einen Car Service in Anspruch genommen, aber sie würde zwischen Krankenhaus und Bäckerei hin und her pendeln müssen, und vielleicht würde Nicole sie auch brauchen, um irgendwelche Besorgungen zu machen. Da war ein eigener fahrbarer Untersatz schon sinnvoll.

Nachdem sie ihre zwei riesigen Koffer vom Gepäckband heruntergewuchtet hatte, nahm sie in jede Hand einen und zog sie in Richtung Rolltreppe. Der Catwalk zum Parkhaus war lang und die Koffer wogen schwer. Als sie die Fahrstühle erreicht hatte, die zur Mietwagenhalle führten, keuchte sie schon, und als sie endlich vor dem Hertz-Schalter stand, bedauerte sie sehr, dass sie den langen Wollmantel übergeworfen hatte. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, und ihr Kaschmirpullover klebte daran fest.

Während sie in der Schlange wartete, war sie ganz aufgeregt, weil sie nun hier war. Sie war nervös, aber voller Entschlossenheit, alles Nötige zu tun, um die Beziehung zu ihren Schwestern wieder zu kitten. Sie erhielten jetzt eine zweite Chance, und sie würde es nicht vermasseln.

Die Frau am Schalter winkte Claire zu sich, und sie zog die zwei Koffer hinter sich her, als sie vortrat.

„Hi. Ich habe eine Reservierung.“

„Auf welchen Namen?“

„Claire Keyes.“ Claire überreichte ihr den Führerschein und ihre Platin-Kreditkarte.

Die Frau sah sich den Führerschein an. „Verfügen Sie bereits über eine Versicherung oder wünschen Sie für den Wagen eine Deckung durch uns?“

„Ich hätte gerne Ihre Deckung.“ Das war einfacher als zu erklären, dass sie keinen eigenen Wagen besaß und tatsächlich noch nie einen Wagen besessen hatte. Und hätte sie nicht damals, als sie achtzehn wurde, darauf bestanden, Unterricht zu nehmen, und anschließend gelernt und geübt, bis sie die Prüfung bestanden hatte, würde sie nicht einmal einen Führerschein besitzen.

„Irgendwelche Strafzettel oder Unfälle?“, fragte die Frau.

Claire lächelte. „Keinen einzigen.“ Strafzettel oder Unfälle setzten schließlich voraus, dass man tatsächlich auch fuhr, und das war etwas, das Claire in den letzten zehn Jahren höchstens ein- oder zweimal getan hatte.

Sie musste ein paar Formulare unterschreiben, dann gab die Frau ihr den Führerschein und die Kreditkarte wieder zurück.

„Nummer sechsundachtzig. Es ist ein Malibu. Sie hatten eine mittlere Größe angegeben. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen auch etwas Größeres anbieten.“

Claire blinzelte sie an. „Nummer sechsundachtzig was?“

„Ihr Wagen. Er steht auf Stellplatz sechsundachtzig. Die Schlüssel stecken.“

„Oh, prima. Einen Größeren brauche ich nicht.“

„In Ordnung. Wollen Sie eine Straßenkarte?“

„Ja, bitte.“

Claire steckte die Straßenkarte in die Handtasche und zog ihre Koffer aus dem Glasbau. Vor ihr lagen die Autoreihen und sie konnte erkennen, dass an jedem Stellplatz Nummern angebracht waren. Während sie weiterging, zählte sie mit, bis sie schließlich die Nummer sechsundachtzig fand und den silbernen Malibu entdeckte.

Er hatte vier Türen und kam ihr einfach riesig vor. Sie schluckte. Wollte sie denn wirklich fahren? Dann aber sagte sie sich, dass sie diese Frage auch auf später verschieben konnte. Erst einmal musste sie aus dem Parkhaus heraus.

Herausforderung Nummer eins bestand darin, ihr Gepäck in den Kofferraum zu befördern. Anscheinend gab es keinerlei Möglichkeit, ihn zu öffnen. Keine Knöpfe, keine Griffe. Sie drückte dagegen und versuchte zu ziehen, aber nichts bewegte sich. Irgendwann gab sie es schließlich auf und verstaute ihre zwei großen Koffer auf dem Rücksitz. Dann klemmte sie sich hinter das Lenkrad.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie den Sitz so eingestellt hatte, dass sie tatsächlich an die Pedale gelangte. Sie schaffte es auch, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken und umzudrehen. Der Motor sprang sofort an. Sorgfältig stellte Claire die Spiegel ein und holte tief Luft. Nun war sie praktisch schon auf dem Weg.

Zunächst aber widmete sie sich noch dem Navigationssystem. Und das begrüßte sie auf Französisch.

Ungläubig starrte Claire das Gerät an. Was zum Teufel sollte das?

Sie drückte auf ein paar Knöpfe. Jawohl, es sprach Französisch. Okay, sicher, diese Sprache kannte sie zwar auch, aber wahrhaftig nicht gut genug, um damit beim Fahren klarzukommen. Das Potenzial auf der Straße auszuflippen erschien ihr auch so schon groß genug, es musste nicht noch durch eine Fremdsprache getoppt werden. Sie hieb auf die Knöpfe ein, bis sie sich durch Holländisch und Japanisch gescrollt hatte, und endlich hörte sie dann die freundliche Frauenstimme in Englisch.

Ihr Bedürfnis, laut schreiend in die Nacht hinauszurennen, legte sich ein wenig.

Stattdessen las sie nun weiter in der Gebrauchsanweisung und gab dann sorgfältig die Adresse der Bäckerei ein. Sie hatte vergessen, Jesse danach zu fragen, wie das Krankenhaus hieß, in dem Nicole operiert wurde, deshalb schien ihr die Bäckerei die beste Anlaufstelle zu sein. Schließlich wappnete sie sich, um aus der Parklücke herauszufahren.

Die Brust wurde ihr eng. Sie ignorierte es ebenso wie das Kribbeln, das in ihrem Rücken einsetzte und sich über ihren ganzen Körper ausbreitete.

Nicht jetzt, dachte sie verzweifelt. Nicht jetzt. Später kannst du gerne in Panik geraten, aber doch bitte nicht, wenn du gerade losfahren willst!

Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen, dann stellte sie sich ihre Schwester in einem Krankenhausbett vor, wie sie verzweifelt auf ihre Hilfe wartete. Dort muss ich hin, rief sie sich ins Gedächtnis. Zu Nicole.

Der Anflug von Panik ebbte ein wenig ab. Sie öffnete die Augen und fuhr los.

Das Parkhaus kam ihr dunkel und geschlossen vor. Glücklicherweise standen in der Reihe vor ihr keine Autos, sie würde also etwas mehr Platz für ihren Bogen haben, wenn sie aus der Parklücke herausfuhr.

Langsam und vorsichtig stellte sie den Hebel der automatischen Gangschaltung auf Drive. Sofort setzte sich der Wagen in Bewegung. Sie trat so heftig auf die Bremse, dass diese blockierte, und der ganze Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam. Vorsichtig ließ sie die Bremse wieder los und setzte sich damit erneut in Bewegung. In Abschnitten von jeweils fünfzehn bis zwanzig Zentimetern auf einmal schaffte sie es, aus ihrer Lücke auszuscheren. Fünfzehn Minuten später hatte sie den Weg aus dem Parkhaus gefunden und befand sich auf der Straße, die aus dem Flughafen herausführte.

