Falsches Spiel, wahre Gefühle?

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Für Lara ist der attraktive Fremde, der sie mitten in der Nacht in Rom vor einer Horde Rowdys rettet, nicht nur ihr Schutzengel, sondern der aufregendste Mann, dem sie je begegnet ist. Und als er ihre Wange berührt und ihr mit rauer Stimme zuflüstert, wie schön sie ist, kann sie nicht anders, als Raoul Di Vittorio in seinen Palazzo zu folgen. Natürlich bloß für eine Nacht. Doch als sie plötzlich seine Verlobte spielen soll, quält sie nur eine Frage: Wie soll ich Stunden unbeschreiblichen Glücks ertragen, wenn Raoul mich gar nicht liebt?


  • Erscheinungstag 09.05.2017
  • Bandnummer 2282
  • ISBN / Artikelnummer 9783733708344
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als Sergio Di Vittorio das Kasino betrat, verstummten die Gespräche zwar nicht, doch angespannte Erwartung erfüllte den Raum. Zwei große, dunkel gekleidete Gestalten folgten dem ehrwürdigen Aristokraten in angemessen respektvollem Abstand.

Raoul, der an einem der Marmorpfeiler lehnte, beobachtete aufmerksam, wie sein Großvater gemessenen Schrittes den Raum durchmaß. Trotzdem behielt er den Mann am Roulettetisch weiterhin im Auge, der wie besessen war und immer mehr Geld verspielte.

Ein selbstironisches Lächeln umspielte seine Lippen, weil er sich automatisch straffte, als sein Großvater nun näherkam. Alte Gewohnheiten lassen sich eben nur schwer abstellen, dachte er. Und sein Großvater achtete streng auf gute Manieren.

Wobei das Oberhaupt des Familienunternehmens bei vielen Dingen rigide Ansichten vertrat. Zum Beispiel beim Glücksspiel. Was eigentlich nicht überraschte, da sein einziger Sohn, Raouls und Jamies Vater, sich freiwillig das Leben genommen hatte, als das ganze Ausmaß seiner Spielschulden öffentlich geworden war.

Sergio hätte den Skandal beilegen und die Schulden seines Sohnes begleichen können – denn die infrage kommende Summe war für ihn kaum der Rede wert. Stattdessen hatte er seinem Sohn erklärt, endlich Verantwortung zu zeigen und sich als Mann zu erweisen.

Ob sein Großvater diese Entscheidung bereute?

Und sich die Schuld gab?

Raoul bezweifelte es. Sergios Glaube an sich selbst erlaubte keine Zweifel. Und Raoul hatte seine Wut damals für seinen Vater reserviert, der sich für den einfachen Weg entschieden und sie allein gelassen hatte. Dieses Ausmaß an selbstzerstörerischer Verzweiflung war für ihn als Kind schwer zu verstehen gewesen, genauso wie die Tatsache, dass Abhängige grundsätzlich selbstsüchtig waren. Auch sein Verständnis später als Erwachsener konnte ihm nicht die Verbitterung nehmen oder die Erinnerungen an ein einsames Kind auslöschen. Allerdings war Jamie immer für ihn da gewesen, sein älterer Bruder, der seine Kämpfe ausgefochten hatte, bis Raoul groß und stark genug gewesen war, sich selbst zu behaupten.

Raoul erinnerte sich an die warme Hand seines Bruders, die sich um seine schloss, als sein Großvater ihnen die Nachricht überbrachte. Der Augenblick hatte sich in seinem Gedächtnis eingebrannt: Die einzelne Träne, die langsam über das Gesicht seines älteren Bruders rollte. Das gleichmäßige Ticken der Wanduhr. Die tiefe Stimme des Großvaters, der erklärte, dass sie von jetzt an bei ihm leben würden.

Verwirrung und Angst krampften damals seinen Magen zusammen. Ein Schluchzen steckte in seiner Kehle, das er verzweifelt zurückhielt, um seinem Großvater zu gefallen. Seine Tränen hatte er sich aufgespart und später in sein Kissen geweint.

