Im Aufruhr der Gefühle

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In dem charmanten Restaurantbesitzer Gregg hat Sabrina ihren Traummann gefunden. Doch ihre tiefe Liebe können sie nur im Geheimen ausleben. Denn Gregg gehört zum Clan der Antonellis - und Sabrinas Mutter hat gute Gründe, diese Familie abgrundtief zu hassen…


  • Erscheinungstag 23.09.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753276
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sabrina March lehnte sich zurück und seufzte zufrieden. „Das Hühnchen und die Klöße waren sehr lecker. Wie immer.“ Sie lächelte Florence Hillman zu. Die langjährige Haushälterin ihrer Eltern begann gerade damit, den Tisch abzuräumen.

„Freut mich, dass es euch geschmeckt hat.“ Florence erwiderte das Lächeln.

„Ich fürchte, es hat mir zu gut geschmeckt.“ Sabrinas Vater rieb sich den Bauch. „Was hältst du von einem Spaziergang, Sabrina? Um die Kalorien abzuarbeiten.“ Er sah Sabrinas Mutter an. „Es macht dir doch nichts aus, oder?“

Isabel Marchs graue Augen schienen frostiger zu blicken, doch nach einem Moment schüttelte sie den Kopf. „Wenn ihr nicht zu lange bleibt. Ich habe auch so schon wenig genug von dir“, fügte sie leise hinzu.

Wie immer ignorierte Ben March die Kritik seiner Frau. „In spätestens einer Stunde bin ich zurück“, erwiderte er sanft.

Sabrinas Vater, der Präsident eines Touristikunternehmens war, würde am nächsten Morgen zu einer längeren Geschäftsreise aufbrechen – nach Griechenland, soweit Sabrina wusste. Er verstand sich darauf, neue Zielgebiete zu erschließen. March Tours war kein großer Konzern, aber einer der erfolgreichsten Anbieter von Luxusurlauben. Ben March hatte hart dafür gearbeitet.

Deshalb war er selten zu Hause, und Sabrina hatte durchaus Verständnis für den Wunsch ihrer Mutter, mehr von ihm zu haben. Trotzdem war sie froh, ein wenig Zeit mit ihm allein verbringen zu können. Sie liebte ihre Mutter, aber ihren Vater vergötterte sie.

Wenn er zu Hause war, herrschte eine entspannte, heitere Stimmung, die sonst selten war. Es gab niemanden, den sie mehr respektierte. In Sabrinas Augen war Ben perfekt: ehrlich, fleißig, loyal, großzügig und liebevoll. Die vergangenen sechzehn Jahre konnten für ihn nicht leicht gewesen sein, aber er hatte sich nie beklagt. Für sie war ihr Vater immer ein Vorbild gewesen.

Sabrinas Mutter nickte ihrem Mann zu und stieß sich von der Tischkante ab. Ihr elektrischer Rollstuhl – der beste, den es für Geld zu kaufen gab – war fast geräuschlos. Ohne ihren schweren Unfall wäre vielleicht alles anders gekommen, und Isabel March wäre heute eine zufriedene Frau gewesen.

Manchmal hatte Sabrina das Gefühl, die Verbitterung ihrer Mutter keinen Tag länger ertragen zu können. Und kaum stieg der Gedanke in ihr auf, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Vor dem Sturz beim Skilaufen, der zu einer Lähmung beider Beine geführt hatte, war sie eine überaus aktive, sportliche Frau gewesen.

„Können wir?“, fragte ihr Vater und erhob sich.

Hastig stand Sabrina auf. Sie sehnte sich nach der frischen Oktoberluft.

Kurz darauf saßen sie in Ben Marchs Wagen. „Hast du in letzter Zeit über deinen Job nachgedacht, Honey?“, fragte er.

