Mein verführerischer Viscount

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Miss Carissa Portland ist nicht neugierig. Sie ist nur gern informiert, welcher Skandal sich in der Gesellschaft gerade zusammenbraut. Und häufig fällt dabei ein Name: Sebastian, Viscount Beauchamp. Man munkelt sogar, er sei Mitglied in dem berüchtigten Inferno-Club, und was dort angeblich geschieht, treibt Carissa die Schamesröte in die Wangen … Trotzdem hat der Viscount etwas, das sie fasziniert, und als sie ihn in Gefahr vor einem betrogenen Ehemann wähnt, warnt sie ihn. Doch wie dankt der gefährliche Charmeur es ihr? Er küsst sie heiß! Plötzlich droht Carissa selbst in einen Skandal verstrickt zu werden! Denn ihr Kuss wird beobachtet …


  • Erscheinungstag 01.12.2018
  • Bandnummer 77
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738600
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1816

Manche Menschen – törichte Narren! – gaben sich damit zufrieden, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Miss Carissa Portland zählte nicht zu ihnen.

Sie saß zwischen ihren beiden Cousinen, den fabelhaften Denbury-Töchtern – ihre Gouvernante Miss Trent schnarchte leise auf dem Platz ganz außen –, und ließ ihr zierliches Opernglas über das gewiss tausend Seelen zählende Publikum gleiten, welches sich an diesem Samstagabend im Covent Garden Theatre eingefunden hatte. Die kleinen Dramen, Komödien und Lustspiele, die sich unter den versammelten Mitgliedern der guten Gesellschaft abspielten, waren eindeutig spannender als alles, was sich auf der Bühne zutragen mochte. Zumal ihr das Wissen um fremde Geheimnisse der sicherste Weg schien, ihr eigenes zu wahren.

Carissa war nicht die Einzige mit einem solchen Laster. Während sie langsam den Blick über die goldverzierten Ränge der Logenplätze schweifen ließ, funkelten ihr immer wieder die Linsen anderer Operngläser entgegen. Da sie auch die Fächersprache zur Genüge beherrschte, hielt die junge Dame zunächst Ausschau nach jenen verstohlenen Signalen, mit denen eine Dame sich diskret mit ihrem Liebhaber verständigen konnte.

Ah ja, dort drüben. Lady S., die neben ihrem gelangweilten Gatten saß, hatte soeben Colonel W., der in Begleitung anderer Offiziere seines Regiments war, mit schwungvollem Fächerschlag bedacht. Der uniformierte Geck lächelte wissend ob dieser Offerte. Carissa nahm es stirnrunzelnd zur Kenntnis. Ein grässlicher Angeber, dieser Colonel. Vor ihm sollte Lady S. sich besser in Acht nehmen. Sie schweifte weiter und pickte sich andere Objekte des öffentlichen Interesses heraus: die juwelenbehängte Gräfin etwa, von der es hieß, sie solle eine Liaison mit einem ihrer Lakaien unterhalten, oder den Abgeordneten des Oberhauses, der noch immer abstritt, jene Mätresse überhaupt zu kennen, die ihm jüngst Zwillinge geboren hatte.

Von den entgegengesetzten Seiten des Saals funkelten die beiden Zweige einer zerstrittenen Familie sich wütend an, während im ersten Rang ein berüchtigter Mitgiftjäger der reizenden Erbin eines kleinen Giftpilzes, der mit Kohleminen ein Vermögen gemacht haben sollte, einen verstohlenen Handkuss zuwarf.

Oje, der arme Mann, dachte Carissa, als ihr spionierender Blick auf die traurige Gestalt eines gehörnten Ehegatten fiel, der dieser Tage einen erbitterten Betrugsprozess gegen den Verführer seiner Frau ausfocht. Wenngleich die Kokotten, die in unmittelbarer Nachbarschaft ihre Vorzüge zur Schau stellten, mehr als glücklich schienen, ihn über seinen Verlust hinwegtrösten zu dürfen.

Plötzlich erregte an einer Loge im zweiten Rang, linkerhand von der Bühne, etwas ihre Aufmerksamkeit. Ihr stockte der Atem. Er war hier! Sogleich begann ihr törichtes Herz schneller zu schlagen.

Doch, da saß er, eingefangen von der kleinen runden Linse ihres Opernglases, lässig auf dem Stuhl zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt … Ganz dreist erwiderte er ihren Blick. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen, und um auch ja keinen Zweifel daran zu lassen, dass ihr heimliches Schauen bemerkt worden war, schickte der schöne Schuft noch einen kleinen Salut zu ihr herüber.

Mit einem leisen Aufschrei, als hätte sie sich die Finger verbrannt, ließ sie das Opernglas in den Schoß fallen. Nie wieder wollte sie es anfassen, das schwor sie sich; und just in diesem Augenblick brach das Publikum in lautes Gelächter aus.

Ach, verflixt! Gereizt ließ sie sich zurücksinken und sah sich mit leisem Argwohn um. Aber natürlich, man lachte nicht ihretwegen – auch wenn sie es wohl verdient hätte.

Der Teufel sollte ihn holen! Dieser Halunke brauchte sie nur einmal anzuschauen, und schon fühlte sie sich so verdorben wie eine der Kokotten, die dort drüben saßen.

Zu ihrem eigenen Verdruss hatte Carissa Portland heimlichen Gefallen an einem Freigeist gefunden. Wieder einmal.

Wo diese Schwäche in ihr herrührte, diese beschämende Empfänglichkeit für ein so stattliches Mannsbild? – Sie wusste es nicht. Vielleicht war ihre rote Haarpracht an allem schuld, Rotschöpfe waren ja bekannt für ihr leidenschaftliches Naturell. Eine Binsenweisheit, in der vermutlich überhaupt kein Fünkchen Wahrheit steckte, aber als Entschuldigung vorerst gar nicht mal so übel.

Was seine Entschuldigung anging … Nun, er scherte sich offenbar gar nicht erst darum, eine zu finden. Wer wie ein strahlender Halbgott, wie ein aufsässiger Sohn Aphrodites durchs Leben schritt, brauchte dergleichen nicht. Charmant war er, von scharfem Verstand und ausnehmend attraktiv, zudem mit einem Lächeln gesegnet, das gewiss die Eisschollen im Nordpolarmeer zum Schmelzen bringen konnte.

Sebastian Walker, Viscount Beauchamp, hätte man auch einen Mord nachgesehen, so ihm der Sinn danach gestanden hätte. Er war der Erbe des Earls of Lockwood und der Gesellschaft und seinen Freunden als Galan bekannt.

Vor einigen Wochen waren sie einander vorgestellt worden – was sich gewiss nicht hatte vermeiden lassen, waren ihre besten Freundinnen Daphne und Kate doch mit Lord Rotherstone und dem Duke of Warrington verheiratet, beide wie Walker Mitglieder im Inferno Club. Carissa und er bewegten sich somit in denselben Kreisen, und ja, natürlich hatte sie von seiner Reputation gehört. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte er seinem Ruf ihr gegenüber alle Ehre gemacht: Der ruchlose Kerl hatte sie doch tatsächlich geküsst. Noch dazu in aller Öffentlichkeit!

Sie hatte den Fehler gemacht, ihn aufzuhalten, als er ganz hastig zu einem Termin eilen wollte. Wie erwartet war das keine gute Idee gewesen; dabei hatte sie nur eine ganz einfache Antwort auf eine ihr immens wichtige Frage gewollt: Wo zum Kuckuck waren ihre Freundinnen abgeblieben?

Sowohl Daphne als auch Kate waren schon seit Wochen ohne jede Erklärung aus London verschwunden. Es sah ihnen überhaupt nicht ähnlich, Carissa hier einfach so im Stich zu lassen.

Da Lord Beauchamp mit den Ehemännern der beiden befreundet war, hatte sie gehofft, von ihm Aufschluss darüber zu erhalten. Besagte Ehemänner waren nämlich ebenfalls verschwunden, angeblich zu einem Jagdausflug in die Alpen.

So langsam begann Carissa an ihren Freundinnen zu zweifeln. Sie hatte geglaubt, die beiden so gut zu kennen, doch schon im Vorfeld ihres Verschwindens hatten sie sich seltsam verhalten. Carissa fand das alles recht beunruhigend. Sie hatte keine zuverlässigen Informationen, was sie rasend machte, aber irgendetwas ging hier vor sich. Sie wusste nur nicht, was. Oder warum man sie davon ausgeschlossen hatte.

Um ganz ehrlich zu sein, verletzte das sie am meisten.

Doch dann hatte sie einen Brief bekommen, in dem Daphne ihr versicherte, dass sie in Sicherheit wären. Viel mehr war aus dem Schreiben leider nicht zu erfahren gewesen, hatte die Freundin ihre Worte doch recht vage gehalten. So fand Carissa sich zwar erleichtert, aber ihr Verdruss hatte sich dadurch nur noch verstärkt. Warum ließ man sie weiter im Dunkeln tappen? Sie vertrauten ihr nicht!

In dem Versuch, endlich an Antworten zu kommen, hatte sie Beauchamp in aller Öffentlichkeit zur Rede gestellt, in dem Glauben, dort vor ihm sicher zu sein. Aber nachdem sie ihm, für sein Empfinden offenbar zu lange, mit ihrem „Gezeter“, wie er es nannte, auf die Nerven gefallen war, hatte der Schuft sie einfach in seine Arme gezogen und ihrer Fragerei mit einem leidenschaftlichen Kuss ein Ende gesetzt. Als wäre sie irgendein leichtes Mädchen, das er auf der Straße aufgegabelt hatte!

Hätte es nicht geregnet … hätte er sie beide nicht mit seinem Schirm vor neugierigen Blicken geschützt, wäre der Skandal wohl so verheerend gewesen, dass sie längst den Strick genommen oder – eine elegantere Art, zu sterben – sich im Serpentine ertränkt hätte.

Wie nicht anders zu erwarten, war es mit den Regeln des Anstands bei diesem Kerl nicht weit her. Aber einer Frau mit einem Kuss alle Sinne rauben, das konnte er. Unter Aufbietung sämtlicher Willenskraft verbannte sie sowohl ihn als auch diese fatale Episode aus ihren Gedanken und richtete ihr Augenmerk wieder auf die Bühne.