Entschlossen verdrängte Raoul die Erinnerungen und hob seinen Brandy in einem stummen Gruß. Im Laufe der Jahre hatte der Alkohol das Kissen ersetzt. Oder vielleicht hatte er einfach nur die Fähigkeit verloren, überhaupt noch weinen zu können. Wahrscheinlich konnte er gar nicht mehr wie ein normaler Mensch fühlen.

Tränen würden seinen Bruder nicht zurückbringen. Jamie war gegangen. Für immer.

Er senkte den Blick, und seine langen dunklen Wimpern legten sich über die Trauer in seinen Augen. Er wollte diesen Anflug von Verzweiflung nicht zulassen, den noch so viel Brandy nicht würde betäuben können.

„Man hat dich beim Leichenschmaus vermisst.“ Sergio deutete mit dem Kopf auf das drehende Rouletterad. „Du hast dich also entschlossen, in die Fußstapfen deines Vaters zu treten?“

Raoul hob den Kopf. „Warum nicht? Schließlich heißt es doch, dass Sucht erblich ist.“

Sergio zuckte auf seine unnachahmliche Art die Schultern. „Daran habe ich auch schon gedacht.“

Hart lachte Raoul auf. „Das hätte ich mir denken können.“

„Nein, der Makel haftet euch beiden nicht an, aber du bist ein Adrenalinjunkie, genau wie Ja…“ Der alte Mann stockte und schluckte schwer, ehe er weitersprach. „Dein Bruder hat immer gesagt, dass … er … Jam…“

Raoul konnte nicht mitansehen, wie sein Großvater um Selbstbeherrschung rang. Deshalb warf er barsch ein: „Er sagte, wenn ich es nicht beim Klettern schaffe, würde ich mich sicher mit einem meiner Autos umbringen.“

Einen Moment klang die Stimme seines Bruders so real, dass er schon fast sein vertrautes lächelndes Gesicht zu sehen glaubte – du bist ein Adrenalinjunkie, kleiner Bruder, und eines Tages wirst du dich umbringen … Seine Worte waren wie ein Schlag in den Magen.

Denn Jamie war derjenige, der jung gestorben war. Nicht deshalb, weil er eine Kurve zu schnell genommen hatte, sondern weil das Leben unfair war.

Raoul trank einen großen Schluck Brandy, während Wut sein Denken benebelte. Er brauchte ein paar Sekunden, ehe er seiner Stimme wieder trauen konnte.

„Ich hätte nicht erwartet, dass du dich an einen Ort wie diesen verirrst, aber ich muss zugeben, dass du es verstehst, dich in Szene zu setzen.“ Was der Wahrheit entsprach. Obwohl schon über achtzig, war Sergio Di Vittorio immer noch eine beeindruckende Gestalt. Er trug sein übliches Schwarz, und in seinen silbergrauen Haaren verfing sich das Licht der Kronleuchter.

Jeder andere hätte Neugier verspürt, warum sein Großvater hier war, aber wie immer fühlte Raoul nichts. Stattdessen nahm er noch einen Schluck Brandy.

Wenigstens war er gut darin, sich selbst zu belügen.

„Die Leute haben nach dir gefragt.“

Raoul senkte den Kopf. Sein Großvater war zwar groß und breitschultrig, aber er überragte ihn noch um ein Stück, schon seit seinem fünfzehnten Lebensjahr. Trotzdem fühlte es sich immer noch nicht richtig an, fast respektlos, auf ihn herabzusehen.

„War es eine schöne Feier?“ Er lehnte sich gegen den Pfeiler und hob sein Glas an die Lippen.

Wann bist du nur so verdammt alt geworden?

Vor allem eine Beerdigung erinnerte einen Menschen an seine eigene Sterblichkeit und die der Menschen, die man liebte … von denen es nur noch herzlich wenige gab.

Er schob den düsteren Gedanken beiseite und nahm einen weiteren Schluck. Der Brandy rann durch seine Kehle und wärmte seinen Magen, konnte ihm jedoch nicht die Kälte nehmen, die er im Inneren verspürte.

