Frisch verlobt

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Wenn alles in ihrem Leben so rund laufen würde wie ihr Nudelholz, wäre Nicole Keyes glücklich. Doch nicht nur die Familienbäckerei, sondern auch ihre beiden Schwestern lassen der leidenschaftlichen Konditorin keine Zeit für die Erfüllung ihrer Wünsche. Bis der wundervolle Hawk in ihr Leben tritt und ihr ein Stück von der Freiheit zeigt, nach der sie sich immer gesehnt hat. Und bald schon stellt Nicole fest: Mit der Liebe ist es wie mit einer Torte - man muss nur die richtigen Zutaten haben, dann gelingt sie auch einer Anfängerin.


  • Erscheinungstag 03.10.2019
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751628
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nicole Keyes war schon immer davon überzeugt, dass man die Zitronen, die das Leben einem mitunter reicht, am besten in einer Schale auf die Ladentheke stellt, um sich dann ein Teilchen zu gönnen und bei einer Tasse Kaffee darauf zu warten, dass es wieder aufwärts geht. Was wiederum erklärte, weshalb die Stempelkarten nun klebrig waren und sie selbst einen ausgewachsenen Koffeinflash hatte.

Sie schielte zur Ladenvitrine, in der eine Kirschkäsetasche wieder und wieder leise ihren Namen rief, sah dann aber schnell auf ihren Stützverband am Knie und den Stock an ihrer Seite. Noch immer hatte sie sich nicht ganz von ihrer letzten Operation erholt, und das bedeutete eben auch wenig bis gar keine physische Aktivität. Wenn sie also nicht riskieren wollte, dass ihre Jeans noch enger wurden, sollte sie wohl auf dieses zweite Stück Plundergebäck verzichten.

„Immer noch besser, sich von Kuchen verführen zu lassen als von einem Mann“, sagte sie sich. Gebäck konnte eine Frau nur dick machen, ein Mann aber war in der Lage, ihr das Herz aus der Brust zu reißen und sie dann blutend und verletzt liegen zu lassen. Und wenn auch das Mittel gegen Ersteres nicht gerade angenehm war – mit Diät und Sport konnte sie leben. Die Mittel gegen Letzteres waren bestenfalls zweifelhaft: Distanz, Ablenkung, fantastischer Sex. Nichts davon gab es in ihrem Leben momentan.

Die Tür zur Bäckerei wurde geöffnet, begleitet vom Klang der oberhalb angebrachten Türglocke. Nicole sah allerdings kaum auf, als ein Highschool-Schüler auf den Tresen zuging und fünf Dutzend Doughnuts bestellte. Sie leckte sich die Finger ab, wischte mit einer Papierserviette nach und fing an, die Stempelkarten abzuzeichnen, damit sie noch an diesem Nachmittag zum Buchhalter gebracht werden konnten.

Maggie, die hinter der Vitrine bediente, stellte drei große Schachteln auf die Theke und begann, die Bestellung in die Kasse einzugeben. In diesem Augenblick klingelte das Telefon, und sie wandte sich ab, um das Gespräch anzunehmen.

Nicole hätte nicht sagen können, was genau sie veranlasste, gerade in diesem Moment hochzusehen. Ein sechster Sinn? Glück? Oder wurde ihre Aufmerksamkeit durch das unruhige Herumzappeln des Teenagers geweckt?

Jedenfalls sah sie, wie der Junge sein Handy vorne in die Tasche seiner Shorts schob, sich die Schachteln mit den Doughnuts schnappte und zurück zur Tür marschierte. Und das, ohne zu zahlen!

Nicole hatte ja akzeptiert, dass sie von Natur aus eher grummelig war. Selten sah sie die positiven Seiten der Dinge und war dafür bekannt, dass sie von Zeit zu Zeit überreagierte. Aber nichts, absolut gar nichts brachte sie mehr in Rage, als wenn jemand versuchte, sie für dumm zu verkaufen. In letzter Zeit war dies in ihrem Leben häufiger vorgekommen, und unter keinen Umständen würde sie zulassen, dass dieser Junge sich da einreihte.

Ohne ihr Vorgehen wirklich zu planen, hielt sie ihm den Stock in den Weg, sodass er darüber stolperte und hinfiel, dann stemmte sie ihm den Stock mitten in den Rücken.

„Na, das war wohl nichts“, erklärte sie ihm. „Maggie, ruf die Polizei.“

Fast rechnete sie schon damit, dass der Junge aufspringen und weglaufen würde. Sie hätte ihn nicht davon abhalten können, aber er rührte sich nicht. Zehn Minuten später ging die Tür erneut auf, aber anstatt eines Vertreters des Polizeikorps von Seattle sah sie jemanden hereinspazieren, der ohne Weiteres als Unterwäschemodel und/oder Action Hero durchgehen konnte.

Der Kerl war groß, sonnengebräunt und nahm sein Fitnesstraining ernst. Letzteres war nicht zu übersehen, da er nichts weiter als rote Shorts und ein graues T-Shirt der Pacific Highschool trug, das just über dem Hosenbund endete. Wenn er sich bewegte, regten und wölbten sich Muskeln, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie im menschlichen Körper existieren.

Eine spiegelnde Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Er starrte auf den Jungen, den sie weiterhin mit ihrer Krücke festhielt, sowie auf die Doughnuts, die über den Boden verstreut lagen, riss sich die Sonnenbrille ab und lächelte sie an.

Dieses Lächeln kannte sie.

Oh, nicht speziell von ihm. Es war das Lächeln, das Pierce Brosnan in seiner Rolle als James Bond einsetzte, wenn es darum ging, leicht atemlosen Sekretärinnen Informationen zu entlocken. Dasselbe Lächeln hatte ihr Exmann mehr als einmal benutzt, um sich aus der Affäre zu ziehen. Nicole hätte dagegen immuner nicht sein können, wenn sie den Impfstoff selbst erfunden hätte.

„Hi“, begrüßte er sie. „Ich bin Eric Hawkins. Sie können mich Hawk nennen.“

„Wie schön für mich. Ich bin Nicole Keyes. Sie dürfen mich Ms. Keyes nennen. Sind Sie von der Polizei?“ Sie musterte ihn, wobei sie bemüht war, sich von so viel männlicher Perfektion auf so kleinem Raum nicht beeindrucken zu lassen. „Ihre Uniform ist wohl in der Reinigung?“

Sein Lächeln wurde breiter. „Ich bin der Football Coach der Pacific Highschool. Einer meiner Freunde im Revier hat Ihren Anruf entgegengenommen und mich dann informiert.“

Seattle galt als Großstadt, war aber letztlich doch nur aus vielen kleinen Wohnvierteln zusammengesetzt, was Nicole an ihrer Heimatstadt eigentlich gefiel. Nur jetzt im Moment gerade nicht.

Empört sah sie die Frau hinter der Theke an. „Maggie, könntest du die Polizei bitte noch einmal anrufen?“

„Maggie, warten Sie noch“, bat Hawk und gab Nicoles Stock einen Schubs, sodass der Junge wieder auf die Füße krabbeln konnte. „Raoul, alles in Ordnung mit dir?“

Nicole verdrehte die Augen. „Oh, bitte. Was sollte ihm schon passiert sein?“

„Er ist mein Star-Quarterback, da gehe ich kein Risiko ein. Raoul?“

Der Junge zog den Kopf ein und log: „Alles in Ordnung, Coach.“

Hawk nahm den Jungen beiseite und sie unterhielten sich flüsternd, was Nicole wachsam beobachtete.

Im Bundesstaat Washington mochte es zwar nicht gerade wie in Texas zugehen, aber auch hier spielte der Highschool Football eine große Rolle. Siegreicher Quarterback in einem Highschool Team zu sein, war fast so gut, als wäre man Paris Hilton. Höchstwahrscheinlich rechnete Hawk damit, dass sie seinem zweifelhaften Charme erliegen und den Jungen mit nicht mehr als einem Schulterzucken über das Missverständnis laufen lassen würde. Und das würde nun wahrhaftig nicht geschehen.

„Also“, begann sie in dem strengsten Tonfall, den sie aufbringen konnte, „er hat fünf Dutzend Doughnuts gestohlen. Aus Ihrer Sicht mag das ja völlig in Ordnung sein, aber für mich ist es das nicht. Ich werde die Polizei rufen.“

„Es ist nicht sein Fehler“, erklärte ihr Hawk, „es ist meiner.“

Sie bedauerte, die Augen schon einmal verdreht zu haben, denn das bedeutete, dass sie es nun nicht wieder tun konnte. „Weil Sie ihm gesagt haben, er solle stehlen?“

„Raoul, warte auf mich in meinem Truck“, forderte Hawk den Jungen auf.