Das Programm des Abends hatte recht beschwingt mit einer Konzertaufführung von Vivaldis „Frühling“ begonnen, gefolgt von einer mittelmäßigen Tragödie mit dem Titel Die griechische Tochter. Doch eigentlich war man nur wegen des komischen Nachspiels gekommen, Das Glück des Krieges – dem letzten vergnüglichen Erguss aus der Feder des populären Mr Kenney, der nicht nur wegen seines geistreichen Humors, sondern auch als Gründungsmitglied des Gentlemenclubs Boodle’s geschätzt wurde.

Obwohl das Stück Kenneys beliebteste Figur, den durchtriebenen Jeremy Diddler, missen ließ, schien das Publikum seine Freude daran zu haben. Gelächter brandete wogend durch die Menge, als die Schauspieler sich einen verbalen Schlagabtausch nach dem anderen lieferten.

Carissa mühte sich redlich, der Handlung zu folgen, aber innerlich war sie sich nur zu deutlich der Anwesenheit Lord Beauchamps bewusst. Als für einen Szenenwechsel kurz der Vorhang fiel, konnte sie einem weiteren verstohlenen Blick in seine Richtung nicht widerstehen. Und schon war ihre Neugier geweckt, denn just in diesem Augenblick betrat eine Orangenverkäuferin seine Loge, um dem Viscount einen Zettel mit einer Nachricht zu überbringen. Carissa sah, wie er das Billett entgegennahm und es im Beisein des Mädchens las, das auf sein Münzgeld wartete.

Nun blieb Carissa gar keine andere Wahl. Gegen ihr wissbegieriges Naturell kam sie einfach nicht an; es war ihr in die Wiege gelegt. Sie schnappte sich ihr Opernglas und hob es gerade noch rechtzeitig an die Augen, um den Ausdruck der Erregung in seinen markanten Zügen zu bemerken. Lord Beauchamp schaute kurz hinüber auf die andere Seite des Saals und bedachte den Absender – vielmehr die Absenderin – mit einem beiläufigen Nicken. Sofort schwenkte Carissa das Opernglas herum und versuchte, seinem Blick zu folgen.

Doch vergebens. Wer immer ihm die Nachricht geschickt hatte, ließ sich in der Menge nicht ausmachen.

Jede hätte es gewesen sein können, jede der hochwohlgeborenen Huren, der halbseidenen Damen der Gesellschaft; sie alle brannten doch nur darauf, bei ihm zum Zuge zu kommen. Verbissen suchte Carissa mit dem Glas die Ränge ihm gegenüber ab. Wenn sie ganz ehrlich war, so wusste sie nicht, was sie mehr aufbrachte: dass Beauchamp Anstand und Moral eines Zuchthengstes hatte oder dass sie so eifersüchtig darauf war, wie wahllos er seine Gunst gewährte.

Sie schwenkte wieder zum Viscount hinüber, um zu schauen, was er als Nächstes tun würde. Beau wandte sich an die Orangenverkäuferin und schien sie um etwas zu bitten; sie reichte ihm einen Stift.

Während er hastig eine Antwort aufs Billett schrieb, versuchte Carissa, sich ganz genau einzuprägen, wie die Nachrichtenüberbringerin aussah: ein großes, grobknochiges Mädchen vom Lande, dem die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Zusammen mit einer Münze reichte der Schürzenjäger ihr seine Nachricht und schickte sie auf den Weg.

Sowie die Orangenverkäuferin durch die schmale Tür der Privatloge verschwand, begannen Fragen an Carissa zu nagen. Mit wem war er zurzeit liiert? Natürlich wusste sie, dass er sich meist mit einer Vielzahl von Frauen umgab, aber gab es da irgendjemand Bestimmten?

Warum sollte dich das kümmern? fragte die Stimme der Vernunft sie.

Ich weiß nicht. Braucht es dazu einen Grund?

Gewiss doch, lautete die Antwort.

Sie zuckte die Schultern und suchte eine unverbindliche Ausrede. Ich will es nur wissen, weil … weil ich es eben wissen will!

Plötzlich kam ihr eine zündende, ja geradezu ungeheuerliche Idee.

Sie konnte hier entweder sitzen bleiben, still vor sich hin schmoren und der Frage nachgrübeln, welches zuchtlose Weibsbild sich heute Nacht in seine Fänge zu begeben gedachte, oder aber etwas unternehmen und es herausfinden.

Als gut informierte junge Dame wusste sie seit Langem, dass Orangenverkäuferinnen … unter anderem bestechlich waren. Genau, so würde sie es machen.

Um ihren Plan sogleich in die Tat umzusetzen, stand sie auf und empfahl sich im Flüsterton. Miss Trent schrak verwirrt aus dem Schlaf, während die Denbury-Töchter nur die Augen verdrehten – gemeinhin die einzige Reaktion, die man von den beiden verwöhnten Schönheiten erwarten durfte.

„Was hast du denn jetzt schon wieder vor?“, beschwerte sich Lady Joss, neunzehn Jahre alt.

„Ich muss kurz in den Erfrischungsraum.“

„Kannst du damit nicht bis später warten?“

„Nein.“

„Ihr seid dégoûtantes“, beschied Lady Min, siebzehn Jahre alt.

„Entschuldigt mich bitte.“ Ohne ihre Cousinen weiter zu beachten, die sowieso ständig etwas an ihr auszusetzen fanden, schlüpfte Carissa aus der Loge der Denburys und schloss leise die Tür hinter sich. Ihre Satinschuhe klapperten unverhältnismäßig laut, als sie den stillen Gang des zweiten Geschosses hinabeilte.

Sie musste diese Orangenverkäuferin finden und die Nachricht abfangen! Im Grunde wusste sie natürlich, dass es sie überhaupt nichts anging, mit wem Beauchamp heute Nacht das Bett teilen wollte, aber irgendetwas in ihr drängte darauf, diese Nachricht zu lesen. Den Beweis seiner Verderbtheit mit eigenen Augen zu sehen, so versuchte sie sich einzureden, würde ihr gewiss ein für alle Mal klarmachen, dass Männer mit liederlichem Lebenswandel wie er einem nichts als Ärger brachten.

Sie sollte es am allerbesten wissen.

Manchmal jedoch, das musste sie fairerweise einräumen, hatte es den Anschein, als sei mehr an ihm als nur Charme und Charisma. Und breite Schultern. Starke Muskeln. Betörende Augen, so hell und blau wie Meerschaum, die tanzten, wenn er lachte, was ziemlich häufig vorkam. Nicht zu vergessen das markante Kinn und die sinnlichen Lippen …

Sie riss sich zusammen und eilte weiter, immer das eigene Ziel vor Augen. Nun gut, von seinen äußerlichen Vorzügen abgesehen hatte er im Leben aber auch schon allerhand Interessantes angestellt.

Dank ihrer bewährten Methoden war es ihr gelungen, das eine oder andere über ihn in Erfahrung zu bringen, darunter auch einige recht abenteuerliche Begebenheiten in seiner Vergangenheit.

Wie sie selbst, stammte auch er aus besten Kreisen. Lady Lockwood, seine Mutter, war zu ihrer Zeit eine strahlende Schönheit gewesen – und sie war es noch immer, obwohl sie die Fünfzig schon überschritten hatte. Von seinem Vater, dem Earl of Lockwood, hieß es, er sei ein etwas vierschrötiger Bursche, der nur selten in London weilte und stattdessen das naturverbundene Leben eines Landadligen vorzog.

Wo Beau seine Kindheit verbracht hatte, wusste sie nicht, aber als junger Mann war er nach Oxford gegangen, hatte dort sein Latein- und Griechischstudium mit Auszeichnung abgeschlossen. Ohne große Anstrengung, so hieß es zumindest. Ihren Quellen zufolge hatte er eine rasche Auffassungsgabe, sei aber ebenso schnell gelangweilt und hätte sich folglich die Studienzeit mit allerlei Abenteuern und Ausschweifungen versüßt. Selbst in seiner Jugend hatten also Frauen seinen Weg gesäumt.

Eine recht unziemliche Anzahl von Frauen.

Doch anscheinend hatte der vergnügungssüchtige junge Peer auch seine heldenhaften Momente gehabt. Wollte man der Gerüchteküche Glauben schenken, war er einundzwanzig gewesen, als er, wieder einmal in den frühen Morgenstunden auf dem Heimweg, ein Logierhaus in Flammen stehen sah.

Ob nun der Whisky, den er im Laufe der Nacht getrunken hatte, seinen draufgängerischen Mut erklärte, oder ob er immer so war, wusste sie nicht zu sagen. Auf jeden Fall war er ohne Zögern in das brennende Haus gerannt und hatte bis zum Eintreffen der Feuerbrigade jeden Bewohner ins Freie gebracht. Zwanzig Menschen hatte er so das Leben gerettet.

Wenig später hatte sein Vater ihm für einen seiner Wahlkreise einen Sitz im Parlament verschafft. Er hatte seinem Sohn diesen eher mittelmäßigen Posten förmlich aufgedrängt, damit der Junge dort Erfahrung sammeln und sich auf seinen Sitz im Oberhaus vorbereiten möge, der ihm eines Tages zufiele. Wie hatte der Earl ahnen können, dass der junge Abgeordnete so häufig das Wort ergreifen und die Führer beider Parteien erzürnen würde mit seinem glühenden Idealismus und seiner steten Weigerung, sich kompromissfähig zu zeigen!

Carissa fand es gut, zu wissen, dass er nicht immer ein Zyniker gewesen, sondern sich trotz zahlreicher Amouren auch seiner Pflicht der Allgemeinheit gegenüber bewusst war. Zwar hatte er im Jahr darauf seinen Sitz voll wütender Verachtung wieder aufgegeben und war zu seinem lasterhaften Lebenswandel zurückgekehrt, doch seine kurze Zeit in der Politik musste bleibenden Eindruck hinterlassen haben. In nur einem Jahr hatte er sich so viele politische Feinde gemacht wie andere im ganzen Leben nicht.

Diese sahen ihre Chance gekommen, es dem ungestümen Viscount heimzuzahlen, als das Gerücht die Runde machte, er habe sich um die Gunst einer Dame der Gesellschaft ein Duell mit einem jungen Heißsporn geliefert.