Ungeduldig bedeutete Sergio einem Mann in Uniform, der gerade zu ihnen treten wollte, sich zu entfernen, während sein Bodyguard dafür sorgte, dass sich ihnen niemand mehr näherte.

„Wir müssen reden.“

Raoul hatte noch nie gut damit umgehen können, Befehle zu erhalten. Deshalb ignorierte er auch diesen und warf erneut einen Blick zum Roulettetisch.

„Raoul …!“

Er riss sich zusammen und wandte sich wieder seinem Großvater zu. „Wir reden doch gerade.“

Sergio wirkte verärgert. „Allein.“ Er bedeutete Raoul, ihm zu folgen, und ging voraus.

Raoul zögerte einen Moment, dann straffte er die Schultern und folgte ihm.

Sein Großvater kam gleich zur Sache, kaum hatte sich die Tür zu dem Privatraum geschlossen.

„Dein Bruder ist tot.“

Raoul verkniff sich eine sarkastische Erwiderung und presste die Lippen fest aufeinander. Er selbst hatte den leblosen Körper seines Bruders auf dem Küchenfußboden gefunden, und diesen Anblick würde er nie vergessen. Bei der Autopsie hatte man ein Aneurysma als Todesursache festgestellt. Wie es aussah, war sein Bruder jahrelang mit einer tickenden Zeitbombe in der Brust herumgelaufen, ohne dass er etwas davon gewusst hatte.

„Bist du hier, um mir zu sagen, dass das Leben weitergeht?“ Nach dem Tod seines Bruders hatte er über dessen Krankheit gelesen und herausgefunden, dass so etwas gar nicht selten vorkam. Wenn er jetzt durch die Straßen ging, sah er in die Gesichter der Fremden und fragte sich, wer der Nächste sein würde.

„Nicht für alle. Ich werde sterben.“

Raoul war ans Fenster getreten. Jetzt drehte er sich um und kämpfte gegen das kindliche Verlangen an, sich die Ohren zuzuhalten. Nach einem kurzen Moment des Schweigens zuckte er die Schultern und ließ sich in eines der Ledersofas fallen.

„Wir werden alle sterben.“

Oder waren es nur die Menschen, die er liebte?

Er schloss die Augen und zählte im Stillen nach … seine Mutter, an die er sich kaum erinnerte, sein Vater, sein Bruder, seine Frau … Nein! Sie zählte nicht. Im Grunde hatte er Lucy nicht geliebt, sondern sie gehasst.

„Es ist Krebs“, erklärte sein Großvater. „Unheilbar. Sie geben mir höchstens noch sechs Monate.“ Seine Stimme verriet keinerlei Gefühl. „Obwohl ich auf diesen Quatsch noch nie etwas gegeben habe.“

Raoul stand auf, während er sich mit jeder Faser seines Körpers gegen diese Neuigkeit wehrte. „Das ist nicht möglich.“ Ihre Blicke trafen sich, schließlich schluckte er.

„Tut mir leid.“ Er merkte selbst, wie banal seine Worte klangen.

Doch Sergio wischte seine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. „Kontinuität ist wichtig für mich – du weißt, wovon ich spreche.“

Langsam stieß Raoul die Luft aus und dachte: Zur Hölle, nicht das jetzt auch noch!

„Dein Bruder hätte mir nie einen Erben geschenkt.“

Raoul verkniff sich einen Kommentar. Dies war das einzige Eingeständnis des alten Mannes in Bezug auf die Sexualität seines Bruders. Er hatte Jamies langjährigen Partner Roberto nie anders betitelt als seinen Freund. Raoul verspürte einen scharfen Stich, als sein schlechtes Gewissen sich meldete. Zumindest für Rob hätte er bleiben sollen, der beim Begräbnis völlig verzweifelt gewesen war.