„Raoul, denk nicht mal daran, dich hier wegzubewegen“, fauchte Nicole.

Sie konnte sehen, wie Hawks gute Laune verflog. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich neben sie und beugte sich zu ihr.

Einer von den Kerlen, die immer zu viel Platz einnehmen, dachte sie und kämpfte gegen das Bedürfnis an, ein Stück zurückzurutschen. Aber sie hielt ihre Stellung, auch wenn er ihr so nahe kam, dass sie die verschiedenen Braun-, Grün- und Goldtöne in seiner Iris unterscheiden konnte.

„Sie verstehen nicht“, sagte er leise. Sein Atem roch nach Pfefferminz. „Raoul ist der Captain der Mannschaft, und jeden Freitag besorgt der Captain Doughnuts für die Jungs.“

Kräftige Hände hat er, dachte sie abgelenkt. Wirklich groß und stark.

Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch zu lenken. „Dann hätte er dafür bezahlen sollen.“

„Er kann es nicht“, erklärte ihr Hawk, immer noch flüsternd. „Raoul ist ein guter Junge. Er wächst bei Pflegeeltern auf. Normalerweise hat er einen Job, aber während der Saison schafft er das nicht. Wir hatten abgemacht, dass ich ihm ein paar Dollar für die Doughnuts gebe, aber gestern habe ich nicht daran gedacht und er war zu stolz, danach zu fragen. Heute ist Freitag. Er musste die Doughnuts besorgen. Was er getan hat, war falsch. Aber haben Sie noch nie einen Fehler gemacht, Nicole?“

Fast hätte er sie so weit gehabt. Raouls traurige Geschichte hatte ihr zynisches Herz tatsächlich berührt. Dann aber hatte Hawks Stimme einen allzu vertraulichen Tonfall angenommen, und schließlich hatte er ihren Namen in einer Weise gedehnt, die sie wirklich nervte.

„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen“, fauchte sie.

„Nein, ich …“

„Und behandeln Sie mich nicht, als ob ich blöd wäre.“

Hawk hielt beide Hände hoch. „Ich halte Sie nicht …“

Mit einem vernichtenden Blick brachte sie ihn zum Schweigen.

Sie hätte wirklich wetten können, dass er normalerweise seinen Willen durchsetzte, vor allem bei Frauen. Ein kurzes Aufglimmen dieses Killerlächelns reichte doch, und schon schmolzen alle, die mit einem Satz X-Chromosomen ausgestattet waren, dahin wie Butter in der Sonne. Nun, ihr würde das nicht passieren.

Sie erhob sich und griff nach ihrem Stock, um sich abzustützen. „Der Junge wird angezeigt.“

Hawk sprang auf. „Verdammt, das ist nicht fair.“

Sie wies auf die Doughnuts, die noch immer verstreut auf dem Boden lagen. „Erzählen Sie das dem Richter.“

Hawk wollte auf sie zugehen, aber Raoul stellte sich zwischen sie. „Coach, lassen Sie’s gut sein. Ich habe einen Fehler gemacht. Mir war doch klar, dass es nicht richtig war, trotzdem habe ich geklaut. Sie sagen uns doch immer, dass wir lernen müssen, die Konsequenzen unseres Handelns zu akzeptieren. Und das hier ist so ein Fall.“

Der Junge drehte sich zu ihr um und sah dann zu Boden. „Es ist keine Entschuldigung, dass ich kein Geld habe. Ich hätte es nicht tun dürfen, nur weil ich Angst davor hatte, mich vor der Mannschaft bloßzustellen.“ Er zuckte die Schultern. „Es tut mir leid, Ms. Keyes.“

Nicole gefiel es überhaupt nicht, dass sie geneigt war, Raoul zu glauben. In seiner Haltung lag so viel Niedergeschlagenheit. Sie zog in Betracht, dass auch er ihr etwas vormachen könnte und die beiden darin wirklich ein fantastisches Team wären. Aber irgendwie hatte sie doch das Gefühl, dass der Junge die Wahrheit sagte. Er war verlegen und es tat ihm leid.

Sie überlegte, was sie tun sollte. Natürlich war es falsch zu stehlen, aber sie wollte Raoul auch nicht bestrafen, nur um Mr. Superman eins auszuwischen. Die Tatsache, dass sein Coach ein Frauenheld und ehemals vermutlich Unterwäschemodel war, konnte sie Raoul schließlich nicht anlasten.

Und auch wenn sie genau wusste, dass sie sich tierisch ärgern würde, wenn der Junge am nächsten Morgen nicht auftauchte, sagte sie schließlich: „Ich mache dir ein Angebot. Du kannst das, was du gestohlen hast, abarbeiten. Sei morgen früh um sechs Uhr hier.“

Seit dem Moment, als sie ihn zum Stolpern gebracht hatte, sah Raoul sie zum ersten Mal an. In seinen Augen leuchtete etwas auf, das Hoffnung zumindest ähnlich sah. „Ist das wahr?“

„Ja. Aber wenn du nicht erscheinst, werde ich dich jagen wie einen Hund, und du wirst deines Lebens nicht mehr froh. Abgemacht?“

Raoul grinste. Sie seufzte. Ein paar Jahre weiter, und er würde genauso gefährlich sein wie sein Coach. War das fair?

„Ich werde da sein“, versprach er. „Ich kann auch früher kommen.“

„Ich aber nicht.“

Nun meldete Hawk sich zu Wort. „Darf er denn jetzt vielleicht im Truck auf mich warten?“

„Natürlich.“ Obwohl, wenn es nach ihr ginge, dürfte Coach Hawkins jetzt ebenfalls gehen. Es gab nichts, was sie sich zu sagen hätten.

Nicole sah ihn an und hätte sich beinahe die Augen gerieben. Vielleicht lag es ja nur an einem Lichteffekt, aber sie hätte schwören können, dass er jetzt sogar noch besser aussah als vorher. Es war zum Verzweifeln.

Hawk betrachtete die Frau, die ihn so böse anfunkelte. Sie erinnerte ihn an die streunende Katze, die seine Tochter vor Jahren einmal mit nach Hause gebracht hatte. Nichts als Fauchen und Abwehr.

Nicole war eine vernünftige Frau. Das schloss er aus ihrem dunklen Jeansrock, der exakt bis zu den Knien reichte, ihrem schlichten T-Shirt, dem Fehlen von Make-up sowie dem Umstand, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, mehr mit ihrem langen blonden Haar anzufangen, als es in einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die Eindruck schinden wollen. Nicht, dass ihn das beunruhigt hätte.

„Danke“, sagte er. „Das hätten Sie nicht tun müssen.“

„Da gebe ich Ihnen recht. Das hätte ich nicht tun müssen, und ich weiß auch, dass ich es bedauern werde, ihn so leicht davonkommen zu lassen.“

In ihren blauen Augen lag Temperament. Sie sah aus, als wollte sie jemanden verprügeln, und er dachte schon daran, sich ihr zur Verfügung zu stellen. Schließlich war es ja nicht so, als würde sie ihm weh tun können. Aber er hatte das Gefühl, dass sie dann glauben würde, dass er sich über sie lustig machte. Was er ja auch tat … ein wenig.

„Sie werden es nicht bedauern. Der Junge ist in Ordnung. Er ist sehr talentiert und kann es bis ganz nach oben schaffen.“

„Sie erkennen sich wohl selbst in ihm, nicht wahr?“

Hawk grinste. „Allerdings.“

„Wirklich typisch.“ Sie sah auf die Uhr. „Müssen Sie nicht irgendwo hin?“

„Zum Training. Die Jungs warten auf mich.“ Er zog seine Brieftasche heraus. „Was schulde ich Ihnen für die Doughnuts?“

Sie runzelte die Stirn. „Haben Sie nicht zugehört? Raoul wird sie mit harter Arbeit abzahlen. Zumindest stelle ich mir das so vor.“

„Dann brauche ich aber immer noch fünf Dutzend für die Football-Mannschaft.“

Nicole wandte sich an die Frau hinter der Theke. „Maggie, würdest du bitte dem Coach seine Doughnuts geben, damit er gehen kann.“

Hawk bückte sich und las die Doughnuts vom Boden auf. „Sie wollen mich wohl loswerden.“

„Glauben Sie?“

„Aber ich bin doch der Lichtblick Ihres Tages.“

„Vielleicht ziehe ich mir später ja noch einen Splitter in den Finger, dann kann das mein Lichtblick sein.“

Er lachte. „Sie sind nicht einfach.“

„Das ist Ihre erste kluge Bemerkung.“

Er stellte die verbeulten Schachteln mit den Doughnuts auf einen der Tische. „Ich bin ziemlich klug, Nicole.“

„Das müssen Sie sich nur immer wieder vorsagen, und eines Tages wird es vielleicht wahr.“

Mit festem Blick sah er sie so lange durchdringend an, bis sie ganz unruhig wurde. „Warum bemühen Sie sich so sehr, mich nicht zu mögen?“, fragte er sie. „Bringe ich Sie etwa aus der Fassung?“

„Ich … Sie … Ach, gehen Sie doch einfach.“

Mit diesen Worten machte sie sich gerade und humpelte an ihrem Stock in den hinteren Bereich der Bäckerei.