Sabrina seufzte. „Ja, aber mir ist noch keine Lösung eingefallen.“

Er drückte ihre Hand. „Möchtest du, dass ich mit deiner Mutter darüber rede?“

Einen Moment lang war Sabrina versucht, Ja zu sagen, aber dann seufzte sie nur wieder. „Nein, Dad. Das ist mein Problem. Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich muss allein damit fertig werden.“

Sabrina war die Verlegerin des Rockwell Record, der Tageszeitung, die ihr Urgroßvater Francis Kipling Rockwell gegründet hatte. Seit sie alt genug war, um zu wissen, was eine Zeitung war, hatte sie dort arbeiten wollen – aber als Reporterin oder Redakteurin, nicht als diejenige, die die Geschäfte führte, Personal einstellte oder entließ und für alles verantwortlich war. Doch seit ihr Onkel Frank sich zur Ruhe gesetzt hatte, war sie die einzige Rockwell, die für die Position infrage kam. Mehr und mehr hatte sie die journalistische Arbeit anderen überlassen müssen und im letzten Jahr das Gefühl gehabt, dass ihr Leben außer Kontrolle geraten war und sie nichts daran ändern konnte.

„Wenn ich nicht so oft fort wäre und du nicht auch noch für deine Mutter verantwortlich sein müsstest …“, begann ihr Vater.

„Es ist nicht deine Schuld. Ich will nicht, dass du ein schlechtes Gewissen hast. Du weißt, dass Mom sehr unglücklich wäre, wenn ihr weniger Geld hättet. Außerdem würde es nichts ändern, wenn du dauernd zu Hause wärest. Sie erwartet nun einmal bestimmte Dinge von mir.“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Ich bin okay. Wirklich. Jetzt lass uns über etwas anderes reden.“

Zehn Minuten später parkte Sabrinas Vater den Wagen, und sie stiegen die Anhöhe hinauf, auf der der Blumengarten des Parks lag. Auf dem Weg lag das leuchtende Laub der Ahornbäume, und Sabrina atmete tief durch. Sie liebte den Herbst.

„Hast du gehört, was Shorty Carwell …“ Sie brach ab. „Dad?“

Ihr Vater war stehen geblieben und hielt sich die Brust.

„Dad?“, wiederholte sie eindringlich. „Was ist los?“

Er verzog das Gesicht. „Nur der … Magen. Ich hätte die zweite Portion Klöße nicht essen sollen.“

„Bist du sicher?“ Sabrina gefiel seine Gesichtsfarbe nicht. Er war blass geworden. „Vielleicht sollten wir nach Hause fahren.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es geht mir gut. Es ist nur die Verdauung. Das Laufen wird mir gut tun.“

„Aber …“

„Wirklich. Es geht mir wieder gut.“ Lächelnd bot er ihr seinen Arm an.

Obwohl Sabrina sich bei ihm einhakte, legte sich das mulmige Gefühl in ihrem Bauch nicht. Sein Lächeln hatte ein wenig gezwungen gewirkt. Aber er schien so tun zu wollen, als wäre nichts passiert, also gab sie sich unbeschwert.

„Wann fliegst du morgen?“

„Mittags.“

„Also wirst du früh aufbrechen?“

Als Ben nicht sofort antwortete, musterte sie ihn besorgt. Ihr Herz schlug schneller. Sein Gesicht war weiß, und trotz der Kälte hatten sich an seiner Oberlippe Schweißtropfen gebildet. „Dad! Es geht dir nicht gut!“

„Ich …“ Er taumelte zurück. Fasste sich wieder an die Brust. Sein Blick war panisch. Dann sank er mit einem erstickten Aufschrei zusammen.

Sabrina versuchte, ihn festzuhalten, aber er war zu schwer. Sie riss das Handy aus der Tasche und wählte 911, bevor sie neben ihm in die Knie ging und zwei zitternde Finger an seine Halsschlagader legte. Sie schluckte. Kein Puls.

Sofort nachdem sie den Notfall gemeldet hatte, begann sie mit der Wiederbelebung. Zum Glück hatte sie vor einigen Monaten einen Kurs mitgemacht, um darüber zu berichten. Sonst hätte sie nicht gewusst, was sie jetzt tun musste.

„Dad, bitte sei okay. Bitte sei okay.“

Immer wieder flehte sie ihn an, während ihre Kräfte langsam nachzulassen begannen. Trotzdem machte sie mit der Mund-zu-Mund-Beatmung weiter.

Inzwischen schluchzte sie vor Angst und Verzweiflung. Egal, was sie tat, er atmete nicht! Wo blieb der Krankenwagen?