„Nach einhundertfünfzig Metern rechts einordnen. Rechts abbiegen auf die 1-5.“

Die Stimme aus dem Navigationssystem klang sehr gebieterisch, so als wüsste sie, dass Claire vom Fahren allgemein keine Ahnung hatte und von der Fahrtstrecke im Besonderen schon gar nicht.

„1-5 was?“, fragte Claire und sah gleich darauf ein Hinweisschild zur Autobahn 1-5. Sie schrie auf und erklärte dem Navi: „Ich kann nicht auf die Autobahn. Wir müssen auf normalen Straßen bleiben.“

Als Antwort erhielt sie ein Ding-Dong: „Rechts abbiegen.“

„Aber das will ich nicht.“

Hektisch sah sie sich um, doch es schien keine andere Möglichkeit zu geben. Die Straße, auf der sie sich befand, ging einfach irgendwie in die Autobahn über. Nach links konnte sie nicht. Da waren viel zu viele Autos im Weg, Autos, die plötzlich anfingen, richtig zu rasen.

Mit beiden Händen umklammerte Claire das Lenkrad. Ihr Körper verkrampfte sich und ihr Geist füllte sich mit Bildern von verunglückten Autos, die in Flammen standen.

„Ich werde es schaffen“, sprach sie sich flüsternd Mut zu. „Ich kann es.“

Sie trat ein wenig fester auf das Gaspedal, bis sie beinahe siebzig fuhr. Das war doch wohl schnell genug, oder? Wer sollte denn schon schneller fahren müssen?

Hinter ihr näherte sich ein großer Laster, der sie anhupte. Sie zuckte zusammen. Und immer mehr Wagen fuhren hinter ihr auf, manche davon kamen ihr wirklich sehr nahe. Sie war so mit dem Versuch beschäftigt, keine Angst vor diesen rechts und links an ihr vorbeischießenden Autos zu haben, dass sie völlig vergaß, sich einzufädeln, bis das Navi sie erinnerte: „Zur 1-5 Richtung Norden rechts abbiegen.“

„Was? Wieso rechts? Will ich nach Norden?“

Dann aber machte die Fahrbahn einfach einen Bogen, dem sie folgen musste. Dabei verspürte sie das verzweifelte Bedürfnis, die Augen zu schließen, aber sie wusste, dass das übel ausgehen konnte. Angst trieb ihr den Schweiß auf die Stirn und sie wünschte, sie könnte sich den Mantel vom Leib reißen. Doch das ging natürlich nicht. Nicht wenn sie keinen Unfall bauen wollte. Sie hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihr die Finger schmerzten.

Du tust es für Nicole, erinnerte sie sich. Für deine Schwester. Für die Familie.

Ihre Fahrbahn mündete in die 1-5. Noch immer fuhr sie siebzig, befand sich jetzt aber auf der rechten Spur und Claire schwor sich, dort zu bleiben, bis es an der Zeit war, die Autobahn wieder zu verlassen.

Als sie nördlich des Universitätsviertels dann endlich abfahren konnte, zitterte sie am ganzen Körper. Sie hasste es zu fahren. Es war abscheulich. Autos waren etwas Schreckliches und die Fahrer ungehobelte, bösartige Menschen, die sie anschrien. Aber sie hatte es geschafft, und nur darauf kam es an.

Den Anweisungen des Navigationssystems folgend schaffte sie es auch, ihren weiteren Weg bis auf den Parkplatz der Bäckerei zu finden. Dort stellte sie den Motor ab, lehnte die Stirn ans Lenkrad und bemühte sich, wieder ruhig zu atmen.

Nachdem sie ihre Atemfrequenz schließlich von der eines Kolibris wieder auf die eines mittelgroßen Säugetiers heruntergeschraubt hatte, richtete sie sich auf und betrachtete das Gebäude vor ihr. Seit der Gründung vor achtzig Jahren hatte sich die Bäckerei Keyes immer am selben Ort befunden. Anfangs hatten ihre Urgroßeltern nur die Hälfte der Ladenfront angemietet. Mit der Zeit aber war das Geschäft gewachsen, und sie hatten zuerst noch den Pachtvertrag ihres Nachbarn übernommen, bis sie schließlich vor sechzig Jahren das ganze Gebäude gekauft hatten.

Der untere Teil der beiden Schaufenster war angefüllt mit Torten, Kuchen und Broten. Zierschriften, die die weitere Auswahl auflisteten, bedeckten den oberen Teil. Ein großes Schild über der Tür verkündete: „Bäckerei Keyes – Haus der besten Schokoladentorte der Welt“.

Selbst Könige und Präsidenten hatten diese vielschichtige Schokoladenkreation schon gepriesen, sie wurde von Bräuten kredenzt und fand sich als absolutes Muss in den Verträgen so mancher prominenter Persönlichkeiten, die sie am Set von Filmaufnahmen oder nach Konzerten hinter der Bühne zu genießen wünschten. Es handelte sich um eine Million Kalorien aus Mehl, Zucker, Butter, Schokolade und einer geheimen Zutat, die nur der Familie bekannt war. Nicht, dass Claire wusste, was es war. Aber sie würde es erfahren. Sie war sich sicher, Nicole würde ihr nun auch das Geheimnis anvertrauen.

Sie stieg aus dem Wagen und zog sich vorne den Pullover glatt. Es war kalt genug, sodass sie den Mantel anbehalten konnte, und sie hoffte, dass er nicht allzu sehr von der Fahrt zerknittert war. Sie nahm ihre Handtasche und verschloss sorgsam die Tür auf der Fahrerseite. Dann atmete sie tief durch und ging in die Bäckerei.

Es war Nachmittag und relativ ruhig. An einem Ecktisch saßen zwei junge Mütter bei Kaffee und Kuchen. Zwei Kindersportwagen standen zwischen ihren Stühlen. Claire lächelte sie an, während sie auf den langen Verkaufstresen zuging. Ein Mädchen im Teenageralter sah sie an.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Das hoffe ich. Ich bin Claire. Claire Keyes.“

Der Teenager, eine dralle Brünette mit großen, braunen Augen, stöhnte. „Ja klar, was möchten Sie haben? Das Rosmarin-Knoblauch-Brot kommt gerade frisch aus dem Ofen.“

Claire lächelte hoffnungsvoll. „Ich bin Claire Keyes“, wiederholte sie.

„Hör ich zum ersten Mal.“

Claire wies mit dem Finger auf das Schild an der Wand.

„Keyes, wie die Schwester von Nicole.“

Nun wurden die Augen des Teenagers sogar noch größer. „Oh, mein Gott. Das gibt’s doch gar nicht. Sind Sie es wirklich? Die Klavierspielerin?“

Claire wand sich. „Genau genommen bin ich Konzertpianistin.“ Solistin, aber warum kleinlich sein? „Ich bin gekommen, weil Nicole operiert wird. Jesse rief mich an und bat mich ...“

„Jesse?“ Die Stimme des Mädchens wurde schrill. „Das kann doch nicht wahr sein. Sie machen wohl Witze? Oh, mein Gott! Ich kann es nicht glauben.“ Während sie noch sprach, bewegte sie sich schon rückwärts in Richtung der Hintertür. „Nicole wird sie umbringen. Wenn sie es nicht schon getan hat. Ich will bloß ...“ Sie hob die Hand. „Warten Sie hier, okay? Ich bin gleich wieder da.“

Noch bevor Claire etwas sagen konnte, verschwand das Mädchen nach hinten.