„Keine spöttische Erwiderung?“, rief er ihr nach. „Soll das etwa heißen, dass ich gewonnen habe?“

Nicole drehte sich um und sah ihn wütend an. „Es geht im Leben nicht immer nur darum, zu gewinnen oder zu verlieren.

„Aber sicher doch.“

Sie biss die Zähne zusammen. „Gehen Sie einfach weg!“

„Das werde ich tun, weil die Jungs auf mich warten. Aber ich werde wiederkommen.“

„Geben Sie sich keine Mühe.“

„Das ist doch keine Mühe. Es ist mir ein Vergnügen.“

Er verließ die Bäckerei und pfiff vor sich hin, als er zu seinem davor geparkten Truck ging.

Hawk konnte sehen, dass es Nicole gar nicht gefiel, einmal nicht das letzte Wort zu behalten. Offensichtlich war sie daran gewöhnt, das Sagen zu haben und sich durchzusetzen. Der Football hatte ihn eine Menge über das Leben gelehrt. Manchmal bildeten die Teams sich viel zu viel darauf ein, dass sie in einer bestimmten Sache wirklich gut waren, und wenn es gelang, ihnen das zu nehmen, gerieten sie völlig aus der Fassung. Dasselbe galt für Frauen. Vor allem für Frauen.

Heute ist ein guter Tag, dachte er, als er Raoul die Doughnuts in die Hand drückte und den Motor anließ. Es gab auf einmal eine Menge Möglichkeiten.

„Was hältst du davon?“, fragte Claire.

Unbeirrt fuhr Nicole fort, die Hemden in dem Regal zu durchstöbern. „Nein.“

„Ach, komm schon. Es ist pink.“

„Mhm.“

„Du hast ja nicht einmal hingeguckt.“

Nicole verkniff sich ein Lächeln. „Das muss ich auch nicht. Nein. Es passt dir nicht.“

„Woher willst du das wissen?“

„Weil du gerade erst im dritten Monat schwanger bist und vielleicht zwei Kilo zugenommen hast. Du brauchst keine Umstandskleider.“

„Aber ich möchte mir etwas kaufen.“

„Dann hol dir eine Babydecke.“

„Ich will aber etwas haben, das ich anziehen kann.“

Nicole sah auf und stöhnte, als sie ihre Schwester vor dem Spiegel stehen sah. Sie trug ein T-Shirt in hellem Pink, bedruckt mit einem paillettenbesetzten Pfeil, der auf ihren Bauch wies, und dem Wort Baby darunter, für den Fall, dass jemand es noch immer nicht gerafft hatte.

„Du machst Witze“, murmelte Nicole.

„Vielleicht muss es ja nicht unbedingt das hier sein, aber die Leute sollen wissen, dass ich schwanger bin.“

„Dann lass dir doch Karten drucken. Die kannst du jedem in die Hand drücken, der dir begegnet.“

„Du bist wirklich keine Hilfe.“

„Dir muss niemand dabei helfen, verrückt zu sein. Das schaffst du auch allein sehr gut.“

Claire warf ihr langes blondes Haar über die Schulter zurück. „Du bist keine gute Schwester.“

Nicole lächelte. „Ich bin die beste Schwester, die du hast, und außerdem dein liebster Zwilling.“

„Mein einziger Zwilling, und ob du meine liebste Schwester bist, das weiß ich noch nicht. Vielleicht eins mit Entchen?“

„Nein.“

„Häschen?“

„Claire, das Baby hat die Größe eines Radiergummis. Oder einer Traube. Du brauchst wirklich keine spezielle Kleidung, nur weil du eine Traube trägst.“

„Aber ich bin schwanger.“

„In ein paar Monaten, wenn du mal wenigstens drei bis vier Kilo zugenommen hast, reden wir darüber. Bis dahin wirst du in jeglicher Schwangerschaftskleidung aussehen wie ein Kartoffelsack.“

„Aber ich freue mich so.“

„Das weiß ich ja, und du hast auch allen Grund dazu. Es ist wirklich toll.“

Claire strahlte.

Für Nicole war es ein Zeugnis ihres eigenen guten Charakters, dass sie sich aufrichtig über die Schwangerschaft ihrer Schwester freuen konnte. Sie war glücklich für Claire, auch wenn die Chancen, selbst jemals ein Kind zu bekommen, so groß waren wie ein Lottogewinn … nicht als würde sie je ein Los kaufen. Schließlich bedeutete eine Schwangerschaft in der Regel, dass ein Mann im Spiel war, solange man sich nicht auf wissenschaftliche Methoden einlassen wollte. Und von Männern hatte sie sich losgesagt. Für immer.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Claire. „Du denkst an Drew, nicht wahr?“

Nicole zuckte zusammen und stützte sich schwerer auf ihren Stock. „Wie machst du das nur? Dass du weißt, was ich denke.“

„Wir sind Zwillinge.“

„Zweieiige.“

„Trotzdem. Ich kenne dich.“

Das ist schon fast unheimlich, dachte Nicole. Und es ärgerte sie auch, denn sie selbst wusste nie, was Claire ständig so dachte.

„Ich denke nicht an Drew“, klärte sie ihre Schwester auf. Sie weigerte sich einfach, mentale Zeit und Energie auf ihren Exgatten in spe zu verschwenden. „Ich dachte an Männer im Allgemeinen.“

„Du wirst wieder jemanden finden“, versprach Claire und klang dabei irritierend mitleidig.

„Ich will niemanden. Die Trennung liegt gerade erst hinter mir, und ich bin vollkommen zufrieden damit, allein zu sein.“ Zumindest wäre sie das, wenn die Menschen um sie herum endlich einmal nicht mehr annehmen würden, dass sie das emotionale Desaster völlig aus der Bahn geworfen hatte, nachdem sie ihre jüngere Schwester mit ihrem Mann im Bett überrascht hatte.

Ja, es war schrecklich und demütigend, und vielleicht hatte es ihr sogar das Herz gebrochen. Aber sie kam damit klar.

„Ich muss mich daran gewöhnen, allein zu sein, so viel steht fest“, fuhr Nicole fort.

„Warum? Du warst doch auch vorher schon allein, als du noch mit Drew verheiratet warst.“

„Autsch.“

Claire seufzte. „Tut mir leid. Ist mir so herausgerutscht.“

„Schon gut.“ Ihre Seelenqual wollte Nicole niemandem zeigen. Nicht einmal ihrer Schwester.

Claire schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Ein Lächeln, das von Mitgefühl und der inneren Entschlossenheit sprach, später auf das Thema zurückzukommen, und zwar dann, wenn Claire das Gefühl haben würde, Nicole wäre emotional gefestigter.

Na toll, dachte Nicole. Jetzt kann ich anscheinend doch die Gedanken meiner Zwillingsschwester lesen? Wie zauberhaft.

Sie sah auf die Uhr. „Wir müssen los, wenn wir Wyatt treffen wollen.

„Oh! Schon so spät? Ich beeile mich.“

Claire sprintete in die Umkleidekabine, und Nicole überlegte, ob sie sich Vorwürfe machen müsste, weil sie ihre Schwester mit einem Trick davon abgehalten hatte, ihr tragisches Leben weiter zu erörtern. Dann aber entschied sie, dass sie die Atempause verdient hatte. Es war ja tatsächlich so, dass sie heute, an einem Freitagabend, hier im Einkaufszentrum stand, und zwar ganz offensichtlich als Anhängsel eines Liebespaars. Die beiden hatten sie gebeten mitzukommen, und sie hatte keine Lust gehabt, den Abend allein zu verbringen.

„Ich treffe dich draußen“, rief sie in Richtung Umkleidekabine.

„Ich brauch nur eine Sekunde“, versprach Claire.

