Der schwarze Wolf von Claymore

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Schwarzer Wolf - so nennt man den englischen Heerführer Royce, Duke of Claymore. Er gilt als der erbittertste Gegner der Schotten. Und ausgerechnet eine Schottin ist Lady Jennifer, die seine Männer ihm als Gefangene übergeben. So begehrenswert sie auch ist, es wäre Verrat an England, würde Royce der Tochter seines ärgsten Feindes mit Gnade begegnen. Doch Jennifer, stolz und selbstbewusst, fasziniert ihn wie keine Frau zuvor und weckt seine Leidenschaft …Seltsam: Obwohl sie seine Gefangene ist fühlt sich Jennifer zu dem imponierenden Ritter hingezogen. Als sie jedoch fürchten muss, dass er sie dem englischen König ausliefern wird, flieht sie zurück zu ihrem Vater. Der aber will sie ins Kloster verbannen. Plötzlich hat Jennifer nur noch eine Hoffnung: Der Schwarze Wolf muss sie retten .


  • Erscheinungstag 30.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736651
  • Seitenanzahl 300
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es lebe der Duke of Claymore, es lebe seine Braut!“

Unter normalen Umständen hätte dieser Ausruf bei einer Hochzeit die prächtig gekleideten Herren und Damen, die in der riesigen Halle von Burg Merrick versammelt waren, dazu veranlasst, zu lächeln und in den allgemeinen Beifall mit einzustimmen. Sie alle hätten ihre Becher erhoben, Trinksprüche ausgebracht und eine so bedeutende Adelshochzeit wie diese, die hier im Süden Schottlands stattfinden sollte, begeistert gefeiert.

Nicht aber heute. Und nicht diese Hochzeit. Kein Trinkspruch wurde ausgebracht, kein Becher erhoben. Jeder belauerte hier jeden, und jeder empfand die Spannung. Die Angehörigen der Braut taten es ebenso wie die des Bräutigams, die geladenen Gäste spürten es und die Diener, sogar die Hunde in der Halle witterten Unheil.

„Es lebe der Duke of Claymore, es lebe seine Braut!“

Der Bruder des Bräutigams donnerte seinen Hochruf noch einmal in die unnatürliche Grabesstille der überfüllten Halle. Doch es kam keine Erwiderung, nicht an diesem vierzehnten Oktober des Jahres 1497. Der Bruder des Bräutigams hob seinen Becher und lächelte seinem Bruder grimmig zu. Die Freunde des Bräutigams folgten diesem Beispiel, doch ihr frostiges Lächeln galt den Verwandten der Braut. Die Familienmitglieder der Braut dagegen lächelten einander sehr kühl an.

Allein der Bräutigam nahm keine Notiz von der offensichtlichen Feindseligkeit, die in der Luft lag, denn auch er hob seinen Becher und blickte dabei mit ruhigem Lächeln auf seine Braut. Sie lächelte nicht, sondern blickte zornig drein. In Wahrheit war Jennifer so außer sich, dass sie ihre Umgebung kaum wahrnahm. Ihr Denken war einzig und allein auf Gott gerichtet, und sie hoffte verzweifelt, er möge noch im allerletzten Augenblick verhindern, was er bisher nicht abgewendet hatte.

Angst schnürte ihr die Kehle zu. Jennifer schluckte und betete im Stillen: „Herr, wenn du überhaupt etwas tun willst, diese unglückselige Hochzeit zu verhindern, so tu es schnell, oder es wird zu spät sein. Ich denke doch etwas Besseres zu verdienen als diesen aufgezwungenen Ehemann, der mir meine Unschuld nahm. Du weißt, dass ich mich ihm nicht einfach ergeben habe!“

Mitten in diesen Gedanken begriff Jennifer, dass es ihr wohl kaum zustand, Gottes Ratschluss zu maßregeln, und sie setzte schnell hinzu: „Du weißt, dass ich mich stets bemüht habe, wenigstens bemüht, Gott, auch wenn die guten Schwestern in der Abtei dies vielleicht nicht immer bemerkt haben. Darum hilf mir, Gott, ich bitte dich, ich flehe dich an, ich will auch alles tun, was du von mir verlangen magst, ich will sogar in die Abtei zurückkehren und dir allein mein Leben weihen …“

„Die Eheverträge sind unterzeichnet, bringt den Priester herbei“, befahl eine Stimme, und Jennifer stockte der Atem. Hinein in die herrschende Grabesstille wurden die Türen aufgeschlagen, und die Menge bahnte dem Priester einen Weg.

Der Bräutigam trat an Jennifers Seite, und die junge Frau zuckte zurück. Alles in ihr rebellierte gegen seine Nähe. Widerstand und eine Empfindung der Demütigung verursachten Jennifer beinahe körperliche Übelkeit.

Wenn sie doch nur nicht so impulsiv und unüberlegt gehandelt hätte! Aber wie hatte sie auch vorausahnen können, dass eine einzige unbedachte Handlung in Unheil und Schande enden würde!

Jennifer schloss die Augen, um die feindseligen Mienen der englischen Gäste und die mörderisch drohenden Blicke ihrer eigenen schottischen Verwandten nicht sehen zu müssen.

Aber die niederschmetternde Tatsache ließ sich nicht verdrängen, dass Jennifers eigener Fehler sie in diese verhängnisvolle Lage gebracht hatte: ihre Impulsivität und ihre Unüberlegtheit. Nur ihnen waren ihre bisherigen Fehler zuzuschreiben, ihnen und ihrer verzweifelten Bemühung, dem Vater Freude zu machen, damit er Jennifer ebenso liebte wie seine Stiefsöhne.

Schon als Vierzehnjährige hatte sie alles darangesetzt, sich auf ehrenvolle und aufrichtige Weise an ihren verschlagenen und boshaften Stiefbrüdern zu rächen. Einmal war Jennifer sogar heimlich in eine der Familienrüstungen geschlüpft und ganz offen gegen einen der drei bei einem Turnier in die Schranken geritten. Diese großartige Geste hatte Jennifer zwar wohlverdiente Hiebe von ihrem Vater eingetragen, doch auch die gewaltige Genugtuung, den ältesten und heimtückischsten der Stiefbrüder aus dem Sattel geworfen zu haben.

Noch im gleichen Jahr hatte freilich Jennifers Verhalten dazu geführt, dass der alte Lord Balder seine Werbung um sie zurückzog und damit den Herzenswunsch des Herrn von Burg Merrick zunichte gemacht – die beiden mächtigen Familien durch Heirat zu verbinden. Und beide Anlässe hatten schließlich Jennifers Verbannung in die Abtei von Belkirk bewirkt, wo sie dann vor sieben Wochen eine leichte Beute für die streifenden Reiter des Schwarzen Wolfes geworden war.

Und nun, in dieser Stunde, sah Jennifer sich gezwungen, ihren Feind zu ehelichen – diesen brutalen englischen Kriegsmann, dessen Truppen Jennifers Vaterland verheerten und der selbst sie gefangen genommen, entjungfert und ihren Ruf zerstört hatte.

Jetzt aber war es zu spät für Gebete und Hoffnungen. Seit sieben Wochen schon war ihr Schicksal besiegelt, seit jenem Augenblick, in dem sie diesem hochmütigen Untier zu Füßen geworfen worden war, zusammengeschnürt wie ein Stück Jagdbeute.

Jennifer schluckte schwer. Nein, eigentlich war es sogar noch früher gewesen, dass ihr Weg ins Unglück zu führen begann, an dem Tag nämlich, an dem Jennifer alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte, der Schwarze Wolf stünde mit seinen Truppen ganz in der Nähe der Abtei. Aber warum auch hätte Jennifer es glauben sollen? Innerhalb der vergangenen fünf Jahre hatte diese Gefahr ständig über ihrer aller Köpfe gehangen, bevor sie an jenem verhängnisvollen Abend leidvolle Wahrheit wurde.

Erst die aufbrechende Unruhe in der großen Halle, das Geräusch der nicht länger dumpf schweigenden Menge, die nach dem Priester Ausschau hielt, hätte Jennifer jetzt eigentlich aufhorchen lassen müssen, aber sie war viel zu tief in der Erinnerung an jene anderen unseligen Geschehnisse verloren …

Es war ein ungewöhnlich strahlender Tag, blau der Himmel und würzig die Luft. Die Sonne hatte die gotischen Türmchen der Abtei und ihre zierlichen Bogen in strahlende Goldhelle getaucht und mild auf das verschlafene Örtchen Belkirk niedergeschienen.