Beauchamp, der gemeinhin als vorzüglicher Schütze galt, hatte den jungen Mann indes nicht getötet, sondern lediglich verwundet. Allerdings so schwer, dass man seinem Gegner das Bein unterhalb des Knies hatte abnehmen müssen. Zudem stellte sich heraus, dass es sich bei dem jungen Heißsporn um den Neffen eines Kabinettsministers handelte.

Natürlich gab es längst Gesetze, die das Duellieren verboten, doch für die besseren Stände, die um ihrer Ehre willen lebten und starben, machte man einige Zugeständnisse, und folglich wurde das Recht in diesem Punkt nur selten vollstreckt.

Es sei denn, man hatte sich die falschen Leute zum Feind gemacht.

Die ganze Maschinerie des Gesetzes war auf Beauchamp niedergegangen wie ein Hammer. Ein Exempel habe man an ihm statuieren wollen, um seinesgleichen klarzumachen, dass man einander nicht einfach nach Gusto erschießen könne.

Mit knapper Not nur hatte Lord Lockwood seinen lebenslustigen Sohn vor dem Gefängnis in Newgate bewahren können. Nachdem er eine saftige Geldstrafe hingeblättert hatte und dem nun einbeinigen Heißsporn ein üppiges Schmerzensgeld, war der junge Duellant von seinem Vater wenig überraschend auf Reisen geschickt worden. Sich fern der Heimat die Hörner abzustoßen war gängige Praxis. Carissa hatte gehört, er sollte während des Krieges irgendeinen Posten bekleidet haben, sei auf Drängen seines Vaters aber aus den Gefechtshandlungen herausgehalten worden.

Schwer vorstellbar bei jemandem, der so draufgängerisch war wie er, dachte Carissa, doch wie immer es sich zugetragen haben mochte, der Krieg war zu Ende gegangen und Beau unversehrt zurückgekehrt.

Gerüchten zufolge wollte er sich nun dauerhaft in England niederlassen.

Keine drei Monate waren seit seiner Rückkehr vergangen, und schon steckte er wieder in Schwierigkeiten.

Was genau der Teufelsspund jetzt schon wieder angestellt hatte, wusste sie noch nicht, aber sie war da auf etwas Interessantes gestoßen, als sie kürzlich im Arbeitszimmer ihres Onkels herumgeschnüffelt hatte.

Ihr war bekannt, dass Lord Denbury und seine Mitstreiter im House of Lords sich gegenseitig über alle Vorgänge in den jeweiligen Ausschüssen auf dem Laufenden hielten. Aus einer an ihren Onkel gesandten Depesche hatte sie nun erfahren, dass ein geheimes Gremium des Innenministeriums Ermittlungen gegen Viscount Beauchamp anstellte. Nähere Details wurden leider nicht genannt. Das war alles sehr mysteriös – womöglich ein weiterer Beweis, dass sich hinter dem strahlenden Lächeln des Viscounts herrlich verderbte Abgründe auftaten.

Während sie die menschenleere Treppe hinab zum ersten Rang eilte, hielt sie in alle Richtungen Ausschau nach dieser einen, erschöpft aussehenden Orangenverkäuferin. Durch die Wände drangen gedämpfte Stimmen von der Bühne und die Lachsalven des Publikums. Wie es schien, hatte Mr Kenney mit seinem berühmten Sinn für Humor mal wieder einen Volltreffer gelandet. Aber für derlei Amüsement hatte Carissa jetzt keine Zeit; mit suchendem Blick hetzte sie weiter.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?“, raunte einer der livrierten Saaldiener ihr zu, als sie an ihm vorbeihastete.

Sie schüttelte nur den Kopf, bedachte ihn mit einem, wie sie hoffte, arglosen Lächeln, und schon war sie an ihm vorbei.

Es brauchte keiner zu wissen, welcher Methoden sie sich bediente, um an Informationen zu kommen. Während sie sich mit einem kurzen Blick in ihr Retikül vergewisserte, genügend Kleingeld für ihren Bestechungsversuch bei sich zu tragen, bog sie um eine Ecke und fand sich in dem Gang wieder, der direkt an den hinteren Teil des Zuschauerraums grenzte.

Als sie wieder aufblickte, sah sie plötzlich das Orangenmädchen vor sich, nach dem sie die ganze Zeit gesucht hatte. Doch halt, jemand war ihr zuvorgekommen! Blitzschnell schlüpfte Carissa in einen durch einen Vorhang abgetrennten Alkoven.

Vorsichtig spähte sie hinaus auf den Gang. Wer zum Kuckuck war das? Er hatte ihren Plan geklaut!

Und noch während sie den Mann beobachtete, der mit der Orangenverkäuferin redete, kroch ein leises Frösteln über ihre Haut.

Er sah gut aus mit seinem schwarzen, vom Wind zerzausten Haar, als wäre er eben von einem langen Ritt gekommen; doch alles an ihm, von seinem muskulösen Körperbau bis hin zu seiner finsteren Miene, verhieß Niedertracht und Unheil.

Der Mund wurde ihr trocken, als nun nicht sie, sondern er das Orangenmädchen bestach, um einen Blick auf das Billett zu werfen, das irgendeine Dame – vielleicht ja seine Dame – an Beauchamp gesandt hatte. Carissas Herz pochte. Oh, Beauchamp, ich will nur hoffen, Sie haben nicht mit Ihrem Namen unterzeichnet.

Gewiss war er zu gerissen, um eine solche Dummheit zu begehen. Aber falls doch, falls er mit seinem Namen signiert hatte, so fürchtete sie, dass ihm sehr bald schon ein weiteres Duell ins Haus stehen würde. Denn wie es aussah, war sie nicht die Einzige, die heute Abend von Eifersucht geplagt wurde.

Hinter dem Vorhang des Alkovens verborgen, beobachtete sie bang, wie der schwarzhaarige Fremde die Nachricht las.

Verächtlich schnaubend schüttelte er den Kopf, dann lächelte er bitter und bat die Orangenverkäuferin in knappem Ton um ein frisches Blatt Papier; die andere Nachricht zerknüllte er und ließ sie in seiner Brusttasche verschwinden.

Dann griff er sich Stift und Papier und verfasste seinerseits eine Nachricht. Mit grimmiger Miene reichte er dem Mädchen kurz darauf das Billett und legte einen Finger auf ihren Mund, als wolle er sie auf Geheimhaltung einschwören. Er drückte ihr einen Geldschein in die Hand und schickte sie los.

Die Hände in die Hüften gestemmt, etwas zu breitbeinig, stand er da, und ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen, als er dem Mädchen hinterherblickte, das seine Nachricht überbringen würde. Sichtlich zufrieden, seine Falle gelegt zu haben, drehte er sich auf dem Absatz um und verließ das Theater.

Carissa wartete noch einen Moment, dann schlüpfte sie aus ihrem Versteck hervor. Der ganze Körper kribbelte ihr in düsterer Vorahnung. O Beauchamp, man will Sie in einen Hinterhalt locken! Sie wagte sich kaum vorzustellen, was alles geschehen könnte, wenn er gleich zu seinem Rendezvous mit der unbekannten Schönen ginge, wer immer sie auch sein mochte. Man würde ihm auflauern. Ja, er könnte gar getötet werden!

Doch der Schrecken währte nicht lang; im Nu eilte Carissa dem Orangenmädchen hinterher, um es daran zu hindern, diese Nachricht zu überbringen, die nichts als Unheil und Verrat barg. Beauchamp mochte ja ein liederlicher Freigeist sein, aber dass jemand ihn darum tötete, das würde sie nicht zulassen!

Als sie dem schwerfälligen und glücklicherweise nicht sehr schnellen Mädchen in dem schmalen Seitengang folgte, der parallel zu den Privatlogen verlief, bremste sie jäh ab.

Zu spät!

Gerade noch sah sie, wie das Mädchen durch einen schmalen Türspalt, ungefähr in der Mitte des Gangs, verschwand. Verflixt! Was sollte sie denn jetzt tun? Mit pochendem Herzen stand sie da und schaute sich wie ertappt um.

Allein hier zu stehen, ohne Anstandsdame und Begleitung, in einem Teil des Theaters, wo sie an sich nichts verloren hatte, war ein Wagnis.

Nun, da sie die Orangenverkäuferin verpasst hatte, erwog sie kurz, Beauchamps Loge aufzusuchen und ihn selbst zu warnen, aber der Gedanke, gesehen zu werden, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Nein, das Risiko, dass andere Voyeure sie mit ihren Operngläsern in seiner Loge entdeckten, war zu groß, und sie konnte es sich nicht leisten, selbst zum Thema des Klatsches zu werden. Dazu hatte sie zu viel zu verbergen.

An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, wäre es eigentlich nur klug gewesen, dieses aberwitzige Unterfangen aufzugeben, unverzüglich an ihren Platz zurückzukehren und so zu tun, als wisse sie von nichts.

Aber das Leben eines Menschen konnte in Gefahr sein.

Und obwohl er bisweilen schrecklich anmaßend sein konnte, wäre die Welt doch ärmer ohne ihn. Was sie sogleich auf einen anderen Gedanken brachte: Vielleicht könnte sie diese unerwartete Wendung der Ereignisse ja zu ihrem eigenen Vorteil nutzen …

Mal nachdenken, spann sie ihren Einfall weiter. Ein Informationsaustausch. Genau!

Wenn er mir verrät, wo Daphne und Kate abgeblieben sind, und was hier eigentlich vor sich geht, dann sage ich ihm, was ich gesehen habe. Das wäre doch nur fair, oder? Und wenn er sich weigert, hat er es vielleicht nicht anders verdient, der Halunke.

Etwas unsicher, was genau sie jetzt tun sollte, schlich sie zur Tür seiner Loge und blieb abermals stehen. Wahrscheinlich las er gerade die fingierte Nachricht und tappte geradewegs in die Falle.

Hin- und hergerissen stand sie da, und während sie so zögerte, kam ihr noch ein ganz anderes Problem in den Sinn. Wenn sie versuchte, ihn zu warnen, wüsste er sofort, dass sie ihm nachspioniert hatte.