Bitte, beeilt euch, flehte sie stumm.

Endlich hörte sie die Sirene, erst in weiter Ferne, dann immer lauter, als der Rettungswagen auf den Parkplatz einbog.

Sekunden später wurde sie von kräftigen Händen zur Seite geschoben, und drei Sanitäter übernahmen.

Benommen beobachtete Sabrina, wie sie ihren Vater untersuchten. Als einer von ihnen – ein stämmiger, dunkelhaariger Mann – nach dem Elektroschockgerät rief, biss sie sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien.

Bitte, lass ihn nicht sterben, flüsterte sie. Ich brauche ihn.

Entsetzt sah sie zu und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Sanitäter einen Stromstoß durch die Brust ihres Vaters jagten.

Und dann hob der dunkelhaarige Sanitäter wie in Zeitlupe den Kopf.

Er sah seine Kollegen an. „Es hat keinen Sinn.“

„Nein!“, rief Sabrina.

Die Sanitäterin drehte sich zu ihr. „Es tut mir so leid.“ Ihre braunen Augen waren voller Mitgefühl. „Wir können nichts mehr für ihn tun. Er ist tot.“

Sabrina starrte sie an. Ihr Vater konnte nicht tot sein. Er war erst achtundfünfzig Jahre alt. Er war viel zu jung, um zu sterben. „Daddy …“ Tränen rannen über ihr Gesicht. „Daddy.“

Die Sanitäterin stand auf, legte den Arm um Sabrina und führte sie zu einer Bank. „Soll ich jemanden für Sie anrufen?“

Sabrina schüttelte den Kopf. Ihr Vater hatte keine Familie. Seine Eltern waren tot, und er war ihr einziges Kind gewesen. Und ihre Mutter …

„Sind Sie sicher?“

„Meine Mutter … sitzt im Rollstuhl. Ich muss zu ihr und … es ihr sagen.“ Oh, gütiger Himmel. Was würde jetzt aus ihnen werden? Wie würde ihre Mutter diese Katastrophe verkraften?

„Gibt es sonst noch jemanden, den ich anrufen kann? Jemanden, der Ihnen jetzt beistehen kann?“

Es gab nur Frank, den Bruder ihrer Mutter. Aber der war selbst nicht gesund und lebte mit seiner Frau in Florida. Und Tante Irene, die Schwester ihrer Mutter, die mit ihrer Familie in Savannah wohnte. Sabrina biss sich auf die Lippe. Casey. Casey würde kommen.

„Ich … werde eine Freundin anrufen“, brachte sie schließlich heraus. Casey Hudson war seit der Highschool ihre beste Freundin. Die Beste, die sie je gehabt hatte.

Als sie Caseys Stimme hörte, brach sie zusammen. Behutsam nahm die Sanitäterin – auf deren Namensschild J. Kovalsky stand – ihr das Handy ab. Leise sprach sie hinein.

„Ihre Freundin wird in zehn Minuten hier sein“, sagte sie sanft, als Sabrina sich wieder gefasst hatte.

Benommen saß Sabrina da, während die beiden Sanitäter den leblosen Körper ihres Vaters auf eine Trage legten und in den Rettungswagen schoben. „Wo … wohin bringen Sie ihn?“

„Ins County General.“

Als Journalistin wusste Sabrina, dass man dort den Totenschein ausstellen und die Leiche ihres Vaters unterbringen würde, bis sie dem von ihr und ihrer Mutter beauftragten Bestattungsunternehmen übergeben werden konnte.

Ihre Lippen zitterten. Leiche. Totenschein. Bestattungsunternehmen. Es waren so schreckliche Worte. Schrecklich und fremd und endgültig.

Sie vergrub das Gesicht in den Händen und ließ den Tränen freien Lauf.

„Asche zu Asche, Staub zu Staub …“

Sabrina lauschte den Worten des Geistlichen mit der gleichen Benommenheit, mit der sie die vergangenen drei Tage durchstanden hatte. Alles, was seit dem tödlichen Herzinfarkt ihres Vaters geschehen war, lief wie ein unscharfer, verschwommener Film in ihrem Kopf ab.

