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England, 1817: Dem Schicksal hat Viscount Darton es zu verdanken, dass er die betörende Charlotte Hobart kennenlernt. Sie ist nicht nur leidenschaftlich und wunderschön, sondern auch edelmütig. Als er erfährt, welch ehrbaren Herzenswunsch sie hegt, weiß er sofort: Diese Frau will er zur Seinen machen. Doch ein teuflischer Plan ihrer geldgierigen Verwandten droht seine Hoffnung auf die große Liebe zu zerstören


  • Erscheinungstag 13.04.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767013
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Anfang 1817

Gedankenvoll beobachtete Charlotte Hobart, wie die Trauergäste in ihre Kutschen stiegen und abfuhren. Nicht viele Leute waren zur Beerdigung ihres Schwiegervaters, Sir William Hobarts, gekommen, denn der greise Gentleman hatte die meisten seiner Bekannten und Freunde überlebt und Easterley Manor die letzten vier oder fünf Jahre nicht mehr verlassen. Solange seine Gesundheit es zuließ, war er auf seinem Land spazieren gegangen, das sich in der einen Richtung fast bis zu der kleinen Ortschaft Parson’s End, in der anderen bis zu dem Leuchtturm auf den Klippen erstreckte. Der Baronet hatte zum Schluss das Leben eines Einsiedlers geführt und nur noch äußerst selten Besuch empfangen.

„Ein trauriger Tag, Mrs. Hobart.“

Die Stimme des Pastors unterbrach Charlotte in ihren Gedanken. Sie wandte den Blick von dem regennassen Vorplatz ab, auf dem sich gerade die letzte Kutsche in Bewegung setzte, und sah Mr. Fuller ruhig an. „Ja, Reverend. Ich vermisse Sir William sehr.“

„Was werden Sie jetzt tun?“ Peter Fuller war ein auffallend großer Mann, den man seiner hageren Gestalt wegen leicht mit einem seiner halb verhungerten Gemeindemitglieder hätte verwechseln können. Charlotte fragte sich, ob er seine Lebensmittelvorräte nicht zu großzügig an die Bedürftigen verteilte, und sie wollte nicht wissen, wie oft er auf den Zehnten eines Bauern verzichtete, wenn dieser in eine missliche Lage geraten war. Sie hielt den Reverend für einen wahren Christen und arbeitete gern mit ihm zusammen, wenn es darum ging, die Not der Armen im Dorf zu lindern und den Kindern der Bedürftigen ein wenig Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen zu erteilen.

„Wie meinen Sie das, Reverend?“

„Nun, Madam, Ihr Schwiegervater war hochbetagt. Sicherlich werden Sie sich schon lange Gedanken darüber gemacht haben, wie es nach seinem Tod weitergehen soll. Er hat einen zweiten Sohn, der ohne Zweifel bald eintreffen wird, um sein Erbe anzutreten.“

„Mein Schwager wurde von seinem Vater nach Indien geschickt, wie Sie bestimmt wissen, Reverend. Hier im Dorf kann man ja nichts geheim halten.“ Cecil Hobart, Sir Williams jüngster Sohn, galt als das schwarze Schaf der Familie. Bereits in jungen Jahren hatte er dem Glücksspiel gefrönt und den Vater durch sein verantwortungsloses Handeln mehrfach in die Verlegenheit gebracht, seine Spielschulden begleichen zu müssen. Irgendwann hatte Sir William einen Schlussstrich gezogen und Cecil auf einem Schiff der Ostindien-Handelsgesellschaft in die ferne Kolonie geschickt. Zu jenem Zeitpunkt war Cecils älterer Halbbruder Grenville, Charlottes Ehemann, noch am Leben gewesen, und die Verbannung des jungen Taugenichts hatte im Hinblick auf die Erbfolge keinerlei Auswirkungen nach sich gezogen. Leider war Grenville 1809 in Portugal gefallen und hatte sie als Witwe mit zwei kleinen Töchtern zurückgelassen.

Selbst nach dem Tod ihres Gatten war Sir William nicht bereit gewesen, seinen jüngsten Sohn, den letzten männlichen Erben in der Familie, nach England zurückzurufen. Charlotte hatte weiterhin mit ihren Töchtern auf dem Hobart’schen Anwesen gelebt und das Herrenhaus mit lobenswerter Tüchtigkeit geführt. In den vergangenen zwei Jahren war sie ihrem gebrechlichen Schwiegervater eine fürsorgliche Tochter und Krankenpflegerin gewesen und hatte überdies die Aufgaben einer Haushälterin übernommen.

„Sobald er erfährt, dass sein Vater verstorben ist, wird er umgehend nach Hause kommen“, wiederholte Mr. Fuller seine Warnung. „Und falls er sich nicht geändert hat …“ Der Pastor zögerte und fragte sich, wie weit er gehen durfte. Cecil Hobarts Ruf war dergestalt, dass man um die Ehre einer jeden Dame fürchten musste, die unter seinem Dach lebte. Charlotte Hobart ging auf die dreißig zu, doch sie wirkte erheblich jünger. Sie war eine bemerkenswert attraktive Frau, die sich ein gewisses Maß an Arglosigkeit bewahrt hatte und mehr das Gute denn das Schlechte in den Menschen sah. Aus diesem Grund würde es für einen skrupellosen Mann ein Leichtes sein, ihren guten Ruf zu gefährden.