Auf einem fernen Hügel hütete ein Schäfer seine Herde, und Jennifer spielte Blindekuh mit den Waisenkindern der Abtei, welche die Äbtissin der jungen Klosterschülerin anvertraut hatte. Dazu konnte Jennifer die Schleierhaube nicht gut brauchen, die jedes Mädchen in der klösterlichen Gemeinschaft trug, und sie war nun dabei, einem Jungen die Augen im Spiel zu verbinden, als eines der Dorfkinder plötzlich rief: „Schnell, Lady Jennifer, eine Nachricht vom Herrn!“

Vergessen waren Schleier und Spiel. Jennifer begann zu laufen, gefolgt von den neugierigen Kleinen, während der Blick des Mädchens den Reitern entgegenflog, die sich näherten. Einer davon nahm mit allen Zeichen der Ehrfurcht den Helm ab. „Seid Ihr nicht die Tochter des Herrn von Burg Merrick?“

Bei der Nennung dieses Namens hielten zwei unauffällige Männer, die am Dorfbrunnen Wasser schöpften, jäh inne und tauschten einen überraschten, unheilverkündenden Blick, um dann die Köpfe tiefer in den Schatten zu senken. Jennifer nickte. „So ist es, bringst du mir Nachricht von meinem Vater?“

„Wohl, Mylady, er ist noch hinter uns, denn wir ritten den kürzeren Weg durch die Wälder, aber auch er wird bald hier sein mit seinen Gefolgsleuten.“

Jennifer atmete auf. „Gottlob.“ Doch schnell vergaß sie ihre eigenen Sorgen über der verzweifelten politischen Lage des Vaterlandes. „Wie steht es um die Schlacht in Cornwall?“

In Cornwall kämpften die Schotten König Jakobs um den Thronanspruch gegen den englischen König Heinrich VII.

Die düstere Miene des Soldaten beantwortete Jennifers Frage schon deutlich genug, noch bevor er sprach. „Als wir Cornwall verließen, war noch längst nicht alles vorbei. Obwohl wir anfangs siegreich zu sein schienen, wendete sich alles zum Schlimmeren, als der Teufel selbst sich an die Spitze von Heinrichs Truppen stellte.“

„Der Teufel?“, fragte Jennifer verdutzt. Hass verzerrte die Züge des Mannes, und er spie auf den Boden. „Wohl, Mylady, der Teufel – der Schwarze Wolf höchstpersönlich. Möge er für ewig in der Hölle braten für alles, was er getan! Und er wird hierherkommen, glaubt mir, und es wird Mord und Totschlag geben. Deshalb beeilen sich ja unsere Herren, zurückzukehren und alle Burgen auf die drohende Belagerung vorzubereiten. Und es gilt als sicher, dass Burg Merrick des Wolfes erstes Ziel sein wird, denn die Merricks haben in Cornwall den Engländern die meisten Verluste beigebracht.“

Damit verbeugte sich der Mann höflich, setzte den Helm auf und schwang sich in den Sattel. Wenig später zerstreuten sich auch die Gruppen der Dorfbewohner am Brunnen, und die Soldaten ritten die Straße entlang, die über die Moore zu den Hügeln hinaufführte.

Die beiden Fremden, die zuvor am Brunnen einen Blick gewechselt hatten, stiegen auf ihre Pferde. Doch sobald die Wegbiegung die Reiter den Blicken Jennifers und der Kinder entzog, verließen die Männer die Straße und schlugen sich schnell ins Gebüsch des Waldes. Hätte Jennifer sie beachtet, so hätte sie vielleicht bemerkt, dass diese beiden Reiter ihre Pferde im Hintergrund anhielten und im Dickicht warteten. Aber sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt.

Für die Schotten, ob mächtige Edelleute oder niedrige Dorfbewohner, war der Mann, den alle den Schwarzen Wolf nannten, schlimmer als der Teufel selbst, vor allem aber gefährlicher. Denn der Teufel war nur ein geistiges Wesen, das man sich kaum vorstellen konnte. Der Wolf dagegen ein Mensch aus Fleisch und Blut, sozusagen ein leibhaftiger Herrscher des Bösen, ein Ungeheuer, das hier auf Erden alles bedrohte. Er war zum Schreckgespenst geworden, mit dem die Schotten unartige Kinder zu bändigen pflegten. „Der Wolf wird dich holen“, lautete die Warnung, wenn ein Sprössling sich im Wald verirrt oder nachts das Bett verlassen hatte oder unfolgsam gewesen war.

Jennifer kannte die hysterische Angst ihrer Umgebung vor einem Mann, den sie persönlich eher für eine Sagengestalt hielt, und hatte deshalb ihre Schützlinge an sich gezogen, als diese bei der Erwähnung des furchtbaren Namens sich an sie gedrängt hatten. Jennifer war schließlich eine Merrick, und die Merricks kannten keine Furcht vor einem Menschen. Das hatte Jennifer immer wieder gehört, wenn ihr Vater zu seinem Clan oder zu seinen Söhnen gesprochen hatte, und so versuchte Jennifer auch jetzt alles, die verängstigten Kinder mit einem Scherzwort zu beruhigen.

Trotzdem war die heitere Unbefangenheit des gemeinsamen Spiels verloren. Der Himmel wurde von plötzlich aufsteigenden schweren Wolken verdüstert, und die zuvor noch milde Herbstluft schien mit einem Mal schneidend und kalt, sodass Jennifer ihren rauen Novizenmantel enger um sich zog. Die Natur selbst schien sich bei der Erwähnung solchen Übels zu verdunkeln.

Gerade als Jennifer versuchte, die Kinder wieder zum Lachen zu bringen, verstummte sie plötzlich, denn eben bog eine Gruppe von Clansleuten um die Ecke der Straße, die von der Abtei herführte, und näherte sich rasch.

Ein schönes Mädchen, wie Jennifer in das schlichte graue Kleid der Klosternovizin gehüllt, mit Haube und kurzem weißen Schleier, saß bescheiden vor dem Anführer im Sattel, und ihr scheues Lächeln bestätigte nur, was Jennifer bereits wusste. Sie war mit einem leisen Aufschrei der Freude gerade im Begriff, auf den Vater zuzustürmen, besann sich aber noch rechtzeitig, dass solches Betragen einer Lady unwürdig war, und zwang sich, die Ankömmlinge zu erwarten.

Jennifer ließ den Blick auf dem geliebten Vater verweilen und dann kurz über ihre Clansleute schweifen, die sie auch heute feindselig und missbilligend anstarrten. So war es aber seit Jahren, seitdem ihr ältester Stiefbruder so erfolgreich seine abscheuliche Geschichte über Jennifer verbreitet hatte.

Jetzt befahl Jennifer den Kindern, ohne Umwege gerade zur Abtei zurückzukehren, und blieb dann mitten auf der Straße wartend stehen, bis die Reiter endlich – es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es so weit war – vor Jennifer ihre Pferde zügelten.

Der Vater, der offensichtlich bei der Abtei Halt gemacht hatte, wo auch Brenna, Jennifers jüngere Stiefschwester, erzogen wurde, schwang sich aus dem Sattel und wandte sich, Brenna vom Pferd zu heben. Obwohl die neuerliche Verzögerung einer Begrüßung Jennifers Geduld auf eine harte Probe stellte, war diese genaue Einhaltung der höflichen und würdevollen Formen so typisch für den großen alten Mann, dass Jennifer unsicher lächelte.

Dann endlich streckte Lord Merrick die Arme aus, und Jennifer warf sich ungestüm an seine Brust, küsste ihn stürmisch und stammelte aufgeregt: „Ich habe Euch so sehr vermisst, Vater! Seit beinahe zwei Jahren habe ich Euch nicht gesehen, wie geht es Euch? Ihr habt Euch nicht verändert, geht es Euch auch gut?“

Sanft löste der Lord ihre Arme von seinem Nacken und hielt seine Älteste etwas von sich weg, um seinen Blick über ihr wirres Haar, die erhitzten Wangen, das zerdrückte graue Kleid gleiten zu lassen. Innerlich krümmte sich Jennifer unter diesem prüfenden Blick und konnte nur hoffen, dass der Vater mit dem zufrieden war, was er sah, und dass der Bericht der Äbtissin bei seinem kurzen Halt in der Abtei nicht zu arg ausgefallen sein mochte.

Immerhin hatte vor zwei Jahren Jennifers Betragen zu ihrer Entsendung zu den Nonnen geführt, und erst vor einem Jahr war auch Brenna dort in Sicherheit gebracht worden, nämlich als der Lord mit den anderen schottischen Edelleuten und ihren Scharen in den Krieg gezogen war. In der Obhut der strengen Äbtissin hatte Jennifer schnell gelernt, deren innere Kraft zu bewundern und die eigenen Fehler leichter zu überwinden.

Jetzt freilich konnte sich Jennifer nicht enthalten, sich im Stillen zu fragen, ob das, was ihr Vater da so genau und prüfend betrachtete, auch dem entsprach, was er zu sehen erwartete, nämlich die junge Lady, die Jennifer jetzt war, oder aber noch das unbändige Mädchen von vor zwei Jahren. Doch als der Vater nun den Blick seiner blauen Augen wieder auf das Gesicht seiner Tochter richtete, trat ein Lächeln in seine Züge. „Du bist eine junge Frau geworden, Jennifer.“

Jennifers Herz schlug schneller vor Freude. Bei ihrem schweigsamen Vater waren diese Worte ein großes Lob. „Ja, Vater, ich habe mich in vielem verändert, sehr verändert.“

„Doch nicht zu sehr.“ Der Lord hob die schneeweißen dichten Brauen und schaute angelegentlich auf Haube und Schleier in Jennifers Hand.