Sie hatte ihrer Mutter die schlimme Nachricht überbracht. Sich um die Beisetzung gekümmert. Freunde und Angehörige verständigt. Sich die zahlreichen Beileidsbekundungen angehört. Hunderte von Trauergästen begrüßt, die gekommen waren, um dem aufgebahrten Ben March die letzte Ehre zu erweisen.

Und heute die Beisetzung.

Es erschien ihr wie eine grausame Ironie des Schicksals, dass dies ein wunderschöner Tag war – klar und kalt, mit einem strahlend blauen Himmel und einer Herbstsonne, die alles in einen goldenen Schein tauchte. Kein Tag für eine Beerdigung. Menschen sollten nur an dunklen, verregneten Tagen begraben werden.

Der Geistliche ließ Erde auf den Sarg rieseln. „Benjamin Arthur March, wir übergeben deine sterbliche Überreste …“

Sabrina hörte nicht mehr zu. Die feierlichen Worte waren bedeutungslos. Sie änderten nichts. Ihr Vater war tot.

Sie wünschte, sie wäre nicht hier. So wollte sie ihren Vater nicht in Erinnerung behalten. Sie wollte nicht erleben, wie sein Sarg in die Erde gesenkt wurde. Sie wollte nicht glauben, dass sie ihn nie wieder sehen würde.

Ihre Augen brannten. Seit jenen Minuten im Park hatte sie sich keine Tränen mehr gestattet.

Was half denn Weinen schon?

Ihr Vater war fort. Nie wieder würde sie ihn lächeln sehen. Nie wieder würde er sie mit seinem Optimismus und Humor anstecken. Nie wieder würde sie seinen Trost und seine Stärke spüren.

Oh, Daddy, was soll ich ohne dich tun?

Neben ihr bewegte sich ihre Mutter. Sabrina warf einen Blick zur Seite. Isabels Profil wirkte gefasst und würdevoll, das Kinn war erhoben, die Schultern gestrafft.

„Rockwells zeigen ihre Gefühle nicht in der Öffentlichkeit“, hatte sie häufiger gesagt, als Sabrina zählen konnte.

Unmut stieg in ihr auf. Ihre Mutter, die aus der prominenten Familie stammte, der die Stadt Rockwell ihren Namen verdankte, hatte kein einziges Mal die Fassung verloren. Nicht einmal dann, als sie erfahren hatte, dass ihr Mann tot war. Sabrina fragte sich, ob ihre Mutter ihren Vater jemals geliebt hatte. Aber sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie durfte ihre Mutter nicht verurteilen, nur weil Isabel ihre Trauer nicht so offen zeigte wie sie selbst.

Ihre Mutter war eine Rockwell und fest davon überzeugt, dass sie einen Ruf zu wahren hatte. Isabel war immer unfähig gewesen, ihre Liebe zu zeigen. Manche Menschen waren eben so. Sie hielten ihre Gefühle unter Verschluss. Das musste nicht bedeuten, dass sie keine hatten.

Nur ein einziges Mal hatte Sabrina erlebt, dass ihre Mutter die Beherrschung verlor. Es war eine lange verdrängte Erinnerung, doch jetzt kam sie an die Oberfläche. Sabrina war zwölf gewesen, hatte oben in ihrem Zimmer für die Schule gelernt und gehört, wie ihre Eltern sich unten in der Bibliothek stritten.

„Eher friert die Hölle zu, als dass ich in eine Scheidung einwillige“, rief ihre Mutter aufgebracht.

Sabrina erstarrte. Scheidung! Nein! Nicht ihre Eltern.

„Isabel, sei doch vernünftig“, erwiderte ihr Vater. „Was immer wir füreinander empfunden haben, es ist erkaltet, und das weißt du.“

„Rockwells lassen sich nicht scheiden.“

„Nur um dein Gesicht zu wahren, willst du den Rest deines Lebens leiden?“

„Wer sagt, dass ich leiden werde?“

Am Morgen darauf war ihre Mutter in den Skiurlaub gefahren – und auf einer steilen Piste so schwer gestürzt, dass sie den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen musste.