Als Nicole aus dem Geschäft für Umstandsmoden trat, entdeckte sie Wyatt, der vor dem Schaufenster wartete. Er schien sich nicht ganz wohl zu fühlen, während er eine offensichtlich schwangere Schaufensterpuppe betrachtete.

„Hey“, sprach sie ihn an. „Du bist mir etwas schuldig. Ich habe gerade deine Verlobte davon abgehalten, etwas Abscheuliches zu kaufen.“

„Das hast du doch für dich getan“, erwiderte Wyatt. „Dich hätte es viel mehr gestört als mich.“

Nicole wusste, dass das stimmte, daher ging sie nicht weiter darauf ein. Sie warf einen Blick auf die Tüte, die Wyatt in der Hand hielt, und stellte fest, dass er aus der Buchhandlung kam.

„Wieder einmal ein Anleitungshandbuch für die Schwangerschaft“, frotzelte sie. „Gibt es denn überhaupt noch eins, das ihr nicht gekauft habt?“

„Wir wollen doch nur alles richtig machen“, antwortete Wyatt. „Als ob du nicht genau dasselbe tätest.“

Nicole war schon klar, dass es bei ihr nicht anders aussehen würde, aber darum ging es nicht. Gerade wollte sie schon vorschlagen, dass sie sich einen Film ansehen sollten, als Wyatt sie fragte: „Wie geht es dir?“

Verblüfft sah sie ihn an. „Wie bitte?“

„Wir haben schon eine ganze Zeit lang nicht mehr miteinander gesprochen. Ist alles in Ordnung mit dir? Du weißt schon. Dieser ganze Kram?“, wobei mit „Kram“ in der Männersprache alles gemeint war, was mit Gefühlen zu tun hatte.

Lange bevor er sich in Claire verliebt hatte, war Wyatt bereits Nicoles Freund und Schwager, und er kannte viel zu viele ihrer Geheimnisse. Als er davon erfuhr, wie Drew sie betrogen hatte, war er bereit gewesen, ihn für sie windelweich zu schlagen. Nicole liebte ihn wie einen Bruder. Nur im Augenblick gerade nicht; im Augenblick hätte sie ihm am liebsten eine gescheuert.

„Du und Claire, habt ihr über mich geredet?“, fuhr sie ihn an. „War ich etwa der Gegenstand dieser grässlichen Gespräehe nach dem Motto: ‚Wie können wir nur der armen Nicole helfen?‘ Wenn das der Fall ist, müsst ihr sofort damit aufhören. Ich brauche keine Hilfe von euch. Mir geht es gut. Mehr als gut.“

Wyatt ließ sich von ihrem Ausbruch nicht beeindrucken. „Du bist fast immer zu Hause und triffst dich mit niemandem. Du bist noch miesepetriger als sonst, auch wenn das eigentlich kaum möglich ist.“

„Ich bin nicht in der Stimmung, mit jemandem auszugehen. Ich weiß, das überrascht dich, aber so ist es.“

„Nicht jeder ist wie Drew, okay? Es gibt eine Menge prima Jungs da draußen. Du musst wieder in den Sattel kommen.“

„Das hast du doch jetzt nicht gesagt, oder? Wieder in den Sattel kommen? Ich bin nicht vom Fahrrad gefallen. Mein Mann hat mich mit meiner kleinen Schwester betrogen. In meinem Haus. Das ist nicht der Moment, wo es darum geht, ‚wieder in den Sattel zu kommen‘. Das gehört eindeutig zu den Dingen, die eine Frau veranlassen, ihre sexuelle Einstellung neu zu überdenken. Alles klar?“

Die Brust war ihr eng geworden. Lag es an ihr, oder war es hier drin so heiß? „Also, ich muss jetzt gehen. Danke dafür, dass ihr mich zum Essen mitgenommen habt. Wir reden später.“

Sie drehte sich um und ging los.

„Nicole warte doch.“

Sie ging einfach weiter, und als sie das Hinweisschild entdeckte, lief sie so schnell sie konnte ins Parkhaus, unendlich dankbar dafür, dass sie sich mit den beiden im Einkaufszentrum verabredet hatte. So hatte sie wenigstens ihr eigenes Auto.

Dreißig Minuten später war sie zu Hause. Dort war alles ruhig und vertraut, und es gab niemanden, der ihr dumme Fragen stellte oder sie bedauerte. Aber es gab dort auch zu viele Erinnerungen, und eine Leere, die sie veranlasste, durch die Fernsehkanäle zu zappen, bis sie eine Sitcom gefunden hatte. Sie starrte auf den Bildschirm und schwor sich, wegen Drew keine einzige Träne mehr zu vergießen. Jetzt nicht und nie wieder.

2. KAPITEL

Am Samstagmorgen kam Nicole zehn Minuten, bevor Raoul mit der Arbeit beginnen sollte, zur Bäckerei. Nicht, dass sie ernsthaft damit rechnete, der Teenager würde tatsächlich auftauchen. Sie hatte spontan auf die Situation reagiert und war nett gewesen. Aber sie war eine überzeugte Anhängerin des Glaubens, dass keine gute Tat ungestraft bleibt. Deshalb würde er sich nicht blicken lassen und sie würde sich schwarzärgern, vor allem über sich selbst.

Als sie dann aber auf den Hintereingang der Bäckerei zuging, erhielt sie sogleich Gesellschaft von einem großen dunkelhaarigen Jungen, der sich ihrem Schritt anpasste.

„Guten Morgen“, begrüßte Raoul sie höflich.

Sie sah ihn kurz an. „Du bist zu früh.“

„Ich wollte nicht zu spät kommen.“

„Ich bin schon tief davon beeindruckt, dass du überhaupt gekommen bist.“

„Sie haben nicht mit mir gerechnet?“

„Nein.“

„Ich habe Ihnen doch mein Wort gegeben.“

„Immerhin hast du Doughnuts geklaut. Da darf man auch an deinem Wort zweifeln.“

Zwar hatte sie ihn beim Sprechen nicht direkt angesehen, deshalb konnte sie sich auch nicht ganz sicher sein, aber aus dem Augenwinkel heraus glaubte sie doch, so etwas wie ein Zusammenzucken bemerkt zu haben. Etwa, weil sie sein Wort nicht ernst genommen oder den Diebstahl erwähnt hatte? Wie schön! Wenn doch nur jeder Morgen mit einem hypersensiblen Gebäckdieb beginnen könnte!

„Und dann bist du auch noch Sportler“, fügte sie hinzu, ohne eigentlich zu wissen, warum sie sich veranlasst fühlte, ihn aufzuheitern. „Ich habe ein Problem mit Sportlern. Das stammt noch aus der Highschool, als alle Jungs, die mich interessierten, über mich hinweggesehen haben.“

„Das glaube ich nicht.“

Sie seufzte. „Du versuchst wohl charmant zu sein?“

„Nur ein bisschen. Ich übe noch.“

Sie konnte sich vorstellen, wer der Meister war, bei dem er lernte. „Heb dir das für jemanden auf, der leichter zu beeindrucken ist. Ich bin dagegen immun.“

„Das ist mir schon aufgefallen. Coach Hawkins mögen Sie wohl auch nicht besonders.“

„Das kann man so nicht sagen“, murmelte Nicole, auch wenn es stimmte. Sie fand, dass Hawk hinreißend war und einen fantastischen Körper besaß, der mehr als fähig war, ihr ganzes Wesen in Flammen aufgehen zu lassen. Aber das bedeutete ja nicht, dass sie den Mann auch mögen musste. Auf keinen Fall würde sie sich von seinem geübten Lächeln und dem sexuellen Feuer vereinnahmen lassen, das so heftig knisterte, dass es vermutlich zur globalen Klimaerwärmung beitrug.

Raoul hielt ihr die Tür zur Bäckerei auf. Nicole trat ein und winkte Phil zu.

„Morgen“, rief sie.

Phil, ein älterer Mann, ganz in Weiß gekleidet, inklusive Schürze, eilte auf sie zu.

„Morgen“, grüßte er und musterte Raoul. „Bist du bereit zu arbeiten?“

„Ja, Sir.“

Phil schien nicht überzeugt. „Es wird nicht leicht sein, und ich habe kein Interesse daran, mir Klagen anzuhören. Hast du verstanden? Kein Gejammer.“

Raoul richtete sich auf. „Ich jammere nie.“

„Wir werden ja sehen.“ Damit führte Phil ihn davon.