„Oh“, Jenny lachte und bemühte sich, ihrem Vater zu gefallen, „das habe ich ganz vergessen. Wir spielten Blindekuh mit den Waisenkindern, und da konnte ich den Schleier nicht brauchen. Aber habt Ihr schon die Äbtissin gesehen? Und was hat Euch Mutter Ambroisa erzählt?“

Das Lächeln in den ernsten Augen des alten Mannes vertiefte sich. „Nun, sie hat mir berichtet, dass du sehr gern auf dem Hügel dort sitzt und träumend vor dich hin blickst. Und das, mein Mädchen, klingt doch sehr vertraut.“

Jennifers Hochgefühl wurde schlagartig gedämpft. Wie konnte die so bewunderte Äbtissin, die wie eine echte Herrin ihrer eigenen riesigen Domäne vorstand, sie nur so preisgeben? Jennifer verehrte die stolze, selbstsichere Frau, während Brenna sich vor ihr fürchtete. Umso mehr tat Jennifer der Vertrauensbruch der Äbtissin weh, und erst die nächsten Worte des Vaters machten die Enttäuschung wieder wett.

„Allerdings erfuhr ich auch von Mutter Ambroisa“, setzte er mit sichtlichem Stolz hinzu, „dass du das Herz auf dem rechten Fleck und selbst das Zeug zu einer guten Äbtissin hast. Sie meint, du seist eine Merrick durch und durch, stark und mutig genug, um deinem eigenen Clan vorzustehen. Aber das“, damit vernichtete der Lord abrupt die höchsten Hoffnungen seiner Tochter, „das wird natürlich nie geschehen.“

Mühsam hielt Jennifer an dem Lächeln fest, das auf ihrem Gesicht gefror, so sehr verletzte es sie, dass man sie von dem Erbfolgerecht ausschloss. Einem Recht, das ihr der Vater zugesichert hatte, bevor er Brennas verwitwete Mutter heiratete und damit auch drei Stiefsöhne in die Familie aufnahm. Danach aber sollte Lord Alexander, der Älteste, den Platz einnehmen, der Jennifer zugesagt gewesen war.

Das allein hätte freilich Jennifer nicht so treffen können, wäre Alexander freundlich oder wenigstens aufrichtig gewesen. Er war aber ein tückischer, berechnender Lügner. Jennifer wusste das sehr gut, auch wenn es weder ihr Vater noch die Familie und der Clan zu begreifen schienen.

Schon in seinem ersten Jahr auf Burg Merrick hatte dieser Alexander begonnen, Schauergeschichten über seine Stiefschwester zu erzählen, Dinge, die zwar verleumderisch und grauenhaft, aber überaus schlau ersonnen waren. Damit war es dem jungen Mann innerhalb weniger Jahre gelungen, den ganzen Clan gegen Jennifer aufzubringen.

Dieser Verlust der Liebe ihrer eigenen Leute hatte Jennifer immer belastet, und sie litt auch jetzt schwer darunter, dass die Männer durch die Tochter ihres Anführers gleichsam hindurchsahen, als stünde sie gar nicht vor ihnen. Und Jennifer musste sich zurückhalten, um ihnen nicht erneut entgegenzutreten und für Dinge um Verzeihung zu bitten, die sie niemals begangen hatte.

William, der mittlere Bruder, war wie Brenna sanft und scheu, während Malcolm, der jüngste, seinem ältesten Bruder Alexander an Verschlagenheit und Tücke in nichts nachstand.

„Die Äbtissin hat auch noch erwähnt“, fuhr der alte Lord fort, „du seist freundlich und mildtätig, aber du hättest auch deinen eigenen Willen …“

„Wirklich, hat sie das wirklich gesagt?“, fragte Jennifer drängend und riss ihre Gedanken von den Stiefbrüdern los. „Wirklich?“

„Ja, das hat sie.“

Unter normalen Umständen hätte sich Jennifer mit dieser Antwort zufriedengegeben, aber die Züge des Vaters waren gespannt und grimmig geworden. Selbst seine Stimme klang angestrengt, als er hinzusetzte: „Es sollte mich freuen, wenn du deine unchristliche Art endlich aufgegeben hättest und all das wärst, was Mutter Ambroisa sagte.“

Er verstummte, als könnte oder wollte er nicht mehr weiter darüber sprechen, und Jennifer fragte leise: „Warum sagt Ihr das, Vater?“

„Weil ich …“, entgegnete er und tat einen schnellen gepressten Atemzug, „weil die Zukunft des ganzen Clans von deiner Antwort auf meine nächste Frage abhängen wird.“

Diese seine Worte erfüllten die junge Lady mit Erregung und Freude. Die Zukunft des Clans sollte von ihr abhängen. Kaum konnte sie bei so viel Glück ihren eigenen Ohren trauen. Wie oft hatte Jennifer dort auf jenem Hügel ihren liebsten Traum gesponnen, den Traum, in dem ihr Vater zu ihr kam und ihr sagte, dass die Zukunft des Clans, der Familie und aller Untertanen von ihr, Jennifer, abhänge, von ihr, nicht von ihren Stiefbrüdern.

Das hatte sie sich immer gewünscht, seitdem sie die Liebe ihrer Verwandten und das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen versuchte. Irgendeine große Tat hatte Jennifer vollbringen wollen, irgendetwas unglaublich Kühnes und Gefährliches, etwa die Mauer zur Burg des Schwarzen Wolfes ersteigen und den Gefürchteten gefangen nehmen.

Auch jetzt zögerte sie keine Sekunde, sich der Herausforderung zu stellen, und suchte den Blick ihres Vaters. „Was soll ich tun“, fragte sie, „sagt es mir, ich würde alles tun.“

„Wirst du Edric MacPherson heiraten?“

„Was sagt Ihr da?“ Jennifer wurde jäh aus ihren Träumen gerissen. Bestürzung und Entsetzen ließen sie erbleichen. Edric MacPherson war älter als ihr Vater, ein verrunzelter, furchteinflößender Mann, der Jennifer auf eine Art anzuschauen pflegte, die ihr Angst einflößte, seitdem Jennifer vom Kind zum jungen Mädchen geworden war.

„Wirst du es tun oder nicht?“

Jennifers dunkle Brauen zuckten. „Warum?“, fragte sie.

Der Ausdruck seines Gesichtes war seltsam düster. „Wir sind in Cornwall geschlagen worden und haben fast die Hälfte unserer Männer verloren. Alexander fiel in der Schlacht. Er starb wie ein richtiger Merrick“, setzte der Lord hinzu. „Er kämpfte bis zuletzt.“

„Wie schrecklich!“, sagte Jennifer. Doch ging ihr der Tod ihres verhassten Stiefbruders, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte, nicht sehr nah. Wieder einmal – wie so oft in den vergangenen Jahren – wünschte sie sich sehnlichst, sie könnte etwas tun, das ihren Vater stolz auf sie machen würde.

„Viele Edelleute waren dagegen, in Cornwall für die Sache unseres Königs Jakob zu kämpfen“, berichtete Lord Merrick, „dennoch folgten sie meinem Aufruf. Es ist den Engländern kein Geheimnis, dass sie unseren Widerstand in Cornwall mir zu verdanken hatten, und nun will ihr König Rache nehmen. Er schickt den Wolf nach Schottland, um Burg Merrick zu belagern.“

In seiner Stimme war der heftige Schmerz für Jennifer nicht zu überhören, als Lord Merrick zugab: „Und wir könnten einer solchen Belagerung nicht standhalten, nicht jetzt, nicht ohne die Hilfe des MacPherson-Clans. Sein Einfluss ist groß genug, noch andere Clans zu zwingen, uns beizustehen.“

Um Jennifer drehte sich alles. Ihr Stiefbruder Alexander war tot, und der Wolf nahte, um ihre Heimat anzugreifen. Die folgenden Worte ihres Vaters rissen Jennifer aus ihrer Betäubung: „Hast du überhaupt gehört, was ich sagte, Jennifer? MacPherson hat versprochen, uns in unserem Kampf zu unterstützen, aber nur unter der Bedingung, dass du seine Werbung annimmst.“

Von ihrer verstorbenen Mutter hatte Jennifer den Titel einer Gräfin geerbt und den reichen Grundbesitz, der an den der MacPhersons grenzte. Beinahe hoffnungsvoll meinte sie daher: „Er will meine Ländereien?“ Doch sie konnte nicht umhin, sich an die unangenehme Art zu erinnern, auf die Edric MacPherson seinen Blick über ihren Körper hatte gleiten lassen, als er vor Jahresfrist in der Abtei erschienen war, um Jennifer einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.

„Gewiss doch.“

„Könnten wir sie ihm nicht schenken für seine Hilfe?“

Ihr Angebot kam ohne Zögern. Jennifer war entschlossen und bereit, einen stattlichen Besitz widerstandslos aufzugeben, wenn sie damit ihrer Familie helfen konnte.

„Dem kann er nicht zustimmen“, erwiderte ihr Vater zornig. „Es ist zwar eine Frage der Ehre, Verwandten beizustehen, aber er könnte niemals seinen Leuten befehlen, in einen Kampf einzugreifen, wenn nur er den Lohn dafür einstriche.“

„Aber wenn ihm wirklich so sehr an meinen Besitzungen gelegen ist, müsste sich doch ein Weg finden lassen …“

„Er will aber dich. Er hat mir die Botschaft nach Cornwall gesandt.“ Lord Merrick ließ den Blick über das Gesicht seiner Tochter gleiten, das sich so überraschend verändert hatte. Es war nicht länger das schmale, eher ausdruckslose und sommersprossige Gesicht eines ungezogenen Kindes, sondern von geradezu exotischer Schönheit.