Mrs. Hobart sah ihn nachdenklich an. Ihre sanften blaugrünen Augen spiegelten die Trauer um den Verlust des Menschen wider, den sie wie einen Vater geliebt hatte. Sie wusste, dass ihr ruhiges, wohlgeordnetes Leben unweigerlich vor einer Wende stand; solange der Kummer jedoch an ihr zehrte, wollte sie nicht darüber nachdenken. Zurzeit sah sie sich lediglich in der Lage, die täglichen Pflichten zu bewältigen und sich um ihre Töchter zu kümmern. „Ich habe Cecil bereits vor einigen Wochen geschrieben, als ich einsehen musste, dass es mit Sir William zu Ende geht“, sagte sie. „Ich wusste, dass mein Schwiegervater ihn wiederzusehen wünschte, bevor er starb, obwohl sie einander fremd geworden waren. Leider sollte es nicht mehr dazu kommen, aber ich gehe davon aus, dass Cecil längst auf dem Weg nach England ist. Bis er in Parson’s End eintrifft, werde ich mich wie gehabt um alles kümmern. Vielleicht ist es ihm recht, dass wir unser gewohntes Leben in Easterley Manor fortführen.“

„Und wenn es ihm nicht recht ist? Haben Sie keine Familie, zu der Sie zurückkehren könnten?“

„Nein, abgesehen von Lord Falconer, den ich persönlich nicht kenne. Er ist der Onkel meiner Mutter. Als sein Bruder, mein Großvater, verstarb, erbte er den Titel. Er und Mama haben sich zerstritten, als sie und Papa heiraten wollten, und er verkündete, er breche den Kontakt zu ihr ab.“ Charlotte lächelte flüchtig. „Seine grässlichen Warnungen, sie werde es bitter bereuen, einem völlig unbedeutenden irischen Kapitän das Jawort zu geben, entbehrten jeder Grundlage. Meine Eltern waren sehr glücklich miteinander, bis zu dem Tag, an dem Papa in der Schlacht von Trafalgar ums Leben kam. Meine Mutter erkrankte an einem Fieber und folgte ihm weniger als ein Jahr später ins Grab. Lord Falconer hat uns damals nicht einmal sein Beileid ausgesprochen, und das, denke ich, besiegelte den Bruch. Ich war bereits mit Grenville vermählt …“ Sie verstummte betrübt, entsann sie sich doch lebhaft, wie verzweifelt und verzagt sie gewesen war, als sie vor acht Jahren die Nachricht erhalten hatte, ihr Mann habe in Spanien sein Leben für das Vaterland gelassen. Da ihre Eltern noch nicht lange verschieden waren, traf sie die Kunde umso schwerer. Zum Glück hatte Sir William sie und die Kinder väterlich unter seine Fittiche genommen und ihnen über die schwere Zeit hinweggeholfen. Und jetzt weilte auch er nicht mehr unter den Lebenden. Niemals zuvor hatte Charlotte sich so einsam gefühlt wie in den letzten Tagen.

„Ich verstehe Sie, Madam, dennoch bitte ich Sie inständig, Ihrem Verwandten zu schreiben. Die vielen Jahre, die vergangen sind, mögen ihn versöhnlich gestimmt haben, und es könnte sein, dass Sie auf seine Hilfe angewiesen sind.“

Charlotte lächelte müde. „Ich danke Ihnen für Ihre Sorge und Anteilnahme, Reverend, aber ich werde nicht mit der Mütze in der Hand bei jemandem vorsprechen, der mein Dasein bis zum heutigen Tag nicht zur Kenntnis nehmen will. Übrigens möchte ich Parson’s End nicht verlassen, denn mich binden Verpflichtungen an diesen Ort. Und ich kann Easterley Manor nicht einfach den Rücken kehren, wenn unsere Dienstboten keine Aussicht auf einen neuen Posten haben. Außerdem vertrauen meine Schüler darauf, dass ich sie weiterhin unterrichte.“

Um nach Grenvilles Tod nicht in Schwermut zu versinken, hatte Charlotte den Entschluss gefasst, eine Schule für die Dorfkinder zu gründen, und was sie als Trost für ihr trauerndes Herz begonnen hatte, war bald zu einer Aufgabe geworden, der sie mit Leidenschaft nachging. Es beglückte sie zu sehen, welch große Fortschritte ihre kleinen Schüler im Unterricht machten und wie bereitwillig sie lernten.

„Das mag so sein.“ Mr. Fuller lächelte nachsichtig. „Wenn allerdings die Dinge eine unerträgliche Wendung nehmen, sollten Sie weniger an andere als an sich selbst denken, meinen Sie nicht auch?“

„Es gibt keinen Anlass, so schwarzzusehen, nur weil mein Schwager sein Erbe antritt und nach Easterley Manor zurückkehrt. Überdies sind Fanny und Lizzie durch den Verlust ihres Großvaters so aufgewühlt und fassungslos, dass es eine Zumutung für sie wäre, ihnen das einzige Zuhause zu nehmen, das sie haben.“

Der Reverend hatte Mrs. Hobart seinen Standpunkt dargelegt, und angesichts ihrer Reaktion blieb ihm nur noch, sich zu verabschieden. Er würde weiterhin väterlich auf sie achtgeben, mehr vermochte er vorerst nicht für sie zu tun.

Easterley Manor war ein altes Gemäuer mit unregelmäßig geschnittenen Räumen, unebenen Fußböden und schweren, wuchtigen Möbeln, die seit Generationen ihren festen Standort im Hause hatten. Einige Zimmer indes, so etwa Charlottes Boudoir und der große Salon, waren mit hellem, modischem Mobiliar und farbenfrohen Stoffen ausgestattet. Charlotte liebte das Zusammenspiel von neuem und altem Inventar; sie mochte den großen Kamin in ihrem Schlafzimmer ebenso gern wie die geräumigen Geschirrschränke und Kommoden und die hohen Fenster, die eine herrliche Aussicht auf den Garten boten. Auf der einen Seite durch kleinwüchsige, knorrige Kiefern, auf der anderen durch die Klippen begrenzt, war die Anlage in einem tadellos gepflegten Zustand. Charlotte fühlte sich wohl in Easterley Manor und wollte das Gut nicht verlassen.

Sir William war in den vergangenen zwei Jahren an sein Bett gefesselt gewesen, doch ohne ihn mutete das Haus jetzt leer an. Der vornehme, viel bewunderte Baronet hatte als strenger, aber gerechter Arbeitgeber gegolten, über den selbst die Dienstboten nur Gutes zu berichten wussten. Da er Charlotte sein uneingeschränktes Vertrauen geschenkt und ihr die Verantwortung über das Haus übertragen hatte, war die Dienerschaft ihr ergeben und befolgte ihre Anweisungen, als sei sie die Herrin von Easterley Manor. So würde es auch bleiben, bis der Titelerbe in Erscheinung trat; wie es dann allerdings weitergehen sollte, wusste sie nicht. Der Reverend hatte nichts angesprochen, was ihr nicht längst selbst durch den Kopf gegangen war.