Claire rückte die Tasche auf der Schulter zurecht und inspizierte die Auslagen in der Glastheke. Da lagen mehrere Torten und ein paar Kuchen neben verschiedenen Broten. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte, denn im Flugzeug war sie viel zu nervös gewesen, um irgendetwas zu sich zu nehmen.

Vielleicht sollte sie sich doch ein Rosmarin-Knoblauch-Brot mitnehmen und dann bei einem Feinkostladen halten, um ...

„Was zum Teufel wollen Sie hier?“

Claire musterte den Mann, der da auf sie zukam. Er war groß und hatte etwas Raues an sich, mit seiner gebräunten Haut und diesem Körper, der darauf schließen ließ, dass er entweder mit physischer Arbeit seinen Lebensunterhalt verdiente oder aber viel zu viel Zeit im Fitnessstudio zubrachte. Sie riss sich zusammen, um nicht beim Anblick seines karierten Hemdes und der abgetragenen Jeans die Nase zu rümpfen.

„Ich bin Claire Keyes“, begann sie.

„Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe gefragt, weshalb Sie hier sind.“

„Nein, Sie haben gefragt, warum zum Teufel ich hier bin. Das ist ein Unterschied.“

Er kniff die Augen zusammen. „Und der wäre?“

„Die eine Frage impliziert ein ernsthaftes Interesse an der Antwort, während die andere mir zu verstehen gibt, dass ich Sie irgendwie verärgert habe. Es interessiert Sie nicht wirklich, warum ich gekommen bin, Sie wollen mich bloß wissen lassen, dass ich nicht willkommen bin. Und das ist schon eigenartig, wenn man in Betracht zieht, dass wir beide uns noch nie begegnet sind.“

„Ich bin mit Nicole befreundet, da muss ich Ihnen nicht begegnen, um alles über Sie zu wissen, was nötig ist.“

Autsch. Claire verstand nichts mehr. Wenn Nicole noch immer wütend auf sie war, warum hatte Jesse sie dann angerufen und durchblicken lassen, dass sich die Dinge geändert hätten. „Und wer bitte sind Sie?“

„Wyatt Knight. Nicole ist mit meinem Stiefbruder verheiratet.

Nicole war verheiratet? Seit wann? Und mit wem?

Bei diesen Fragen fühlte sie eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen. Ihre eigene Schwester hatte es nicht für nötig befunden, ihr von der Hochzeit zu erzählen oder sie gar einzuladen. War das nicht absolut armselig?

Die Emotionen huschten über Claires Gesicht, aber Wyatt unternahm keinen Versuch, darin zu lesen. Frauen und ihre Gefühle waren ein Geheimnis, das sterbliche Männer besser ungelüftet ließen. Der Versuch, das weibliche Gemüt zu begreifen, konnte einen Mann nur in den Alkoholismus treiben und am Ende umbringen.

Stattdessen taxierte er die große, schlanke Blondine, die vor ihm stand, und suchte nach Ähnlichkeiten zu Nicole und Jesse.

Ihre Augen, dachte er, während er deren große, blaue Iris betrachtete. Vielleicht auch der Schwung ihres Mundes. Die Haarfarbe ... irgendwie. Nicole war einfach blond. Claires Haar hingegen glänzte in einem Dutzend verschiedener Schattierungen.

Weitere Gemeinsamkeiten aber gab es nicht. Nicole war seine Freundin, jemand, den er seit Jahren kannte. Eine Frau, die gut genug, aber normal aussah. Claire war ganz in off-white gekleidet, von ihrem viel zu langen Mantel angefangen bis hin zum Pullover und der Hose, die sie darunter trug. Auf ihn wirkte sie wie eine Eisprinzessin ... und zwar eine böse.

„Ich würde gerne meine Schwester sehen“, sagte Claire mit Entschiedenheit. „Ich weiß, sie ist im Krankenhaus, aber ich weiß nicht genau, in welchem.“

„Das werde ich Ihnen auf gar keinen Fall sagen. Ich habe keine Ahnung, was Sie hierher geführt hat, Lady, aber ich kann Ihnen versichern, Nicole will Sie nicht sehen.“

„Da habe ich etwas anderes gehört.“

„Von wem?“

„Jesse. Sie hat mir gesagt, dass Nicole nach ihrer Operation Hilfe brauchen wird. Gestern rief sie mich an, und heute bin ich hierhergeflogen.“ Sie streckte das Kinn ein wenig vor. „Ich werde nicht weggehen, Mr. Knight, und Sie werden mich wohl kaum dazu zwingen können. Ich werde meine Schwester sehen. Und wenn Sie es für richtig halten, mir die Information zu verweigern, wo sie ist, werde ich ganz einfach jedes einzelne Krankenhaus in Seattle anrufen, bis ich sie gefunden habe. Nicole ist meine Familie.“

„Seit wann?“, murmelte er, wobei ihm der trotzige Winkel in der Form ihres Kinns ebenso bekannt vorkam wie der entschiedene Ton ihrer Stimme. Die beiden waren also doch Zwillinge, die vieles gemein hatten.

Warum hatte Jesse das getan? Wollte sie etwa noch mehr Schwierigkeiten machen? Oder hatte sie nur versucht, für eine verzweifelte Situation eine Lösung zu finden? Fakt war, dass Nicole Hilfe brauchte, und sie war doch mindestens so kompliziert, dass sie niemals darum bitten würde. Er wollte ja tun, was er konnte, aber er musste ein Geschäft am Laufen halten und sich um Amy kümmern. Unter keinen Umständen würde Nicole Drew in ihrer Nähe dulden, einmal vorausgesetzt, dass sein nichtsnutziger Bruder nicht eh davongelaufen war, um sich irgendwo zu verstecken. Jesse war eine noch schlechtere Alternative, womit genau genommen niemand mehr übrig blieb.

Wieso sollte eigentlich er die Entscheidung treffen? Er unterdrückte einen Fluch. „Wo werden Sie wohnen?“

„Im Haus. Wo sonst?“

„Prima. Tun Sie das. Nicole wird in zwei Tagen zurück sein, dann können Sie es mit ihr ausmachen.“

„Ich werde keine zwei Tage darauf warten, dass ich sie sehen kann.“

Selbstsüchtig, verzogen, egoistisch, narzisstisch. Wyatt erinnerte sich an die ihm wohlbekannte Aufzählung, wenn Nicole sich über ihre Schwester beklagte. Im Augenblick konnte er jedes einzelne dieser Attribute sehr gut nachvollziehen.

„Hören Sie zu“, sagte er. „Sie können im Haus warten oder nach Paris zurückfliegen, oder wo immer Sie wohnen mögen.“

„New York“, verbesserte sie ihn gelassen. „Ich lebe in New York.“

„Egal. Worauf ich hinaus will, ist, dass Sie Nicole nicht sehen werden, bevor sie nicht wenigstens zwei Tage Zeit hatte, sich zu erholen, selbst wenn das bedeuten sollte, dass ich in ihrem Krankenzimmer Wache schieben müsste. Haben Sie das verstanden? Sie hat nach der Operation schon genug Schmerzen. Auf eine Nervensäge wie Sie kann sie da sehr gut verzichten.“

2. KAPITEL

Wie ein angestochener Ballon sank Claire in sich zusammen, woraufhin Wyatt sich wie das größte Arschloch diesseits der Rocky Mountains fühlte. Er redete sich ein, dass alles Theater war, denn schließlich war sie dazu geboren, den Menschen etwas vorzuspielen, und konnte mit den Jahren nur besser darin geworden sein. Sie, die behauptete, so sehr an ihrer Schwester zu hängen, hatte sich schließlich nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er Nicole jetzt kannte, hier oben sehen lassen. Nicht zu Geburtstagen und noch nicht einmal zu der verfluchten Hochzeit ihrer Schwester. Jesses Abschluss von der Highschool hatte sie ebenfalls versäumt. Sie war einfach nur gut in ihrer Opferrolle, das war alles. Und er würde sich nicht auf ihr Spiel einlassen.