Nicole sah ihnen nach. Raoul würde seine Schulden bei ihr abarbeiten, indem er wuchtige Mixerschüsseln, in denen der Brotteig angerührt wurde, sauber schrubbte. Dann würden eine ganze Reihe von Aufgaben folgen, die geeignet waren, Raoul zu veranlassen, es sich zweimal zu überlegen, bevor er noch einmal klaute, anstatt zu zahlen. Sie fragte sich, ob er wohl seine Lektion lernen oder nur erdulden würde.

Vier Stunden später hatte Nicole den Stapel aus ihrem Eingangskorb bearbeitet, eine Aufgabe, die sie immer verabscheute. Aber sie wollte bleiben, bis Raoul seine Arbeit beendet hatte, und in der Bäckerei selbst konnte sie so lange nichts tun, bis sie wieder ohne Stock gehen konnte. Sie heftete die Warenrechnungen in einem Ordner ab und beschriftete ihn, sodass er zum Buchhalter gebracht werden konnte. Phil klopfte an die offene Tür und trat vor ihren Schreibtisch.

„Wie macht er sich?“, fragte sie ihn.

„Gut. Besser als ich erwartet hatte. Der Junge kann arbeiten. Er tut, was man ihm sagt, ist sich nicht zu fein und lässt sich nicht hängen. Ich mag ihn.“

Erstaunt zog Nicole die Augenbrauen hoch. „Das ist selten.“

„Wem sagst du das. Ich glaube, du solltest ihm einen Job anbieten. Wir brauchen jemanden wie ihn außerhalb der normalen Geschäftszeiten. Er geht zur Schule und spielt Football, also hätte er gerade dann Zeit, wenn ich ihn brauchen könnte.“

„In Ordnung. Ich werde mit ihm reden.“

Nicole stand auf und streckte sich. Die Schmerzen in ihrem Knie waren erträglich und ließen allmählich immer mehr nach.

Raoul war hinten und stapelte Mehlsäcke. Er legte sie alle gerade übereinander und achtete darauf, dass die Stapel nicht schräg standen und irgendwann umkippen würden.

„Gute Arbeit“, lobte sie ihn. „Du hast Phil beeindruckt, und das ist nicht leicht.“

„Danke.“

„Willst du einen richtigen Job? Stundenweise. Das ließe sich neben deinem Stundenplan und dem Football organisieren. Die Bezahlung ist nicht schlecht.“ Sie nannte ihm einen Stundenlohn, der etwas über dem lag, war er normalerweise im Einzelhandel oder auch in einem Restaurant verdienen würde.

Raoul packte die letzte Tüte an ihren Platz und wischte sich die Hände an der Schürze ab, die Phil ihm zur Verfügung gestellt hatte.

„Ich kann nicht“, sagte er, ohne sie dabei anzusehen.

„Okay.“

„Ich brauche das Geld. So ist es nicht.“

„Was ist es dann? Finden etwa gerade die Castings für die neuen Fernsehshows statt, und dein Agent will, dass du nach L.A. fliegst?“

Damit erntete sie ein leichtes Lächeln, das allerdings schnell wieder verschwand. Es schien, als müsste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um sie anzusehen. „Sie werden mich nicht einstellen wollen. Noch nicht. In ein paar Wochen bin ich achtzehn. Und wenn ich erwachsen bin, kann ich beantragen, dass meine Jugendstrafen gelöscht werden. Bis dahin bin ich vorbestraft.“

Sie war ein wenig überrascht und enttäuscht. „Was hast du denn angestellt?“

„Mit zwölf habe ich ein Auto geklaut. Ich wollte bei meinen Freunden Eindruck schinden. Es war dumm von mir, und fünf Minuten später wurde ich auch schon gefasst. Davor oder danach habe ich nie etwas angestellt. Außer den Doughnuts, aber das wissen Sie ja. Ich habe meine Lektion gelernt.“ Er senkte den Blick. „Sie haben natürlich keinen Grund, mir zu glauben.“

Einen schon, dachte sie. Es wäre ihr ein Leichtes, seine Geschichte zu überprüfen, also wäre er ein Idiot, wenn er log. Und Raoul schien ihr nicht gerade dumm zu sein.

„Ganz schön beeindruckend, gleich mit einem Autodiebstahl die kriminelle Karriere zu beginnen. Die meisten fangen mit einem Ladendiebstahl an. Aber du wolltest wohl gleich in die erste Liga.“

Das brachte ihr wieder ein leichtes Lächeln ein. „Ich war ein Kind und wusste es nicht besser.“

Er ist doch immer noch ein Kind, dachte sie. Ob er es jetzt wohl besser wusste?

„Das Jobangebot steht noch. Es ist keine leichte Arbeit, aber eine ehrliche. Und du kannst dir so viel von den übrig gebliebenen Backwaren mitnehmen, wie du verdauen kannst.“

„Ich kann aber eine Menge verdauen.“

„Dann ist das ja ein Top-Angebot für dich.“

Er sah ihr in die Augen. „Wie können Sie mir vertrauen?“

„Jeder baut einmal Mist.“ Sie dachte an ihre jüngere Schwester. Jesse hatte vier- bis fünfhundert Chancen gehabt und es fertiggebracht, jede einzelne davon in den Sand zu setzen.

„Dann werde ich den Job annehmen“, sagte er. „Nachmittags muss ich immer zum Training, vielleicht könnte ich ja morgens kommen, vor der Schule.“

„Das musst du mit Phil besprechen. Er wird dein Boss sein. Wenn du nach der Saison daran interessiert bist, mehr Stunden zu arbeiten, lass es ihn wissen.“

Raoul nickte. „Danke. All das hätten Sie nicht tun müssen. Sie hätten die Polizei rufen können.“

Sie machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass sie das ja versucht hatte, statt eines Polizeibeamten dann aber Hawk aufgetaucht war.

„Was habt ihr Männer eigentlich immer nur mit eurem Football?“, fragte sie stattdessen. „Warum spielst du eigentlich? Willst du berühmt werden?“

„Ich liebe das Spiel“, erklärte Raoul. „Und ich will aufs College. Das kann ich mir nicht leisten, also hoffe ich auf ein Football-Stipendium.“

„Und dann wirst du Profi und machst Millionen?“

„Vielleicht. Die Chancen sind gering. Aber Coach sagt, dass ich Talent habe.“

„Ist er denn in der Lage, das zu beurteilen?“

Raoul zog die Stirn kraus. „Er ist mein Coach.“

Was die Frage nicht beantwortet, dachte Nicole. Wie sollte der Coach einer Highschool schon wissen, ob irgendein Spieler es bis in die Profiliga schaffen würde? Wie sollte überhaupt jemand das wissen können?

„Sie wissen ja gar nicht, wer er ist“, stellte Raoul schockiert fest. „Sie haben wirklich keine Ahnung.“

Unbehaglich verlagerte Nicole ihr Gewicht. „Er ist ein Coach.“ Und ein total scharfer Typ, aber das gehörte nicht zur Sache.

„Er ist Eric Hawkins. Acht Jahre lang hat er in der Profiliga gespielt und ist dann auf dem Höhepunkt seiner Karriere ausgestiegen. Er ist eine Legende.“

Es fiel ihr schwer, das zu glauben. „Wie schön für ihn.“

„Er ist der Beste. Für Geld muss er nicht arbeiten. Er unterrichtet Football an der Highschool, weil er das Spiel liebt und sich revanchieren will.“

Nicole widerstand dem Bedürfnis zu gähnen. Raoul plapperte da etwas nach, das er vermutlich ein Dutzend Mal aus dem Mund der Legende selbst gehört hatte.

„Gut zu wissen“, sagte sie und zog vierzig Dollar aus ihrer Gesäßtasche. „Hier.“

Aber er nahm das Geld nicht. „Sie können mich doch nicht bezahlen.“

„Natürlich kann ich das. Offiziell bist du nicht angestellt, solange du die Papiere nicht ausgefüllt hast. Also nimm erst einmal das. Du wirst deine Stunden stempeln und dann auch bald deinen ersten richtigen Gehaltsscheck bekommen.“

Nun versteckte er regelrecht seine Hände hinter dem Rücken. „Ich habe doch für die Doughnuts gearbeitet, die ich gestohlen habe.“

„Faktisch hast du sie nicht einmal zur Tür hinaus gebracht. Im Stehlen bist du wirklich nicht besonders gut.“ Sie seufzte, als er nicht lächelte. „Also sieh mal, du hast heute hart gearbeitet. Das gefällt mir. Du hast es verdient. Nimm es jetzt, oder ich komme wirklich richtig mies drauf, und glaube mir, das willst du nicht erleben.“

Er nahm das Geld. „Sie halten sich für knallhart, aber mir machen Sie keine Angst.“

Damit brachte er sie beinahe zum Lachen. „Wart’s ab, Junge. Das wird noch.“

Nicole ging mit Raoul in den Verkaufsraum der Bäckerei, wo sie ihm zwei Tüten mit süßem Gebäck und anderen Backwaren füllte.