Auch ihre Eifersucht würde ihm gewiss nicht entgehen, und dann – oje, welch grausiger Gedanke! – würde er sie auslachen und damit aufziehen wie ein frecher Schuljunge, woraufhin sie das Werk des gehörnten Ehegatten selbst in die Hand nehmen und dem Schuft den Garaus machen, jawohl, ihm eigenhändig den Hals umdrehen würde!

In diesem Augenblick, während sie noch immer unschlüssig war, was zu tun sei, öffnete sich seine Logentür, und die Orangenverkäuferin huschte heraus.

Und ihr auf den Fersen folgte, auf dem Weg zu seinem vermeintlichen Rendezvous, der Viscount persönlich.

Sowie er sie sah, blieb er stehen und hob fragend die Brauen.

Carissa stand wie erstarrt; sie schaute ihn an und brachte kein Wort über die Lippen.

Sie war ertappt worden, und seinem wölfischen Lächeln sah sie an, dass er genau wusste, wohin sie gewollt hatte. Am liebsten hätte sie geschrien vor Schmach und vor Wut und wäre davongerannt. Doch sie besann sich eines Besseren und blieb, schluckte und schwieg, während das Mädchen sich eilends entfernte und sie beide in dem schmalen, nur schwach beleuchteten Gang allein ließ.

Er war ihr so nah, dass sie einander hätten berühren können.

„Sieh an, die liebe Miss Portland“, begrüßte er sie geschmeidig und ließ seinen anerkennenden Männerblick über sie schweifen. „Welch ausgesprochen angenehme Überraschung. Sagen Sie bloß, Sie wollten zu mir?“

2. KAPITEL

Trotz des gewohnt sorglosen Lächelns, das er zur Schau trug wie eine Karnevalsmaske, hatte Beau das Theater in düsterer, um nicht zu sagen desolater Stimmung betreten. Noch nie hatte er sich in seinem Kampf so verloren und allein gefühlt.

Er stand unter ungeheurem Druck, war angespannt und noch immer wütend über die schweren Schläge, die der Orden im Laufe des vergangenen Monats hatte hinnehmen müssen. Der Tod ihres Anführers Virgil, Drakes Flucht und möglicher Verrat, das Verschwinden seiner Mitagenten Trevor und Nick, und jetzt auch noch diese verdammte Ermittlung des Innenministeriums, das dem Orden unlautere Methoden vorwarf.

Weil er das alles gründlich satt hatte, war er hierhergekommen, zu diesem Jagdgrund der Reichen und Schönen, um nach seiner gewohnten Ablenkung zu suchen: einer willigen Gespielin, die seine Frustration zerstreuen und ihm seine düsteren Gedanken für ein paar Stunden des sinnlichen Vergnügens austreiben würde. Mehr brauchte es gar nicht, und schon sähe am Morgen alles gleich ganz anders aus.

Doch als er aus seiner Loge trat, war die abenteuerlustige Duchess prompt vergessen, deren Offerte er so freudig hatte folgen wollen. Denn seiner harrte eine viel süßere Versuchung, und zwar in Gestalt der unnachahmlichen Miss Portland, die gerade so dreinschaute, als habe er sie auf frischer Tat ertappt.

Er konnte es nicht genau benennen, aber irgendetwas an der Kleinen reizte ihn stets zum Lachen. Sie wirkte immer so, als führe sie etwas im Schilde, und aus unerfindlichen Gründen amüsierte ihn das köstlich. Selbst jetzt hellte ihr bloßer Anblick seine Stimmung auf. Er kam überhaupt nicht dagegen an; in ihrer Gegenwart wurde er immer ein wenig töricht und hätte sie anstrahlen mögen, als sei er nicht ganz bei Sinnen.

Doch er beherrschte sich. Dieses Vergnügen wollte er sich nicht verderben.

„Meine liebe Miss Portland“, sagte er sodann mit dem sich für einen Gentleman gebührenden Ernst – sehr wohl wissend, dass sie seinem Freund, dem braven und anständigen Lord Falconridge, ihm gegenüber den Vorzug gab. „Was verschlägt Sie heute Abend in meine Nähe? Gewiss hoffe ich vergeblich, es könnte der Wunsch gewesen sein, mich zu sehen?“

Sie neigte leicht den Kopf und sah ihn nur an – etwas zu nachsichtig, wie er fand.

„Sollte dem so sein, stehe ich natürlich ganz zu Ihren Diensten“, fuhr er unbeirrt fort.

„Nun, das werden wir ja sehen.“ Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und reckte das Kinn.

Seine Augenbrauen zuckten in die Höhe. „Nein, wirklich? Sie geben es also zu? Normalerweise ergreifen Sie die Flucht, sowie Sie mich nur sehen.“

„Kann man es mir verdenken?“, gab sie leichthin zurück.

Beau staunte nicht schlecht. Wenn er, so wie jetzt, ihr weibliches Interesse an ihm spürte, schaffte er es kaum noch, sich zurückzuhalten. Sein Verlangen nach ihr ließ ihn den Blick abwenden. Fürwahr, es ließ sich nicht leugnen: Von allen Frauen in diesem Theater, Schauspielerinnen und leichte Mädchen eingeschlossen, war es Lord Denburys Nichte, mit der das Bett zu teilen ihn am meisten lockte.

Leider würde das nur ein Wunschtraum bleiben, denn seine Waffenbrüder hatten ihm bereits deutlich zu verstehen gegeben, worauf er sich gefasst machen dürfe, wenn er mit Daphnes unschuldiger kleiner Freundin sein leichtfertiges Spiel trieb.

Normalerweise ließ er sich von niemandem einschüchtern, aber hier war von Agenten des Ordens die Rede – und zwar von gleich dreien auf einen Schlag –, die nicht nur ebenso gut ausgebildet waren wie er, sondern ihm aufgrund ihres Alters auch ein paar Jahre an Erfahrung voraushatten. Er war beileibe nicht erpicht darauf, sich das Gesicht von Rotherstones Faust zerschmettern zu lassen oder seine Rippen unter Warringtons Stiefel krachen zu hören. Und was Falconridge ihm antun würde, wagte er sich gar nicht erst auszumalen, spielte der blonde Earl sich bei der kleinen Spionin doch gern als großer Bruder und Beschützer auf.

Jordan Lennox, Earl of Falconridge, der kürzlich seine Jugendliebe geheiratet hatte, war eigentlich sehr umgänglich und nur schwer in Rage zu bringen, doch wenn er einmal Rot sah, war es meist zu spät. Wenn man Pech hatte, war man dann schon mausetot.

Diese drei erfahrenen, geringfügig älteren Agenten, denen weder Beaus routinierte Verführungskünste noch sein lebhaftes Interesse an Daphnes rothaariger Freundin entgangen war, hatten ihm schweren Herzens das Versprechen abgerungen, das Mädchen nicht anzurühren. Auch wenn sein Instinkt ihm sagte, dass die forsche kleine Feenkönigin sich nur zu gern von ihm würde anrühren lassen.

Nun denn. Schauen kostete ja nichts.

Sie trug ein schlichtes hellgrünes Seidenkleid, das ihn zu flüchtigen Fantasien anregte, es ihr vom schlanken Leib zu schälen. Welch ein Glück, dass er bereits entschieden hatte, seiner Lust keine Taten folgen zu lassen – ganz ungeachtet von Rotherstones gut gemeinten Todesdrohungen. Denn Carissa Portland war eine neugierige kleine Klatschtante, die nichts lieber tat als anderer Leute Geheimnisse aufzudecken, wohingegen er ein Spion war und ebensolche Geheimnisse zu wahren hatte.

Die Kleine könnte ihm also eine Menge Ärger bescheren. Den konnte er gerade gar nicht gebrauchen, hatte er in letzter Zeit doch mehr als genug davon gehabt.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er lässig und lehnte sich an die Wand.

„Nun ja.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick, um ihr Gegenüber dann zaghaft unter gesenkten Wimpern hervor anzusehen. „Zunächst einmal könnten Sie mir verraten, mit wem Sie sich gleich zu treffen gedenken.“

„Wie bitte?“, entfuhr es ihm.

Doch sie schaute ihn nur an und wartete auf seine Antwort.

Er lachte leise und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was bitte ginge Sie das an?“

„Gar nichts“, erwiderte sie. „Ich bin einfach nur neugierig.“

Er musterte sie prüfend. „Woher wissen Sie überhaupt davon? Haben Sie mich beobachtet?“

„Ich habe Augen im Kopf.“

„Und ein naseweises kleines Näschen“, pflichtete er bei und tippte ihr auf die Nasenspitze. „Aber noch viel lieber sind mir Ihre Lippen. Sagen Sie“, er neigte sich vertraulich nach vorn und senkte die Stimme, „denken Sie auch so oft an diesen Kuss wie ich?“

„Beauchamp!“

„Portland.“

Sie setzte ein zweifelhaftes Lächeln auf und lehnte sich neben ihn an die Wand.

„Nein“, erwiderte sie schließlich. „Ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht.“ Ein rosiger Hauch zog sich über ihre Alabasterhaut.

Beau betrachtete sie belustigt. „Schade. Ich dachte, Sie wären vielleicht hier, um sich noch einen zu holen.“

„Wohl kaum.“ Sie maß ihn mit strengem Blick und wich zurück, um sicheren Abstand zwischen sie beide zu bringen.