Gerade als er vorhatte, sich umzudrehen und zu gehen, richtete sie sich auf, nahm die Schultern zurück, reckte das Kinn hoch und sah ihm gerade in die Augen. „Meine Schwester hat mich angerufen.“

„Das hatten Sie bereits gesagt.“

„Und Sie glauben mir nicht.“

„Es interessiert mich einfach nicht genug, als dass ich so oder so darüber urteilen würde.“

Sie neigte den Kopf, sodass ihr langes, glänzend blondes Haar über eine Schulter fiel. „Nicole hat in Ihnen einen guten Freund. Ich hoffe, sie weiß das zu schätzen.“

Jetzt ist sie also dazu übergegangen, mich einzuwickeln, dachte er. Bei jemandem, der nicht über sie aufgeklärt war, dürfte das allerdings eine sehr effektive Strategie sein.

„Jesse hat mich angerufen“, fuhr sie fort. „Sie hat mir von der Operation erzählt. Ihnen dürfte ja wohl klar sein, dass so viel schon mal stimmt, denn woher sollte ich es sonst wissen? Jesse hat mir auch gesagt, dass Nicole möchte, dass ich ihr hinterher behilflich bin, und dass sie sich freut, wenn ich komme. Unter diesen Umständen neige ich dazu, ihr eher zu glauben als Ihnen.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass Nicole bis zwanzig Minuten vor ihrer Operation keinen Schimmer davon hatte, dass Sie hier auftauchen würden. Glauben Sie mir. Sie hätte es erwähnt.“

Claire runzelte leicht die Stirn. „Das alles ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Weshalb sollte Jesse denn lügen? Und warum sollten Sie das tun?“

„Das würde ich auch nicht.“

Sie wirkte ehrlich verwirrt, und Wyatt nahm es ihr beinahe ab. Diese verzwickte Situation trug deutlich Jesses Handschrift. Es stellte sich die Frage, warum die Kleine das getan hatte? Nur, um alles noch schlimmer zu machen? Oder wollte sie Nicole tatsächlich helfen? Bei Jesse war das schwer zu sagen.

„Ich werde bleiben“, sagte Claire. „Nur, damit Sie Bescheid wissen. Ich werde bleiben, und ich werde ins Krankenhaus gehen, und ...“

„Nein.“

„Aber ich ...“

„Nein.“

Sie sah ihn an. „Sie sind sehr entschlossen.“

„Ich beschütze, was mir gehört.“

In ihren Augen flackerte etwas auf. Etwas Kleines und Trauriges, von dem Wyatt gar nicht wissen wollte, was es war.

Schließlich sagte Claire: „Also gut. Ich werde so lange in ihrem Haus warten, bis Nicole so weit ist, dass sie nach Hause kommen kann. Dann können wir gemeinsam herausfinden, was überhaupt los ist.“

„Glauben Sie mir, es wäre leichter, wenn Sie einfach wieder nach New York zurückgingen.“

„Ich mache es mir nicht leicht. Das habe ich noch nie getan. Schätze, das ist mein Berufsrisiko.“

Wyatt hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Glaubte sie etwa, ihr würde irgendwer abnehmen, dass es hart wäre, für einen Haufen reicher Leute in fantastischen Städten Europas Klavier zu spielen?

Er zuckte die Schultern. Schließlich konnte er Nicoles Schwester nicht dazu zwingen, wieder zu verschwinden. Er würde sich da raushalten, solange sie nicht versuchte, Nicole im Krankenhaus zu nerven.

„Nicole wird also in zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen?“, fragte Claire.

„So etwas in der Art.“

Sie lächelte ihn an. „Sie sind sehr entschlossen, keinerlei Information preiszugeben, Mr. Knight. Da ich aber nun einmal im selben Haus wohnen werde, wird es schwierig sein, Nicoles Ankunft vor mir zu verbergen.“

„Mein Name ist Wyatt. Ich bin nicht Ihr Boss, und Sie sind nicht mein Banker.“

„Ihre Angestellten sprechen Sie also mit dem Nachnamen an?

„Nein. Ich wollte damit nur etwas klarstellen.“

„Mein Banker nennt mich Claire.“

„Das tut mein Banker nicht.“

Ihr Lächeln schwand. „Sie mögen mich nicht besonders.“

Er machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.

„Sie kennen mich doch überhaupt nicht“, fuhr sie fort. „Das ist ja wohl kaum fair.“

„Ich weiß genug von Ihnen.“

Sie erstarrte, als ob er sie geschlagen hätte. Egoistisch und sensibel zugleich, dachte er grimmig. Eine teuflische Kombination.

Claire machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Bäckerei. Wyatt ging ihr nach, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich ins Auto stieg und wegfuhr.

Er sah sich auf dem Parkplatz um und erwartete beinahe, eine Stretchlimousine oder einen Mercedes vorzufinden. Claires Mietwagen jedoch war nur ein Viertürer mittlerer Größe mit Gepäck, das sich auf dem Rücksitz stapelte.

„Wie viel Mist haben Sie eigentlich mitgeschleppt?“, platzte die Frage aus ihm heraus, bevor er sich bremsen konnte. „Hat nichts mehr in den Kofferraum gepasst?“

Sie blieb stehen und sah ihn an. „Nein. Das ist alles, was ich dabeihabe.“

„Was haben Sie denn gegen den Kofferraum? Hatten Sie Angst, Sie könnten sich einen Nagel abbrechen?“

„Um in Ihrer eleganten Ausdrucksweise zu bleiben, ich spiele Klavier, und deshalb habe ich auch keine langen Fingernägel.“ Sie richtete sich auf und schien sich gegen ihn zu wappnen. „Wie ich Ihnen schon sagte, ich lebe in New York und dort habe ich keinen Wagen. Überhaupt fahre ich nirgendwo viel. Daher habe ich einfach nicht herausfinden können, wie man den Kofferraum öffnet.“

Nun wusste er, weshalb sie sich gewappnet hatte. Sie wartete nur darauf, dass er ihr wieder einen Schlag versetzte. In der Tat, es war eine nette kleine Falle und ihm fielen hundert billige Witze dazu ein. Wer wusste denn nicht, wie man einen Kofferraum öffnete? Das konnte sogar seine achtjährige Tochter.

Was ihn davon abhielt, dies und anderes zu äußern, war die Tatsache, dass sie nur darauf wartete, von ihm auseinandergenommen zu werden, und dass sie ihm eine verwundbare Stelle gezeigt hatte, obwohl sie genau wusste, dass er sie nicht mochte. Wyatt war es völlig gleichgültig, ob sie ihn für einen gemeinen Mistkerl hielt, aber wie ein Rüpel würde er sich dennoch nicht verhalten.

Er ging also zu ihr, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und wies auf den Anhänger. „So etwas schon einmal gesehen? Die kleinen Bildchen sagen Ihnen, was die einzelnen Knöpfe tun.“ Er drückte auf den Knopf, mit dem der Kofferraum geöffnet wurde, und er sprang auf.