Seit jenem Tag war Sabrinas Vater ein fürsorglicher und liebevoller Ehemann gewesen. Niemand wäre darauf gekommen, dass er und Isabel sich fast getrennt hätten. Und irgendwann begann Sabrina sich zu fragen, ob sie sich die unschöne Szene in der Bibliothek nur eingebildet hatte.

Aber heute wurde ihr klar, dass es jenen lautstarken Streit zwischen ihren Eltern wirklich gegeben hatte. Die unerschütterliche Geduld und liebevolle Nachsicht ihres Vaters war die Buße gewesen, die er sich auferlegt hatte. Denn insgeheim hatte er sich die Schuld an Isabels Unfall gegeben.

Sabrina seufzte. Ihr Dad würde nicht wollen, dass sie ihrer Mutter gegenüber Verbitterung hegte. Im Gegenteil, er würde von ihr erwarten, dass sie freundlich und verständnisvoll war, weil Isabel ihre Tochter jetzt mehr denn je brauchte.

Schlagartig spürte Sabrina die Last der Verantwortung. Jetzt würde sie die Zeitung nie verlassen können. Nie etwas anderes versuchen. Nie ihr eigenes Leben führen.

Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, fragte Leland Fox, der langjährige Freund und Anwalt ihrer Eltern, Sabrina, ob sie schon bereit war, mit ihm über Bens Testament zu sprechen.

„Wenn du heute zu erschöpft bist, können wir es verschieben“, sagte er sanft.

„Nein, bringen wir es hinter uns.“

Sabrina hätte lieber gewartet, aber die Entscheidung lag bei ihrer Mutter. Also setzte sie sich, während Leland das Testament aus seinem Aktenkoffer nahm.

„Ich werde Florence in der Küche helfen“, meinte Sabrinas Tante Irene. Sie lächelte ihrer Nichte zu und verließ den Raum.

Das Testament enthielt keinerlei Überraschungen. Das Haus hatte Isabels Eltern gehört. Sie hatte ihre Geschwister ausgezahlt und war jetzt die alleinige Eigentümerin. Bens Letzter Wille legte fest, dass sein Anteil an der Firma zu gleichen Teilen an Isabel und Sabrina ging. Außerdem hatte er Florence, der Haushälterin und Jennifer Loring, Irenes Tochter und Sabrinas Cousine, etwas Geld vermacht.

Leland versprach, sich um alles zu kümmern und gab Isabel einen Abschiedskuss, bevor Sabrina ihn zur Tür brachte.

Dort senkte er die Stimme. „Sabrina, könntest du morgen Vormittag in die Kanzlei kommen? Es gibt etwas Persönliches zu besprechen.“

„Natürlich.“ Sie hätte gern nachgefragt, aber offenbar wollte er nicht, dass ihre Mutter davon erfuhr. „Wann?“

„Um zehn?“

„Na gut.“ Sie sah ihm nach, als er in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Um was konnte es gehen? Was wollte der Anwalt vor ihrer Mutter verbergen? Vielleicht ein Vermächtnis, das ihr Vater geheim halten wollte? Das war zwar unwahrscheinlich, aber etwas anderes fiel ihr nicht ein.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück und sobald ihre Mutter und Tante mit einer Kanne Tee und ihrem Strickzeug im Wintergarten saßen, brach Sabrina auf.

Lelands Kanzlei lag direkt neben dem Gerichtsgebäude.

„Er wird gleich Zeit für Sie haben“, sagte Betty Trehorne, Lelands Sekretärin.

Sabrina setzte sich auf eins der roten Ledersofas. Keine fünf Minuten später wurde sie in Lelands Büro geführt.

„Nimm Platz, meine Liebe“, begrüßte der Anwalt – ein hochgewachsener Mann mit ergrauendem Haar und freundlichen blauen Augen – sie herzlich und blieb stehen, bis sie sich gesetzt hatte. „Wie geht es dir?“

Sabrina zuckte mit den Schultern. „Ich bin okay.“

„Und deine Mutter?“

„Sie kommt zurecht. Tante Irene wird ein paar Wochen bei uns bleiben.“

„Das ist gut. Die nächsten Monate werden für euch beide schwer sein.“

Seine Miene war voller Mitgefühl, und Sabrina hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken.