„Das ist doch nicht nötig“, sagte er, wobei er sehnsüchtig auf das halbe Dutzend Plätzchen starrte, das sie noch obenauf schaufelte.

„Du kannst die Kalorien verkraften. Wie gesagt, es ist ein Leistungsanreiz.“

„Gibt es noch andere Leistungsanreize?“

Diese Frage kam nicht von Raoul. Nicole musste sich auch gar nicht erst umdrehen oder darüber nachdenken, sie wusste auch so, wer da gesprochen hatte. Und falls vom Kopf her noch eine Verwechslung möglich gewesen wäre, ihr ganzer Körper wurde schon von Wiedersehensfreude durchströmt.

Sie richtete sich auf und wappnete sich gegen die Wirkung, die er auf sie ausübte. Dann drehte sie sich um, und wie nicht anders zu erwarten, stand Hawk vor der Vitrine und hatte dieses sexy Du-weißt-du-willst-mich-Lächeln im Gesicht.

Er war etwas mehr bekleidet als am Vortag, denn die Shorts, die er heute trug, waren etwas länger und sein T-Shirt bedeckte Brust und Bauch komplett, was Nicole zugleich gut und schlecht fand. Theoretisch sollte es ihr jetzt zwar leichter fallen, einen klaren Kopf zu bewahren, aber praktisch war sie doch ganz einfach ein wenig enttäuscht.

„Was wünschen Sie?“, fragte sie ihn, wobei es ihr egal war, dass sie schnippisch klang.

„Eine interessante Frage“, murmelte er und zwinkerte dann Raoul zu. „Ich bin gekommen, um zu sehen, wie mein Starspieler sich gehalten hat. Er hat Sie sicher wahnsinnig beeindruckt, oder?“

Nicole sah sich geschickt in die Enge getrieben, denn sie mochte Raoul wirklich und den Job hatte sie ihm gerne angeboten. Gegenüber Hawk aber verspürte sie nun das Bedürfnis, einfach zu behaupten, dass alles schiefgelaufen war und sie froh wäre, ihn los zu sein.

„Er war gut“, sagte sie und reichte Raoul die Tüten. Und weil sie sich vor der Enttäuschung in den Augen des Jungen fürchtete, fügte sie schnell hinzu: „Besser als gut. Er war großartig.“

„Das wusste ich doch.“

„Es geht hier eigentlich nicht um Sie. Ich weiß, das wird Sie erstaunen, und ich sollte Ihnen wohl eine Minute Zeit lassen, damit Sie sich an den Gedanken gewöhnen können.“

Hawk lachte in sich hinein. „Raoul, du musst nicht bleiben. Ich sehe dich in zwei Stunden beim Training.“

Der Junge nickte und ging hinaus. Nicole sah ihm nach, schon einfach deshalb, weil sie es leichter fand, als zu versuchen, Hawk nicht anzusehen. Der Mann war wie Katzenminze.

Als sie allein waren, wusste Nicole plötzlich überhaupt nicht mehr, was sie mit ihren diversen Körperteilen anfangen sollte. Einerseits wollte sie vor ihm zurückweichen … andererseits wäre sie gerne viel, viel näher bei ihm gewesen. Ihre Arme fühlten sich komisch an, wie sie so an den Seiten herunterbaumelten. Sie zu verschränken, erschien ihr dann jedoch allzu feindselig.

Sie hasste das. Dieser Mann brachte es fertig, dass sie sich in ihrer eigenen Haut nicht mehr wohl fühlte.

„Sie müssen auch nicht bleiben“, sagte sie ihm.

„Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie Raoul eine Chance gegeben haben“, erklärte er. Dabei schien er ihr, ohne sich eigentlich zu bewegen, irgendwie näher zu kommen.

Guter Trick, dachte sie grimmig.

„Er hat hart gearbeitet. Das kommt seltener vor, als mir lieb ist. Ich habe ihm einen Job gegeben.“

Hawk zog eine Augenbraue hoch. „Dann hat er Sie also beeindruckt.“

„Er braucht Arbeit und ich brauche Hilfe. Machen Sie nicht mehr daraus, als es ist.“

Seine dunklen Augen schienen sich in den Kern ihres Wesens zu bohren. „Sie möchten, dass man Sie für hart hält.“

„Ich bin hart.“

„Im Inneren sind Sie butterweich.“

Sie versteifte sich. „Ihr Spieler könnte jetzt auf seinem Hintern im Kittchen sitzen. Und glauben Sie nicht, dass ich nicht dafür gesorgt hätte, wenn er heute nicht erschienen wäre. Ich leite den Laden hier seit Jahren und weiß, was ich tue.“

„Mögen Sie, was Sie tun?“

„Natürlich“, antwortete sie automatisch, denn es war die Antwort, die sie immer gab. Schon mit acht oder neun Jahren hatte sie gewusst, dass sie die Bäckerei einmal übernehmen würde. Alle gingen davon aus … jeder erwartete es. In ihrem Leben sollte es nicht viele Überraschungen geben, und mit Sicherheit hatte es in der letzten Zeit keine positiven gegeben.

Moment. Da war Claire. Die Aussöhnung mit ihrer Schwester war etwas Positives. Zwar hatte es Nicoles natürliche Veranlagung ein wenig strapaziert, ihrer Schwester dabei zuzusehen, wie sie sich über beide Ohren verliebte, schwanger wurde, sich verlobte und ihr großes Glück fand, aber sie kam damit klar. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

„Erde an Nicole.“

Sie blinzelte und merkte, dass Hawk ein wenig zu nahe bei ihr stand.

„Ich hatte Sie dort oben verloren“, sagte er.

„Das dürfte ja eine Premiere für Sie sein“, sagte sie, ohne nachzudenken. „Eine Frau, die sich für den Bruchteil einer Sekunde auf etwas anderes konzentriert als auf Sie.“

„Weil ich so unwiderstehlich bin?“

„Nicht für mich.“

„Das glaube ich nicht. Sie sind interessiert.“

Wäre sie in der Lage gewesen, ihn länger als fünf Sekunden am Stück anzusehen, ohne Stöhnlaute von sich geben zu wollen, hätte sie vielleicht etwas Schweres in die Hand genommen und es ihm auf den Kopf geschlagen. Aber so wie die Dinge standen, sprach er die Wahrheit aus, und sie war davon allzu peinlich berührt, als dass ihr etwas eingefallen wäre, womit sie ihn verbal auseinandernehmen könnte. Daher blieb ihr lediglich die demütigende Alternative, zu wiederholen: „Ich bin nicht interessiert.“

Er grinste. „Das war sehr überzeugend.“

„Es ist mir gleich, was es ist, es ist die Wahrheit.“ Jedenfalls fast. In ihrem Ärger wurde sie aufrichtig. „Sie wissen sehr gut, dass Sie einen fantastischen Körper besitzen, und offensichtlich macht es Ihnen Freude, ihn der Welt zu präsentieren. Was soll das? Sie sind weit über dreißig. Eigentlich müssten Sie doch darüber hinweg sein? Und wäre es nicht vielleicht besser, ein Drittel der Zeit, die Sie auf Ihr Körpertraining verwenden, für das Training Ihres Geistes einzusetzen? Sie können doch nicht ewig Football Coach sein.“

Zu spät fiel ihr ein, dass er tatsächlich ewig Football Coach sein könnte und dass Raoul erwähnt hatte, dass er einmal Profispieler war, was vermutlich auch bedeutete, dass er über ein Vermögen verfügte.

„Sie halten mich also für dumm?“, fragte er in einem Ton, der ebenso amüsiert wie empört klang. „Ist es, weil ich Muskeln habe oder weil ich Football spiele? Und wäre es nicht dasselbe, wenn ich Sie für ein Dummchen hielte, nur weil Sie naturblond sind?“

Vielleicht. Ja. Sie überging die Frage. „Woher wollen Sie wissen, dass ich naturblond bin?“

„Ich besitze eine außerordentlich gute Beobachtungsgabe.“

„Und ich führe erfolgreich ein Geschäft und bin offensichtlich mehr als kompetent“, sagte sie spröde.