„Mädchen, du hast jetzt etwas an dir, das auch deine Mutter hatte, und das hat die Begierde eines alternden Mannes geweckt. Ich hätte es dir nicht gesagt, wenn es einen anderen Weg gäbe.“

Jäh erinnerte er Jennifer an ihre eigenen Wünsche. „Du hast oft verlangt, Herr über unseren Clan zu werden. Du hast oft gesagt, dafür alles zu tun, wenn es darum ginge …“

Jennifers Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen bei dem bloßen Gedanken, ihren Körper, ihr ganzes Leben in die Hände jenes Mannes zu überliefern, vor dem sie instinktiv zurückschreckte. Aber dann hob sie den Kopf, und ihr Blick traf kurz den ihres Vaters. „Gut, Vater“, sagte sie ruhig, „soll ich jetzt gleich mit Euch kommen?“

Der Ausdruck von Stolz und tiefer Erleichterung in den Zügen des Herrn von Burg Merrick machte das Opfer wenigstens sinnvoll. Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist wohl besser, du bleibst mit Brenna hier. Wir können kein Pferd entbehren und müssen die Burg erreichen, um die Belagerung vorzubereiten. Aber ich werde MacPherson wissen lassen, dass die Heirat beschlossen ist, und danach jemanden schicken, der dich zu ihm bringen kann.“

Wie betäubt stand Jennifer da, als ihr Vater sich wieder in den Sattel schwang, und blickte ihm und der Reitergruppe nach, bis sie alle um die Wegbiegung verschwunden waren.

„Es wird schon dunkel“, sagte Brenna neben ihr, und ihre Stimme war schwer von Mitleid. „Lass uns zur Abtei zurückkehren.“

Die Abtei. Als Jennifer die Abtei vor nur drei Stunden verlassen hatte, war die Welt bunt und voller Leben gewesen. Jetzt aber kam es ihr vor, als wäre sie selbst schon gestorben. „Geh du nur schon allein voraus. Ich komme später nach. Noch kann ich nicht dahin zurückkehren. Ich will noch ein wenig auf dem Hügel sitzen, nur eine kleine Weile.“

„Die Äbtissin wird es nicht schätzen, wenn wir nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück sind, und es wird schon finster“, mahnte Brenna sanft. So war es immer gewesen mit den Schwestern. Jennifer brach die Regeln. Brenna ängstigte sich, das zu tun.

Brenna war zart und sehr schön. Das blonde Haar, die haselnussbraunen Augen, ihre liebenswürdige Art machten Brenna in den Augen ihrer Schwester zu einem Musterbild aller Weiblichkeit schlechthin. Sie war ebenso zaghaft und scheu wie Jennifer ungestüm und mutig. Wäre da nicht Jennifer gewesen, Brenna hätte niemals ein einziges Wort des Tadels gehört, im umgekehrten Falle aber wäre manches Unternehmen für Jennifer weniger glimpflich abgelaufen. Deshalb waren die beiden Mädchen einander auch von ganzem Herzen zugetan, und jede versuchte aufs beste, die andere zu schützen und ihre fehlenden Eigenschaften auszugleichen, um damit die sonst unausbleiblichen Folgen abzuwenden.

Auch jetzt zögerte Brenna und entschied dann mit einem kaum hörbaren Zittern in der Stimme: „Ich bleibe bei dir, Jenny, denn wenn ich dich hier allein sitzen lasse, vergisst du doch wieder die Zeit, und es könnte dich auch ein … Bär anfallen in der Dunkelheit.“

Selbst wenn im Augenblick die Aussicht, von einem wilden Tier zerrissen zu werden, für Jenny etwas durchaus Verlockendes hatte, da ihr ganzes zukünftiges Leben in Öde und voll böser Vorahnungen vor ihr lag, und wenn sie auch gerade in dieser Stunde in der freien Natur hätte bleiben mögen, um ihre Gedanken zu ordnen, schüttelte Jennifer doch den Kopf. Sie wusste ja doch, dass Brenna, wenn sie noch draußen an ihrer Seite bliebe, aus Angst vor dem Zorn der Äbtissin halb vergehen sollte. „Nein, wir gehen zurück.“

Aber diesmal kümmerte sich Brenna nicht um Jennys Worte, sondern ergriff die Hand ihrer Schwester und wandte sich mit ihr dem Hügel zu, von dem aus man die Abtei liegen sah. Diesmal war es Brenna, die führte, und Jenny ließ es sich gefallen.

In den Wäldern neben der Straße bewegten sich lautlos zwei Schatten und folgten heimlich dem Weg der beiden Mädchen hügelan. Als sie etwa auf halber Höhe angelangt waren, verlor Jenny schon die Geduld mit sich selbst, schämte sich für ihr ungewohntes Selbstmitleid und machte einen heldenhaften Versuch, ihrem stürmischen und freiheitsdurstigen Geist Zügel der Vernunft anzulegen.

„Wenn man es genau bedenkt“, begann Jenny und warf Brenna einen schnellen Blick zu, „so ist es eigentlich doch eine edle und großartige Sache, wenn ich MacPherson heirate, um meinem Clan zu helfen.“

„Genau wie Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, die ihre französischen Landsleute zum Sieg über die Engländer führte“, stimmte Brenna eifrig zu. „Wenn man davon absieht, dass sie nicht heiraten musste, denn der Tod auf dem Scheiterhaufen war gewiss noch erträglicher als eine Ehe mit Edric MacPherson.“

Diese Bemerkung, die ihre Schwester mit großer Überzeugung vorbrachte, zauberte ein Lachen in Jennys traurige Augen.

Jetzt näherten sich die Schwestern dem dichtbewaldeten Hügelrücken, und Jenny hatte mit einem Mal das unsichere Gefühl, von irgendwoher aus dem Dickicht beobachtet zu werden. Sie wandte sich um und begann zurückzugehen. Als sie nach dem Brunnen spähte, um den sich noch vor Kurzem die Dorfbewohner gedrängt hatten, stellte Jenny fest, dass die Stätte leer und verlassen dalag und die Menschen längst ihre warmen Herdfeuer aufgesucht hatten.

Den Mantel enger um sich ziehend, hörte Jenny ihre Schwester fragen: „Was meinte Vater wohl, als er sagte, du hättest etwas an dir wie deine Mutter?“

„Ich weiß es nicht, aber Mutter Ambroisa findet, ich müsste mich vor Männern in Acht nehmen, wenn ich die Abtei später verließe, da ich eine bestimmte Wirkung auf sie ausüben könnte.“

„Wie meint sie das?“

Achtlos zuckte Jenny die Schultern. „Ich weiß es nicht.“

Plötzlich besann sie sich auf Haube und Schleier und blieb stehen, sie aufzusetzen. „Wie sehe ich eigentlich aus, habe ich mich wirklich verändert in diesen zwei Jahren? Ich habe mich ja nie gesehen, außer in einem Bach im Wald.“

Sie warf der Schwester einen fragenden Blick zu, und Brenna lachte. „O ja, selbst Alexander könnte dich jetzt nicht mehr dürftig und einfältig nennen oder gar behaupten, deine Haare seien rot wie Karotten.“

Jenny wiederholte ihre Frage und drückte Brenna einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Nun, wie sehe ich denn jetzt aus?“

Sie blieben stehen, denn der dichte Wald machte ihnen ein Weiterkommen schon jetzt unmöglich, und Brenna forschte eifrig im Gesicht ihrer Stiefschwester. Der Blick ihrer haselnussbraunen Augen wanderte über die ausdrucksvollen Züge, die völlig von den großen klaren tiefblauen Augen beherrscht wurden, die unter schön geschweiften dunklen Brauenbogen wie Kristalle schimmerten. „Nun, du bist … du bist sehr hübsch.“

„Wenn das alles ist“, meinte Jenny ruhig und befestigte den kurzen Schleier über der Haube, „dann kann ich mir nicht vorstellen, warum ich eine Wirkung auf Männer ausüben sollte, die sie dazu bringen könnte, sich seltsam zu benehmen.“

Brenna gab der Schwester zögernd recht. Sie betrachtete Jennifer mit dem Blick der Unschuld und hatte noch nie den begehrlichen Ausdruck bemerkt, mit dem mancher Mann die junge Klosterschülerin gemustert hatte. So konnte Brenna auch nicht ahnen, wie verheißungsvoll die Lippen und wie unbewusst verführerisch der Blick ihrer Schwester waren. Ein Mann hätte vermutlich ganz anders geantwortet. Denn Jennys Mund schien wie geschaffen zum Küssen, ihre Augen waren von unergründlicher Tiefe und schimmerten wie Saphire. Der schlanke und biegsame Körper versprach dem Wissenden erregende Wonnen.

„Du hast blaue Augen“, begann jetzt Brenna, und Jenny musste lachen.

„Die hatte ich aber auch schon vor zwei Jahren“, neckte sie.

Brenna wollte noch etwas sagen, doch die Worte wurden zum Schrei, den eine Männerhand erstickte, die sich über den Mund des jungen Mädchens legte, während ein Unbekannter Brenna ins dichte Unterholz des Waldes zurückzerrte.