„Jamie ist kaum kalt …“ Obwohl seine Haut sich wie Marmor angefühlt hatte, als … Raoul räusperte sich. „Kann das nicht warten?“

„Zeit ist kein Luxus, den ich habe.“ Sergio sah, wie sein Enkel zusammenzuckte. Er trat langsam zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Ich habe auf dich Rücksicht genommen, nachdem … Lucy starb. Aber jetzt ist es Zeit, deinen Weg fortzusetzen.“

„Das habe ich doch.“

Ein Ton, der nach Verachtung klang, kam über die Lippen des alten Mannes, ehe er sich abwandte. „Ich spreche nicht von herumhuren.“

Das ungewohnt obszöne Wort aus dem Mund seines Großvaters verbannte die letzten Reste des Alkoholnebels aus Raouls Hirn. „Und es gibt keinen Zweifel an der Diagnose?“

„Nein.“

„Tut mir leid“, sagte er noch einmal, da er wusste, dass sein Großvater eine emotionalere Geste nicht schätzen würde. Obwohl er das Temperament eines Vulkans hatte, hatte er seine Enkel niemals zu emotionalen Gesten ermutigt. Jamie hatte sich trotzdem nicht davon abhalten lassen, aber er selbst … seinem Wesen entsprach es nicht. Und er hatte gelernt, dass es besser war, keine Gefühle zu zeigen. Dein Robotergesicht, so hatte Lucy es genannt, der es Vergnügen bereitet hatte, ihre Opfer leiden zu sehen.

Der alte Mann nickte. „Ab jetzt wirst du alles übernehmen. Ob du willst oder nicht“, fügte er hinzu, ehe die kleine Flamme der Wut in den dunklen Augen seines Enkels größer werden konnte. „Du wirst ein mächtiger Mann sein.“

Der Letzte, der noch übrig ist.

Ob ich es will oder nicht … aber ich will nicht!

„Macht bringt Verantwortung mit sich“, warnte Sergio.

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt klarzustellen, dass viele Raoul bereits für einen mächtigen Mann hielten. Während Jamie sich entschieden hatte, für den Großvater zu arbeiten, war Raoul nach dem Studium in Harvard in eine Rechtsanwaltskanzlei in New York gegangen. Doch er hatte sich geweigert, der jüngste Partner in der Geschichte der renommierten Kanzlei zu werden, und war stattdessen seinen eigenen Weg gegangen, obwohl viele Stimmen damals tönten, dass er es noch bereuen würde.

Die Stimmen waren inzwischen verstummt, nachdem er bereits ein paar Jahre später Büros in verschiedenen Metropolen der Welt besaß und eine Liste von reichen Klienten aus der ganzen Welt – Unternehmen als auch Privatpersonen.

Das perfekte Leben, ohne die Hektik des Gerichtssaals, die ihn zu Tode langweilte. Eines Tages hatte er als Prozessanwalt aufgehört und wurde zum umjubelten Manager. Doch sein Bruder war der Einzige, dem Raoul seinen Frust gestanden hatte.

Zur Hölle mit dir! Warum musstest du gehen?

„Und natürlich Reichtum. Aber noch wichtiger ist, dass du den Namen weiterträgst.“ Raoul fiel ihm ins Wort. „Kommt jetzt ein Satz wie: Wenn du einen sterbenden alten Mann glücklich machen willst …?“

„Ja.“

„Also moralische Erpressung.“ Er klang nicht verbittert, weil er die Logik seines Großvaters verstehen konnte.

„Ich werde meine Urenkel wohl nie kennenlernen.“

Sergio senkte die Lider, doch Raoul hatte den Glanz in den Augen des alten Mannes gesehen. Als er wieder aufsah, lag jedoch nichts als die vertraute rücksichtlose Entschlossenheit in seinem Blick. Raoul ließ die Hand fallen, die er ausgestreckt hatte, und presste seine Finger so fest in sein Bein, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Aber mir bleibt noch die Zeit, dich mit einer Frau verheiratet zu sehen, die dir Kinder schenken wird. Was du mit Lucy hattest, kannst du nicht mehr zurückgewinnen, und es ist an der Zeit, dass du das akzeptierst.“

Ein Bild erschien vor Raouls geistigem Auge. Ein lachendes Gesicht, perfekt und wunderschön, so wie die Welt seine Frau gesehen hatte. Zurückgewinnen? Nur ein Verrückter würde sich zurück in die Hölle wünschen, in der er mit seiner durch und durch boshaften Frau gelebt hatte.