Cecil Hobart stammte aus der zweiten Ehe des verstorbenen Baronet und war einige Jahre jünger als Grenville. Charlotte kannte ihn kaum, wusste indes, dass die Halbbrüder Meinungsverschiedenheiten gehabt hatten und sich lieber aus dem Weg gegangen waren. Cecil hatte sich nur dann in Easterley Manor blicken lassen, wenn er wieder einmal Geld benötigte, um seine Spielschulden in London zu begleichen.

„Zehntausend Guineas schuldet er seinen Gläubigern“, hatte Grenville ihr später erzählt, nachdem Cecil und sein Vater im Streit geschieden waren. „Und es besteht keine Hoffnung, das Geld zurückzubekommen. Vater droht, diesmal nicht zu helfen, aber er wird nicht zulassen, dass sein Sohn in den Schuldturm kommt. Er wird die Gläubiger zufriedenstellen und Cecil trotz der wenig erfreulichen Vorkommnisse eine angemessene Apanage zubilligen, solange er in Indien ist.“

„Dein Vater will ihn nach Indien schicken?“, hatte sie nachgefragt.

„Ja, für unbestimmte Zeit. Solange Cecil ihm nicht glaubhaft machen kann, dass er ein anderer Mensch geworden ist, wird Vater ihn nicht in Easterley Manor willkommen heißen. Dass Cecil sich ändert, halte ich allerdings für unwahrscheinlich.“

„Was wird geschehen, wenn dein Vater … wenn Sir William stirbt?“

„Dann, meine Liebe, geht die Verantwortung für die Familie und das Anwesen auf mich über. Ich werde ganz nach den Wünschen meines Vaters verfahren.“

Damit hatten sie das Thema beendet, ohne zu ahnen, dass Grenville sich im Jahr 1809 dem unglückseligen Feldzug nach Spanien anschließen und bereits wenige Monate später an General Moores Seite in Corunna fallen würde. Charlotte, damals Mutter der dreijährigen Elizabeth und der dreizehn Monate alten Frances, hatte ihn inständig gebeten, nicht zu gehen, da er als Erbe seines Vaters nicht verpflichtet gewesen wäre. Grenville jedoch, eingenommen von einem starken Pflichtgefühl und Abenteuerlust, hatte geglaubt, er sei unverwundbar.

Er war nicht zurückgekehrt. Der Verlust seines Sohnes und Erben traf Sir William so schwer, dass er sich nicht wieder davon erholen sollte. Obwohl sie einander in diesen Zeiten viel Trost spendeten, war der Baronet immer häufiger von geistiger Verwirrung befallen worden, und seine Kräfte hatten zusehends abgenommen.

Frances und Elizabeth hörten, dass die Mutter ins Haus zurückkam, und eilten in die Eingangshalle. Während die Trauergäste verabschiedet worden waren, hatte die Köchin sich um sie gekümmert und ihnen als kleinen Trost Zuckerpflaumen zubereitet. Die beiden Mädchen liefen auf die Mutter zu und schmiegten sich zärtlich an sie.

„Kommt, ihr Lieben, heute nehmen wir den Tee im Kinderzimmer“, erklärte Charlotte den Kindern. „Die Dienstboten sollen Gelegenheit haben, hier unten Ordnung zu schaffen, nachdem nun alle wieder fort sind. Oben wird es ruhiger sein. Und nach dem Tee können wir unser Fragespiel spielen, bevor ihr zu Bett geht.“

„Werden wir Großpapa niemals wiedersehen?“, wollte Frances wissen. „Niemals?“

Charlotte sah ihre Jüngste nachdenklich an. Eine ehrliche Antwort würde den Kummer des Mädchens nur vergrößern.

Elizabeth sprang für die Mutter ein. „Natürlich nicht, denn er liegt jetzt unter der Erde. Aber Miss Quinn sagt, er wird nicht dort bleiben, sondern in den Himmel kommen, wo wir uns vielleicht wieder begegnen, wenn es an der Zeit ist, dass wir ebenfalls gehen.“ Sie seufzte tief. „Sie sagt allerdings auch, dass es viele, viele Jahre dauern wird, bis wir selbst so alt sind wie Großvater.“

Charlotte umfing ihre Töchter – das einzige Vermächtnis ihres gefallenen Mannes. Sie verfügte über eine bescheidene Rente, die anlässlich ihrer Vermählung für sie festgelegt worden war, doch das Geld, das sie im Lauf der Jahre angespart hatte, war weitgehend durch die Ausgaben für die Armen im Dorf aufgezehrt worden. Bis der neue Baronet dafür Sorge tragen würde, ihr und den Kindern ein Heim zu geben und dem Vorbild seines Vaters zu folgen, befanden sie sich in einer ernsten Notlage.

Der alte Sir William, der nicht davon ausgegangen war, seinen Erben vorzeitig zu verlieren, hatte sein Testament vor vielen Jahren zu Grenvilles Lebzeiten gemacht, als Cecil sich längst in Indien befand. Sämtliche Liegenschaften sollten an den älteren Sohn übergehen, denn der jüngere hatte seinen Anteil nach Ansicht Sir Williams verspielt und erhielt eine ausreichende Apanage. Das Interesse des Baronet galt seinen Enkelkindern – auch jenen, die noch geboren würden. Daher hatte er sein veräußerliches Vermögen, welches treuhänderisch verwaltet wurde, vor allem Elizabeth und Frances zugedacht. Dies war allerdings ein ungewöhnliches Vermächtnis, und Charlotte fragte sich, ob es vor dem Gesetz bestehen würde. Natürlich hatte sie nicht vor, die Verfügung anzufechten, da schließlich die Mitgift ihrer Töchter und damit deren sichere Zukunft auf dem Spiel standen.

„Kommt, lasst uns hinaufgehen“, forderte sie die Mädchen auf, nahm sie bei den Händen und gesellte sich zu Miss Quinn, Zofe und Gouvernante in einer Person, die oben im ersten Stock den Tee bereithielt.