Instinktiv duckte sich Jenny und erwartete einen ähnlichen Angriff aus dem Hinterhalt, aber es war zu spät. Obwohl Jenny trat und schrie, wurde sie von einer behandschuhten Hand ebenfalls ins dunkle Dickicht und von ihren Füßen gerissen.

Inzwischen hatte Brennas Entführer seine Beute wie einen Mehlsack quer über den Sattel auf sein Pferd geworfen, denn ihre baumelnden Glieder verrieten, dass sie ohnmächtig geworden war.

Jenny dagegen gab sich nicht so leicht geschlagen. Als ihr unsichtbarer Peiniger sie auch über den Rücken seines Pferdes legen wollte, warf sie sich unerwartet zur Seite, rollte zu Boden, fiel auf allen vieren auf die modernden Blätter und in den Schlamm und versuchte blitzschnell, wieder auf die Beine zu kommen.

Doch der Mann reagierte ebenso rasch. Er bekam sie wieder zu fassen. Sie wand sich in seinem Griff und fuhr ihm mit den kurzgeschnittenen Fingernägeln schmerzhaft ins Gesicht. Er fluchte leise und bog ihr die Arme auf den Rücken.

Jenny stieß einen Schrei aus, der durch Mark und Bein drang, und trat mit aller Macht zu. Der derbe schwarze Lederstiefel, angemessenes Schuhwerk für Klosterschülerinnen und Novizinnen, erwies sich als äußerst geeignet zu diesem Zweck. Ein heiserer Ausruf entfuhr dem blonden Mann, und für den Bruchteil einer Sekunde ließ er Jenny los. Sofort rannte Jenny ins Dickicht und wäre wohl auch entkommen, hätte sich nicht ihr Fuß unter einer Baumwurzel verfangen und sie heftig zu Boden krachen lassen. Dabei schlug ihr Kopf im Aufprall gegen ein Felsstück.

„Reich mir das Seil herüber“, befahl der Bruder des Wolfes grimmig und lächelte dabei seinem Begleiter spöttisch zu. Dann wand er seiner schlanken Gefangenen den Mantel um den Körper und zog ihr die Kapuze über den Kopf. Stefan Westmoreland verschnürte Jennys Arme sorgfältig mit dem Strick, den er von seinem Begleiter erhalten hatte, und warf sein menschliches Bündel schließlich achtlos quer über den Sattel, bevor er sich selbst hinaufschwang.

2. KAPITEL

Royce wird es nicht fassen können“, rief Stefan Westmoreland dem Reiter an seiner Seite zu, der seine Gefangene auch vor sich über den Sattel geworfen hatte. „Man muss sich das aber auch einmal vorstellen: Da stehen doch wahrhaftig die Merrick-Mädchen unter einem Baum, reif zum Mitnehmen, wie man einen Apfel pflückt. Nun müssen wir uns nicht mehr um die Wehranlagen von Burg Merrick kümmern, denn unter diesen Umständen wird der Alte kampflos übergeben.“

In ihren dunklen Mantel eingebunden, horchte Jenny bei dem Namen „Royce“ auf, und ihr Blut schien zu gefrieren. Royce Westmoreland, der Wolf … Plötzlich schienen all die Schauergeschichten, die man sich von diesem Mann erzählte, gar nicht mehr so weit hergeholt. Waren doch Brenna und sie verwegen vom Boden der Abtei weg entführt worden. Und die Männer hatten bei dieser Tat keinerlei Achtung vor dem Orden von St. Alban gezeigt, dessen Tracht die beiden Mädchen als Novizinnen auswies, die noch nicht die bindenden Gelübde abgelegt hatten. Was für Menschen mussten das sein, die an Nonnen oder solche, die es werden wollten, Hand legten, ohne sich um Gewissen oder Strafe zu kümmern, gleichviel ob irdische oder göttliche? Das würde nur ein Teufel wagen oder dessen Gehilfe.

„Diese hier ist jedenfalls nicht bei Sinnen“, stellte Thomas fest und lachte kurz auf. „Schade, dass wir nicht mehr Zeit haben, unsere Beute zu erproben. Freilich, wenn es nach mir ginge, würde ich den saftigen Happen bevorzugen, den du da in deine Satteldecke eingehüllt hast, Stefan.“

„Dabei ist die deine eine richtige Schönheit“, versetzte Stefan kühl. „Und da wird nichts erprobt, solange Royce nicht entschieden hat, was er mit den beiden Mädchen anfangen wird.“

Jenny glaubte in ihrem dunklen „Verlies“ zu ersticken, doch keiner vernahm den gedämpften Schrei panischen Entsetzens. Sie betete zu Gott, er möge ihre Entführer auf der Stelle tot umfallen lassen oder ihr wenigstens einen Ausweg zeigen. Aber selbst in diese Gedanken schoben sich immer wieder halbe Sätze aus der Erinnerung, die plötzlich Gewicht erhielten und den todbringenden Earl of Westmoreland betrafen.

Gefangene lässt er nur am Leben, um sie zu foltern …

Er lacht, wenn seine Opfer schreien …

Er trinkt Menschenblut …

Die Erkenntnis stieg in Jenny auf, dass es kein Entrinnen geben konnte, und sie begann vielmehr um einen schnellen Tod zu beten, damit sie dem Namen Merrick keine Schande machen würde in ihrer Angst. In ihren Ohren klangen die stolzen Worte ihres Vaters nach, die er seinen Stiefsöhnen so oft gesagt hatte: „Wenn es Gottes Wille ist, dass ihr sterben sollt durch Feindeshand, dann sterbt tapfer als Krieger im Kampf, sterbt wie ein echter Merrick.“

Ihr verhasster Stiefbruder Alexander war so gestorben. Immer und immer wieder kreisten diese Gedanken in Jennys Kopf, Stunde um Stunde, bis endlich die Pferde ihren Gang verlangsamten und in der Ferne die unmissverständlichen Geräusche laut wurden, die große Feldlager verrieten.

Da wandelte sich Jennys Todesangst mit einem Mal in heißen Zorn. Sie war noch viel zu jung zum Sterben, und vor allem war da Brenna, um die es ging. Denn wenn auch ihr der Tod drohte, dann war dies einzig und allein ihre, Jennys, Schuld, und vor Gottes Thron würde darüber gerichtet werden. Und alles das geschah nur, weil ein blutrünstiger Menschenfresser das Land verwüstete und zerstörte, was ihm in den Weg kam.

Mit einem Ruck wurde das Pferd angehalten, Metall klirrte gegen Metall, dazwischen klangen Stimmen, gellten Schreie. „Barmherzigkeit, Schwarzer Wolf, Barmherzigkeit!“

„Royce“, hörte Jenny ihren Entführer rufen, „bleib, wir haben dir etwas mitgebracht.“

Jenny fühlte sich achtlos vom Sattel gezerrt und über die Schulter ihres Peinigers geworfen, völlig blind durch den dunklen Mantel, in den sie eingeschnürt war. Plötzlich rief Brenna flehentlich den Namen ihrer Schwester. „Sei tapfer, Brenna!“, rief Jenny, aber die Stimme erstickte im groben Tuch.

Unvermittelt fühlte Jenny sich zu Boden gestellt. Doch der lange Ritt hatte sie verkrampft und ungeschickt gemacht, und sie taumelte, sank in die Knie. Im Versuch, sich aufzurappeln, vernahm Jenny wieder die stolze Mahnung ihres Vaters: „Stirb tapfer, stirb wie eine echte Merrick.“

Und jetzt hörte Jenny zum ersten Mal den Gefürchteten. Denn nur er konnte es sein, der sprach in dieser tiefen zornigen Stimme, als stünde er rächend an der Höllenpforte. „Und was ist es? Etwas Essbares, hoffe ich.“

Sie sagten, er esse das Fleisch seiner Opfer … Doch dann schrie Brenna auf, und Zorn blendete Jenny mehr als die über den Kopf geschnürte Kapuze. Als jetzt die Stricke um ihre Hände gelöst wurden, kam Jenny auf die Füße und versuchte den Mantel abzustreifen. Dabei sah sie aus wie ein rasender Dämon, der sich seines Leichenhemdes zu entledigen strebt. Die Pelerine fiel, und Jenny, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Wut, ballte die Hände zu Fäusten und warf sich auf den düsteren, schattenhaften Riesen, der vor ihr aufragte. Ihr Schlag traf sein Kinn mit voller Wucht. Brenna brach bewusstlos zusammen.

„Scheusal“, schrie Jenny. „Ungeheuer, Schurke“, und sie hob wieder die Fäuste, doch diesmal wurden ihre Hände mit einem stählernen Griff festgehalten. „Teufel“, brüllte Jenny, wand sich vergeblich und versetzte dem Mann einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein.

„Was soll das?“, schäumte Royce Westmoreland, holte aus, fasste Jennifer um die Taille und riss sie von den Füßen. Aber das war ein Fehler, denn, in der Luft baumelnd, stieß der mit dem derben Lederschuh bewehrte Fuß wieder zu und traf den Wolf hart in die Lende, sodass er beinahe stürzte. Zornig griff er in Jennys Haar und riss ihren Kopf brutal zurück.