„Nun ja …“ Leland schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Du fragst dich vermutlich, warum ich dich hergebeten habe.“

Sabrina wartete.

Er schlug einen Aktendeckel auf und holte einen Umschlag heraus. „Dein Vater hat mir diesen Brief anvertraut. Er hat mich gebeten, ihn dir zu übergeben, falls ihm etwas zustößt.“

Mit zitternden Händen nahm sie ihn entgegen. Ihr Vater hatte ihr einen Abschiedsbrief geschrieben, um ihre Trauer zu lindern. Sie wollte ihn nicht in Lelands Büro lesen, sondern ging in den Park. Das war der passende Ort für die letzte Botschaft ihres Vaters. Doch auch als sie auf ihrer Lieblingsbank am Rosengarten saß, riss sie den Umschlag noch nicht auf.

Sie starrte auf die schwungvolle Handschrift ihres Vaters – große Buchstaben in schwarzer Tinte. Sie strich mit den Fingerspitzen darüber und drückte den Umschlag einen Moment lang an ihr Herz.

Erst dann, mit einem zittrigen Lächeln, schob sie den Zeigefinger hinein, um ihn zu öffnen.

2. KAPITEL

Der Brief war im November vor zwei Jahren geschrieben worden.

Liebste Sabrina …

Ihr Vater beteuerte, wie sehr er sie liebe und wie leid es ihm täte, ihr wehtun zu müssen, aber es gäbe etwas Wichtiges, das sie wissen müsse.

Es fällt mir schwer, das hier zu schreiben, und ich weiß, dass es Dir Schmerz bereiten wird, es zu lesen. Es gibt keinen leichten Weg, es Dir zu sagen, also sage ich es einfach. Vor sechs Jahren habe ich mich in eine Frau verliebt, die ich auf einer von mir geführten Reise durch Italien kennengelernt habe. Ich konnte nicht anders. Ich wusste, dass sie sich wieder von mir trennen würde, wenn sie erfuhr, dass ich verheiratet war, also tat ich so, als wäre ich es nicht. Ich sagte ihr, ich sei geschieden und mein Name sei Ben Arthur. Sie hatte keine Ahnung, dass das Reiseunternehmen mir gehörte. Ich erzählte ihr, ich würde als Berater für ein Dutzend verschiedener Unternehmen in den U.S.A. und im Ausland arbeiten. Nachdem wir fast ein Jahr zusammen gewesen waren, verlangte sie, dass ich mich fester an sie binde. Ich versuchte, die Beziehung zu beenden, brachte es jedoch nicht fertig. Also heirateten wir in Las Vegas und verbrachten die Flitterwochen in Italien.

Sabrina schrie leise auf.

Verheiratet!

Das konnte nicht sein Ernst sein. Ihr Vater war mit ihrer Mutter verheiratet gewesen.

Wie konnte er eine andere Frau heiraten?

Sie und ich haben zusammen zwei Kinder. Sabrina, ich weiß, wie sehr Dich dies schockiert und Dir wehtut, aber bitte glaub mir, was ich für Glynnis und unsere Kinder empfinde, raubt nichts von dem, was ich für Dich fühle. Du bist mein erstes Kind und wirst immer den wichtigsten Platz in meinem Herzen einnehmen. Aber ich liebe auch Michael und Olivia und weiß, dass Du sie so sehr lieben wirst wie ich, wenn Du sie erst einmal kennengelernt hast. Während ich das hier schreibe, ist Michael dreieinhalb Jahre und Olivia einen Monat alt. Wenn Du diesen Brief liest, bin ich tot, und es gibt sonst niemanden mehr, der sich um ein paar Dinge kümmern kann, die erledigt werden müssen. Ich hätte Leland darum bitten können. Aber es wird für Glynnis schwer genug, zu erfahren, dass sie nicht nur Witwe geworden ist, sondern dass ich auch noch mit zwei Frauen verheiratet war. Daher hatte ich gehofft, dass Du es übers Herz bringst, zu ihr zu gehen und ihr alles zu erzählen.

Sabrina las diese Zeilen drei Mal, bevor ihr bewusst wurde, was ihr Vater getan hatte.