„Na gut, dann nicht. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Warum sind Sie hier?“

Darauf antwortete sie nicht sogleich, sondern schien sich ihre Worte genau zu überlegen, bevor sie erwiderte: „Wen auch immer Sie heute Abend zu treffen gedenken, ich würde Ihnen raten, davon abzusehen.“

„Ah ja. Und warum?“ Seine Augenbrauen zuckten anzüglich. „Haben Sie mir vielleicht einen besseren Vorschlag zu machen?“

„Oh, ich bitte Sie, lassen Sie das doch! Ich werde Ihnen schon gleich sagen, warum – sowie Sie mir gesagt haben, wo Daphne ist.“

Beau stöhnte und ließ sich zurück gegen die Wand sinken. „Bitte nicht das schon wieder. Ich dachte, Daphne hätte Ihnen geschrieben?“

„Ja, ich habe ihren Brief bekommen – und bin sehr dankbar darum. Ich hatte also ganz recht mit meiner Vermutung, dass Sie etwas mit der ganzen Sache zu tun haben. Leider war Daphnes Brief recht vage. Hören Sie, Beauchamp, ich weiß, dass hier irgendetwas vor sich geht, und ich weiß auch, dass Sie darüber Bescheid wissen. Entweder Sie sagen mir jetzt, was los ist, oder …“

„Nichts oder“, schnitt er ihr das Wort ab. „Ich kann es Ihnen nicht sagen.“

„Weshalb nicht?“

„Darum. Ihre Freundinnen sind in Sicherheit. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.“

Sie stieß sich von der Wand ab und hob betont gleichgültig die zarten Schultern. „Wie Sie wollen – es ist Ihre Entscheidung. Haben Sie einen schönen Abend, Beauchamp.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Halt, einen Moment.“ Er trat vor und fasste sie leicht beim Ellenbogen, um sie aufzuhalten. „Was wollten Sie mir sagen?“

„Wie meinen?“

„Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?“

„Wäre das nicht ein Ding der Unmöglichkeit?“, gab sie sarkastisch zurück.

„Sehr witzig. Jetzt kommen Sie schon, raus mit der Sprache! Sie gelten als Expertin für Klatsch und Tratsch der guten Gesellschaft, das erkenne ich völlig neidlos an. Also, wissen Sie etwas über meine Begleiterin, wovon ich besser unterrichtet sein sollte?“

Sie schüttelte ihn ab. „Sie erwarten wirklich, dass ich es Ihnen ohne Gegenleistung sage? Oh, aber wahrscheinlich glauben Sie, dass jede Frau Ihnen auf der Stelle verfällt und alles tut, was Sie ihr sagen!“

„Das wäre nicht schlecht“, gestand er ein.

Triumphierend beugte sie sich zu ihm vor. „Ha, wusste ich es doch!“

Im nächsten Augenblick stockte ihr der Atem, als er lächelnd einen Arm um ihre Taille schlang.

„Soll ich es vielleicht aus Ihnen herausküssen?“, fragte er und zog sie näher zu sich. Ihre Miene war finster, doch sie ließ es geschehen; ihr stummes Einverständnis ließ seinen Puls rasen. „Sie sehen heute Abend außerordentlich bezaubernd aus, wenn ich das so sagen darf.“

„Ihre Schmeicheleien werden Sie nicht weiterbringen. Schon gar nicht, wo Sie gerade auf dem Weg zu einem Stelldichein mit einer anderen Frau sind! Was für ein interessanter Mann Sie doch sind, Lord Beauchamp.“

„Ach, nun seien Sie doch nicht so“, er schlug einen versöhnlicheren Ton an. „Was ist los? Sind Sie eifersüchtig, mein kleines Täubchen? Sind Sie deshalb gekommen? Um mich davon abzuhalten, einer anderen meine Gunst zu schenken?“

Schnaubend machte sie sich von ihm los. „Fürwahr, Ihre Anmaßung kennt keine Grenzen.“

„Nun, ich wüsste nicht, weshalb sonst es Sie interessieren sollte. Wobei … dass Sie mich nicht mögen, hatten Sie ja schon klargestellt.“

„Das tue ich auch nicht!“

„Natürlich nicht“, sagte er fast schon bekümmert und verzog kurz das Gesicht.

„Ich … möchte nur nicht, dass Sie zu Schaden kommen“, gestand sie schließlich stirnrunzelnd. „Sie sollten sich besser in Acht nehmen.“

„Wovor?“

Sie starrte die gegenüberliegende Wand an und hob gleichgültig die Schultern. „Oh, wenn ich das nur wüsste! Aber wenn Sie einmal in Ruhe darüber nachdenken würden, müsste Ihnen doch klar sein, dass bei diesen dummen Verabredungen alle möglichen Gefahren lauern können.“

„Zum Beispiel?“, hakte er schmunzelnd nach.

„Was, wenn sie die französische Krankheit hat?“, raunte Carissa.

„Was, wenn ich sie habe?“, gab er zurück.

Sie riss entsetzt die Augen auf. „Haben Sie?“

„Ich bin von Kopf bis Fuß davon zerfressen. Nur ein Scherz.“

Sie gab ihm einen kleinen Klaps auf den Arm. „Damit scherzt man nicht, Sie Teufel!“ Dann deutete sie auf seine Loge. „Warum machen Sie sich nicht einfach einen ruhigen Abend und schauen sich weiter das Stück an?“

„Weil es mich langweilt. Sie doch auch, wie ich vermute. Zudem hat besagte Frau mir Freuden versprochen, die Sie sich nicht einmal vorstellen können“, sagte er herausfordernd, gespannt auf ihre Reaktion.

Sie blitzte ihn an, ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen. „Solche Freuden, Mylord, führen meist nur zu Schmerz und Leid.“

„Auch das kann seinen Reiz haben. Alles zu seiner Zeit, sage ich immer. Was genau versuchen Sie mir eigentlich mitzuteilen, liebe Miss Portland?“

„Wo ist Daphne?“, beharrte sie.

Seufzend sah er sie an, warf dann einen Blick auf seine Taschenuhr und stieß sich von der Wand ab. „Tut mir leid, ich muss los.“

„Na schön, dann gehen Sie doch! Aber ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass Ihre Dame auch einen Ehegatten haben könnte?“

„Haben sie das nicht alle?“

„Das nennt man Ehebruch!“, flüsterte sie konsterniert.

„Nun sorgen Sie sich sogar um mein Seelenheil. Ich bin gerührt.“

„Ich sorge mich auch um Ihr leibliches Wohl!“

„Ach ja?“, murmelte er anzüglich.

„So hatte ich es nicht gemeint!“, versicherte sie ihm und fächelte sich hektisch Luft zu.

Er lachte leise. „Mein Koch könnte an Ihren Wangen seine flambierten Köstlichkeiten entzünden, meine Liebe.“

„Ich versuche nur, Ihnen einen Skandal zu ersparen!“

„Aber ich mag Skandale. Und was würden Sie kleine Klatschbase denn ohne Skandale machen?“

„Ich bin keine Klatschbase!“

„Verzeihen Sie. Eine gut informierte junge Dame. Aber Sie haben ganz recht: Sie sind eine Unschuld, und ich bin durch und durch verdorben. Ich sollte Sie nicht mit ins Verderben ziehen“, spottete er. „Weshalb ich mich jetzt auch empfehlen werde, schönes Fräulein – wenngleich ich daran erinnern möchte, dass Sie es waren, die mir nachgestellt hat. Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht und entschuldige mich noch einmal, Ihre zarten Gefühle verletzt zu haben. Wenn ich Ihnen einen Rat mitgeben darf: Falls mein Lebenswandel Ihren Unmut erregen sollte, so halten Sie doch einfach Ihre Nase aus meinen Angelegenheiten heraus und kümmern sich um Ihre eigenen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Au revoir.“

„Pah“, rief sie ihm hinterher, und dann: „Beauchamp!“

Ihr den Rücken zugewandt, blieb er stehen, ein teuflisches, wissendes Lächeln auf den Lippen. „Ja, meine Liebe?“ Langsam drehte er sich nach ihr um. „Wünschen Sie noch etwas von mir?“, fragte er in einem Ton, den man kaum missverstehen konnte.

Sie schüttelte entnervt den Kopf. „Warum nur müssen Sie sich so aufführen? Denken Sie eigentlich auch mal an die Gefühle dieser Frauen … an den Kummer, den Sie ihnen bereiten?“

Er schnaubte verächtlich, um den Anflug schlechten Gewissens zu verdrängen. „Diese Damen wissen, was sie von mir zu erwarten haben. Sie nehmen das alles nicht so ernst. Das sollten Sie auch mal versuchen.“

„Schön“, zischte sie. „Dann gehen Sie doch! Ich will hoffen, Sie lernen Ihre Lektion. Die haben Sie nur verdient.“

„Und Sie haben vermutlich einen Heiligenschein verdient, was?“

„Was soll das denn heißen?“

Verärgert, dass er sich von ihr hatte reizen lassen, starrte er zu Boden. „Egal. Vergessen Sie’s.“

„Nein, das werde ich nicht! Wie haben Sie das eben gemeint?“, beharrte sie.

Vielsagend sah er sie an. „Der Gesellschaft kannst du etwas vormachen, Carissa, aber mir nicht. Schau dich doch an, wie du hier stehst – wie ein reifes Früchtchen, das nur darauf wartet, gepflückt zu werden.“ Er kam näher. „Warum kommst du zu mir und quälst mich? Warum kannst du mich nicht in Frieden lassen? Was ist es wirklich, das du von mir willst?“

Sie wich zurück und errötete tief. „Ich muss doch sehr bitten!“

Er ließ den glühenden Blick über ihre reizende Gestalt gleiten. „Für den Anfang müsstest du nur mal wieder ordentlich geküsst werden.“ Seine Knie wurden weich, als er den Blick auf ihre Brüste senkte, deren Knospen sich keck unter dem Kleid abzeichneten, förmlich nach seiner Berührung zu flehen schienen. Sein Puls ging schneller vor Verlangen. „Oh ja, dein Interesse an mir ist allzu offensichtlich. Aber du wartest darauf, dass ich … ja, worauf genau wartest du eigentlich? Dass ich dich nötige? Tut mir leid, aber das ist eines der wenigen Spielchen, an denen ich keinerlei Interesse habe“, ließ er sie mit leiser Stimme wissen. „Entweder kommst du aus freien Stücken zu mir, oder du lässt es ganz bleiben. Und bis dahin, bis du dich entschieden hast, was du von mir willst, geh ruhig wieder nach Hause, wie es sich gehört für ein braves Mädchen. Los, geh schon! Lauf zu deiner Amme und versteck dich vor mir, so wie du es jedes Mal tust, wenn wir einander begegnen. Ja, ich mag meine Ecken und Kanten haben, aber wenigstens bin ich kein Heuchler. Wenn du Angst vor deinen Gefühlen hast, sei das dir überlassen. Aber stell mir nicht nach unter dem Vorwand, mich zu maßregeln. Glaub mir, sowie du weißt, was du willst, und mich darum bittest, werde ich deine Neugier und die meine nur zu gern befriedigen. Aber bis dahin brauche ich eine Frau, kein kleines Mädchen. In diesem Sinne, wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden, meine Liebe. Ich habe noch eine Verabredung einzuhalten mit einer Dame, die … ganz Frau ist.“

Wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte Carissa wütend, wusste sie doch, dass es vielmehr ein Mann war, der ihn erwartete. Ein Mann, der dem Schuft die Abreibung verpassen würde, die er verdient hatte.

