Im Schloss des Millionärs

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Vier Wochen in einem Château! Lilys neuer Job als Physiotherapeutin ist ein Traum - wäre da nicht ihr Patient, der arrogante Playboy Raoul. Gerade noch hasst sie ihn, dann wieder begehrt sie ihn heiß …


  • Erscheinungstag 04.08.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768881
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Aber ich behandle grundsätzlich keine männlichen Patienten“, erklärte Lily ihrer Chefin an der South London Rehabilitation Clinic. „Das wissen Sie doch genau.“

„Ich weiß, aber das hier ist eine tolle Gelegenheit“, entgegnete Valerie. „Raoul Caffarelli ist stinkreich. In den vier Wochen bei ihm in der Normandie würden Sie mehr verdienen als hier in einem Jahr, und ich habe sonst niemanden, der für den Job infrage kommt. Außerdem hat sein Bruder ausdrücklich Sie verlangt.“

Lily runzelte die Stirn. „Sein Bruder?“

Valerie verdrehte vielsagend die Augen. „Na ja, anscheinend verweigert Raoul jegliche Behandlung. Seit seiner Reha lebt er ziemlich zurückgezogen. Sein älterer Bruder Rafe hat einen Artikel über Ihren Erfolg bei Scheich Kasim Al-Balawis Tochter gelesen und will unbedingt, dass Sie seinem Bruder helfen. Geld spielt für ihn offensichtlich keine Rolle.“

Lily biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Die Aussicht auf ein großzügiges Sonderhonorar war ziemlich verlockend, vor allem in Anbetracht der katastrophalen finanziellen Situation ihrer Mutter. Doch die Vorstellung, einen Mann in seinem Zuhause zu behandeln, war ein Alptraum. Selbst wenn dieser Mann auf einen Rollstuhl angewiesen war.

Ich war seit fünf Jahren nicht auch nur in der Nähe eines Mannes.

„Meine Antwort lautet Nein“, sagte Lily und kehrte ihrer Chefin den Rücken zu, um eine Patientenakte abzulegen. „Niemals. Sie müssen jemand anderes hinschicken.“

„Ich fürchte, ein Nein ist keine Option“, erklärte Valerie. „Die Caffarelli-Brüder sind dafür bekannt, nicht lockerzulassen, und Rafe will unbedingt, dass Raoul bei seiner Hochzeit im September Trauzeuge ist. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass Sie die Einzige sind, die seinem Bruder wieder auf die Beine helfen kann.“

Lily schob die Schublade zu und drehte sich zu Valerie um. „Hält er mich etwa für eine Wunderheilerin? Sein Bruder wird vielleicht nie wieder auf die Beine kommen, schon gar nicht in ein paar Wochen.“

„Ich weiß, aber Sie könnten ihn sich doch zumindest mal ansehen“, bat Valerie. „Der Job ist ein Traum – freie Kost und Logis in einem alten Château in der Normandie. Nehmen Sie den Auftrag an, Lily. Sie würden mir und der Klinik damit einen riesigen Gefallen erweisen. Das Ganze ist die perfekte Gelegenheit, unseren guten Ruf seit Ihrem Erfolg mit der Tochter des Scheichs noch weiter zu festigen. Wir werden die ganzheitliche Klinik für die Reichen und Berühmten sein. Man wird uns förmlich die Türen einrennen.“

Lily versuchte, einen Anflug von Panik zu unterdrücken. Ihr Herz raste, als habe sie gerade zu Fuß das oberste Stockwerk eines Wolkenkratzers erklommen. Verzweifelt versuchte sie, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, aber jedes Mal, wenn ihr eine durch den Kopf schoss, kam ihr der Wunsch in die Quere, ihrer Mutter zu helfen. Außerdem wollte sie sich ihrer Arbeitgeberin gegenüber loyal zeigen.

Werde ich das durchstehen?