Er war ein Bigamist gewesen. Der Mann, den sie bewundert und respektiert und für einen ehrlichen, loyalen und anständigen Menschen gehalten hatte, war ein Lügner gewesen. Er hatte ihre Mutter und sie verraten.

Wie hatte er es nur so lange geschafft, seine beiden Familien voreinander und vor allen anderen geheim zu halten?

Lange starrte Sabrina nur vor sich hin. Erst als ein Eichhörnchen über den Weg huschte und die nach Futter suchenden Tauben aufscheuchte, hob sie den Kopf und las den Brief zu Ende. Ihr Vater schrieb ihr, wo sie Glynnis und ihren Zwillingsbruder Gregg finden würde. Erstaunt las Sabrina, dass die beiden nur ein paar Stunden entfernt, nördlich von Columbus wohnten. Irgendwie hatte sie erwartet, dass ihr Vater sein anderes Leben irgendwo im Ausland geführt hatte.

Vielleicht möchtest Du lieber zu Gregg gehen und ihm die Wahrheit erzählen, damit er dann mit Glynnis sprechen kann. Ja, ich glaube, das wäre der beste Weg. Sabrina, bitte sag Deiner Mutter, dass es mir leidtut, welchen Skandal ich damit entfache. Ich weiß, wie viel ihr ihre gesellschaftliche Position in der Stadt bedeutet.

Gütiger Himmel, dachte Sabrina. Noch schlimmer als mit der anderen Familie ihres Vaters zu sprechen, würde es sein, ihrer Mutter die Nachricht zu überbringen. Sie machte sich keine Illusionen über Isabels Reaktion. Ihr Ruf in der Stadt war vermutlich das Wichtigste in ihrem Leben. Sie würde am Boden zerstört sein.

Es tut mir so leid, Sabrina. Dir wehzutun ist das Letzte, was ich je tun wollte.

Obwohl Sabrina den Brief am liebsten in Fetzen gerissen und den Inhalt für immer vergessen hätte, war ihr klar, dass sie es nicht tun durfte. Die beiden kleinen Kinder – ihr Halbbruder und ihre Halbschwester – waren unschuldig. Und jetzt, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, stieg Neugier in ihr auf. Was für eine Frau mochte diese Glynnis sein? Jung und sexy vermutlich, dachte Sabrina geringschätzig. Eine kurvenreiche Blondine mit einer Stimme wie Marilyn Monroe.

Wie konnte ihr Dad ihnen uns das antun?

Und plötzlich setzte der Schmerz ein, hart und heftig wie ein Tritt in den Bauch. Ihr Vater hatte geschrieben, dass er sie liebte, aber hätte er sie wirklich geliebt, hätte er etwas so Schlimmes niemals tun können. Diese Glynnis zu heiraten war ein Verrat an allem, wofür er gestanden hatte.

Ohne hinzusehen stopfte sie den Brief in ihre Handtasche und stand auf. Als sie zum Parkplatz ging, schoben sich Wolken vor die Sonne.

Und die plötzliche Dunkelheit schien auch ihr Herz zu erfassen.

Sabrina fuhr auf direktem Weg zu Leland Fox’ Kanzlei zurück. Sie sah ihm an, dass er den Inhalt des Briefs kannte.

„Wie lange weißt du es schon?“, fragte sie.

„Seit etwa sechs Monaten.“

Sie konnte sich nicht vorstellen, warum der Anwalt das Geheimnis ihres Vaters bewahrt hatte. Er und Isabel waren zusammen aufgewachsen. Leland war immer eher ihr Freund als Bens gewesen. Man sollte meinen, dass er ihr gegenüber eine größere Loyalität empfand. Sabrina funkelte ihn an. Doch so schnell ihr Zorn gekommen war, so rasch legte er sich auch wieder. Leland war für dies alles nicht verantwortlich.

„Was wirst du tun?“, fragte er.