Anmaßender, ruchloser, schrecklicher Kerl! Wie konnte er es wagen!

Kopfschüttelnd und ihn leise verwünschend, sah sie ihn von dannen ziehen. Wenigstens konnte sie sich des Gedankens erfreuen, dass der Halunke schon bald seine gerechte Strafe bekommen würde. Jeden Hieb, den er heute Nacht würde einstecken müssen, hatte er nur sich selbst zuzuschreiben. Es war ganz allein seine Schuld.

Manche Menschen forderten das Schicksal ja geradezu heraus. Sie hatte versucht, ihm zu helfen, dem Teufel, aber irgendwann war es wirklich genug. Hatte sie nicht genügend Andeutungen fallen lassen? Aber wenn er nicht hören wollte, würde er eben fühlen müssen.

Sie blieb, wo sie war, die Hände in gerechtem Zorn geballt, und schaute ihm nach, wie er den schwach beleuchteten Gang hinab verschwand. Als er nicht mehr zu sehen war, stampfte sie mit dem Fuß auf und machte ihrer Wut in einem undamenhaften Ausruf Luft. Er war wirklich das enervierendste Geschöpf auf Erden!

Noch immer vor Zorn bebend war sie zudem wütend auf sich selbst – sie hatte ihm gezeigt, wie anziehend sie ihn fand! Und wie … eifersüchtig sie war, in der Tat.

Sie musste wirklich verrückt sein, für diesen anmaßenden Lüstling etwas anderes als Abscheu zu empfinden. Wie er sie angesehen hatte! Ebenso gut hätte er sie hier auf der Stelle entkleiden können. Es war empörend – und beschämend erregend.

Sie fühlte sich entblößt von seinem Blick und den dreisten, eines Gentleman nicht würdigen Dingen, die er zu ihr gesagt hatte. Viel schlimmer aber war, dass er ihre tugendhafte Fassade zu durchschauen schien. Weshalb sie nun auch besser daran tat, unverzüglich an ihren Platz in der Familienloge zurückzukehren.

Es hätte noch gefehlt, dass ihre Cousinen sie ausfragten, weshalb sie sich denn so lange im Erfrischungsraum aufgehalten habe. Oder wenn gar die brave Miss Trent sich besorgt aufmachte, nach ihr zu suchen. Was sollte sie sagen, wenn die Gouvernante sie in einem ganz anderen Teil des Theaters fand als jenem, den aufzusuchen sie vorgegeben hatte? Onkel Denbury würde keine Ausreden mehr dulden. Nicht nach dem Zwischenfall von Brighton.

Seitdem beobachtete ihr wohlanständiger Onkel sie mit Argusaugen, und sie zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er sie ohne mit der Wimper zu zucken aus dem Haus werfen würde, wenn sie sich noch einen Fehltritt erlaubte. Einen Fauxpas hatte man ihr aufgrund ihrer Jugend und Naivität noch durchgehen lassen und dem verderblichen Einfluss ihrer weltläufigen und glamourösen Tante Josephine zugeschrieben, die Carissa nach dem Tod ihrer Großeltern aufgezogen hatte.

Tante Jo war die ältere Schwester des Earls of Denbury – einige Jahre älter als er, was sie aber niemals zugeben würde und ihr aufgrund des Aufwands, den sie um ihr Äußeres betrieb, auch nicht anzusehen war. Sie war stets nach der neuesten Mode gekleidet und kam bei ihren zahlreichen männlichen Verehrern noch immer mit der Behauptung durch, erst dreiunddreißig zu sein.

Nach besagtem Zwischenfall von Brighton war es zwischen Onkel Denbury und Tante Jo zu einem handfesten Streit gekommen, der Carissa noch heute bisweilen in ihren Träumen heimsuchte. Sie wünschte, bei dieser Gelegenheit ausnahmsweise einmal nicht gelauscht zu haben.

Allein die Erinnerung daran ließ sie schaudern, als sie den Weg zurückeilte, den sie gekommen war, um an ihren Platz zurückzukehren, ehe man ihr überlanges Ausbleiben bemerkte. Sie wollte hoffen, dass ihre Cousinen von Mr Kenneys schlüpfrigen Witzen abgelenkt waren. Und Miss Trent war, wenn sie Glück hatte, längst wieder eingeschlummert.

Von Lord Beauchamp war nirgendwo mehr etwas zu sehen. Carissa raffte ihre Röcke zusammen, um nicht in ihrer Hast darüber zu stolpern, und eilte weiter zur Treppe, die hinauf in den zweiten Rang führte. Doch nun, wo sie erst mal daran gedacht hatte, wollte ihr der Familienstreit vor anderthalb Jahren gar nicht mehr aus dem Sinn.

Es wäre müßig, mit dem Schicksal zu hadern und sich über den frühen Tod erst ihrer Eltern, dann ihrer Großeltern zu beklagen. Verluste waren ihr so vertraut, dass es ihr längst zur zweiten Natur geworden war, in Gedanken immer schon den nächsten Schicksalsschlag vorwegzunehmen.

Am besten schützte man sich, indem man niemanden mehr nah genug an sich heranließ – eine Lektion, die der erfahrene Betrug sie nur noch nachdrücklicher gelehrt hatte. Die Erinnerung, wie sehr sie ihre Verwandten enttäuscht und sich selbst beschämt hatte, machte sie ganz krank. Noch immer hatte sie im Ohr, wie Onkel Denbury seine Schwester angeschrien hatte:

Wie konntest du das geschehen lassen, Josephine? Du warst für sie verantwortlich! Wenn du außer Standes bist, auf sie aufzupassen, hättest du sie mir und Caroline schon vor Jahren überlassen sollen! Aber nein, du wolltest Bens Tochter unbedingt für dich allein haben. Unsere arme kleine Nichte, wir hätten sie gern genommen. Aber gut, weil du keine eigenen Kinder hattest, habe ich mich darauf eingelassen. Was nicht hieß, dass du sie wie eine deiner Freundinnen behandeln solltest, Jo! Sie war doch noch ein Kind!“

„Ach, Edward, nun sei doch nicht so verkrampft. Du klingst wie ein altes Weib. In ihrem Alter ist jedes Mädchen schon mal geküsst worden. Das gehört zum Erwachsenwerden.“

„Es ist aber nicht beim Küssen geblieben, Jo, das weißt du sehr wohl! Der kleine Bastard hat sich sein Schweigen von uns sehr fürstlich bezahlen lassen; weiß der Teufel, wo er jetzt steckt. Es heißt, er sei auf den Kontinent geflohen, nach Frankreich oder Italien.“

„Das tut doch gar nichts zur Sache“, hatte Tante Jo zurückgegeben. „Selbst wenn wir ihn fänden – glaubst du wirklich, ich würde meine Nichte einen nutzlosen Gecken wie ihn heiraten lassen? Ein hübsches Kerlchen ist er ja und auch nicht aus schlechter Familie, aber bei Gott, welch ein Narr. Bildet sich ein, der nächste Lord Byron zu sein! Wahrscheinlich ist sie ihm deshalb verfallen, seinen zerzausten Locken und seinen dummen Versen …“

„Da fragt man sich schon, wie viele junge Damen dieser Benton noch um den Finger gewickelt hat“, knurrte der Earl. „Wenn er jemals eines meiner Mädchen anrühren sollte – aber dazu würde ich es niemals kommen lassen. Diese Katastrophe ist allein dir zur Last zu legen, Schwester. Du hast unseren Bruder schmählich im Stich gelassen; im Grabe würde er sich umdrehen, wenn er wüsste, wie du deine Pflichten an seinem Kinde vernachlässigt hast! Ein feines Vorbild hast du ihr abgegeben! Nun haben wir die Bescherung. Das Mädchen begreift in seiner Naivität doch gar nicht, dass eine Debütantin sich nicht dasselbe erlauben kann wie eine Witwe von dreiundvierzig Jahren. Dass du dich nicht schämst, Jo! Sie ist praktisch ruiniert, und das ist ganz allein dein Werk.“

„Nein, ist sie nicht! Benton ist aus dem Spiel, niemand wird es je erfahren. Und ich weiß wirklich nicht, was mein Alter dabei zur Sache tut, Bruderherz! Das war wirklich nicht nötig. Glaubst du ernsthaft, ich hätte das für sie gewollt? Ich liebe Carissa, als wäre sie mein!“

„Dein was? Dein Schoßhund? Dein kleines Miezekätzchen? Sie ist kein Haustier, Jo, kein Püppchen zum Spielen! Aber was rede ich – das sage ich dir schon, seit das Kind sechs war! Sie ist kein hübsches Beiwerk, passend gekleidet zu deinen feinen Roben, das man nach Lust und Laune herzen und liebkosen und wieder vergessen kann, wenn andere Vergnügungen dich beanspruchen.“

„Wie kannst du es wagen, mich derart zu kritisieren? Ich habe mein Bestes getan, sie großzuziehen – ich bin nun mal nicht ihre Mutter! Und sie hat sich immer noch besser entwickelt als deine verwöhnten Gören!“

„Du erdreistest dich, meine Töchter zu beleidigen?“, hatte er gebrüllt. „Das reicht, Josephine! Das schaue ich mir nicht länger mit an. Deine Torheit hat genügend Schaden bei unserer Nichte angerichtet. Ich werde Carissa mit nach London nehmen, jetzt gleich, und das ist mein letztes Wort! Ich bin ihr Vormund und hätte schon viel früher eingreifen sollen. Dass sie all die Jahre bei dir leben durfte, hast du allein meiner Nachsicht zu danken, und die hast du nun endgültig verspielt!“

Seitdem hatten die Geschwister kein Wort mehr miteinander gewechselt.