Bei „White’s“ herrschte mehr Unruhe als gewöhnlich. Vier Männer, die an einem Tisch im Kartensaal saßen, hatten zu viel getrunken und wurden allmählich laut. Stacey Harding, Viscount Darton ließ sich auf einem etwas abseits stehenden Sessel nieder und beobachtete die Runde. Das Gesicht des einen Spielers kam ihm vage bekannt vor; so angestrengt er indes darüber nachdachte, sein Name wollte ihm nicht einfallen. Der junge Mann war untersetzt und hatte einen auffallend dunklen Teint. Er trug einen schwarzen Gehrock und wadenlange graue Pantalons, die mindestens zwei Jahre aus der Mode waren. Sein Krawattentuch hing schlaff herab, und seine Frisur war unordentlich. Obwohl weder sein Benehmen noch seine äußere Erscheinung einen Gentleman erkennen ließen, musste er einen guten Ruf oder sonstige überzeugende Referenzen vorzuweisen haben, andernfalls wäre ihm der Eintritt in den vornehmen Herrenclub verwährt geblieben.

Seine Begleiter, alle drei junge Gecken, wirkten gepflegter. Sie schienen den Kartensaal aufgesucht zu haben, um einen Mann vom Lande – denn seine Erscheinung ließ keinen anderen Schluss zu – bis auf den letzten Penny zu schröpfen; jeder der drei hatte einen Stapel Münzen und Schuldscheine neben sich liegen.

Gerade warf der unordentlich Gekleidete sein Blatt auf den Tisch. „Ich bin draußen, Gentlemen. Ihr werdet doch einen weiteren Schuldschein von mir akzeptieren, nehme ich an?“

„Noch einen, Cecil?“, fragte einer seiner Spielpartner gedehnt. Er war groß und mager, und sein eingefallenes Gesicht wurde von strähnigem dunklem Haar umrahmt. „Woher wissen wir, dass wir jemals unser Geld bekommen?“

Cecil lachte. „Keine Sorge, Roly, mein Freund. Mein verehrter Vater ist heute zu Grabe getragen worden – und ich bin sein einziger lebender Nachkomme.“

„Gütiger Gott! Hättest du der Beerdigung nicht beiwohnen müssen?“

„Weshalb? Er wollte mich zu seinen Lebzeiten nicht um sich haben, warum also sollte es mich scheren, dass er tot ist?“

„Dann bist du am Ende zu einer ansehnlichen Erbschaft gelangt?“, erkundigte sich ein anderer verblüfft und musterte Cecil unter dichten schwarzen Brauen hervor. Er war kleiner und breiter als der erste Redner und hatte ein rötliches Gesicht.

„Ja, aber ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr es nicht überall herumerzählen würdet, Gus, sonst stehen die Gläubiger vor meiner Tür, bevor ich mich aus dem Staub gemacht habe.“ Er lachte bellend. „Nicht, dass ich vor euch das Weite suchen würde.“

„Oh, du beabsichtigst also, dich schon bald aufs Land zurückzuziehen?“

„Natürlich. Ich werde mein Erbe antreten und meinen Besitz in Augenschein nehmen, obwohl ich nicht weiß, was mich erwartet. Aus dem, was ich hörte, muss ich nämlich schließen, dass mein Vater in den letzten Jahren nicht mehr alle Sinne beisammenhatte.“ Er lachte wieder. „Meine Schwägerin kümmert sich um das Haus. Ihr Mann, mein Halbbruder, ist seit Jahren unter der Erde.“

„Und wie ist sie so, deine Schwägerin?“

„Nun ja, man könnte sie hübsch nennen – zumindest war sie es früher –, aber ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Und sie hat zwei Gören – Mädchen –, was günstig für mich ist wegen der Erbfolge. Ich werde sie baldmöglichst vor die Tür setzen.“ Er lachte in sich hinein. „Es sei denn, sie ist es wert, dass ich sie bei mir behalte. Man weiß ja nie …“

„Was, wenn sie wieder geheiratet hat?“

„Dann fliegt sie hochkant hinaus, samt ihrem Gemahl. Ich dulde doch keine Schmarotzer in meinem Haus!“

„Ich finde, du könntest ein paar Beschützer gebrauchen, Cecil“, warf ein anderer der jungen Stutzer ein. „Was würdest du sagen, wenn wir dich begleiten?“

Lord Darton musste lächeln. Er wusste, dass diesen Männern weniger daran gelegen war, ihren Spielpartner zu beschützen, als an das Geld heranzukommen, das er ihnen schuldete.

Cecil zuckte bemüht gleichmütig die Achseln. „Wenn es euch beliebt – aber seid gewarnt: Das Anwesen liegt an der Küste Suffolks, am Ende der Welt, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.“

„Oh, wir werden schon ausreichend Unterhaltung finden.“

Angesichts dieser Neuigkeiten grübelte der Viscount ein weiteres Mal über die Frage nach, wo ihm der Mann, der sich Cecil nannte, über den Weg gelaufen war. Das unbestimmte Gefühl, dass jemandes Blick auf ihm ruhte, lenkte ihn jedoch von seinen Gedanken ab, und er drehte sich um. Tatsächlich kam ein ihm wohlbekannter Gentleman strahlend auf ihn zu.

„Stacey Harding, wie ich mich freue, dich wiederzusehen!“, sagte der auffallend große, breitschultrige Mann und streckte die Hand aus, als sein Gegenüber sich erhob, um ihn zu begrüßen.

„Topham, mein Freund, ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist.“ Stacey hatte Lieutenant Gerard Topham in Spanien kennengelernt und bis zum Ende des Krieges Seite an Seite mit ihm im gleichen Regiment gekämpft. Seitdem verband sie eine enge Freundschaft.