„Ich muss mir erst mal Mr Caffarellis Röntgenaufnahmen und seine Krankenakte ansehen. Möglicherweise kann ich gar nicht viel für ihn tun. Es wäre verkehrt, ihm oder seinem Bruder falsche Hoffnungen zu machen.“

Sofort setzte sich Valerie an ihren Computer und ließ ihre Finger über die Tastatur eilen. „Ich habe die Aufnahmen und ärztlichen Gutachten bereits hier. Rafe hat sie mir gemailt. Ich leite sie in diesem Augenblick an Sie weiter.“

Kurz darauf warf Lily in ihrem Büro einen Blick auf die Unterlagen. Raoul Caffarelli hatte bei einem Wasserski-Unfall eine Wirbelsäulenverletzung erlitten. Sein rechter Arm war gebrochen, heilte jedoch anscheinend gut. Er hatte nur wenig Gefühl in den Beinen und konnte ohne fremde Hilfe weder stehen noch laufen. Die Neurochirurgen waren zu dem Schluss gekommen, dass seine Beine vermutlich nie wieder normal funktionieren würden, doch Lily hatte schon zu viele Fehlprognosen gelesen, um sich davon beeinflussen zu lassen.

Manche Wirbelsäulenverletzungen waren irreparabel, andere wiederum nicht, und dazwischen war alles möglich. Das hing von der Art der Verletzung ab – und von der Einstellung und dem allgemeinen gesundheitlichen Zustand des Patienten.

Lily kombinierte gern verschiedene Behandlungsmethoden – neben den Klassikern Bewegung, Muskelaufbau und Massage ein paar weitere, die als alternativ eingestuft wurden, wie zum Beispiel Aroma-Therapie, Ernährungsumstellung und Visualisierungs-Techniken.

Die Tochter des Scheichs, Halimah Al-Balawi, war eine ihrer Star-Patientinnen. Drei Neurochirurgen hatten der jungen Frau prophezeit, nie wieder laufen zu können, bevor Lily sie übernommen hatte. Nach drei Monaten hatte die junge Frau bereits mit Krücken gehen können und schließlich sogar ohne jede Hilfe.

Lily lehnte sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück und kaute auf einem Fingernagel. Für die meisten Frauen wäre es ein Traumjob, einen Mann zu behandeln, der so reich und berühmt war wie Raoul Caffarelli. Sie würden wahrscheinlich zehn Jahre ihres Lebens dafür hergeben, um nur einen einzigen Tag mit ihm zu verbringen, ganz zu schweigen von einunddreißig Tagen. Sie würden sich diese Gelegenheit niemals entgehen lassen und jede einzelne Sekunde davon genießen.

Für mich ist das wie Folter.

Ihr wurde schon bei der bloßen Vorstellung schlecht, einen männlichen Körper anzufassen, und Physiotherapie bedeutete Körperkontakt – engen Körperkontakt. Hände auf nackter Haut. Massagen … Berührungen.

Lilys Handy klingelte. Als sie das Gesicht ihrer Mutter auf dem Display sah, ging sie ran. „Hi, Mom. Alles in Ordnung?“

„Schätzchen, ich störe dich nur sehr ungern bei der Arbeit, aber die Bank hat gerade angerufen. Sie wollen die Hypothekenforderungen auf das Haus geltend machen, wenn ich die letzten drei Kreditraten nicht bezahle. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass Martin mein Konto geplündert hat, aber sie haben gar nicht zugehört.“

Lily kochte innerlich vor Wut, wenn sie daran dachte, dass diese Internetbekanntschaft ihre Mom ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans. Ihre Mutter hatte den Fehler gemacht, ihrem neuen Partner zu vertrauen, und musste jetzt bitter dafür büßen. Der Betrüger hatte einfach ihre Konten geknackt und ihre ganzen Ersparnisse geplündert.