Claire grinste ihn an. „Im Ernst? Ist das alles?“ Sie ging hinüber und sah in die Öffnung. „Der ist ja riesig. Ich hätte mehr Gepäck mitbringen können. Gibt es noch andere Knöpfe?“

Sie war in einem Grad begeistert, wie es der Schlüsselanhänger gar nicht verdient hatte. „Sie kommen wohl nicht viel raus?

Ihr Lächeln breitete sich übers ganze Gesicht aus. „Sogar noch weniger, als Sie glauben.“

„Tür abschließen. Tür aufschließen. Der Panic Button.“

„Das ist ja total cool.“

Sie freute sich wie ein Kind über ein neues Spielzeug. Damit hält sie mich doch nur zum Narren, dachte er.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie schließlich. „Im Ernst, in dieser Mietwagengarage kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.“ Sie zog die Nase kraus. „Wenn doch bloß das Fahren auch so einfach wäre. Müssen die Leute auf der Autobahn eigentlich so rasen?“

Er hatte nicht die geringste Idee, was er von ihr halten sollte. Aufgrund der gelegentlichen Kommentare, die Nicole über ihre Schwester abgab, wusste er, dass er ihr nicht trauen durfte. Aber während sie tatsächlich so unpraktisch war, wie Nicole behauptet hatte, war sie doch nicht annähernd so kalt und distanziert.

Es war ja nicht sein Problem, erinnerte er sich.

Dann hielt er Claire den Schlüssel hin und sie griff danach, um ihn zu nehmen. Eine Sekunde lang, vielleicht auch zwei, kam es dabei zu einer Berührung. Seine Finger auf ihrer Handfläche. Es war nur ein kurzes Streifen über Haut, und völlig belanglos. Wenn nur nicht plötzlich ein Feuer in ihm ausgebrochen wäre.

Du verfluchter Hurensohn, dachte er grimmig, riss seine Hand zurück und steckte sie in die Jackentasche. Auf keinen Fall. Nicht sie. Lieber Gott, jede andere außer ihr.

Claire plapperte weiter, vermutlich dankte sie ihm. Er hörte nicht mehr zu. Stattdessen fragte er sich, warum von allen Frauen der Welt es ausgerechnet sie war, die bei ihm diese heiße, leuchtend helle sexuelle Energie auslöste.

Die Frau mit der ruhigen Stimme aus dem Navigationssystem leitete Claire zu dem Haus, in dem sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Direkt davor fand sie in der schmalen Straße einen Parkplatz, und zwar gleich in der Auffahrt, sodass sie nur vorwärts hineinfahren musste, um ihn zu belegen. Niemals würde sie in der Lage sein, rückwärts einzuparken.

Sie stellte den Motor ab, stieg aus und schloss den Wagen ab, indem sie den Schlüsselanhänger zum Einsatz brachte. Es war zwar albern, aber sie war stolz auf sich selbst, und so ging sie ums Haus herum nach hinten, wo sie den Ersatzschlüssel an dem Platz fand, den Jesse ihr bezeichnet hatte. Sie schloss die Hintertür auf und betrat das Haus.

Seit Jahren hatte sie dieses Haus nicht mehr von innen gesehen. Fast zwölf, dachte sie und erinnerte sich an die einzige Nacht, die sie unter diesem Dach verbracht hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Eine Nacht, in der Jesse sie wie eine Fremde angestarrt und Nicole sie mit offenkundiger Abscheu angefunkelt hatte. Und nicht, dass Nicole sich mit schweigender Kommunikation zufriedengegeben hätte. Mit sechzehn fühlte sie sich sehr wohl dabei, ihre Meinung laut zu verkünden.

„Du hast sie umgebracht“, schrie sie. „Du hast sie uns weggenommen und dann hast du sie getötet. Das werde ich dir nie verzeihen. Ich hasse dich. Ich hasse dich.“

Lisa, Claires Managerin, hatte sie damals von dort weggeholt. Sie hatten eine Suite im Four Seasons gemietet und bis nach der Beerdigung dort gewohnt. Anschließend waren sie gleich von Seattle nach Paris geflogen. Frühling in Paris, hatte Lisa gesagt. Die Schönheit der Stadt würde sie heilen.

Das hatte sie nicht getan. Erst die Zeit hatte die Wunden geschlossen, die Narben aber waren immer noch vorhanden. „Springtime in Paris“ – die Worte erinnerten sie an den Song, und jedes Mal, wenn sie ihn hörte, erinnerte sie sich umgekehrt an den Tod ihrer Mutter und daran, wie Nicole gebrüllt hatte, dass sie Claire hasste.

Claire schüttelte die Erinnerungen ab und ging in die Küche. Sie hatte sich verändert und wirkte jetzt irgendwie moderner und größer. Offensichtlich hatte Nicole das Haus renoviert, jedenfalls zum Teil. Sie sah sich weiter im unteren Stockwerk um und stellte fest, dass einige kleinere Zimmer zu größeren Räumen zusammengefügt worden waren. Es gab jetzt ein großes Wohnzimmer mit bequemen Sitzmöbeln in warmen Farben. An der Wand stand ein Glasschrank, der einen Flachbildfernseher und andere Elektronik verbarg. Das Esszimmer sah aus wie immer, aber das kleine Schlafzimmer hier unten war in eine Art Arbeitszimmer oder Rückzugsraum umgestaltet worden.

Das Haus war dunkel und kalt. Sie entdeckte den Thermostat und stellte die Heizung an. Ein paar Lampen sorgten dann auch für Licht, was das Haus aber nicht im Geringsten einladender machte. Vielleicht ist aber auch das Haus gar nicht das Problem, überlegte sie. Es mochte viel eher an ihr selbst liegen, und an den Erinnerungen, die sie nicht vertreiben konnte.

Das letzte Mal war sie zur Beerdigung ihres Vaters nach Seattle gekommen. Irgendein Mann hatte sie kurz angerufen und mitgeteilt, dass ihr Vater gestorben war. Vermutlich Wyatt, dachte Claire, als sie sich auf dem Rand des Sofas niederließ. Er hatte ihr Datum, Uhrzeit und Ort der Beerdigung bekannt gegeben und dann gleich wieder aufgelegt.

Anschließend hatte Claire unter Schock gestanden, denn sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass ihr Vater überhaupt krank war. Niemand hatte es ihr gesagt.

Sie war sich im Klaren darüber, was man hier von ihr dachte – dass sie sich nichts aus ihrer eigenen Familie machte, dass ihr alles gleichgültig war. Wie oft hatte sie versucht, zu erklären, dass sie schließlich diejenige war, die fortgeschickt wurde. Ihren Schwestern hatte man erlaubt zu bleiben, wo sie in Sicherheit leben konnten und wo sie geliebt wurden. Nicole aber hatte das nie so sehen können. Sie war immer nur wütend.

Claire strich mit den Händen über das weiche Material der Couch. Nichts davon war ihr vertraut. Wyatt hatte recht, sie gehörte nicht hierher. Nicht, dass sie abreisen wollte. Nicole und Jesse waren schließlich alles, was ihr an Familie noch geblieben war. Claires Anrufe und Briefe in den letzten Jahren mochten sie ignoriert haben, aber nun war sie einmal hier, und sie würde nicht wieder gehen, bis sie irgendwie zu ihnen durchgedrungen war und sie sich versöhnt hatten.