Hawk gefiel, wie Nicole ganz stachlig wurde, wenn sie sich ärgerte. Er mochte es, wie sie immer dann, wenn er ihr näher kam, ganz nervös wurde und nicht mehr wusste, wo sie hinsehen sollte. Wenn sie nicht interessiert an ihm gewesen wäre, hätte sie ihm klar gesagt, dass er das lassen und verschwinden solle. Aber davon war kein Wort gefallen. Auch das gefiel ihm.

„Das sind Sie ganz offensichtlich“, sagte er neckend und rückte ihr noch ein wenig weiter auf die Pelle.

„Haben Sie eigentlich gar keinen Respekt vor dem persönlichen Raum anderer Menschen?“

„Nein.“

Sie hob den Kopf und funkelte ihn wütend an, aber ehe sie etwas erwidern konnte, sagte er: „Sie haben schöne Augen.“

Ihr Mund klappte auf und wieder zu. „Was tun Sie da Ihrer Meinung nach?“

„Ich flirte.“

„Warum?“

„Es macht mir Spaß.“

„Mir nicht.“

„Jeder erhält gerne Aufmerksamkeit.“

„Sie sprechen doch nur von sich selbst.“

„Sie glauben also nicht, dass Sie schöne Augen haben?“

„Sie sind in Ordnung. Funktional. Die Farbe ist mir nicht wichtig.“

„Aber sicher ist sie das. Sie wissen genau, dass sie hübsch ist. Sie sind hübsch.“

Nicole wurde rot.

Er bemerkte es nicht sogleich, denn sie wandte sich ab und murmelte irgendetwas vor sich hin. Alles was er davon verstand, waren ein paar Worte, etwas wie „unglaublich arrogant“ und „Ego“. Daher achtete er nicht darauf, bis ihm auffiel, dass sie ihre Hände an die Wangen legte, als wollte sie ihre Haut kühlen.

Warum wurde jemand rot, der so gut aussah wie sie, nur weil er davon sprach, dass sie hübsch war? Es sei denn, niemand sonst machte sich die Mühe hinzusehen. Er hatte das Gefühl, dass sie zu den Frauen gehörte, die die Männer verscheuchten und sich dann wunderten, weshalb sie einsam waren.

Da konnte er helfen.

„Es gefällt Ihnen doch, dass ich mit Ihnen flirte“, behauptete er. „Es ist das Highlight Ihres Tages.“

„Sie sind wirklich ganz erstaunlich.“

„Ich weiß.“

Sie stöhnte. „Ich meinte es nicht in einem positiven Sinn. Sie haben Wahnvorstellungen. An Ihnen gibt es nichts, was das Highlight meines Tages sein könnte.“

„Lügnerin.“

Tief aus ihrer Kehle kam ein frustriertes Stöhnen, fast schon ein Knurren. Er fragte sich, wie sie sich wohl anhören mochte, kurz bevor sie im Bett die Kontrolle verlor. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie dann schreien würde.

„Sparen Sie sich das Flirten für jemanden auf, der daran interessiert ist“, murmelte sie und hielt ihren Stock dabei so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel ganz weiß wurden.

„Sie sind daran interessiert.“

Sie schüttelte den Kopf. „Müssen Sie nicht dringend irgendwo hin?“

„Klar, aber das hier macht mehr Spaß.“

„Nein, tut es nicht.“

Er machte sie an. Die Röte in ihrem Gesicht hatte sich vertieft, und sie konnte sich offensichtlich nicht entscheiden, ob sie sich ihm lieber an den Hals werfen oder ihm eine scheuern sollte. Diese Frustration war gut, denn sie bedeutete, dass sie an ihm interessiert war und sich gleichzeitig über sich selbst ärgerte.

„Wir sollten einmal miteinander ausgehen“, schlug er vor, wohl wissend, dass diese Einladung sie weiter aus dem Gleichgewicht bringen würde.

„Wie bitte? Nein.“

„Zum Abendessen. Wir werden zusammen essen gehen.“

„Ich werde nicht mit Ihnen essen gehen.“

„Warum nicht?“

„Das ist keine gute Idee.“

Damit ging die erste Runde an ihn, denn wenn sie wirklich keinerlei Interesse hätte, würde sie ihm das geradeheraus sagen.

„Aber sicher ist es das.“ Er kam ihr so nahe, dass sie den Kopf zurückbeugen musste, um seinem Blick zu begegnen. „Es ist eine hervorragende Idee.“

„Ich werde nicht mit Ihnen essen gehen.“

„Doch, das werden Sie.“

„Das werde ich nicht, und Sie werden mich nicht umstimmen können.“

Er ging zur Tür der Bäckerei, wo er einen Moment stehen blieb. „Wollen wir wetten?“ Dann trat er hinaus.

Auf dem Weg zu seinem Truck konnte er geradezu hören, wie sie übersprudelte. Das war gut gelaufen. Es war noch früh im ersten Quarter, und er stand bereits weit auf dem gegnerischen Sektor und war kurz davor einen Punkt zu landen.

„Amys Therapie schlägt wirklich gut an“, berichtete Claire, während sie Pilze hackte, die sie dann vom Brett in eine Schüssel schob. „Sie ist jung, was von Vorteil ist. Ihr Gehirn ist noch offen für Veränderung. Anders als bei uns, wo das Gehirn bereits geschlossen ist.“

Nicole zerkleinerte Salat in einer Schüssel. „Ich habe keine Ahnung, wo mein Gehirn auf der Skala zwischen offen und geschlossen steht.“

Amy war Wyatts Tochter und bald Claires Stieftochter. Sie war von Geburt an taub und hatte sich vor Kurzem ein Cochleaimplantat gewünscht, um wenigstens etwas hören zu können. Mit der Operation war dann zwar die nötige Hardware eingesetzt worden, aber es war eine spezielle Therapie erforderlich, um sie daran zu gewöhnen, die Klänge auf neue Weise wahrzunehmen und zu verarbeiten.

„Amy freut sich so sehr über das Implantat, jeden Abend bittet sie mich, für sie zu spielen“, fuhr Claire fort.

„Was du natürlich gerne tust.“

„Das stimmt. Sie ist mein größter Fan.“

Ein großes Wort, wenn man bedachte, dass Claire eine Konzertpianistin von Weltklasse war, deren CDs mit dem Grammy prämiert waren, und die mehr Konzertanfragen hatte, als sie in zwei Leben hätte annehmen können.

„Ich dachte, Wyatt wäre dein größter Fan“, neckte Nicole sie.

„Das ist er auch. Aber auf anderen Ebenen.“

Ihre Schwester lachte und Nicole lächelte. Sie war glücklich für Claire. Wirklich. Sie selbst hatte Wyatt nie gewollt, und sie versuchte sich einzureden, dass sie überhaupt keinen Mann mehr wollte.

Aber sie wusste, dass das eine Lüge war. Sie wünschte sich jemand Besonderen. Jemand, der sie lieben und immer für sie da sein würde. Unglücklicherweise hatte sie sich dann Drew ausgesucht.

Sofort fiel ihr wieder jene Nacht ein, in der sie Drew und Jesse zusammen im Bett überrascht hatte. Sie hatten sich geküsst, oder standen zumindest kurz davor. Jesse hatte kein Top mehr an, und Nicole hatte …

Sie ermahnte sich, das sein zu lassen. Sie musste damit aufhören, sich selbst mit der Vergangenheit zu quälen. Drew war Vergangenheit, und sie musste weitergehen. Sie sollte an erfreulichere Dinge denken.

Auf der Stelle standen ihr Bilder von Eric Hawkins vor Augen. Der Mann würde sie wahrscheinlich wahnsinnig machen, aber er besaß einen Körper, für den man gut und gerne sterben könnte. Die äußere Erscheinung hatte ihr bisher noch nie allzu viel bedeutet, aber in diesem Fall war sie bereit, eine Ausnahme zu machen.

Zeit für einen mentalen Themenwechsel, ermahnte sie sich.

Der Salat war fertig, und sie reichte ihrer Schwester die Schüssel. „Steht inzwischen eigentlich dein Tourneeplan für den Herbst?“

Claire zuckte die Achseln. „Fast. Lisa hat mir eine Liste mit Auftrittsmöglichkeiten gegeben, und ich streiche sie zusammen. Ich möchte nicht zu viel weg sein. Nicht nur, weil ich Wyatt und Amy vermissen würde, ich möchte mich auch für das Baby schonen.“

„Hast du das auch schon mit deiner Ärztin besprochen?“, fragte Nicole, die der Ärzteschaft in Bezug auf Claires Gesundheit weit mehr Vertrauen entgegenbrachte als Lisa, Claires Managerin.