Carissa machte sich die größten Vorwürfe, schuld an einem Zerwürfnis diesen Ausmaßes zu sein. Tante Jo war bald darauf zu einer ausgedehnten Grand Tour aufgebrochen, und Lord Denbury hatte Carissa wie angekündigt mit nach London genommen.

Nach einer Strafpredigt, die sie wohl ihr Lebtag nicht vergessen würde, hatte er sie in seinen Haushalt aufgenommen, wo sie nun im Rang eines minderen Familienmitglieds unter seiner Obhut und Führung stand. Jetzt sollte sich noch mal ein Verführer in ihre Nähe wagen!

Immerhin hatte er ihr Geheimnis bewahrt und sorgte für sie, wofür sie vermutlich dankbar sein sollte. Ein abermaliges Abweichen vom schmalen Pfad der Tugend, dessen war Carissa sich deutlich bewusst, während sie die Treppe hinaufeilte, würde ihr Onkel indes nicht tolerieren. Er würde sie auf die Straße werfen, da war sie sich ganz sicher. Oder in irgendein Kloster stecken. Noch immer spürte sie, wie er sie mit Argwohn und Tadel betrachtete. Ihr einziger Trost war, dass er es wirklich keiner Menschenseele verraten hatte, nicht einmal seiner Frau. Aus gutem Grund: Hätte Lady Denbury gewusst, was sich in Brighton zugetragen hatte, würde sie die Nichte niemals unter ihrem Dach geduldet haben. Zu groß wäre die Angst gewesen, das ungeratene Mädchen könne ihr die eigenen Töchter verderben.

Somit wussten außer Carissa nur drei Menschen von ihrer Schande – ihre Tante und ihr Onkel sowie der verlogene Lümmel, der sie so schmählich betrogen hatte. Jede Nacht schickte sie Stoßgebete gen Himmel, dass Roger Benton sich nicht in einem unbedachten Moment seines Erfolgs bei ihr brüsten würde. So war es abgesprochen: eine nicht unbeträchtliche Summe Gold gegen sein Stillschweigen. Ein nettes kleines Auskommen, mit dem er seine literarischen Ambitionen eine ganze Weile würde finanzieren können. Denn zahlen mochte noch immer niemand für seine albernen Verse. Er war eben kein Byron.

Kein Wunder also, dass es sie zutiefst beunruhigte, von Lord Beauchamp durchschaut worden zu sein! Ihre Unschuld war eben nur Fassade, sie wusste es ja selbst. Als sie oben an der Treppe angekommen war und kurz verschnaufte, schwor sie sich bestimmt zum zehnten Mal in fast ebenso vielen Tagen, dass sie ihm künftig aus dem Weg gehen würde. Und an diesen Schwur hielt sie sich auch – bis sie bei der Denbury-Loge angelangte und unschlüssig vor der Tür stehen blieb.

Er könnte sterben.

Wenn sie jetzt durch diese Tür ginge, sich wieder auf ihren Platz setzte und so tat, als sei nichts gewesen, würde am Ende möglicherweise Blut an ihren Händen kleben.

Sein Blut.

Noch ein Verlust. Und dieser ging allein zu ihren Lasten, hatte sie es in ihrem Zorn und ihrem Stolz doch versäumt, ihn vor der Gefahr zu warnen, von der sie wusste.

Ach, verflixt! Sie hätte ihm einfach sagen sollen, was sie gesehen hatte – nicht weil er es verdient hätte, oh nein, sondern weil das Moralgefühl es so verlangte.

Sie schloss die Augen. Oh je, was hatte sie getan? Hatte sie denn gar kein Gewissen? Unschlüssig schaute sie zur Treppe zurück, kaute auf der Unterlippe und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Aber was gab es da zu überlegen?

Sein Leben könnte in Gefahr sein! Du musst ihn finden und ihn warnen!

Und das hättest du eigentlich gleich machen sollen. Jetzt könnte es schon zu spät sein, aber wenigstens versuchen musst du es.

Sie machte wieder kehrt und hoffte inständig, noch rechtzeitig anzukommen.

3. KAPITEL

Dieses Frauenzimmer konnte einem wirklich den letzten Nerv rauben!

Was glaubte sie eigentlich, wer sie war, ihn hier wegen seiner moralischen Verfehlungen zur Rechenschaft zu ziehen – seine Mutter? Wobei seine Mutter ihm in dieser Hinsicht in nichts nachgestanden hatte, aber das nur am Rande, dachte Beau grimmig und marschierte noch immer wutschnaubend durch das weitläufige Foyer des Theaters.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass dieses Mädchen ihn mit Fragen konfrontierte, die man in seinen Kreisen gern galant überging. Fragen der ehelichen Treue beispielsweise und dazu, wer die eigentlichen Leidtragenden der zahlreich wechselnden Amouren waren. Dabei wusste er aus eigener Erfahrung, wie dieser Lieblingssport des ton ganze Familien zerstörte; er hatte selbst mit ansehen müssen, wie die Bürde der Untreue seine Eltern auseinandergebracht hatte.

Daran erinnerte er sich aber nicht gern und schob den Gedanken gleich wieder beiseite. So war eben der Lauf der Welt, und damit zu hadern käme einem Eingeständnis gleich, wie sehr er als Kind unter eben solchem Verhalten gelitten hatte. Von seinem Vater ganz zu schweigen.

„Traue nur deinen Freunden und deinen Pferden, mein Junge“, hatte ein verbitterter Lord Lockwood seinem elfjährigen Erben mit auf den Weg gegeben, als er ihm zu erklären versuchte, warum dessen Mutter fortan allein in London leben würde. Trau einer Frau, und sie reißt dir das Herz entzwei. Willst du einen treuen Gefährten, hatte sein Vater ihm geraten, dann leg dir einen Hund zu.

Verdammt, jetzt war ihm sogar die Lust vergangen, überhaupt noch mit der Duchess zu schlafen, doch Beau hielt an seinem Plan fest. Schon aus Prinzip. Er würde diesen kleinen Rotschopf nicht gewinnen lassen. Mit Groll im Herzen und einer leisen Verwünschung auf den Lippen steuerte er den schmalen Seitengang an, der zu dem diskreten Hinterausgang führte.

Um sich Carissa Portland endlich aus dem Kopf zu schlagen, richtete er seine Gedanken ganz auf das anstehende Rendezvous. Die herrlich verdorbene Duchess of Somerfield müsste gleich hier sein, dann würden sie wie verabredet gemeinsam aufbrechen.

An der Hintertür blieb er stehen, bückte sich und zog aus alter Gewohnheit die Pistole hervor, die er unter der Hose an einem Knöchelholster trug. Er steckte sich die Waffe hinten in den Hosenbund, wo sie zwar auch verborgen, im Bedarfsfall aber schneller zur Hand wäre. Dann stieß er die Tür auf und trat hinaus in die Gasse, wo sie sich treffen wollten. Sie würden die Kutsche der Dame nehmen und an einen Ort ihrer Wahl fahren – wenn sie überhaupt so weit kämen. Für seine Zwecke hätte auch die Kutsche genügt.

Kühle Nachtluft umfing ihn, als die Tür hinter ihm zufiel, aber Beau war froh um die kleine Abkühlung, die vielleicht helfen würde, ihm die frustrierenden Gedanken an Carissa auszutreiben.

Was war das bloß mit ihr? Weshalb kümmerte es ihn überhaupt, was sie von ihm dachte? Er machte einen Schritt hinaus auf die Gasse, und noch ehe seine Augen sich ganz an das Dunkel gewöhnt hatten, löste sich zu seiner Rechten lautlos ein Schatten von der Wand, stürzte sich auf ihn und rammte ihn rücklings gegen die Tür.

Beau blieb kaum Zeit, zu reagieren. Noch ehe er seine Pistole zücken konnte, hatte der Angreifer ihn am rechten Arm gepackt. Es war, als könne der Unbekannte jede seiner Bewegungen vorhersehen. Eine Klinge blitzte silbrig im Mondschein auf und wurde an Beaus Hals gepresst. Dann hörte er eine vertraute Stimme.

„Guten Abend, Sebastian.“

„Nick?“ Beau stand wie versteinert und versuchte nicht mal mehr, sich zu wehren. Ungläubig starrte er seinen lang verschollenen Waffenbruder an. „Du lebst!“

Sofort kam er frei. „Tut mir leid, alter Junge.“ Nick klopfte ihm mit einer kurzen, entschuldigenden Geste auf die Schulter und wich zurück, schien aber noch immer auf der Hut. „Ich war mir nicht sicher, was du so alles über mich gehört hast, und dachte mir, ich gehe lieber auf Nummer sicher. Nicht dass du meinetwegen noch hängen musst.“

„Hängen? Ich war eigentlich hier, um mich flachlegen zu lassen.“

Nick grinste. „Verstehe. Aber da bist du bei mir an der falschen Adresse.“

Langsam wich die Anspannung aus seinem Gesicht, und erleichtert lachte er laut auf. Als Beau den alten Bekannten spontan umarmte, spürte er dennoch, wie seine Gefühle ihm die Kehle zuschnürten. In den Überschwang mischte sich der Schock über das unerwartete Wiedersehen. „Wo zum Teufel hast du gesteckt? Es ist Monate her, dass wir zuletzt von dir gehört haben. Alles in Ordnung bei dir?“

„Mir geht’s bestens.“

„Sicher?“ Beau trat zurück und musterte ihn. Obwohl er außer sich war vor Freude, den Freund seiner Kindertage wohlbehalten wiederzusehen, konnte er sich doch des Gefühls nicht erwehren, dass irgendetwas mit Nick nicht stimmte.

Er sah etwas mitgenommen aus, schien sich seit Tagen nicht mehr rasiert zu haben, und sein schwarzes Haar war lang und ungepflegt. Aber davon abgesehen wirkte er unversehrt.