Claire stand auf und ging die Treppe hoch ins obere Stockwerk. Dort gab es drei Schlafzimmer. Vor der Master Suite blieb sie stehen. Aufgrund der Farbanordnung und den Dingen, die auf dem Toilettentisch herumstanden, nahm sie an, dass Nicole jetzt wohl dort schlief. Am anderen Ende des Flurs befanden sich die beiden übrigen Schlafzimmer und das Bad, das sie miteinander teilten.

Einer der Räume sah aus wie ein typisches Gästezimmer mit dem viel zu ordentlichen Bett und den neutralen Farben. Das letzte Zimmer im Flur hingegen war ganz in Violett gehalten, mit Postern an den Wänden und einem Computer, der auf einem Schreibtisch stand, der eine ganze Ecke ausfüllte.

Claire betrat diesen Raum und sah sich um. Das Zimmer roch nach Vanille.

„Was hast du getan?“, fragte sie laut. „Jesse, hast du mich hereingelegt? Ist Nicole wirklich bereit, mir zu verzeihen?“

Verzweifelt wünschte sie sich, ihrer Schwester glauben zu können, aber sie merkte, dass sie doch Zweifel hegte. Wyatt war in seiner Abneigung ihr gegenüber sehr überzeugend gewesen.

Die Ungerechtigkeit, dass ein Fremder sie verurteilte, verursachte ihr Schmerzen in der Brust, aber sie ignorierte das Gefühl. Irgendwie würde sich alles regeln.

Sie ging wieder nach unten und wollte zum Haupteingang. Auf dem Weg dorthin entdeckte sie eine schmale Treppe, die in den Keller führte. Sie wusste, was sich dort unten befand.

Jede einzelne Zelle ihres Körpers warnte sie, es nicht zu tun. Nicht dort unten nachzusehen. Und dennoch kam sie erst wieder zu sich, als sie schon auf die Öffnung zuging und dann langsam, sehr langsam die Treppe hinabstieg.

Diese führte in einen Keller, und was irgendwann einmal als offener Raum angelegt worden war, wurde durch eine Wand unterteilt, in der sich eine Tür befand. Nicole hatte es also nicht eingerissen, dachte Claire und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Bedeutete es etwa, dass es noch Hoffnung gab, oder wäre die Maßnahme einfach mit allzu viel Aufwand verbunden gewesen?

Die Hand schon auf die Türklinke gelegt, zögerte Claire. Wollte sie wirklich dort hinein?

Als Nicole und sie drei Jahre alt waren, hatten ihre Eltern sie einmal in das Haus eines Freundes mitgenommen. Keins der beiden Mädchen war vorher schon dort gewesen, und anfangs war der Besuch auch nicht weiter bemerkenswert verlaufen. Es war bloß einer dieser Regentage in Seattle und zwei Kleinkinder, die in einem Haus voller Erwachsener in der Falle saßen.

Dann hatte einer der Gäste versucht, den Mädchen ein wenig Unterhaltung zu bieten, indem er Klavier spielte. Nicole war es schnell langweilig geworden und sie hatte sich bald getrollt. Claire aber hatte sich auf die harte Bank zu ihm gesetzt und war völlig verzaubert von den Tasten und den Tönen, die sie hervorriefen. Nach dem Mittagessen war sie dann allein zurückgekehrt. Viel zu klein, um die weißen und schwarzen Tasten überhaupt sehen zu können, wusste sie doch, dass sie dort waren, und vorsichtig hatte sie über ihren Kopf hinweg nach oben gegriffen und angefangen, eins der Lieder zu spielen.

Auch wenn sie damals noch sehr jung war, Claire erinnerte sich an alles, was an diesem Nachmittag geschehen war. Wie ihre Mutter hereinkam und sie eine ganze Zeit lang beobachtet hatte. Wie sie sie dann auf ihren Schoß hob, sodass sie vor dem Klavier sitzen und die hübsche Musik viel leichter spielen konnte.

Sie hatte nie erklären können, woher sie wusste, welche Taste welchen Ton hervorrief, und wie die Musik scheinbar irgendwie in ihrem Innern entstand, nach oben blubberte und schließlich aus ihr herausfloss. Es war eins dieser Dinge, die einfach geschehen und nichts weiter als die Marotte eines ansonsten unauffälligen Genpools sind.

Auch Nicole hatte auf dem Schoß ihrer Mutter gesessen, aber sie hatte kein Interesse am Klavierspiel gezeigt, und wenn sie ihre kleinen Hände auf die Tasten legte, kam dabei nur Lärm heraus.

Dieser Tag hatte alles verändert. Schon zwei Tage später begann Claire mit dem Unterricht. Dann wurden die Arbeiten im Keller aufgenommen und ein schalldichter Übungsraum gebaut. Zum ersten Mal in ihrem Leben taten die Zwillinge nicht mehr genau dasselbe zur selben Zeit. Die Musik und Claires Talent hatten sich zwischen sie gestellt.

Claire stieß die Tür auf und konnte das Klavier sehen, dass ihr als Kind so wunderschön und perfekt erschienen war. Vermutlich hatten die Kosten das Sparkonto ihrer Eltern damals ganz schön dezimiert, wenn nicht mehr als das. Inzwischen hatte Claire auf vielen der berühmtesten Konzertflügeln der Welt gespielt, aber an keinen erinnerte sie sich so gut wie an dieses Klavier.

Sie stand davor und starrte auf den Staub der Abdeckung. Wahrscheinlich war es seit Jahren nicht benutzt worden und musste gestimmt werden.

Sie verspürte nicht im Geringsten den Wunsch, darauf zu spielen. Schon der Gedanke daran, sich auch nur auf die Bank zu setzten, schnürte ihr die Brust zu. Sie zwang sich dazu weiterzuatmen und sagte sich, dass sie es ja auch nicht tun müsse. Alles war in Ordnung. Nicht einmal Ausreden würde sie nun erfinden müssen, um sich vor den Stunden der Meisterklasse zu drücken, denn schließlich trennte sie nun ein ganzer Kontinent von dieser Welt.

Am Rande ihres bewussten Denkens lauerte die Panik und Claire kämpfte dagegen an. Als die sich aber partout nicht vertreiben ließ, zog sie sich nach oben auf sichereres Terrain zurück, und sobald sie das Parterre betreten hatte, konnte sie auch wieder leichter atmen.

Sie nahm sich vor, das Klavier zu ignorieren, einfach so zu tun, als sei es überhaupt nicht mehr hier. Mit einer Ausnahme – sie wollte es stimmen lassen. Ihr lebenslanges Training ließ einfach nicht zu, dass sie es vernachlässigt stehen lassen konnte.

Nachdem sie im Keller den Dämon zwar nicht besiegt, aber immerhin doch ziemlich wütend angestarrt hatte, ging sie zum Wagen und schleppte ihre zwei Koffer herein, die sie die Treppe hinaufzog und ins Gästezimmer stellte. Dann ging sie zurück in die Küche, um sich etwas zu Essen zu machen.

Da gab es nicht viel. Sie entdeckte aber eine Dosensuppe, die sie sich auf dem Herd anwärmen konnte. In der Zwischenzeit nahm sie ein Telefonbuch zur Hand und fing an, Krankenhäuser anzurufen. Bald schon hatte sie das gefunden, in dem ihre Schwester lag. Man bot ihr an, sie mit dem Schwesternzimmer zu verbinden, was Claire aber ablehnte. Dann legte sie auf.