„Schluss jetzt!“, brüllte er. Alles schien seiner Stimme zu gehorchen: Die gellenden Schreie der Gefangenen verstummten, das metallische Klirren erstarb, eine beängstigende, unirdisch anmutende Stille senkte sich über die weitläufige Lichtung.

Mit geschlossenen Augen erwartete Jenny den tödlichen Schlag. Doch er fiel nicht. Zwischen Grauen und Neugier schwankend, öffnete sie langsam die Augen und blickte dem Furchtbaren zum ersten Mal ins Gesicht.

Der Anblick des riesigen, dämonisch wirkenden Mannes, der wie ein Turm vor ihr aufragte, ließ Jennifer beinah entsetzt aufschreien. Er war übergroß, gewaltig. Sein schwarzer Mantel bauschte sich im Wind, das Flackerlicht des Feuers tanzte unruhig über narbige, falkenhaft scharf geschnittene Züge. In den wechselnden Schatten erschien Royce Westmoreland wirklich teuflisch mit seltsamen Augen, die gleich geschmolzenem Silber aus dem kantigen Gesicht glühten. Seine Schultern waren überaus breit, seine Brust gewölbt, und die Armmuskeln drohten die tiefgebräunte Haut zu sprengen.

Dieser eine Blick auf Royce Westmoreland genügte Jenny. Dieser Mann war wohl aller Verbrechen fähig, deren man ihn bezichtigte. „Stirb tapfer“, klang es in Jennys Ohren. Sie wandte den Kopf und schlug ihre Zähne tief in das massige Handgelenk des Wolfes. Sie sah noch, wie seine Augen sich mit einem Aufflammen weiteten, dann aber hob er die Rechte und schlug sie Jenny so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf zur Seite flog und sie selbst in die Knie sank. Instinktiv rollte sie sich zusammen und erwartete zum zweiten Mal den tödlichen Hieb.

Jetzt sprach Westmoreland, aber diesmal war seine Stimme noch schrecklicher, denn sie klang gewaltsam beherrscht. Seine Worte jedoch galten seinem jüngeren Bruder Stefan. „Was, zum Teufel, fällt dir nur ein? Haben wir nicht schon genug Streitereien wegen der Weiber im Lager? Musst du da auch noch zwei herbeischleppen, um den Unmut der Männer weiter anzustacheln?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, befahl Royce dem anderen Entführer scharf, sich zu entfernen, und richtete seinen Blick auf die beiden Frauengestalten, die zu seinen Füßen hingestreckt waren. Die eine wie tot in tiefer Ohnmacht, die andere wie ein Ball zusammengerollt und in heftigen Zuckungen bebend wie eine Tobsüchtige.

Aus einem unerklärlichen Grunde brachte die Letztere Royce mehr auf als ihre reglose Gefährtin, und er herrschte Jenny an: „Steh auf!“ Seine Stiefelspitze traf hart Jennys Schulter. „Du warst widerspenstig genug, steh auf!“ Während Jenny sich mühsam aufrappelte, wandte Royce sich wieder barsch an seinen Bruder: „Antworte mir!“

„Gern, wenn du mich zu Wort kommen lässt. Diese beiden Mädchen sind …“

„Klosternovizinnen“, stieß Royce zwischen den Zähnen hervor, als er den schweren Kreuzesanhänger erblickte, der an schwarzer Schnur um Jennys Hals baumelte. Dann hob er Haube und Schleier auf, die zu Boden gefallen waren. Diese Erkenntnis hatte ihn fast betäubt. „Großer Gott, du bringst mir Nonnen als Lagerhuren?“

„Nonnen“, stammelte Stefan Westmoreland entsetzt.

„Huren“, krächzte Jenny in tiefster Betroffenheit. Er konnte doch nicht wirklich so tief in Gottlosigkeit versunken sein, dass er sie und ihre Schwester seinen Leuten als Lagerdirnen überlassen würde?

„Dafür, Stefan, könnte ich dich umbringen. Nun sieh zu, wie …“

„Hör mich an, die Dinge liegen anders“, widersprach Stefan und löste den Blick von Jennys dunkelgrauer Tracht und dem Kreuz an ihrem Hals. „Vor dir, mein lieber Bruder, steht Lady Jennifer, die Countess of Rockbourn und geliebte älteste Tochter des Burgherrn von Merrick.“

Royce starrte seinen Bruder an, dann wies er auf Jennys schmutzverschmiertes Gesicht. „Man hat dich betrogen, Bruder, Lord Merricks Tochter gilt als Schönheit im ganzen Land.“

„Nein, es ist kein Irrtum, sie ist es, sie selbst hat es gesagt.“ Royce hob Jennys Kinn und suchte in ihren Zügen, über die das unruhige Flammenlicht tanzte. Endlich zog der Wolf die Brauen hoch, und ein freudloses Lächeln spielte um seine Lippen.

„Wie kann man so etwas nur eine Schönheit nennen?“ Seine Stimme troff von schneidendem, bewusst verletzendem Hohn. „Ist das die Perle Schottlands?“ Er sah die Glut heißen Zornes unter seinen Worten in ihr Gesicht steigen, als sie versuchte, sich seinem stählernen Griff zu entwinden. Doch statt von ihrem Mut gerührt zu sein, stachelte Jenny seine Wut nur noch an. Die bloße Nennung des Namens einer Merrick ließ ihn vor Rache schäumen. Er brachte das Gesicht ganz nah an das des bebenden Mädchens.

„Sprich selbst“, befahl er grollend. Brenna, in einem Zustand ihr sonst fremder Hysterie, empfand den Tadel an ihrer Schwester als einen, den eigentlich sie, Brenna, selbst verdient hätte. So zog sie sich mühsam an Jennys Kleid hoch, stand sekundenlang schwankend, unsicher. Dann schmiegte Brenna sich dicht an Jenny.

„Nicht von Jennifer sagen die Leute dies, sondern ich …“

„Wer, zum Teufel, seid denn Ihr?“, fragte Westmoreland zornig.

„Niemand“, rief Jenny dazwischen, in der Hoffnung, Brenna würde freigelassen, wenn sie sich als einfache Ordensfrau und nicht als Merrick-Tochter erwies. „Sie ist nur Schwester Brenna aus der Abtei von Belkirk.“

„Ist das wahr?“, fragte Royce drohend, und Brenna schüttelte den Kopf.

„Nein“, flüsterte sie tonlos.

Royce Westmoreland stemmte die Fäuste in die Hüften und schloss sekundenlang die Augen. Er hatte das Gefühl, in einem Albtraum zu liegen, einem unwirklich scheinenden Albtraum. Nach einem monatelangen Gewaltmarsch am Ende seiner Geduld, musste ihm das zustoßen: Er konnte aus zwei zitternden Mädchen nicht einmal eine vernünftige, ehrliche Antwort herausbringen. Gewiss, er war erschöpft nach drei schlaflosen Tagen und Nächten.

Mit funkelndem Blick wandte er sich an Brenna, die er ganz richtig als die schwächere der beiden Schwestern einschätzte. Leichter einzuschüchtern und daher wohl auch williger, die Wahrheit zu gestehen. „Wenn Ihr auch nur noch eine Stunde leben wollt, antwortet mir sofort und aufrichtig: Seid Ihr Lord Merricks Tochter oder nicht?“ Er bohrte den Blick förmlich in Brennas angstgeweitete haselnussbraune Augen.

Brenna schluckte, brachte aber keinen Ton über die zuckenden Lippen. So neigte sie nur scheu den Kopf und nickte hilflos.

Royce bedachte die Wildkatze im Nonnenkleid an seiner anderen Seite mit einem mörderischen Blick und befahl dann seinem Bruder kurz, aber mit hörbarer Befriedigung: „Man soll sie fesseln und in ein leeres Zelt bringen. Lass Arik die Wache übernehmen, um beide vor unseren Leuten zu schützen. Morgen möchte ich sie beide noch lebend für meine Befragung.“

Seine flüchtig hingeworfenen letzten Worte gingen Jenny nicht aus dem Sinn, als sie wenig später neben Brenna in dem Zelt auf der Erde lag. Ob er die Absicht hatte, sie foltern zu lassen?

Das Feldlager des berüchtigten Wolfes erwachte bereits vor dem Morgengrauen wieder zu neuem Leben. Jenny freilich hatte keinen Schlaf gefunden in dieser Nacht, hatte unter dem leichten Mantel in der Kälte gezittert und immer wieder gebetet, Gott möge ihr alle Torheiten vergeben und das unschuldige Leben Brennas schonen, die ja von sich aus niemals in der Abenddämmerung den Hügel hinaufgegangen wäre, statt in den Schutz der Abtei zurückzukehren. Jetzt aber saß Jenny da und starrte blicklos vor sich hin. „Brenna“, flüsterte sie schließlich, „bist du wach?“ Draußen verriet lauter werdender Lärm vermehrte Aktivitäten.

„Ja.“

„Hör zu: Wenn uns der Wolf heute vernimmt, lass mich antworten.“

Wieder das fast unhörbare, tonlose „Ja“.

Sollte der Wolf Fragen stellen, die sie besser nicht beantworteten, so traute sich Jenny selbst eher zu, den Gewaltigen in die Irre zu führen.