„Ich hätte auch nicht damit gerechnet, dich in London zu treffen. Ich dachte, du bist bei deiner Familie auf dem Lande.“

„Ich brauchte eine Atempause.“

Der Lieutenant lachte, winkte einen Kellner herbei, um Wein zu bestellen, und setzte sich in den Sessel neben dem seines Freundes. „Du bist erst sechs Monate zurück und brauchst bereits eine Atempause? Gefällt dir das Leben eines Zivilisten etwa nicht, Darton?“

Der Viscount nahm ebenfalls Platz und vergaß die lärmenden Kartenspieler. „Das Leben eines Zivilisten zu führen ist nicht unangenehm, aber einigermaßen langweilig; und was meine Familie anbelangt – das ist ein schwieriges Thema. Mein Vater liegt mir wegen der Erbfolge in den Ohren, er wünscht sich einen Enkelsohn. Und meine Tochter … ach, reden wir nicht von ihr. Erzähl mir lieber, was dich in die Hauptstadt führt.“

Topham nahm den Wein entgegen, den ihm der Kellner auf einem silbernen Tablett servierte. „Nach alldem, was wir in Spanien erlebt haben, ist es auch mir schwergefallen, mein altes Leben als Zivilist wieder aufzunehmen. Ich fühlte mich nutzlos, und so kam ich darauf, dem Zollamt meine Dienste anzubieten …“

„Dem Zollamt? Ist es nicht unter deiner Würde, an einem Behördenschreibtisch zu arbeiten, nachdem du wie ein Held gekämpft hast in Spanien?“

„Ich bin nicht direkt für das Zollamt tätig, sondern greife der Küstenwache unter die Arme, um den Schmuggel einzudämmen.“

Der Viscount nickte bedächtig. Mit den Kriegen gegen Napoleon hatte der Schwarzhandel einen beängstigenden Aufschwung genommen. Neue Wege und Möglichkeiten taten sich auf, Schmuggelgut ins Land oder von den britischen Inseln auf den Kontinent zu schaffen: Französische Kriegsgefangene schleusten unverzollte Ware nach England, englische Spione wiederum brachten bestimmte Güter nach Frankreich, und seit die französische Wirtschaft ins Schlingern geraten war, schnellte der Wert der Guinea in die Höhe. Wenn die Berichte, die man in der Zeitung las, der Wahrheit entsprachen, stand die englische Währung noch immer hoch im Kurs und mit ihr die Schmuggelei. Um des überhandnehmenden Schwarzhandels Herr zu werden, hatte man schließlich die Küstenwache ins Leben gerufen.

„Schmugglern das Handwerk zu legen macht dich gewiss nicht beliebt bei den Leuten“, griff Stacey das Gespräch wieder auf. „Die meisten Menschen haben gegen den Schwarzhandel nichts einzuwenden und nehmen die Waren, die illegal ins Land kommen, gern an.“

„Das mag sein, aber Schmuggler sind alles andere als harmlose Gesellen, die den Leuten bezahlbaren Komfort liefern und niemandem ein Haar krümmen, wie wir als behütet aufgewachsene Menschen vielleicht annehmen. Bei vielen von ihnen handelt es sich um entlassene Soldaten ohne Arbeit, die vorzüglich mit Feuerwaffen und explosiven Stoffen umzugehen wissen und geschickt darin sind, sich unbemerkt fortzubewegen – Kenntnisse, die sie während des Militärdienstes erworben haben. Die meisten von ihnen schrecken nicht davor zurück, jemanden, der ihnen im Weg steht, umzubringen. Und auch der Schaden, den sie ihrem Land zufügen, ist enorm. Sie zu schnappen ist ein schwieriges Unterfangen, doch da ich Herausforderungen liebe, bin ich mit von der Partie. Morgen reise ich wieder ab, um an der Ostküste entlangzupatrouillieren und Informationen darüber zu sammeln, wann und wo das nächste Schiff mit Konterbande anlegen wird. Begleite mich, wenn du möchtest.“

Für einen Moment war Stacey versucht, das Angebot anzunehmen, aber dann entsann er sich seiner Verpflichtungen und lächelte wehmütig. „Ich fürchte, ich kann nicht mitkommen. Ich muss nach Malcomby Hall zurück.“

„Um dir Vorhaltungen machen zu lassen?“

Der Viscount lachte. „Davon gehe ich aus. Mein Vater drängt mich, endlich wieder zu heiraten. Er ist der Meinung, dass ich lang genug Witwer gewesen bin und meine Tochter eine Mutter braucht. Was Julia anbetrifft – sie ist durch und durch von ihren Großeltern verzogen worden. Ich werde ihre Erziehung in die Hand nehmen und mich um sie kümmern müssen.“

„Du scheinst nicht sehr erfreut über die Aussicht.“

„Sie ist mir fremd geworden und gebärdet sich mir gegenüber mit höflicher Gleichgültigkeit, so, als sei ich ein Besucher, der die Gastfreundschaft des Hauses längst überstrapaziert hat. Das ist verständlich, bedenkt man, dass ich bereits bevor sie zur Welt kam, der Armee beitrat, und wir uns nur selten gesehen haben. Meine Frau stellte fest, dass sie guter Hoffnung war, als ich mit meinem Regiment nach Indien versetzt wurde. Wegen ihres Zustandes und aus Angst vor dem Klima lehnte sie es ab, mich zu begleiten. Ihre Konstitution war leider nicht sehr robust, und sie verstarb, wie du weißt, bei Julias Geburt …“

Topham seufzte. „Das tut mir leid, mein Lieber. Du bist also nach London gekommen, um dir eine neue Gemahlin zu suchen?“

„Ich kann nicht behaupten, dass die Wünsche des alten Herrn auch meine sind. Nein, ich bin aus anderen Gründen hier. Die Saison hat noch nicht begonnen, und selbst wenn, ich verspüre kein Interesse an einer der Debütantinnen, die der Gesellschaft präsentiert werden. Meist sind diese Mädchen viel zu jung und oberflächlich. Falls ich wieder heirate, will ich eine Frau meines Alters oder eine, die vielleicht etwas jünger ist, damit ich unter Umständen meinem Vater den Wunsch nach einem männlichen Erben erfüllen kann. Sie sollte ein Mindestmaß an Intelligenz besitzen, gesunden Menschenverstand an den Tag legen, und natürlich müssen wir einander ein wenig zugeneigt sein. Indes halte ich es für unwahrscheinlich, dass eine solche Kandidatin im Londoner ton zu finden ist. Es wäre ohnehin kein leichtes Unterfangen, denn selbst wenn eine Frau für mich infrage käme, müsste sie meine widerspenstige Tochter mit in Kauf nehmen. Und im Augenblick würde ich Julia niemandem zumuten wollen.“