Das Gute daran war, dass sie jetzt wusste, dass die Operation offensichtlich gut verlaufen war, denn Nicoles Zimmer lag auf einer normalen und nicht der Intensivstation. Weniger gut war natürlich, dass, jedenfalls Wyatt zufolge, Nicole von Claires Besuch gar nichts wusste und keinerlei Interesse daran hatte, sie zu sehen. War sie etwa den ganzen Weg umsonst gereist?

Sie checkte ihr Handy und stellte fest, dass sie zwei Anrufe von Lisa erhalten hatte. Da ihre Managerin unmöglich etwas sagen könnte, was sie hören wollte, löschte Claire die Nachrichten einfach, ohne sich die Mühe zu machen, sie abzuhören.

Während sie die Suppe gleich aus dem Topf löffelte, blieb sie an der Spüle stehen und sah in den kleinen, eingezäunten Garten hinter dem Haus.

Sie wusste doch, wann die Dinge mit Nicole angefangen hatten schiefzulaufen. Sie wusste genau, was das Problem war. Warum also konnte sie es nicht lösen?

Egal. Sie war hier, in diesem Haus, und entschlossen, Nicole und Jesse in ihr Leben zurückzuholen. Was auch immer die beiden tun oder sagen mochten, sie würden sie nicht wieder los. Claire würde sie dazu bringen, sie zu lieben, und um gekehrt würde sie die beiden lieben. Sie waren ihre Familie, und das war wichtiger als alles andere.

Nicole gab ihr Bestes, um sich nicht zu bewegen. Alles tat ihr weh. Der Schmerz war zwar durch die Wunderwirkung moderner Medikamente gedämpft, aber dennoch war er vorhanden, lauernd und bedrohlich. Sie ignorierte sein Stechen und pries den unbekannten Erfinder von Betten, die mit einem Knopfdruck aufgerichtet und wieder abgesenkt werden konnten. Die nächsten sechs bis acht Jahre würde sie jetzt einfach hier so liegen bleiben, bis sie wiederhergestellt war.

Jemand betrat das Zimmer. Sie hörte Schritte und wappnete sich schon gegen die unvermeidliche Fragerei und die aufmunternden Sprüche, die nun folgen würden. Stattdessen war dann aber nur Schweigen. Sie öffnete die Augen und sah Wyatt neben ihrem Bett stehen.

Sie fühlte sich einfach mies und ging davon aus, dass sie auch nicht wesentlich besser aussah. In solchen Momenten war sie dankbar, dass sie und Wyatt immer nur gute Freunde waren.

„Da wird bestimmt eine Wahnsinnsnarbe zurückbleiben“, teilte er ihr mit.

„Männer stehen auf Narben“, flüsterte sie mit trockenem Mund. „Ich werde sie mit dem Stock verjagen müssen. Nicht, dass ich mir vorstellen kann, jemals wieder die Kraft zu besitzen, einen Stock heben zu können. Ob ich sie wohl auch mit einem Strohhalm vertreiben kann? Mit einem Strohhalm könnte ich umgehen.“

„Ich werde da sein und helfen.“

„Da habe ich aber Glück.“

Er streichelte ihr über die Wange, zog einen Stuhl heran und setzte sich. „Wie fühlst du dich?“

Sie brachte ein Lächeln zustande. „Das fällt unter die Kategorie der wirklich dummen Fragen. Ist dir eigentlich klar, was der Begriff Operation alles beinhaltet? Man hat mich aufgeschlitzt und in Scheibchen geschnitten, und ich denke daran, schmerzmittelsüchtig zu werden.“

„Die Entziehungskur würde dir nicht gefallen. Dafür bist du zu zynisch.“

„Und reizbar. Vergiss das nicht, reizbar.“ Sie wies auf einen Plastikbecher, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand. „Könntest du mir den bitte reichen?“

Wyatt nahm ihn und hielt ihn ihr hin. Sie wollte einen Schluck riskieren. Beim letzten Mal hätte sie sich danach fast übergeben müssen, aber eine sehr gemein aussehende Krankenschwester hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, dass sie anfangen müsse, wieder zu trinken und zu pinkeln. Nicole hatte nicht verstanden, wozu das gut sein sollte, aber die Schwester hatte darauf beharrt.

Also trank sie einen kleinen Schluck und erschrak, als eine Welle von Übelkeit sie durchschwemmte. Aber zumindest war es diesmal weniger heftig als beim ersten Mal. Sie nippte also noch ein zweites Mal, und diesmal spürte sie von all dem kaum noch etwas. Ein Fortschritt.

Sie gab Wyatt das Wasser zurück und atmete tief durch.

„Erzähl mir was. Ich höre dir zu. Aber bitte keine Scherze. Ich will nicht lachen. Das würde mir zu sehr wehtun.“

Wyatt beugte sich vor und nahm ihre Hand. „Ich war in der Bäckerei. Da ist alles in Ordnung.“

„Gut. Sie werden ohne mich klarkommen. Sie wissen, wie man das Geschäft führt. Da brauche ich mir um nichts Sorgen zu machen.“

Natürlich würde sie sich Sorgen machen, einfach schon, weil es in ihrer Natur lag, aber es war doch gut zu wissen, dass es nicht nötig war.

„Also, hm, ich bin dort jemandem begegnet.“

Trotz ihrer Schmerzen und den Medikamenten schlug Nicole die Augen auf. Da war etwas in der Art, wie Wyatt sie nicht anschaute. Fast schon irgendwie ... schuldbewusst.

„Eine Frau?“

Er nickte.

Sie verstand nicht. Was sollte denn jetzt das Problem sein? Er war jemandem begegnet. Das war doch gut so. „Dann geh doch mit ihr aus!“

„Wie bitte?“ Er richtete sich auf und starrte sie an. „Du hast nicht ...“ Er beugte sich wieder zu ihr vor. „Ich wollte nicht sagen, dass ich jemandem begegnet bin, den ich mag. Ich habe jemanden getroffen, mit dem ich dort nicht gerechnet hatte.“

„Vielleicht liegt es ja an der Operation und allem, aber ich werde nicht schlau aus dem, was du sagst.“

„Ich bin Claire begegnet.“

„Welcher Claire?“ Aber noch während sie die Frage aussprach, hatte sie die Antwort auch schon gefunden. Claire, ihre Schwester. Claire, die Perfekte, die Prinzessin. Die Konzertpianistin und Solistin. Die Weltreisende. Die reiche Tussi. Ihre selbstsüchtige, narzisstische, hohle, grausame, schreckliche Schwester.

„Unmöglich“, murmelte sie und schloss die Augen. Schlaf wäre gut, sagte sie sich. Sie würde jetzt schlafen und all das würde einfach verschwinden.

„Wie es aussieht, hat Jesse sie angerufen und ihr von deiner Operation erzählt, also ist sie eingeflogen.“

Nicole riss die Augen wieder auf. „Wie bitte?“

„Sie ist hier, um dir während deiner Genesung zu helfen.“

Würde Nicole sich nicht so elend und benebelt gefühlt haben, hätte sie jetzt gelacht. „Hilfe? Sie will helfen? Wo zum Teufel hat sie sich denn die letzten zweiundzwanzig Jahre herumgetrieben? Wo war sie denn, als ich hier festsaß und mich um Jesses Erziehung und die Bäckerei kümmern musste? Wo war sie, als unsere Mutter wegging, nur um bei ihr zu sein, und dann gestorben ist? Wo war sie, als Dad starb? Macht sie sich tatsächlich die Mühe, einmal hier aufzutauchen? Ich kann es nicht glauben. Sie muss sofort verschwinden. Sie soll ihren Arsch mit den Designerklamotten aus meiner Stadt heben und in ihre Cocktail-Party-Kreise zurücktragen, oder wo sonst sie die vergangenen ...“

Nicole hatte den Fehler gemacht zu versuchen, sich allein aufzusetzen. Der Schmerz zerriss sie, nahm ihr den Atem und ließ sie laut aufstöhnen. Sie sank aufs Bett zurück und schloss die Augen. Claire hier? War ihr Leben ohne sie etwa noch nicht ätzend genug?