Die Morgendämmerung war gerade angebrochen und färbte den Himmel rot, als zwei Männer eintraten und die Fesseln lösten. Wenige Minuten nur gab man ihnen für die tagesnotwendigen Verrichtungen in den Büschen, bevor Jenny wieder gebunden und mit Brenna vor den Befehlshaber geführt wurde.

Ihr Begleiter, ein blonder Riese, war vermutlich der legendäre starke Arik, von dem man sich erzählte, er könne mit seiner gewaltigen Streitaxt einen Gegner mit einem Schlag entzweihauen.

Aber es war dann doch Stefan Westmoreland, der die Zeltplane vor Royces Feldherrnzelt hob und eintrat. „Sie ist wirklich eine seltene Schönheit“, sagte er und blickte über die Schulter nach Brenna zurück, die leise schluchzte. „Jammerschade, dass sie eine Nonne ist.“

Verärgert erwiderte Royce: „Keine Nonne, eine Novizin.“

„Was ist das?“

Royce Westmoreland war zwar ein kampferprobter Kriegsmann, aber seine Erfahrung in religiösen Angelegenheiten war nicht der Rede wert. „Vermutlich ein Mädchen, das noch keine bindenden Gelübde abgelegt hat.“ Er leerte seinen Becher. „Es ist ja kaum ein Wort aus ihr herauszubringen. Sie ist zu schüchtern, um zu sprechen.“

„Und viel zu schön, um sie rau anzufassen“, warnte Stefan mit gefährlich zusammengekniffenen Augen. Eifersucht? Mahnung, Kostbares nicht zu zerstören? Trotz eines spöttischen Seitenblickes war Royce sachlich und konzentriert.

„Ich muss wissen, wie Burg Merrick befestigt ist, wie viel Land dazugehört, alles, was uns die Eroberung erleichtern kann. Ich möchte dich nur ungern ein zweites Mal zur Erkundung aussenden müssen.“ Dann gab er unbewegt den Befehl: „Man bringe mir die Merrick-Schwestern!“ Es klang endgültig wie ein Todesurteil.

Der Riese Arik ergriff Jennys Arm und hob die Zeltklappe. Drinnen schritt Royce auf und nieder und blieb unvermittelt stehen, als Arik Jenny hineinschob, unbewegt wie ein Felsen.

Royce richtete den Blick seiner silbergrauen Augen forschend auf Jenny, die hoch aufgerichtet standhielt. Trotz der auf den Rücken gebundenen Hände und der betont ausdruckslosen Miene entging Royce nicht die Verachtung in dem Blick ihrer tiefblauen Augen, Verachtung und Furchtlosigkeit, aber keine Spur heimlicher Tränen.

Plötzlich erinnerte sich Royce, was man sich über diese ältere Tochter Lord Merricks erzählte. Tatsächlich nannte man sie die stolze, kalte Erbin eines riesigen Vermögens mit einer so tadellosen Ahnenreihe, dass sie ihr Augenmerk auf die höchsten Edelleute bei der Wahl ihres zukünftigen Ehemannes richten könne. Darüber hinaus galt sie als unscheinbar, hatte aber die Unverfrorenheit aufgebracht, gegen den väterlichen Wunsch den einzigen Heiratsantrag abzulehnen, der ihr gemacht worden war, weshalb man sie in ein Kloster steckte.

In ihrer gegenwärtigen Verfassung war zwar ihr Gesicht unter dem angetrockneten Schmutz kaum zu erkennen, trotzdem machte sie kaum den Eindruck von Unscheinbarkeit. Gewiss besaß diese Lady Jennifer nicht die engelhafte Schönheit ihrer Schwester, die man „Schottlands schönstes Kleinod“ nannte, dafür aber ein ganz und gar unengelhaftes Temperament. Die Jüngere hatte ununterbrochen geweint, diese hier aber schaute ihn furchtlos an.

„Ist es möglich? Ihr seid wirklich Schwestern?“, fragte Royce Westmoreland.

Jenny hob angriffslustig das Kinn. „Ja.“

„Blutsverwandte?“

Jenny war zwar bei Weitem nicht so tapfer, wie sie sich gab, aber auch nicht mehr so sicher, dass am Ende dieses Verhörs Folter und Tod stehen müssten. Um aber eine Fluchtmöglichkeit zu nutzen, musste sie die Hände frei haben, deshalb antwortete sie: „Es ist nicht leicht, Fragen zu beantworten, solange mir die Hände auf dem Rücken gefesselt sind. Auch verursacht mir das unnötigen Schmerz.“

Westmoreland dachte an ihren Tritt gegen seine Lende und sagte: „Ihr habt recht, man hätte auch Eure Füße binden sollen.“

Das klang so ungehalten, dass ein verräterisches Lachen in Jennys Kehle stieg und ihre Lippen zucken ließ. Royce traute seinen Augen nicht. Ausgewachsene Männer, kampferprobte Krieger bekamen in seiner Gegenwart weiche Knie, aber dieses junge Mädchen mit seiner herausfordernd sicheren Haltung und dem trotzig gereckten Kinn genoss es sichtlich, ihn zu verachten und sich über ihn lustig zu machen. Das setzte seiner Neugier ein jähes Ende, aber auch seiner Geduld. Langsam trat er auf Jenny zu. Ihr Lachen schwand, aber sie wich nicht zurück und bot erkennbar Widerstand.

„Wie viele Krieger halten sich zurzeit auf der Burg Eures Vaters auf? Antwortet mir!“

„Ich weiß es nicht“, versetzte Jennifer tonlos.

„Erwartet Lord Merrick meinen Angriff?“

„Auch das weiß ich nicht.“

„Wäre es Euch etwa lieber, ich befragte Eure sanfte kleine Schwester?“ Seine Stimme klang unheilvoll samtig.

„Erwartet Ihr etwa, dass ich meinen eigenen Vater verrate? Außerdem weiß ich wirklich nichts über die Lage auf der Burg. Ich habe meinen Vater nach zwei Jahren gestern zum ersten Mal wiedergesehen. Zuvor hatte er mich schon kaum eines Wortes gewürdigt.“

Der schmerzliche Unterton überraschte Royce. Scharf sah er Jenny an. „Warum das?“

„Ich hatte ihn verärgert.“

„Sehr verständlich“, meinte er barsch. War sie doch das widerspenstigste weibliche Geschöpf, das ihm je begegnet war. Aber noch etwas fiel Westmoreland auf und verblüffte ihn: Dieses Mädchen besaß den verlockendsten Mund, den er je gesehen hatte, und die schönsten blauen Augen. „Euer Vater hat jahrelang kaum ein Wort für Euch übrig gehabt, sich nicht um Euch gekümmert, und dennoch schlagt Ihr Euer Leben für ihn in die Schanze?“

Es hätte unzählige vernünftigere Antworten gegeben, aber Jenny kochte vor Wut und konnte sich nicht länger zurückhalten und an ihre Sicherheit denken. „Weil ich Euch verachte, weil ich hasse, wofür Ihr kämpft, und weil ich Euch nicht ausstehen kann.“

„Ihr könnt mich nicht …“, wiederholte er fassungslos und verstummte dann, schwankend zwischen Zorn, Verblüffung und staunender Bewunderung für ihren trotzigen Mut. Obwohl er sie hätte umbringen mögen, da sie ihm die verlangten Antworten nicht zu geben bereit war, so war er sich doch unschlüssig, wie er Jenny behandeln sollte. Immerhin: Wenn sich die beiden Töchter des Earl of Merrick in der Hand des Wolfes befanden, dachte er vielleicht gar nicht an Widerstand und würde sich kampflos ergeben.

„Geht!“, befahl Westmoreland kurz.

Nichts hätte Jenny lieber getan, aber die Zeltklappe war geschlossen, und mitten in der raschen Drehung hielt das Mädchen inne.

„Ich habe gesagt, Ihr sollt gehen“, warnte Royce düster, aber sie fuhr herum: „Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, aber ich kann nicht durch die Zeltleinwand gehen.“

Wortlos streckte er die Hand aus und hob den schweren Zeltvorhang. Dann aber machte er zu Jennifers maßloser Verblüffung eine höfisch tiefe, spöttische Verneigung. „Euer ergebenster Diener, hohe Frau. Wenn ich irgendetwas tun kann, Euren Aufenthalt hier für Euch angenehmer zu gestalten, so lasst es mich ohne Zögern wissen.“

Zu seiner großen Überraschung antwortete sie prompt: „Bindet mich los!“

„Nein“, war die harte Antwort, dann fiel die Zeltklappe hinter Jenny nieder, und Arik legte ihr seine schwere Hand auf die Schulter, um sie zu ihrem eigenen Zelt, in dem sie gefangen gehalten wurde, zurückzuführen.

3. KAPITEL

Feuer brannten in regelmäßigen Abständen in dem Tal, in dem der Wolf sein Zeltlager aufgeschlagen hatte. Jenny stand in der Zeltöffnung und überlegte, während sie scharf beobachtete, was um sie herum vorging.

„Wenn wir fliehen wollen, Brenna …“, begann sie nachdenklich.