Und Raoul war nicht verrückt.

Seine Ehe hatte ihn nicht zu einem Frauenhasser werden lassen. Er mochte Frauen, sie waren großartig. Das Problem war er selbst. Das hatte er schmerzlich bewiesen, als er sich erlaubt hatte, sich emotional auf eine Frau einzulassen und seiner eigenen Urteilskraft nicht mehr hatte vertrauen können. Ein fataler Fehler.

Sein Großvater hatte recht gehabt, als er ihm vorhielt herumzuhuren. Sex befriedigte ein grundlegendes Bedürfnis. Und auch wenn er sich manchmal vage bewusst war, dass er etwas vermisste, war er gewillt, ohne dieses Etwas zu leben.

„Irgendjemand im Sinn?“

Sein Großvater ignorierte den sarkastischen Ton. „Die Wahl liegt wohl bei dir.“

„Wie großzügig.“

„Das ist kein Witz. Unser Familienname ist kein Witz. Ich will nicht mit einem Playboyenkel als einzigem Vermächtnis sterben. Es ist an der Zeit, dass du dich deinen Pflichten stellst.“

Raoul verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, und ging zu dem Kamin. „Und, was schlägst du vor? Soll ich die Stelle ausschreiben? Oder soll ich, was Gott verhüte, meinem Herzen folgen?“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus, aber das war Raoul egal. Der Tag konnte nicht noch schlimmer werden.

Wieder fiel sein Ton auf unfruchtbaren Boden. Vielmehr sah sein Großvater nun nachdenklich aus.

„Das wäre eigentlich keine schlechte Idee.“

„Was? Meinem Herzen zu folgen?“ Seine Erfahrung mit Lucy hatte ihn geheilt, je wieder seinem Herzen zu vertrauen. Dass er bei Lucy die Warnzeichen übersehen hatte, rieb noch Salz in seine Wunden. Doch er war verliebt gewesen und hatte nur das gesehen, was er sehen wollte. „Oder soll ich eine Anzeige aufgeben?“

Der alte Mann schaute ihn streng an. „Manchmal hilft es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wenn man die Dinge aufschreibt. Schließlich werden von deiner Frau bestimmte Qualitä…“ Plötzlich streckte Sergio hilfesuchend seine Hand aus und stöhnte auf.

All das kam so unerwartet, dass Raoul einen Moment wie gelähmt war. Als der alte Mann dann schwankte, wurde er aus seiner Starre gerissen und war bei ihm, ehe er zusammenbrechen konnte.

Er legte einen Arm um Sergios Rücken und half ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen, der in der Nähe stand. Schockiert spürte er durch den Anzugstoff, wie mager sein Großvater geworden war. Nichts war mehr zu spüren von seiner Kraft und Stärke.

Es stimmte also. Er würde sterben.

Es traf ihn wie ein Schlag. Sein Großvater war die einzige Konstante in seinem Leben gewesen. Jetzt würde er sterben, und er selbst konnte nichts dagegen tun.

Genauso wenig wie er seiner Mutter hatte helfen können, die einer Grippe zum Opfer gefallen war. Oder seinem Vater, der sich erschossen hatte. Und schon gar nicht seinem Bruder, der einer inneren Blutung erlag. Zu viel Tod und Verlust für einen Menschen. Wut und Hilflosigkeit drohten ihn zu überschwemmen.

Er könnte sich betrinken und sich in Selbstmitleid ergehen, oder … Er sah zu seinem Großvater, und das Gefühl der Liebe zu diesem harten, stolzen alten Mann überwältigte ihn.

Oder er könnte etwas tun. Gegen Sergios Tod konnte er nichts ausrichten, aber er könnte dafür sorgen, dass er zufrieden starb. Hätte man ihn um eine Knochenmarkspende oder eine Niere gebeten, würde er nicht zögern. Warum also jetzt?