„Sie wird doch nicht so unerzogen sein, wie du anzudeuten versuchst!“

„Leider übertreibe ich nicht. Sie ist ein Wildfang erster Güte, reitet im Herrensattel, schießt, fischt und jagt, als sei sie ein Junge. Ich wünschte fürwahr, sie wäre einer, dann könnte ich stolz auf ihre Fertigkeiten und ihr Temperament sein. Julia hat nichts an sich, was sie als eine junge Dame auszeichnen würde, und das ist angesichts ihrer dreizehn Jahre äußerst beklagenswert.“

„Wenn sie in die Gesellschaft anderer junger Damen käme, würde sich das rasch ändern. Schick sie auf eine Schule für höhere Töchter.“

„Das ist meine Absicht. Aber bislang habe ich leider keine Einrichtung gefunden, die bereit wäre, Julia aufzunehmen. Da sie Malcomby Hall nicht verlassen möchte, benimmt sie sich absichtlich unflätig, wenn wir uns irgendwo vorstellen. Keine einzige Schulleiterin hat uns bislang in Aussicht gestellt, das Mädchen zu akzeptieren. Mein Vater ist in dieser Hinsicht auch keine große Hilfe. Er lässt Julia bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit ihren Willen und erzählt mir, er brauche sie in seiner Nähe und könne sie nicht entbehren.“ Stacey musste lachen. „Gewiss möchtest du nichts über unseren Familienzwist hören. Lass uns zusammen dinieren und uns über alte Zeiten und Schmuggler unterhalten – Hauptsache nicht über Frauen und Kinder. Du bist sicher noch immer Junggeselle?“

„Ja, und wenn deine Erfahrungen beispielhaft sind, bin ich froh darüber.“ Topham drehte sich um, als die Gruppe angetrunkener Kartenspieler sich von ihren Plätzen erhob. „Was ist nur aus dem ‚White’s‘ geworden, dass man solche Leute zur Tür hereinlässt. Weißt du, wer diese Rüpel sind?“

„Nein“, erwiderte Lord Darton. „Der braun gebrannte Mann mit der Narbe auf der Wange kommt mir bekannt vor, auch wenn ich ihn nicht einordnen kann. Gerade als du kamst, verkündete er seinen Spielpartnern, sein Vater sei verstorben und er trete in Kürze sein Erbe an. Bedeutet dies, dass er zu Titel und Vermögen gelangt, erklärt sich, weshalb man ihm Eintritt in den Club gewährte.“ Stacey sah den jungen Stutzern nach, wie sie wankend und aneinander Halt suchend den Saal verließen. „Er sagte, der Landsitz, den er in Suffolk zu übernehmen beabsichtigt, werde von seiner verwitweten Schwägerin geführt“, fuhr er fort. „Er will sie und ihre Kinder kaltblütig vor die Tür setzen. Kein Gentleman würde so etwas tun oder so respektlos über eine Familienangehörige sprechen wie er. Wer auch immer die Frau sein mag – sie tut mir aufrichtig leid.“

Gegen zwei Uhr in der Frühe kehrte Lord Darton nach Malcomby House in die Duke Street zurück, der Stadtresidenz seiner Eltern. Sein Entschluss stand fest: Ab sofort wollte er seine väterlichen Pflichten ernst nehmen und mehr Zeit mit Julia verbringen. Er musste sich allerdings eingestehen, dass er nichts von Kindererziehung verstand, und erst recht sah er sich nicht imstande, die Seele eines Mädchens zu ergründen, das allmählich zur Frau heranreifte. Wenn doch nur Anne-Marie noch am Leben wäre, dachte er seufzend und rief sich das Bild seiner verstorbenen Gemahlin vor Augen. Es löste nicht mehr in ihm aus als Bedauern darüber, dass Julia ohne Mutter aufwachsen musste. Anne-Marie und er waren nur achtzehn Monate verheiratet gewesen, bevor sie im Wochenbett verstarb. Sie hatten eine Vernunftehe geführt, arrangiert von seinen Eltern, denen die junge Dame als die ideale Ehefrau für ihn erschienen war. Da Anne-Marie indes gerade erst das Schulzimmer verlassen hatte und es ihr an geistiger Tiefe mangelte, hatten sie sich vom ersten Tag an nicht viel zu sagen gehabt. Sie war hinsichtlich der Pflichten einer Ehefrau völlig ahnungslos gewesen, und sobald sie gewusst hatte, dass sie ein Kind erwartete, war sie ihm ganz aus dem Weg gegangen, um die meiste Zeit des Tages damit zu verbringen, sich zu pflegen und Süßigkeiten zu naschen. Wer konnte ihm verübeln, dass er zu den Fahnen geeilt und nach Indien gegangen war?

Später, nach einem kurzen Urlaub daheim, hatte er den Einberufungsbefehl nach Spanien erhalten, um dann nach Jahren beim Militär zu seiner schwierigen Tochter heimzukehren – Freudvolles hatte ihn daheim nicht erwartet. Allerdings wunderte er sich wenig über Julias Verhalten; hätte er sie nicht so lange Zeit allein gelassen, würde sie ihn kaum wie einen Fremden behandeln. Aus diesem Grund hielt er es für ungünstig, ausgerechnet jetzt eine neue Frau heimzuführen, denn dann müsste Julia gleich mit zwei fremden Menschen zurechtkommen, und damit wäre das Mädchen gewiss überfordert.

Er schüttelte den Kopf. Es half alles nichts: Im Laufe des morgigen Tages musste er nach Hause fahren und zusehen, dass er seinen Pflichten als Vater nachkam. Alles Weitere würde sich finden.

Über Nacht verflüchtigte sich die Kälte, und es hörte auf zu regnen. Die Sonne schien durch den feinen Dunst, und zahlreiche Pfützen übersäten die Straßen.