„Ich hasse sie.“

„Ich weiß.“ Wyatt drückte ihre Hand. „Sie glaubt, sie würde helfen.“

Es ist einfach zu viel, dachte Nicole. „Im Moment kann ich nicht mit ihr umgehen. Halt sie einfach von mir fern. Im Ernst, Wyatt, lass nicht zu, dass sie hierher ins Krankenhaus kommt.“

„Ich werde es verhindern“, versprach er und küsste sie auf die Stirn.

Ein guter Kerl, dachte sie beim Einschlafen. Einer der besten. Warum bloß war ich nicht so klug, mich in ihn zu verlieben? Aber nein, es musste ja Drew sein. Eine einzige Katastrophe, das Ganze. Und jetzt auch noch Claire? Was mochte als Nächstes kommen? Heuschrecken?

Claire traf viel zu früh im Krankenhaus ein, um Nicole abzuholen. Am Tag zuvor hatte sie die Fahrt zweimal geprobt, um sich mit der Strecke vertraut zu machen. Auch das Fahren selbst war nun etwas weniger beängstigend. Solange sie sich von den Autobahnen fernhielt, fühlte sie sich schon beinahe kompetent. Bei der Gelegenheit hatte sie auch mit Nicoles Krankenschwester gesprochen und ihr erklärt, dass sie zur Familie gehöre und dass sie, Claire, sie abholen wolle. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, wann sie ungefähr entlassen wurde. Also war Claire jetzt hier und bereit zu helfen.

Sie versuchte, nicht allzu viel über Wyatts Behauptung nachzudenken, dass Nicole von ihrem Besuch keine Ahnung hatte und sich kaum darüber freuen würde, sie zu sehen. Trotz ihrer wiederholten Versuche, Jesse auf dem Handy zu erreichen, war es ihr weder gelungen, sie zu erwischen, noch hatte Jesse auf ihre Nachrichten reagiert. Offensichtlich war da irgendetwas im Schwange, aber Claire war zuversichtlich, dass es sich um kaum mehr als ein Missverständnis handeln konnte, das leicht aufzuklären war. Zumindest war es das, was sie sich immer dann einredete, wenn sich ihr der Magen umdrehte oder die Brust anfing, enger zu werden.

Als sie aus dem Fahrstuhl trat, fasste sie ihre Handtasche etwas fester und begann, den langen Flur hinunterzugehen. Schilder wiesen ihr den Weg zum Schwesternzimmer, jedoch bevor sie dort noch ankam, entdeckte sie Nicole in einem Rollstuhl, der von einer Pflegerin geschoben wurde, und Wyatt, der die Nachhut bildete.

Claire wurde von Gefühlen übermannt, sodass sie einfach stehen blieb und ihre Schwester anstarrte, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Nicole sah gut aus, zwar etwas blass, aber das war ja verständlich. Die Frau war schließlich gerade operiert worden. Über einem T-Shirt trug sie einen Kapuzen-Pullover mit Reißverschluss. Die Haare waren in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf der Stelle fühlte Claire sich overdressed.

„Nicole“, flüsterte sie voll überschwänglicher Freude. Sie waren wieder zusammen! Endlich.

„Oh, großer Mist“, knurrte Nicole. „Kann ich noch mehr Schmerzmittel haben?“

„Ihre Schwester?“, fragte die Pflegerin. „Sie sehen sich ähnlich. Fast wie Zwillinge.“

„Zweieiige“, stellte Nicole klar. „Und machen Sie nicht alles noch schlimmer, indem Sie davon sprechen.“

Wyatt legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ich werde mich darum kümmern.“ Er ging zu Claire hinüber. „Was wollen Sie hier? Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht hierherkommen.“

Claire ignorierte ihn einfach, und ebenso die höhnischen Bemerkungen ihrer Schwester. Stattdessen lief sie zu Nicole und hockte sich vor ihr auf den Boden. Gern hätte sie sie umarmt, fürchtete jedoch, es könnte ihr wehtun. Daher gab sie sich damit zufrieden, nach Nicoles Arm zu greifen und ihr lächelnd in die Augen zu sehen.

„Du siehst großartig aus. Wie geht es dir?“

Nicole starrte sie an. „Als ob man mir ein Organ herausgerissen hätte. Was tust du hier?“

„Ich fahre dich nach Hause.“

„Nein, das werden Sie nicht“, unterbrach Wyatt. „Deshalb bin ich hier.“

„Was machst du in Seattle?“, fragte Nicole. „Sag mir bitte, dass es nur ein kurzer Besuch ist, der in einer Stunde beendet ist.

„Ich habe von deiner Operation erfahren, deshalb bin ich hierhergeflogen, um mich um dich zu kümmern.“

„Wie süß von Ihnen“, meinte die Pflegerin.

„Ich brauche deine Hilfe nicht“, fauchte Nicole. „Verschwinde wieder.“

Claire musste all ihre Kräfte aufbieten, um auf diese geballte Feindseligkeit nicht zu reagieren. Sie sagte sich, dass ihre Schwester Schmerzen hatte und Wyatt sie nicht kannte. Sehr viel Zeit und massenhaft negative Emotionen hatten sich zwischen die Geschwister Keyes geschoben, da würde es mehr als einen Tag brauchen, um die alten Wunden zu heilen.

Am liebsten aber wäre sie aufgesprungen, hätte mit dem Fuß gestampft und darauf hingewiesen, dass sie hier die betrogene Partei war. Schließlich war es Nicole, die Claire vor Jahren den Rücken gekehrt hatte und sich seitdem weigerte, ihre Haltung zu überdenken. Nicole gab Claire die Schuld für Ereignisse, an denen sie ebenso litt wie ihre beiden Schwestern. Aber das anzusprechen, würde gar nichts bringen. Claire war hier, weil sie ein Ziel verfolgte.

Sie blieb also, wo sie war. „Ich werde nirgendwo hingehen. Du brauchst mich.“

Nicole stöhnte. „Ich brauche vieles, aber du gehörst bestimmt nicht dazu. Wyatt, hatte ich dich nicht bereits gebeten, mich zu erschießen? Hast du da zugehört?“

Wyatt legte ihr die Hand auf die Schulter. „Und ich hatte dir bereits gesagt, dass ich das nicht tun kann.“

„Männer sind zu nichts zu gebrauchen“, maulte Nicole und sah dann wieder zu Claire. „Möchtest du nicht vielleicht aufstehen, damit ich hier rauskann? Ich habe Schmerzen, ich bin müde, und ich will einfach nur nach Hause.“

„Mein Wagen steht vor der Tür“, erklärte ihr Claire. „Ich kenne den Weg, ich habe die Fahrt geprobt.“

„Wir sind ja alle so stolz auf dich.“

Autor

Susan Mallery

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.

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