Weil es einfacher wäre, die rechte Hand zu verlieren als das zu tun, worum sein Großvater ihn bat. Seine Ehe hatte ihn gelehrt, dass er seiner eigenen Urteilskraft nicht trauen konnte, wenn er mit dem Herzen dabei war. Und dass man einen anderen Menschen nie richtig kannte und ihm niemals vertrauen sollte. Mit der eigenen Zukunft zu spielen und seine Freiheit aufzugeben, das war verrückt.

Es musste eine Alternative geben, und wenn er wieder nüchtern war, würde er klar sehen …

„Ich rufe einen Krankenwagen.“

„Nein …“ Die Hand, die sich auf seine legte, zitterte, doch die Stimme hatte wieder Kraft. „Nein, kein Krankenhaus. Es ist schon vorbei.“ Der Griff wurde fester. „Ich kann das nicht von dir verlangen … ausgerechnet heute … Jamie hätte mich einen selbstsüchtigen alten Mann genannt …“

„Jamie hat dich geliebt“, fiel Raoul ihm barsch ins Wort.

„Dein Bruder hat das Leben geliebt.“

Raoul nickte und tat so, als würde er die Tränen auf den Wangen des alten Mannes nicht bemerken. „Und du sagst nichts, über das ich nicht schon selbst nachgedacht hätte.“ Der erleichterte Ausdruck auf dem grauen Gesicht seines Großvaters machte Raoul froh um diese Lüge.

„Ach wirklich?“

„Ich werde auch nicht jünger.“

„Und du willst eine Familie?“

Raoul legte den Kopf schräg und dachte an die Zeit, in der er diesen Wunsch tatsächlich gehabt hatte.

„Es ist nur natürlich, eine Familie zu wollen.“

Wobei diese Erkenntnis die kurze Ehe mit Lucy nicht überlebt hatte. Sie war sehr geschickt darin gewesen, anderen wehzutun. Ein Jahr ihrer Ehe war wohl schon vergangen, ehe sie ihm in einem ihrer Wutanfälle gestand, dass sie in den ersten Monaten nach ihrer Hochzeit abgetrieben hatte.

„Glaubst du, ich will fett und hässlich werden, nur um dir ein Balg zu schenken?“, hatte sie gekreischt.

Er verdrängte die Stimme, die in seinem Kopf erklang, und den Anblick ihres hübschen Gesichts, das nur Verachtung und Bösartigkeit zeigte. Ein Anblick, dem er ab und zu im Bett mit einer willigen Frau entfliehen konnte. Trotzdem war es gut, dass er diesen Anblick nie vergaß, weil er ihn davon abhielt, nie wieder sein Herz zu verlieren. Und keine Frau der Welt könnte den Panzer aus Stahl durchdringen, der sich um sein Herz gelegt hatte.

„Bist du sicher, dass ich nicht …?“

Sergio deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Tür. „Carlo weiß, was zu tun ist.“ Er suchte den Blick seines Enkels. „Und du … du weißt, was du für mich tun kannst. Ganz egal, was passiert ist, du und dein Bruder, ihr habt meinem Leben eine Bedeutung gegeben, die mir sonst gefehlt hätte.“ Die dunklen Augen umwölkten sich, während er den Kopf schüttelte. „Ich war ein schlechter Vater.“

Raoul sah in das Gesicht des Mannes, dem es schwerfiel, Zuneigung zu zeigen. Aber er war immer für seine Enkel da gewesen. Ihm schnürte sich die Kehle zu, als er daran dachte, wie viel er ihm verdankte. Sicher, er würde nie heiraten, sich nie verlieben, aber was schadete es schon, ihn glauben zu lassen …?