Lord Darton verbrachte den Morgen in „Jackson’s Emporium“ in der Bond Street, um seine Boxkünste zu verfeinern, und den Nachmittag bei „Tattersall’s“, da er erwog, ein weiteres Pferd für sich zu erstehen. Gegen sechs Uhr kehrte er in das Stadthaus zurück, legte den Reisemantel an und besorgte sich eine Droschke, die ihn zum „Spread Eagle“ in der Gracechurch Street brachte. Von dort fuhren Postkutschen nach Norwich, von wo aus es nicht mehr weit war nach Malcomby Hall.

Es überraschte ihn wenig, als er an der Umspannstation drei der Kartenspieler von gestern Abend in die gleiche Kutsche einsteigen sah, die auch er nehmen wollte, erinnerte er sich doch, wie der Mann namens Cecil erwähnt hatte, sein Anwesen befinde sich in Suffolk, und diese Grafschaft lag auf dem Weg nach Norwich.

Hatten die Männer sich am Kartentisch ungehobelt und ungebührlich benommen, so saßen sie jetzt still und graugesichtig auf ihren Plätzen und blinzelten aus trüben, blutunterlaufenen Augen. Stacey war dankbar, dass ihnen nicht nach einer Unterhaltung zumute war. Er schloss die Augen und machte es sich auf seinem Sitz bequem.

„Wir kennen uns, nicht wahr?“

Stacey überhörte die Frage einfach und tat, als fühle er sich nicht angesprochen. Doch der Mann, der sich Cecil nannte, blieb beharrlich. Er lehnte sich vor, stupste ihn am Knie an und wiederholte seine Frage. Stacey schlug die Augen auf und blickte in das verkaterte Gesicht seines Gegenübers. Obwohl er heute modischer gekleidet war als gestern Abend und eine einigermaßen adrette Erscheinung abgab, misslang es ihm aufgrund seiner ungehobelten Manieren, darüber hinwegzutäuschen, dass er kein Gentleman war. „Pardon?“

„Sie müssen mich nicht um Verzeihung bitten, mein Freund, ich habe lediglich bemerkt, dass wir uns von irgendwoher kennen.“

„Tatsächlich?“

„Ich irre mich bestimmt nicht. Cecil Hobart mein Name, Sir Cecil Hobart. Dritter Baronet of Easterley Manor.“

„Ihr Diener“, erwiderte Stacey leidenschaftslos. Er mochte den Mann nicht und musste daran denken, wie er über seine Schwägerin gesprochen hatte.

„Und Sie sind?“, wollte Cecil wissen.

„Mein Name dürfte Sie nicht interessieren.“

„Und ob er mich interessiert – falls wir uns bereits über den Weg gelaufen sind.“ Plötzlich fasste er sich an den Kopf und lachte. „Malcomby, genau! Sie sind der Sohn des Earl of Malcomby. Ich wusste doch, dass ich Ihr Gesicht irgendwo schon einmal gesehen habe.“

Stacey stöhnte unhörbar. Wie es schien, kannten sie einander tatsächlich. „Stacey Harding, Viscount Darton“, sagte er schließlich.

„Viscount Darton … nach all den Jahren begegnen wir uns ausgerechnet in einer Postkutsche wieder.“

„Ich fürchte, ich kann mich nicht entsinnen …“

„Nein, natürlich nicht. Ich war damals noch ein Grünschnabel und Sie bereits Captain bei den Husaren. Habe Sie sehr bewundert und mir vorgenommen, auch zum Militär zu gehen. Leider ist nichts daraus geworden, da mich dringende Geschäfte auf dem Subkontinent davon abhielten. Erinnern Sie sich wirklich nicht, wo wir uns begegnet sind?“

Stacey schüttelte den Kopf. Obgleich er sich gleichgültig gab, wurde er allmählich neugierig.

„Auf der Beerdigung meiner Mutter, Madeleine Stacey. Sie war die Cousine Ihres Vaters, Ihre Namensgeberin.“

„Ihre Mutter war meine Großcousine?“ Nun erinnerte er sich. Als Madeleine verstorben war, hatte er für kurze Zeit in England geweilt, bevor er erneut mit seinem Regiment auf den Kontinent geschickt wurde. Aus diesem Grund war es ihm möglich gewesen, seine Familie zur Beerdigung zu begleiten. Er konnte es nicht fassen, dass dieser ungehobelte Kerl Madeleines Sohn war.

„Wir sind also entfernte Vettern, nicht wahr?“ Cecil packte Staceys Hand. „Freut mich, Sie wiederzusehen.“

Viscount Darton zählte sich zu den zivilisierten Menschen und überwand sich, auch Cecil Hobarts beiden aufhorchenden Begleitern die Hand zu schütteln. „Darf ich Ihnen meine Freunde vorstellen?“ Cecil wies auf den Mann mit den auffallend dichten dunklen Brauen. „Das ist Mr. Augustus Spike. „Und dieses Spinnenbein neben Ihnen ist Sir Roland Bentwater. Wir sind auf dem Weg nach Parson’s End. Ich beabsichtige, dort das Gut meines verstorbenen Vaters zu übernehmen.“

Offensichtlich hat mich keiner von ihnen bei „White’s“ gesehen gestern Abend, dachte Stacey und nickte höflich. „Mein lieber Vater ist vor Kurzem beerdigt worden. Leider habe ich ihn nicht mehr lebend gesehen.“

„Es tut mir leid, das zu hören“, erwiderte Stacey förmlich.

„Und wohin führt Sie die Reise?“

„Heim, nach Malcomby Hall.“

„Wie geht es Ihrer hochgeschätzten Gemahlin?“

Der Mann hatte offenbar nicht die Absicht, ihn in Ruhe zu lassen. „Sie starb vor etlichen Jahren“, antwortete Stacey einsilbig.