Claire nickte. „Sie rät mir, das Reisen während der letzten Wochen der ersten drei Monate auf ein Minimum zu beschränken. In den folgenden drei Monaten darf ich sehr viel reisen, und dann wieder weniger in den letzten drei Monaten vor der Geburt. Lisa hat etwas von einer Konzertreihe auf Hawaii erwähnt, die ich mit Urlaub verbinden könnte, aber ich glaube nicht, dass ich dem gewachsen bin.

Nicole griff nach einer Avocado. „Warum nicht? Könntet ihr Amy nicht mitnehmen?“

„Oh, sicher. Wir hätten ein hübsches Strandhaus, in dem wir wohnen könnten, aber es ist so weit weg und auch nicht wirklich die Zeit, in der ich reisen möchte. Du weißt schon. Getrennt von der Familie.“

Nicole wollte sie gerade darauf hinweisen, dass der größte Teil ihrer Familie, nämlich ihr Verlobter und seine Tochter, ja doch bei ihr wären. Aber dann begriff sie. Claire wollte nicht von ihr getrennt sein. Sie wollte Nicole zu Weihnachten nicht alleine lassen.

„Für mich wäre das völlig in Ordnung“, sagte sie schnell. „Du solltest es tun.“

„Es geht dabei nicht um dich“, erwiderte Claire, aber sie klang nicht sehr überzeugend. „Es ist nur, weil wir das erste Mal seit unserem sechsten Lebensjahr die Chance hätten, Weihnachten zusammen zu verbringen. Ich werde nicht nach Hawaii gehen. Ich will es nicht.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Da kann ich nichts machen“, meinte Claire.

„Du sorgst dich um mich.“

„Sicher, aber ich werde darüber hinwegkommen.“

Nicole versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz, die Lippen zu bewegen. Sie begrüßte es ja, dass es Menschen gab, die sich um sie sorgten, aber dieses Bedürfnis, Anteil zu nehmen, konnte sie nicht leiden. Normalerweise hatte sie ihr Leben gut im Griff und war immer die Tüchtige, die von anderen um Rat gebeten wurde.

„Da wir schon einmal davon reden, über Dinge hinwegzukommen“, fuhr Claire in beiläufigem Tonfall fort, „hast du in letzter Zeit einmal mit Jesse gesprochen?“

„Du weißt doch, dass ich das nicht getan habe.“

„Irgendwann wirst du es aber tun müssen.“

„Warum?“ Wenn es nach Nicole ginge, würde sie niemals wieder etwas mit Jesse zu tun haben. „Schlimm genug, dass sie mit meinem Mann ins Bett gestiegen ist. Aber dann hat sie auch noch das Geheimrezept der Familie gestohlen und unsere berühmte Schokoladentorte im Internet verkauft.“

Allein der Gedanke daran regte sie tierisch auf. Drew war ja eine Sache, aber musste Jesse ihr dann auch noch ins Geschäft pfuschen?

„Das ist so typisch für sie“, murmelte Nicole. „Ich wette mit dir um jeden Preis, dass sie tausend Entschuldigungen parat hätte, wenn ich denn mit ihr reden wollte. Nie ist sie für irgendetwas verantwortlich.“

„Du hast sie doch aus dem Haus geworfen“, sagte Claire leise. „Da musste sie sich doch ein Einkommen verschaffen.“

„Genau. Sie brauchte einen Job. Es gibt Dutzende von Jobs da draußen, aber hat sie überhaupt versucht, einen zu finden? Nein. Stattdessen hat sie gestohlen. Erst Drew, dann die Torte.“ Nicole bekam schon wieder Magenschmerzen. „Ich will nicht mehr darüber reden.“

„Das Problem bleibt aber, bis du einen Weg findest, wie du dich mit ihr wieder aussöhnen kannst.“

„Vielleicht will ich ja auch überhaupt nichts mehr mit ihr zu tun haben.“ Nicole kämpfte mit ihrem Arger und dem Schmerz. „Letzte Woche kam ein Junge in die Bäckerei und hat einen Haufen Doughnuts geklaut. Zumindest hat er es versucht. Als ich ihm Vorwürfe machte, hat er für das, was er getan hat, geradegestanden. Er fühlte sich schuldig und wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Dann hat er für den Betrag, den er gestohlen hatte, gearbeitet. Und das hat er so gut gemacht, dass er jetzt in der Bäckerei angestellt ist. Warum schafft Jesse so etwas nicht? Warum ist sie absolut nicht in der Lage, für das geradezustehen, was sie getan hat?“

„Ich weiß, dass sie dich verletzt hat.“

„Mehr als verletzt“, murmelte Nicole. „Sehr viel mehr als nur verletzt.“

„Irgendeine Lösung wirst du finden müssen.“

„Ich weiß“, sagte Nicole leise. „Und das werde ich auch. Irgendwann. Ich denke ja auch darüber nach, aber dann werde ich so wütend, dass ich sie nicht einmal mehr sehen möchte, geschweige denn mit ihr reden.“

„Mich macht es richtig traurig, dass ihr euch nicht versteht“, sagte Claire. „Ihr seid doch Schwestern.“

„Keine Schwester, die ich mir wünsche.“

„Das glaube ich dir nicht.“ Claire sah sie an. „Du hast jedes Recht, sauer und verletzt zu sein, aber ich glaube schon, dass es für dich an der Zeit ist, darüber nachzudenken, wie weit dein Verhalten darauf abzielt, deiner Schwester eine Lektion zu erteilen, oder wie weit es nur darum geht, dich zu rächen.“

3. KAPITEL

Nicole kam sich albern vor und fühlte sich leicht durchschaubar, als sie an ihrem Stock auf das Footballstadion der Highschool zuhumpelte. Sie war zu alt, um am Freitagabend das Spiel zu sehen … oder zu jung. Sie war weder Schülerin noch hatte sie ein Kind, das zur Highschool ging. Also was genau tat sie hier eigentlich?

„Das hat man davon, wenn man sich mit seinen Angestellten unterhält“, schimpfte sie mit sich selbst. Sie hätte ihm kurz zuwinken und einfach weitergehen sollen. Aber nein, sie musste ja stehenbleiben und mit Raoul reden, nachdem er die erste Woche für sie gearbeitet hatte. Nur weil sie eine Idiotin war, hatte sie ihn gefragt, wie es ihm so ginge, und als er dann das Footballspiel am Abend erwähnte, hatte sie so getan, als interessiere es sie.

„Du hättest ebenso gut Nein sagen können“, erinnerte sie sich, denn als Raoul sie darum bat zu kommen, hätte sie ohne Weiteres sagen können, dass sie etwas anderes vorhätte. Nur dass dem nicht so war, und sie konnte nicht besonders gut lügen. Spirituell gesehen war das vermutlich eine gute Sache, aber wenn ihre Ehrlichkeit darauf Einfluss zu nehmen begann, wo sie ihren Abend verbrachte, nervte sie bloß.

Sie sah zu den Bankreihen hoch, die als Sitzplätze dienten. Hier war niemand, den sie kannte. Aber vor die Wahl gestellt, sich zwischen Schülern und Eltern zu entscheiden, bevorzugte sie die Eltern. Zumindest hatte sie dort eine Chance, mit jemandem ins Gespräch zu kommen.

„Nicole!“

Sie drehte sich überrascht zum Spielfeld um und sah einen Footballspieler, der in Windeseile auf sie zugelaufen kam. Er steckte in seiner Ausrüstung, und sie brauchte einen Moment, bis sie Raoul erkannte.

„Hi“, begrüßte sie ihn und ging auf das Geländer zu, mit dem das Spielfeld von der Tribüne getrennt war. „Wirklich beeindruckend. Du wirkst richtig aggressiv und kräftig.“

Raoul grinste. „Echt?“

Sie nickte. Er sah ganz verändert aus. Alter. Gefährlich. Auf einmal hatte sie das Bedürfnis, ihm zu sagen, er solle aufpassen, sich nicht zu verletzen. Offenbar brauchten mütterliche Instinkte nicht viel, um sich einzuschalten.

„Ist es ein hartes Team, gegen das ihr spielt?“, fragte sie ihn.

„Sie sind in Ordnung. Aber wir werden sie in den Arsch treten.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

Er grinste. „Danke dafür, dass Sie heute Abend hier sind. Ich habe normalerweise niemanden, der zu den Spielen kommt. Außer meinen Freunden, wissen Sie. Keine Erwachsenen.“

Damit war sie gemeint. Eine Erwachsene. „Ich werde euch wild anfeuern und mir alle Mühe geben, dich in Verlegenheit zu bringen“, neckte sie ihn.

„Sehr gut.“

Autor

Susan Mallery

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.

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