„Dann sollte ich wohl aus deinen Fehlern lernen?“

„Ich bin sicher, du wirst deine eigenen machen.“ Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein faltiges Gesicht. „Gibt es da jemanden?“

Raoul zwang sich zu einem Lachen. „Du wirst als Erster davon erfahren, das verspreche ich dir.“

„Wahrscheinlich möchtest du keinen Rat von mir, aber ich sage es trotzdem. Entscheide nicht allein nach dem Aussehen. Natürlich würde niemand von dir erwarten, dass du eine Frau heiratest, die du nicht attraktiv findest …“

„Da bin ich aber erleichtert.“

„Pragmatismus ist nicht das Schlechteste. Du solltest die wichtigen Dinge im Leben nicht dem Zufall überlassen. Ich weiß, du hast schon einmal Glück gehabt, aber verlass dich nicht darauf, dass es wieder passiert.“

Nur über meine Leiche, dachte Raoul grimmig.

„An eine Ehe sollte man herangehen wie an jeden anderen Vertrag.“

Sergios Stimme klang nun stärker, doch seine Haut war immer noch besorgniserregend fahl. „Du hast sicher recht“, räumte Raoul ein, doch als er das verdächtige Schimmern in den Augen seines Großvaters sah, merkte er, dass er ihm zu leichtfertig zugestimmt hatte. „Soll ich Carlo jetzt rufen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete er die Tür und sprach mit dem Mann, der draußen wartete.

Ehe sein Großvater sich über seinen Wunsch nach einem Urenkel auslassen konnte, erschien ein Mädchen mit einem Tablett, auf dem Tee stand. Offenbar hatte es draußen darauf gewartet, dass der Bodyguard Anweisung gab einzutreten. Carlo folgte ihr.

Das Mädchen verschwand, und Carlo goss Tee ein, gab seinem Arbeitgeber etwas aus einer Klarsichtpackung, bevor er nickte und ebenfalls ging.

„Er macht nicht viel Worte.“

Der Tee schien seinem Großvater gutzutun. „Das ausgerechnet aus deinem Mund“, schnaubte er. „Dein Bruder war wohl eher derjenige, der viel geredet hat. Ich erinnere mich noch daran, als er …“

Raoul hatte die Geschichten schon oft gehört. Doch er ließ seinen Großvater reden, dem es offensichtlich guttat, über Jamie zu sprechen. Als er schließlich aufstand, schien er wieder der Alte.

„Ich hätte gerne noch einen Rat von dir“, sagte er zu Raouls Überraschung. „Ich habe daran gedacht, dem Universitätskrankenhaus im Namen deines Bruders einen neuen Anbau zu spenden. Glaubst du, es hätte ihm gefallen?“

„Ich denke, es hätte ihm sehr gefallen, aber es wäre wohl besser, wenn du mit Roberto darüber sprichst.“ Der Lebensgefährte seines Bruders war Neurologe im Krankenhaus.

Sein Großvater wirkte einen Moment in sich gekehrt, ehe er nickte. „Er hat gut gesprochen beim Begräbnis.“

Raoul konnte dem nur zustimmen.

„Vielleicht tue ich das. Komm, begleite mich zum Wagen.“

Froh darum, den gewohnten Befehlston wieder in der Stimme des alten Mannes zu hören, folgte Raoul ihm durch das hell erleuchtete Kasino.

Als sie draußen waren, merkte Raoul kaum, wie warm die Luft noch war. Die Haut seines Großvaters war allerdings innerhalb von Sekunden schweißbedeckt. Trotzdem lehnte er es ab, Raouls Arm zu nehmen, als er zu der Limousine ging.

„Ich rufe dich morgen an, ja?“

Sergio schüttelte den Kopf. „Nächste Woche, wie abgemacht. Noch sterbe ich nicht.“

Während er zusah, wie der Wagen davonfuhr, überlegte Raoul, ob es richtig war, einen todkranken Mann anzulügen.

Doch die Frage erübrigte sich. Er hatte ihn bereits angelogen und bezweifelte, dass es die letzte Lüge sein würde, damit sein Großvater glücklich sterben konnte.

Was ist schon dabei, ihn bei Laune zu halten, dachte er ungehalten, als er davonging. Er wollte heute nicht mehr an den Tod denken und daran, noch einen Menschen zu verlieren.