War dieses Angebot ein Wink des Schicksals? Durfte Lily den Job wirklich ablehnen, wo ihre Mutter doch so dringend finanzielle Unterstützung brauchte? Mom hatte ihr in ihrer schlimmsten Zeit beigestanden – in jenen schrecklichen dunklen Tagen nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, in denen Lily fast verrückt geworden war. Ihre Mutter hatte auf alles verzichtet, um für Lily da sein zu können und ihr aus ihrem schwarzen Loch der Verzweiflung und des Selbsthasses herauszuhelfen. War Lily ihr dafür nicht etwas schuldig?

Es handelte sich ja nur um einen Monat.

Vier Wochen.

Einunddreißig Tage.

Ein ganzes Leben.

„Wir kriegen das wieder hin, Mom.“ Lily atmete zittrig ein. „Ich bekomme einen neuen Patienten, was allerdings bedeutet, dass ich den ganzen August in Frankreich verbringen muss, aber der Patient zahlt im Voraus. Das müsste das Problem mit der Bank regeln. Du wirst dein Haus auf keinen Fall verlieren, nicht, solange ich es verhindern kann.“

Raoul sah seinen Bruder finster an. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich allein gelassen werden will.“

Rafe seufzte frustriert. „Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens wie ein Einsiedler leben. Was ist nur los mit dir? Verstehst du denn nicht, dass das hier deine beste, vielleicht sogar deine einzige Chance ist, wieder gesund zu werden?“

Raoul drehte seinen Rollstuhl mit dem gesunden Arm von seinem Bruder weg. Er wusste, dass Rafe es nur gut meinte, doch die Vorstellung, von irgendeiner jungen Engländerin mit obskuren Quacksalbermethoden behandelt zu werden, widerstrebte ihm zutiefst. „Die besten italienischen Ärzte haben mir versichert, dass sich mein Zustand nicht verbessern wird. Ich brauche diese Archer nicht.“

„Hör mal, ich weiß ja, dass es dir schwer zu schaffen macht, dass Clarissa eure Verlobung gelöst hat, aber deshalb brauchst du noch lange nicht alle Frauen …“

„Das hier hat überhaupt nichts mit Clarissa zu tun“, unterbrach Raoul ihn scharf und drehte seinen Rollstuhl wieder zurück.

Rafes Blick sprach Bände. „Du hast sie doch noch nicht mal geliebt. Sie schien nur deine Kriterien zu erfüllen. Der Unfall hat dir gezeigt, wie sie wirklich ist. Ich finde – und Poppy ist da ganz meiner Meinung –, dass du noch mal davongekommen bist.“

Raoul umklammerte die Rollstuhllehne so fest, dass seine Knöchel ganz weiß wurden. „Ach ja? Du findest, ich habe Glück gehabt? Sieh mich nur an, Rafe! Ich sitze im Rollstuhl. Ich kann mich noch nicht mal allein anziehen!“

Rafe fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Sorry, so habe ich das nicht gemeint.“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Wirst du sie zumindest empfangen? Gib ihr doch für eine Woche oder wenigstens ein paar Tage eine Chance. Wenn es mit ihr nicht klappt, lassen wir es bleiben. Die Entscheidung, ob sie bleibt oder geht, liegt ganz bei dir.“

Raoul rollte seinen Stuhl zum Fenster und blickte auf die Wiesen, auf denen einige seiner wertvollen Zuchtpferde grasten. Er konnte nicht rausgehen und ihnen die Nüstern streicheln. Er konnte nicht das weiche Gras unter den Füßen spüren. Er war an diesen Rollstuhl gefesselt – gefangen in seinem eigenen Körper, der ihn vierunddreißig Jahre lang als Menschen definiert hatte – als Mann. Die Ärzte fanden, dass er großes Glück gehabt hatte; immerhin spürte er noch seine Beine und hatte volle Kontrolle über seine Ausscheidungsfunktionen. Wahrscheinlich konnte er sogar Sex haben, aber welche Frau würde ihn jetzt noch wollen?

Keine. Hatte Clarissa ihm das nicht mehr als deutlich zu verstehen gegeben?