„Das tut mir leid“, betonte Cecil Hobart, der nicht gewahrte, wie wenig sein entfernter Vetter daran interessiert war, die Unterhaltung fortzusetzen. „Und sind der Earl und die Countess wohlauf?“

„Das sind sie.“

„Fein. Ich frage mich, weshalb Sie es vorziehen, mit einer Postchaise zu reisen, wenn ich doch annehmen darf, dass Sie es nicht nötig hätten.“

Stacey fragte sich allmählich auch, was ihn zu diesem Schritt bewogen hatte. Schließlich stand ihm der Landauer seines Vaters zur Verfügung. Indes wusste er, dass seine Mutter das Gefährt häufig benutzte, und da er nicht hatte voraussehen können, wie lange er unterwegs sein würde, wäre es ihm unangenehm gewesen, wenn Ihre Ladyschaft sich seinetwegen hätte einschränken müssen.

Zum Glück blieb es ihm erspart, auf die Frage zu antworten, denn die Postkutsche bog in den Hof einer Umspannstelle ein, wo die Pferde gewechselt werden sollten. Seine Mitreisenden stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten, bevor die Fahrt weiterging.

Gegen drei Uhr morgens rumpelte die Postkutsche über den kopfsteingepflasterten Stallhof des „Great White Horse“ in Ipswich. „An dieser Stelle trennen sich unsere Wege, Cousin“, erklärte Cecil Hobart. „Nach Parson’s End gibt es keine regelmäßige Verbindung, daher müssen wir vorerst hier Zwischenstation machen und andere Arrangements treffen, ehe wir unsere Reise fortsetzen. Wir haben es nicht eilig, und wer weiß – vielleicht finden wir eine gemütliche kleine Schenke, wo man vernünftig Karten spielen kann.“

Die Chaise hielt an, und nachdem Cecil Hobart, gefolgt von seinen Freunden, den Tritt hinuntergestolpert war, drehte er sich ein letztes Mal zu Stacey um. „Richten Sie dem Earl und der Countess meine verbindlichsten Grüße aus. Sie und Ihre Eltern müssen mich unbedingt in Easterley Manor besuchen, sobald ich mich dort eingerichtet und sämtliche Formalitäten geregelt habe.“

„Meine Eltern reisen seit einiger Zeit nicht mehr so gern.“

„Nein? Mein Vater ist die letzten Jahre auch nicht mehr gereist. Aber das gilt ja nicht für Sie. Sie kommen mich doch bestimmt auf Easterley Manor besuchen, nicht wahr? Das Gut liegt übrigens ganz in der Nähe der kleinen Ortschaft Parson’s End. Familienmitglieder sollten sich nämlich nicht aus den Augen verlieren, finde ich. Lassen Sie mir nur zwei, drei Tage Zeit, mich auf dem Besitz zurechtzufinden.“

Lord Darton lächelte knapp und deutete eine Verneigung an. Dass dieser Mann ein Verwandter von ihm war, missfiel ihm zutiefst, und er beabsichtigte ganz gewiss nicht, die Bekanntschaft mit ihm zu vertiefen, geschweige denn, ihn auf seinem Anwesen zu besuchen.

Die Kutsche setzte ihren Weg mit neu zugestiegenen Passagieren fort, um das nächste Mal vor dem „Old Ram“ zu halten. Dort hatte Stacey vor Tagen seinen Wallach Ivor zurückgelassen, und nach einem reichhaltigen Frühstück in der Schankstube schwang er sich in den Sattel und ritt auf kürzestem Weg nach Malcomby Hall.

Die Sonne wärmte ihm den Rücken, während er über die Felder galoppierte, und die Vögel zwitscherten, als wollten sie den beginnenden Frühling bejubeln. Vielleicht hat Julia sich inzwischen gefangen, überlegte er gut gelaunt. Und benimmt sich, wie es sich für eine junge Dame geziemt.

Seine Hoffnung sollte wenige Minuten später bitterer Enttäuschung weichen. Er nahm, nachdem er durch das hohe Eisentor von Malcomby Hall getrabt war, eine Abkürzung durch den Park, statt auf dem gekiesten Weg zu bleiben, der sich bis zum Herrenhaus schlängelte. Auf halber Strecke entdeckte er zwei herrenlose Pferde, von denen eines Julia gehörte, das andere wusste er keinem Halter zuzuordnen. Die Tiere grasten auf der kleinen Lichtung unweit des Sees, von seiner Tochter jedoch war weit und breit nichts zu sehen. Stacey zog die Zügel an, saß ab und sah sich um. Plötzlich drang ausgelassenes Gelächter an sein Ohr. Sie muss unten am See sein, dachte er, ließ Ivor an Ort und Stelle zurück und strebte zügig vorwärts. Als er das Ufer erreichte, bot sich ihm ein derart schockierender Anblick, dass ihm fast das Herz stehen blieb.

Julia badete vollständig entblößt und der Kälte zum Trotz in dem smaragdgrünen Gewässer und neckte sich mit einem Jüngling, der neben ihr planschte und ebenso unbekleidet war wie sie. Die beiden lachten und bespritzten einander mit Wasser wie kleine Kinder. Dabei waren sie kaum mehr als solche zu bezeichnen, wie er unschwer erkennen konnte. Julias weibliche Formen unterschieden sich nicht von denen einer erwachsenen Frau, und der Junge musste wie sie dreizehn Jahre alt sein.

Außer sich vor Wut und Empörung, hörte er sich ihren Namen brüllen. Die beiden Jugendlichen erstarrten wie vom Donner gerührt und sahen sich um. Als sie den Viscount aus dem dichten Unterholz hervortreten sahen, begannen sie mit wild rudernden Armen zum Ufer zu waten.

„Julia, bleib, wo du bist!“, befahl Stacey seiner Tochter bestürzt, da sie auf ihrem Weg aus dem Wasser mehr und mehr von ihrer Blöße preisgab. „Und du Bursche, wer immer du bist, zieh dich an und komm augenblicklich her zu mir.“

Autor

Mary Nichols

Mary Nichols wurde in Singapur geboren, zog aber schon als kleines Mädchen nach England. Ihr Vater vermittelte ihr die Freude zur Sprache und zum Lesen – mit dem Schreiben sollte es aber noch ein wenig dauern, denn mit achtzehn heiratete Mary Nichols. Erst als ihre Kinder in der Schule waren,...

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