Beau schüttelte den Kopf. „Was war los bei euch? Wo ist Trevor? Warum habt ihr euch so lang nicht gemeldet?“

„Trevor ist in Sicherheit, keine Sorge“, versicherte Nick ihm. „Er ist in Spanien angeschossen worden, aber auf dem Wege der Besserung.“

„Ach je. Wo ist er getroffen worden?“

„Von hinten in die rechte Schulter. Die Kugel hat ihm das Schlüsselbein gebrochen, aber ich hab ihn aus der Schusslinie gebracht und mich seither um ihn gekümmert. Er kommt wieder in Ordnung.“

Beau starrte angestrengt in die dunkle Gasse vor sich. „Ist er hier?“

„Nein, in seinem derzeitigen Zustand wollte ich ihm unnötigen Ärger ersparen.“

„Ärger?“ Beau sah sich erneut um, diesmal jedoch mit deutlicher Anspannung. Würden sie hier bald auf unliebsame Gesellschaft treffen? „Ist dir jemand gefolgt?“

„Das glaube ich nicht. Pass auf“, sagte Nick, auf einmal ganz ernst, „ich habe das mit Virgil gehört.“

An den Tod ihres Anführers erinnert zu werden, erschütterte ihn noch immer. Beau nickte düster. „Rotherstone ist schon mit seiner Gruppe unterwegs. Sie werden diesen Bastard kriegen, der Virgil auf dem Gewissen hat.“

„Wissen wir, wer es war?“

„Niall Banks“, gab Beau Auskunft.

Nick hob die Brauen. „Malcolms Sohn?“

„Ja … oder eher: Ja und nein. Denn wie es aussieht, war Niall gar nicht Virgils Neffe, sondern sein eigener Sohn.“

„Was?“

„Glaub mir, diese Enthüllung kam für uns alle ziemlich überraschend. Es ist wohl so, dass Virgil und sein Bruder vor Jahren in die gleiche Frau verliebt waren. Ich war nicht dabei“, meinte er schulterzuckend, „aber es sieht wohl so aus, als könnten beide Nialls Vater gewesen sein. Mit Sicherheit wird man es wohl nie wissen.“

„Verdammt.“

„Du sagst es. Während du weg warst, konnten wir Niall gefangen nehmen, und eins kann ich dir versichern – der alte Herr und sein vermeintlicher Neffe sahen sich schon verdammt ähnlich. Außerdem habe ich Virgil nie so missmutig erlebt wie in den Tagen vor seinem Tod.“

Nick schüttelte den Kopf.

„Und Virgils Tod ist längst nicht unser einziges Problem“, fuhr Beau fort und senkte die Stimme. „Drake Parry, der Earl of Westwood – du kennst ihn?“

„Nicht persönlich, aber ich habe von ihm gehört.“

„Alles deutet darauf hin, dass er sich gegen uns gewandt hat. Seine beiden Mitagenten wurden in Deutschland getötet, er selbst gefangen genommen. Gefoltert. Die Prometheusianer müssen ihm derart das Gehirn gewaschen haben, dass er zu einem der ihren geworden ist.“

„Lieber Himmel …“ Nick wirkte aufrichtig betroffen.

„Wenn Rotherstone ihn nicht festsetzen kann, wird man ihn eliminieren müssen.“

„Pech für ihn, aber so ist wohl das übliche Prozedere“, meinte Nick bitter und starrte zu Boden.

Beau nickte. „Ich warte seit Tagen auf eine Nachricht von Rotherstone, in der er uns mitteilt, wie es um Niall oder Drake steht und wann wir seine Gruppe zurückerwarten können. Sowie sie wieder hier sind, wollten wir nach Schottland reisen, um Virgil die letzte Ehre zu erweisen.“ Dann schüttelte er wieder den Kopf, noch immer bis ins Mark erschüttert, seinen Freund hier vor sich zu sehen – lebendig, unversehrt.

Seit Wochen schon hatte er sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. „Um ehrlich zu sein, hatte ich fast damit gerechnet, dass wir dich und Trevor gleich mit betrauern könnten. Mensch, was für eine Wohltat, dich wiederzusehen.“

„Ganz meinerseits, alter Junge. Tut mir leid, dass wir euch so viele Sorgen bereitet haben. Ließ sich leider nicht vermeiden.“

„Was ist denn genau passiert?“, hakte Beau erneut nach, schlug dem Freund dann auf die Schulter. „Weißt du was, warum erzählst du mir nicht alles bei einem Bier?“, schlug er vor. „Meine reizende Begleiterin scheint ja nicht mehr zu kommen“, setzte er trocken hinzu.

Nick lächelte. „Nein, sieht nicht so aus.“

Beau schnaubte. „Danke, das seh ich selbst, du Mistkerl.“

„Keine Ursache.“

„Sollen wir in einen Pub gehen oder lieber nach Dante House …“

„Weder noch. Ich hab nicht viel Zeit.“

Nick wirkte angespannt und rastlos; gerade warf er wieder einen Blick über die Schulter.

„Ah, verstehe“, sagte Beau verhalten. „Dann gib mir die Kurzfassung. Wo warst du? Ich habe überall nach dir und Trevor fahnden lassen.“

„Ich weiß. Genau darüber wollte ich mit dir reden.“ Nick wandte sich wieder um und maß ihn mit hartem Blick. „Ich will, dass du die Suche abbläst, Beauchamp.“

„Wie bitte?“

„Such nicht mehr nach mir.“

„Na gut …“ Beau runzelte die Stirn. „Das brauche ich ja auch nicht mehr. Du stehst hier vor mir. Du bist wohlbehalten zurück und weilst wieder unter uns.“

„Nicht ganz.“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin fertig“, fasste Nick emotionslos zusammen. „Mit dem Orden. Ich steige aus. Und werde nicht zurückkommen.“

„Was?“

„Ich höre auf. Mein Dienst ist abgeleistet. Nach all den Jahren finde ich, dass mir nun endlich mein eigenes Leben zusteht. Der Krieg ist vorbei. Napoleon ist erledigt und die Prometheusianer so gut wie. Zeit für mich, weiterzuziehen. Ich vertraue darauf, dass du mir dabei nicht in die Quere kommst.“

„Weiterzuziehen?“, wiederholte Beau ungläubig, von diesem Gerede noch schockierter als von Nicks unerwartetem Auftauchen. „Und deswegen bis du hergekommen, um mir das zu sagen? Das war alles?“

Aye. Das ist alles.“

„Moment mal“, schroff packte er Nick bei der Schulter, als der sich zum Gehen wandte. „Du weißt verdammt gut, dass es so nicht läuft. Als Agent kannst du nicht einfach ‚fertig‘ sein und aufhören. Du hast den Schwur geleistet. Du bist dem Orden auf Lebenszeit verpflichtet.“

„Sagt wer? Virgil? – Der ist tot.“ Nick warf einen kurzen Blick auf Beaus Hand, mit der er ihn beim Rock gepackt hielt. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Meinem Empfinden nach habe ich genug getan für König und Vaterland. Mehr als genug. Ich will das einfach nicht mehr.“

„Nick, das kann nicht dein Ernst sein.“

„Und ob es das ist! Es wird langsam Zeit, dass ich für mich selbst sorge. Nicht alle von uns wurden mit einem Silberlöffel im Mund geboren, Beauchamp.“

„Verdammt, Nick!“ Alles Blut wich aus Beaus Gesicht. „Du hast wieder gespielt.“

„Wir haben alle unsere Laster. Komm mir hier nicht und spiel den Heiligen, ausgerechnet du! Du und deine ewigen Weibergeschichten. Aber egal. Gut, ich habe ein Problem, aber ich habe auch eine Lösung gefunden. Es soll Menschen da draußen geben, die bereit sind, für jemanden mit meinen Fähigkeiten eine stattliche Summe Gold zu zahlen.“ Er zückte seine Pistole und grinste.

Beau sah ihn entsetzt an. „Du hast dich als Söldner anheuern lassen?“ Und dann kam ihm mit einmal ein neuer Gedanke. Drohend ging er auf Nick zu. „Wo ist Trevor? Wo genau? Er würde das niemals gutheißen. So groß deine persönliche Enttäuschung auch sein mag, er würde den Orden niemals verlassen, das weiß ich. Was hast du mit ihm gemacht?“

„Nun mal sachte …“

„Denn das schwöre ich dir, wenn du ihm etwas zuleide getan hast, dann …“

„Wenn du deine Suche abbläst, hat Trevor auch nichts zu befürchten“, erwiderte Nick ganz sachlich und nüchtern. Er warf ihm einen warnenden Blick zu. „Lass mich einfach gehen, Beau, so ist es für alle am besten. Und vergiss dieses Gespräch gleich wieder. Wenn du willst, erkläre mich einfach für tot, füge mich der Verlustliste des Ordens hinzu. Was kümmert es mich – sehr unwahrscheinlich, dass jemand mich vermissen würde.“

„Nick! Dich für tot erklären?“ Was er in den letzten Minuten gehört hatte, machte ihn so fassungslos, dass es Beau fast die Sprache verschlug. „Hast du den Verstand verloren?“

„Nein, eher mein letztes Hemd. Setz mich auf die Liste der Gefallenen.“ Er nickte knapp. „Doch, das dürfte das Einfachste sein.“

„Ich werde den Orden nicht deinetwegen belügen! Und wenn es dir nur ums Geld geht, könnte ich dir …“

„Nein! Danke für das Angebot, aber … nein. Deine Großzügigkeit in allen Ehren, ich will keine Almosen mehr. Du warst mir immer ein wahrer Freund, Beauchamp. Deshalb bin ich heute hier, ich wollte es dir von Angesicht zu Angesicht sagen.“

Beau hämmerte das Herz in der Brust, als er sein Gegenüber jetzt anschaute. „Mir was sagen? Dass du ein Verräter bist?“

„Nein, ich bin kein Verräter. Ich hab einfach nur den Dienst quittiert.“ Nick klang so matt, als sei er jedes weitere Wort leid.

„Wir sind alle erschöpft, das kannst du mir glauben. Aber wir sind so kurz davor, es zu schaffen! Wenn du nur noch warten könntest, bis …“

„Nein, es hat keinen Zweck. Ich muss jetzt gehen.“ Er wandte sich ab.

„Tut mir leid, Nick, aber das kann ich nicht zulassen.“ Beau zog nun seinerseits die Pistole, spannte den Hahn und zielte auf den Freund. Auch wenn es ihm in der Seele weh tat, keine andere Wahl zu haben.

Autor

Gaelen Foley
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