Er wollte seinen alten Körper zurückhaben. Er wollte sein Leben zurück.

Raoul bezweifelte, dass diese Archer die Wunderheilerin war, für die Rafe sie zu halten schien. Sie war wahrscheinlich der größte Scharlatan weit und breit, und auf falsche Hoffnungen konnte er verzichten. Er musste allein sein, um sich an seine neue Situation zu gewöhnen. Er war noch nicht so weit, der Welt in diesem Zustand gegenüberzutreten. Bei der Vorstellung, von irgendwelchen Paparazzi in seinem Elend fotografiert zu werden, wurde ihm übel.

„Es handelt sich doch nur um einen Monat, Raoul“, riss Rafes Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Bitte. Versuch es doch wenigstens.“

Raoul wusste, dass seine Brüder sich große Sorgen um ihn machten. Remy, der Jüngste, war erst am Tag zuvor bei ihm gewesen, um ihn aufzuheitern. Rafe und Remy taten wirklich alles, um ihm zu helfen! Von ihrem Großvater Vittorio konnte man das dagegen nicht behaupten. Mit Schuldzuweisungen und Vorwürfen kannte sich der alte Herr bestens aus, was jedoch Zuwendung und Mitgefühl betraf …

„Gib mir eine Woche Zeit, um darüber nachzudenken.“

Dass Rafe auf seinen Vorschlag nur mit Schweigen reagierte, ließ Raoul nichts Gutes ahnen.

Misstrauisch drehte er den Rollstuhl wieder zu seinem Bruder hin, der ihn zerknirscht aus dunkelbraunen Augen ansah. „Jetzt sag nicht, du hast …“

„Sie wartet im Frühstückszimmer“, unterbrach Rafe ihn.

Raoul stieß eine Reihe saftiger französischer, italienischer und englischer Flüche aus. Er kochte innerlich vor Wut. Noch nie hatte er sich so hilflos, so verdammt ohnmächtig gefühlt. Wofür hielt sein Bruder ihn eigentlich? Für ein kleines Kind, das keine eigenen Entscheidungen treffen konnte?

Das Château war sein Zufluchtsort. Niemand hatte hier etwas zu suchen, den er nicht ausdrücklich einlud.

„Beruhige dich doch“, sagte Rafe. „Sie kann dich hören.“

„Ist mir doch egal! Wie konntest du nur, verdammt noch mal?“

„Ich versuche nur, dir zu helfen, da du dir offensichtlich nicht selbst helfen willst. Ich ertrage es nicht, dich so zu sehen. Du sitzt den ganzen Tag nur herum, grübelst und reißt jedem den Kopf ab, der es auch nur wagt, dich anzusehen. Du gehst noch nicht mal nach draußen. Du benimmst dich, als hättest du schon aufgegeben. Aber du darfst nicht aufgeben. Du musst kämpfen.“

Raoul funkelte seinen Bruder aufgebracht an. „Ich gehe erst dann wieder nach draußen, wenn ich es ohne fremde Hilfe schaffe. Du hattest kein Recht, diese Frau ohne mein Einverständnis einzuladen. Das hier ist mein Haus. Schaff sie sofort hier raus.“

„Sie bleibt“, erklärte Rafe entschlossen. „Ich habe sie im Voraus bezahlt und bekomme das Geld nicht zurück. Das war ihre Bedingung, bevor sie den Job annahm.“

Raoul verdrehte verächtlich die Augen. „Sagt das nicht schon alles? Um Himmels willen, Rafe, gerade dir hätte ich mehr Verstand zugetraut. Sie nimmt dich doch nur aus. Wart’s ab, in zwei Tagen marschiert sie wegen irgendeiner blöden Bemerkung von mir hier raus und tänzelt fröhlich zur nächsten Bank.“

„Miss Archer hat ausgezeichnete Referenzen“, widersprach Rafe. „Sie ist hervorragend ausgebildet und sehr erfahren.“