2. KAPITEL

„Na schön. Dann werde ich jetzt mit dem ersten Mann schlafen, der mir über den Weg läuft.“

Es ist wirklich schwer, noch einen Hauch von Würde zu bewahren, wenn man sich gerade aufführt wie ein wildgewordener Teenager, dachte Lara selbstironisch. Marks Lachen machte sie noch wütender, sodass sie die Tür so fest zuschlug wie sie konnte. Lara war schlank, aber groß und athletisch, sodass die Tür in ihrem Rahmen erzitterte.

Der erste Mann, den sie sah, war der glatzköpfige, etwa vierzigjährige Besitzer des Hotels, in dem sie ihr romantisches Wochenende gebucht hatten.

Besorgt sah er Lara hinterher, als sie an ihm vorbei zur Straße rannte, während Tränen über ihre Wangen liefen.

Laut Information des kleinen Hotels waren die Touristenattraktionen zu Fuß zu erreichen, offenbar eine große Übertreibung, doch es war Lara egal, weil sie nie die Absicht gehabt hatte, sich die Sehenswürdigkeiten überhaupt anzusehen.

Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Sie hatte geglaubt, Mark wäre anders. Vielleicht bin ich dazu bestimmt, allein zu sein, überlegte sie und musste aufschluchzen bei dem Gedanken.

Selbstmitleid, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, ist sehr unattraktiv. Doch sie achtete nicht darauf und schniefte laut und voller Wut.

Lily wäre so etwas nie passiert. Auf der anderen Seite hätte kein Mann ihrer Zwillingsschwester bei einem romantischen Wochenende vorgehalten, in die Falle gelockt worden zu sein, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie noch Jungfrau war.

War ihre Zwillingsschwester überhaupt noch Jungfrau?

Lily sprach mit ihr nicht viel über diese Dinge, wobei sie gar nicht mehr darüber gesprochen hatten, seit Lara von Lilys Freund zu einer Weihnachtsparty eingeladen wurde, als sie gerade sechzehn waren. Das war Jahre her und völlig harmlos gewesen, aber Lily hatte es damals nicht so gesehen.

Welche Ironie, wenn Lily nicht mehr Jungfrau wäre, während sie selbst noch unschuldig war, obwohl die Leute annahmen, dass sie mehr Liebhaber gehabt hatte als Handtaschen. Aber so waren die Menschen – sie nahmen immer das Schlechteste an. Deshalb hatte Lara schon vor langer Zeit entschlossen, dass das Leben einfacher war, wenn man ihnen einfach ihren Glauben ließ.

Die Menschen liebten ihr Schubladendenken – Lily war die Sensible, während Lara die Wilde war, die Partys liebte und wahllos mit Männern schlief. Im Moment wünschte sie, sie hätte es getan.

Sie spürte wieder Tränen aufsteigen.

„Ich hasse Männer, und vor allem Mark Randall!“

Die Stärke, die ihr dieser Ausbruch verlieh, hielt nicht lange an und hinterließ nur ein Gefühl der Enttäuschung und die Erkenntnis, dass sie selbst schuld war.

Es hätte schlimmer kommen können, wenn sie mit ihm geschlafen hätte, um dann herauszufinden, dass er ein bemitleidenswerter Versager war. Was hatte sie zu Anfang nur an ihm attraktiv finden können?

Sicher, er schien ein fürsorglicher Chef zu sein und war auf sie aufmerksam geworden. Sie fiel allen auf, aber bei Mark war der Grund ihre Arbeit gewesen. Er hatte gesagt, sie habe Potenzial, und ihr hatte es nichts ausgemacht, Überstunden zu machen, für die sie jedoch schlechter bezahlt wurde. Aber da er ihre Arbeit schätzte und einer der wenigen Männer in dem Bürogebäude war, der es nicht bei ihr versuchte … ein todsicherer Tipp, was Lara?

Sie hatte sich eingeredet, dass Freundlichkeit und Sensibilität in seinen Augen schimmerte, hatte sich in seiner Gegenwart sicher und gemocht gefühlt, so wie sie es sich wünschte.

Autor

Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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