„Ich schätze, mir bleibt keine andere Wahl. Ich werde diese Frau aufsuchen und ihr erzählen müssen, dass Dad tot ist.“

Er nickte mitfühlend. „Wenn du zurückkommst, werde ich dir helfen, mit deiner Mutter darüber zu sprechen.“

„Du findest, ich sollte damit warten?“

„Es gibt keinen Grund zur Eile, oder?“

Sabrina starrte auf ihren Schoß. Leland hatte recht. Ob sie es ihrer Mutter jetzt oder erst in zwei Wochen erzählte, würde nichts ändern. Nein, es wäre besser, Isabel erst dann mit der schockierenden Nachricht zu konfrontieren, wenn es ihr besser ging. Sie hob den Blick und sah Leland an. „Nein, es gibt keinen Grund zur Eile. Und ich wäre dir für deine Hilfe sehr dankbar, wenn ich es meiner Mutter erzähle.“

Um ein wenig Zeit zu gewinnen, fuhr sie auf dem Rückweg in der Redaktion des Rockwell Record vorbei.

Johnny Fiore, der für Sport, Schule und Nachrufe zuständige Redakteur, sah von seinem Schreibtisch auf, als sie hereinkam. „Sabrina, wie geht es dir?“ Er sprang auf und umarmte sie.

„Ich bin okay.“

„Wir haben dich erst nächste Woche erwartet.“

„Ich bin nicht hier, um zu arbeiten. Ich wollte nur sehen, wie alles läuft.“

„Sie glaubt, dass wir es ohne sie nicht schaffen“, sagte Kelsey Finnegan, deren Ressort Lifestyle, Gesellschaft und Unterhaltung umfasste.

„Tun wir auch nicht. Ohne dich geht hier alles Drunter und Drüber“, mischte sich Vicky Barrows, die Redaktionssekretärin, ein.

Sabrina lächelte. Sie wusste, dass ihre Kollegen sie aufmuntern wollten. „Ich will nur noch kurz in meinen Terminkalender schauen, dann muss ich los. Aber am Montag bin ich wieder da.“

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und spürte die beruhigende Wirkung der vertrauten Umgebung. Weil sie es gesagt hatte, warf sie einen Blick in ihren Kalender und sah, dass sie am nächsten Vormittag mit einem Lieferanten verabredet war. Sie rief Vicky an. „Sag bitte die Besprechung mit Jake Evans ab. Ich werde ihn anrufen.“

„Wird gemacht. Noch etwas?“

„Du könntest Bert bitten, zur Sitzung des Stadtrats zu gehen.“ Die Lokalpolitik war ein Feld, das sie selbst dann nicht aufgegeben hatte, als die verlegerische Verantwortung ihr kaum noch Zeit für die Arbeit als Reporterin ließ.

„Sicher.“

„Wie sieht es mit den Anzeigen aus?“ Wie die meisten Zeitungen so verdiente auch der Record damit das meiste Geld.

„Gegenüber dem letzten Jahr haben wir jetzt zweiundzwanzig Prozent mehr.“

Sabrina verspürte einen Anflug von Stolz. Es hatte sich gelohnt, eine neue Anzeigenleiterin einzustellen. Jan Kellogg arbeitete hart und erfolgreich.

Nachdem das Notwendigste besprochen worden war, ging Sabrina ins Internet, um sich über Ivy, die Stadt, in der Gregg Antonelli und seine Schwester lebten, zu informieren. Erleichtert stellte sie fest, dass eine bekannte Hotelkette dort vertreten war, und reservierte sich für die kommende Nacht ein Zimmer.

Auf der Fahrt nach Hause stürmten die Sorgen wieder auf sie ein. Den Nachmittag mit ihrer Mutter zu verbringen fiel ihr noch schwerer, als sie angenommen hatte. Aber irgendwie schaffte sie es, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie war. Zum Glück legten Isabel und Irene sich irgendwann hin, und Sabrina konnte sich ans Klavier setzen. Die Musik hatte ihr immer geholfen, sich abzulenken. Sie spielte alle ihre Lieblingskomponisten – Chopin, Beethoven, Bach, Schubert und sogar ein paar Stücke von Scott Joplin.

Am Abend war sie dankbar dafür, dass ihre Tante mit ihnen aß. Irene unterhielt sich angeregt mit Isabel, was Sabrina sicher nicht fertiggebracht hätte.

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
Patricia ist...
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