Raoul grunzte geringschätzig. „Kann ich mir vorstellen.“

„Ich werde jetzt gehen, damit ihr euch kennenlernen könnt. Ich muss zurück zu Poppy. Wir sind dabei, unsere Hochzeit zu organisieren, und auf der will ich dich dabeihaben, Raoul, ob mit oder ohne Rollstuhl. Hast du verstanden?“

„Auf keinen Fall werde ich mich der Öffentlichkeit als Freak präsentieren“, zischte Raoul. „Nimm doch Remy als Trauzeugen.“

„Du kennst ihn doch. Er taucht womöglich gar nicht erst auf, weil ihm unterwegs irgendetwas Interessanteres über den Weg gelaufen ist. Nein, Poppy und ich wollen dich als Trauzeugen, und ich will sie nicht enttäuschen.“ Rafe ging zur Tür. „Ich rufe dich in zwei Wochen an, um mich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ciao.

Lily umklammerte nervös ihre Handtasche. Trotz der sommerlichen Temperaturen hatte sie eiskalte Hände. Die lauten Stimmen aus dem Flur nebenan waren nicht zu überhören, und obwohl sie weder Französisch noch Italienisch fließend sprach, verstand sie genug, um mitzubekommen, dass Raoul Caffarelli nicht gerade erfreut über ihre Anwesenheit war. Welche Ironie. Schließlich war sie auch nicht gerade freiwillig hier. Aber das Geld auf dem Hypothekenkonto ihrer Mutter hatte zumindest eins ihrer Probleme beseitigt.

Das größte lag allerdings noch vor ihr.

Allein mit einem ihr völlig fremden Mann in diesem riesigen alten Schloss zu wohnen, war der Stoff für einen Horrorfilm. Ihre Knie zitterten so heftig, dass sie sie zusammenpressen musste.

Die Tür des Frühstückszimmers öffnete sich, und Rafe Caffarelli trat ein. Sein Gesichtsausdruck war finster. „Raoul ist in der Bibliothek. Lassen Sie sich von seiner miesen Laune nicht einschüchtern, er ist gerade nicht er selbst. Seine Situation frustriert ihn einfach.“

Lily stand auf, ihre Handtasche fest an sich gepresst. „Kein Problem.“ Sie schluckte. „Das Ganze muss sehr schwierig für ihn sein …“

„Es ist ein Alptraum, sowohl für ihn als auch für mich. Ich weiß nicht, wie ich an ihn herankommen soll. Er schottet sich von allen ab.“ Rafe rieb sich erschöpft das Gesicht. „Und er verweigert jegliche Kooperation. So habe ich ihn noch nie erlebt. Er konnte ja schon immer ziemlich stur sein, aber das hier schlägt dem Fass den Boden aus.“

„Vielleicht braucht er einfach noch Zeit“, wandte Lily ein. „Manche Menschen brauchen Monate, um ihren Zustand zu akzeptieren. Andere akzeptieren ihn nie.“

„Ich will unbedingt, dass er zu meiner Hochzeit kommt, und wenn ich ihn mit Gewalt dorthin zerren muss.“

„Ich werde mein Bestes versuchen, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.“

„Wenn Sie etwas brauchen, können Sie sich an die Haushälterin Dominique wenden. Sie wird Ihnen Ihre Suite zeigen, nachdem Sie sich Raoul vorgestellt haben. Ein junger Mann namens Sebastien kommt jeden Morgen und hilft meinem Bruder beim Duschen und Anziehen. Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?“

Hunderte, aber das hat noch Zeit. „Nein, ich glaube, das war’s vorerst.“

Rafe öffnete Lily nickend die Tür. „Ich zeige Ihnen jetzt, wo die Bibliothek liegt, aber Sie müssen allein hineingehen.“ Er verzog das Gesicht. „Raoul ist gerade nicht gut auf mich zu sprechen.“

Im Vergleich zu dem sonnigen Frühstückszimmer war die Bibliothek sehr dunkel. Nur ein einziges Fenster ließ Tageslicht herein.