„Fliehen?“, fiel Brenna atemlos dazwischen. „Jenny, wie um aller Heiligen willen sollen wir das denn bloß anstellen?“

„Noch habe ich keine Ahnung, aber es muss schnell geschehen, denn ich habe einige Männer sagen hören, man wolle uns als Geiseln benützen, um Vater zur kampflosen Übergabe der Burg zu bewegen.“

„Denkst du, er würde das tun, Jenny?“

„Ich weiß es nicht.“ Jenny biss sich auf die Lippe. „Früher, bevor Alexander auf der Burg lebte, hätten wohl alle Clansmänner die Waffen niedergelegt, um zu verhindern, dass mir auch nur ein Haar gekrümmt werde. Heute dagegen?“

Brenna hörte die müde Trauer in der Stimme ihrer Schwester und hätte Jenny gern getröstet. Alexander hatte Jenny den Merrick-Männern so völlig entfremdet, dass die junge Countess ihnen nichts mehr bedeutete. So schwieg Brenna mutlos.

Jenny aber zerbrach sich weiter den Kopf über eine Fluchtmöglichkeit. Die Lage war aussichtslos genug, eine einzige Kette von Schwierigkeiten. Der Weg bis zur Burg bedeutete allein schon zwei Tagesreisen. Sie würden die Heerstraße meiden müssen. Es schlich viel Gesindel umher, und zwei Mädchen allein hätten für den bravsten Mann nur Freiwild bedeutet. Weder Wege noch Wirtshäuser waren als sicher zu bezeichnen. Als sicher galten einzig Abteien und Klöster, und dort übernachteten auch ehrenhafte Reisende. Auch mussten die Hände frei sein. Also kam eine Flucht nur während der kurzen Mahlzeiten infrage und würde vermutlich gleich danach entdeckt werden. Also galt es, falsche Spuren zu legen und die Verfolger etwa über die eingeschlagene Richtung zu täuschen. Dennoch, alles müsste viel schneller gehen. Vielleicht könnte es gelingen, zwei Pferde zu stehlen? Freilich wäre es dann wieder fast unmöglich, sich im Gefahrenfall zu verbergen.

„Hast du schon irgendeinen Plan?“, flüsterte Brenna fragend. Doch Jenny schüttelte nur stumm den Kopf.

Das Abendessen wurde gebracht und verzehrt. Die Hände von Neuem gebunden, lagen die Schwestern dann schweigend Seite an Seite. Und die Nacht war lang, sehr lang. Schließlich schlief Brenna ein, und Jenny zermarterte sich weiter das Hirn.

Was, wenn sie flohen, und der Earl of Claymore holte sie ein? Fraglos würde er sie zwar nicht töten, denn damit wären sie für ihn als Geiseln nutzlos, aber es gab für einen Mann wie ihn noch schlimmere Formen der Strafe einem Mädchen gegenüber.

Jenny schauderte. Sie war längst nicht so tapfer und selbstsicher, wie sie zu sein vorgab. Das zeigte sich schon darin, dass sie ihren Feind in Gedanken lieber bei seinem adeligen Titel nannte als den Wolf. Als ob sein Stand etwas an seinem Charakter änderte!

Jenny fröstelte, wenn sie an seine seltsam silbergrauen Augen dachte, an sein tiefbraunes Gesicht mit den strengen, harten Zügen. Sonderbar. Gestern, im flackernden Schein der Kerzen, schien die Farbe seiner Augen wie flüssiges Metall. Heute dagegen wie schiefergraues Gewittergewölk, und etwas später, als der Blick des Earls auf ihrem, Jennys Mund geruht hatte, hatte der Ausdruck gewechselt, war etwas von einer viel drohenderen Gefahr darin erschienen. Jenny fand dafür keine Erklärung.

Wie alt mochte der Earl of Claymore sein? Fünfunddreißig? Vierzig? Immerhin hatte sie schon als Vier- bis Fünfjährige die Legende des Schwarzen Wolfes gehört, er musste also älter sein. Eigentlich wirkte er nur so fürchterlich, da er so breitschultrig und riesengroß war – und durch die Augen, diese unwahrscheinlich silbernen Augen.

Als endlich der Morgen graute, hatte Jenny immer noch keinen brauchbaren Fluchtplan gefunden. Hinzu kam, dass sie und Brenna unbedingt Männerkleidung haben mussten, aber nicht einfach ihre Wächter bitten konnten, ihnen die ihre zu leihen.

Irgendwann dann sagte Brenna mit einem halben Seufzer: „Wenn ich doch wenigstens mein Nähzeug hier hätte, um uns die Zeit zu vertreiben!“

Jenny lächelte und blickte den Kriegern nach, die vor der Zeltöffnung draußen auf und ab schritten, und meinte dann: „Man wird dir wohl kaum eines zur Verfügung stellen. Sieh nur, wie zerlumpt manche hier herumlaufen!“ Sie unterbrach sich jäh, und ein Strahlen trat plötzlich in ihr Gesicht. „Brenna“, sie drehte sich zu ihrer Schwester herum, „frag doch unseren Wächter, diesen Stefan, den Bruder des Earls. Mir ist, als ob der Jüngling ziemlich freundlich wäre. Auch scheinst du ihm zu gefallen. Ruf ihn doch einmal, und bitte ihn, uns zwei Nadeln und Faden zu bringen.“

Brenna stand gehorsam auf und ging zum Zeltvorhang. „Es ist heute aber ein anderer Wächter“, flüsterte sie dann, „soll ich ihn fragen, ob Sir Stefan kommen könnte?“

„Natürlich, tu das nur.“ Jenny würde ihrer Schwester den Plan erst später verraten, denn Brenna konnte nicht lügen.

Die Brüder Westmoreland waren mit großen Landkarten beschäftigt, als die Meldung kam, die beiden Ladies Merrick wünschten Sir Stefan zu sprechen. Royce donnerte los: „Ist denn gar kein Ende der Anmaßung bei dieser blauäugigen Hexe? Schickt einen Wächter als Boten zu uns, und der gehorcht ihrem Befehl auch noch.“

Der Ritter lachte und schüttelte den Kopf. „Die Lady, die mich zu Euch sandte, hatte nicht blaue, sondern braune Augen.“

Royce lächelte spöttisch. „Ich verstehe, es war nicht Lady Hochmut, sondern Prinzess Tausendschön, die Euch zum Boten machte. Was will die Lady?“

„Das hat sie mir nicht gesagt. Sie wünscht Sir Stefan zu sprechen.“

„Dann soll sie warten, bis er wieder Wache steht.“

„Royce, sie ist fast noch ein Kind! Dazu gebunden wie ein gefährlicher Feind, als ob sie weglaufen könnte.“

Stefan Westmoreland ergriff Partei! Royce runzelte die Brauen und erhob sich dann aus seinem Stuhl. „Mir fällt langsam dieses Zelt auf den Kopf. Ich muss Luft haben. Ich will sehen, was sie will.“

„Genau das möchte ich auch“, sagte Stefan und folgte dem Wächter, der an Royces Seite schritt.

Zu dritt traten sie wenig später in das Zelt der Mädchen. Jenny hatte sie kommen sehen, aber Brenna zuckte schreckhaft zusammen, als Royce fragte: „Nun, um was geht es?“ und sich dabei an Jenny wandte.

Brenna schluckte, doch überwand sie ihre Angst. „Ich habe ihn gebeten zu kommen, weil ich … weil ich … gern Nadeln und Faden hätte.“

„Nadeln und Faden?“ Royce ließ den Blick auf Jenny ruhen. Aber heute schien sie nicht zum Widerspruch geneigt. Heute hielt Lady Jennifer Merrick die Lider gesenkt, und fast bedauerte Royce diesen schnellen Verlust ihrer trotzigen Tapferkeit. Vielleicht war sie doch wirklich nur ein kleines Mädchen, sehr jung, kopflos und mit mehr Temperament als Vernunft ausgestattet. Und er hatte sie mit gebundenen Händen im Zelt bewachen lassen von seinen eigenen Vertrauten und Freunden! Vermutlich hatte er Jennifer Merrick deshalb so überschätzt, weil sie es wie nie zuvor ein anderer Gefangener gewagt hatte, ihn, Royce Westmoreland, den Schwarzen Wolf, zu verachten.

Rau setzte er hinzu: „Hier ist nicht die Kemenate der Hofdamen Ihrer Majestät. Wir haben keine …“ Verdammt, wie hießen die Dinger, mit denen sich die Damen der Gesellschaft die Zeit vertrieben?

„Meint Ihr etwa Stickrahmen?“, half Jenny unschuldig nach und kämpfte gegen aufsteigendes Lachen, das sie sich jetzt nicht leisten durfte. „Aber vielleicht doch irgendetwas, an dem wir nähen oder sticken könnten?“

„Nein!“ Er wandte sich zum Gehen.

Jenny ließ nicht locker. „Wir müssen etwas tun, sonst verlieren wir noch den Verstand. Gibt es hier im Heerlager denn gar nichts, das wir nähen …“

Er fuhr herum, überrascht, hoffnungsvoll und erfreut zugleich. „Ihr bietet mir an, etwas für meine Leute zu nähen, etwas auszubessern?“

Brenna riss entsetzt die Augen auf, und Jenny bemühte sich, den Blick nachzuahmen. „Ich … dachte nicht gerade daran …“

Autor

Judith Mc Naught
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