Lilys Blick wurde sofort wie magisch angezogen von der schweigenden Gestalt im Rollstuhl hinter dem großen Schreibtisch. Raoul Caffarelli sah genauso umwerfend gut aus wie sein älterer Bruder. Er hatte die gleichen dunklen Haare, die gleiche bronzefarbene Haut und ein ähnlich markantes, Entschlossenheit suggerierendes Kinn. Seine Augen waren jedoch grünlich anstatt dunkelbraun. In diesem Augenblick blitzten sie vor Zorn.

„Sie haben doch bestimmt Verständnis dafür, wenn ich nicht aufstehe“, sagte er sarkastisch. Sein Gesicht wirkte dabei wie versteinert.

„Ich … selbstverständlich.“

„Wenn Sie nicht schwerhörig oder eine komplette Vollidiotin sind, haben Sie inzwischen wahrscheinlich gemerkt, dass ich keinen Wert auf Ihre Anwesenheit lege.“

Fest entschlossen, sich nicht von ihm einschüchtern zu lassen, hob Lily das Kinn. „Ich bin weder schwerhörig noch eine Idiotin.“

Raoul musterte sie ein paar Sekunden. Lily sah ihm seine französisch-italienische Abstammung deutlich an. Er hatte etwas Stolzes, fast Aristokratisches an sich, und daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass er in einem Rollstuhl vor ihr saß. Er war überdurchschnittlich groß und offensichtlich sehr sportlich, was man an seinen starken, sich unter seinem Hemd abzeichnenden Oberarmen erkennen konnte. Sein rechter Arm war eingegipst, aber seine Hände wirkten kräftig und zupackend.

Raoul Caffarelli war sorgfältig rasiert, doch die dunklen Schatten auf seinem Kinn ließen auf viel Testosteron schließen. Seine Nase war etwas gebogener als die seines Bruders, und die Linien um seinen Mund herum verrieten, dass er abgenommen hatte. Er hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Lily fragte sich unwillkürlich, wie er wohl aussah, wenn er lächelte.

Erschrocken verdrängte sie diesen Gedanken wieder. Sie war nicht hier, um Raoul zum Lächeln zu bringen, sondern zum Gehen, und je eher sie damit anfing, desto schneller hatte sie es hinter sich.

„Ich nehme an, mein Bruder hat Ihnen all die schmutzigen Details meines Zustandes geschildert?“, fragte er, wobei er sie noch immer feindselig fixierte.

„Ich habe mir Ihre Röntgenaufnahmen angesehen und die Gutachten Ihrer Physiotherapeuten durchgelesen.“

Raoul hob eine Augenbraue. „Und?“, fragte er schroff.

Lily fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu ignorieren. „Ich glaube, es wäre einen Versuch wert, ein paar meiner Methoden anzuwenden. Ich habe schon andere Patientinnen mit ähnlichen Verletzungen erfolgreich behandelt.“

„Und was sind Ihre Methoden?“ Raoul kräuselte spöttisch die Lippen. „Weihrauch? Mantras singen? Meine Aura lesen? Hände auflegen?“

Lily spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Sie war daran gewöhnt, dass man sich über ihren ganzheitlichen Ansatz lustig machte, aber sein Sarkasmus ging ihr entschieden zu weit. Er würde seine Meinung schon noch ändern, wenn sie ihn erst mal wieder auf die Beine gebracht hatte. Plötzlich empfand sie diese Herausforderung geradezu als verlockend. „Ich kombiniere traditionelle Heilmethoden mit alternativen. Inwiefern, ist von Fall zu Fall unterschiedlich.“

„Und wovon hängt das ab?“

„Vom Patienten. Ich berücksichtige seine Ernährung, seinen Lebensstil, seine Schlafgewohnheiten, seine psychische Verfassung und …“

„Lassen Sie mich raten. Sie legen ihm die Karten oder erstellen sein Horoskop.“

Lily presste die Lippen zusammen, um sich eine scharfe Bemerkung zu verkneifen. Raoul Caffarelli war der unhöflichste Mann, dem sie je begegnet war, und arrogant noch dazu, aber das lag vermutlich an seiner privilegierten Herkunft. Er war ein verwöhnter Playboy, dem man immer alles auf dem Silbertablett präsentiert hatte. Seine Wut und sein Selbstmitleid waren typisch für Menschen, die noch nie einen Finger hatten krümmen müssen.

Dabei konnte er sich glücklich schätzen, keine Geldsorgen zu haben. Er hatte Menschen um sich herum, die ihn von vorn bis hinten bedienten, und eine Familie, die ihn nicht aufgab. War ihm denn bei all seinem Selbstmitleid in seinem luxuriösen Schloss gar nicht bewusst, dass es da draußen Menschen gab, die kein Dach über den Kopf hatten oder verhungerten, ohne dass sich auch nur irgendjemand einen Deut um sie scherte?

„Ich bin übrigens Stier, falls Sie das wissen wollen“, fügte er hinzu.

Spöttisch hob sie die Augenbrauen. „Das würde Ihren Dickkopf erklären.“

„Stimmt, ich kann ziemlich stur sein.“ Er sah sie pointiert an. „Aber Sie offensichtlich auch.“

„Ich ziehe das Wort ‚beharrlich‘ vor“, erwiderte Lily. „Ich halte nichts davon aufzugeben, bevor man nicht alle Optionen ausgeschöpft hat.“

Raoul trommelte geistesabwesend mit den Fingern seiner Linken auf die Armlehne – ein Geräusch, das in der Stille übermäßig laut widerhallte.

Lily wand sich innerlich unbehaglich unter seinem intensiven Blick. Verglich er sie gerade mit anderen Frauen? Falls ja, schnitt sie bestimmt negativ ab, so unauffällig wie sie sich kleidete. Außerdem trug sie grundsätzlich kein Make-up.

„Ich weiß absolut nicht, was Sie hier wollen“, sagte er schließlich gereizt. „Wenn ich könnte, würde ich Sie eigenhändig rauswerfen.“

Lily hielt seinem Blick stand. „Ich versichere Ihnen, Monsieur Caffarelli, dass ich mich mit Händen und Füßen gegen Sie zur Wehr setzen würde, sollten sie es auch nur wagen, Hand an mich zu legen.“

Raoul hob eine Augenbraue. „Sieh mal einer an. Die so gesetzt wirkende Miss Archer hat ja Stacheln. Skorpion?“

Lily knirschte innerlich vor Wut mit den Zähnen. „Nein, Jungfrau.“

„Kleinlich, kritisch und pedantisch also.“

„Ich bezeichne mich lieber als gründlich.“

Einer seiner Mundwinkel zuckte flüchtig – die bloße Andeutung eines Lächelns, die seine Gesichtszüge jedoch so verwandelte, dass es Lily für einen Moment den Atem verschlug. Doch sein Lächeln war so rasch verschwunden, wie es gekommen war. „Ich habe eine wochenlange Physiotherapie hinter mir, Miss Archer, und nichts hat funktioniert, wie Sie sehen können. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie Erfolg haben, wo viel qualifiziertere Menschen als Sie gescheitert sind.“

„Der Unfall ist noch nicht lange her“, widersprach Lily. „Der menschliche Körper braucht manchmal Monate, wenn nicht sogar Jahre, um sich von einem Trauma zu erholen.“

Autor

Melanie Milburne

Eigentlich hätte Melanie Milburne ja für ein High-School-Examen lernen müssen, doch dann fiel ihr ihr erster Liebesroman in die Hände. Damals – sie war siebzehn – stand für sie fest: Sie würde weiterhin romantische Romane lesen – und einen Mann heiraten, der ebenso attraktiv war wie die Helden der...

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