Küsse in der Weihnachtsnacht

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Eingeschneit an Weihnachten mit einem aufregenden Fremden! Davon hätte die scheue Lehrerin Jessica nie zu träumen gewagt. In einer einsamen Hütte weit draußen im kanadischen Bergland schmiegt sie sich in seine Arme - und ahnt dabei nicht, mit wem sie diese Winternacht verbringt ?


  • Erscheinungstag 15.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735487
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Er war wieder draußen. Auf der Flucht. Irgendwann würden sie ihn natürlich fassen, und dann würden sie ihn noch länger einsperren. Aber bis dahin hatte er genug Zeit, um den Plan auszuführen, den er in den neun Jahren ausgeklügelt hatte. Zeit, um sich für das Unrecht zu rächen, das ihm widerfahren war.

Er hatte sich geradezu mustergültig verhalten und alle getäuscht, indem er sich überaus bescheiden und reumütig gegeben hatte. Allerdings waren es auch keine denkenden Menschen, sondern Narren. Narren und Werkzeuge des Systems, das ihn zum Außenseiter erklärt hatte. Nur der Mann, der ihn ins Gefängnis gesteckt hatte, war ein würdiger Gegner, und es würde ein Triumph sein, ihn zu überlisten.

Was hatte er denn sonst, das ihn am Leben erhielt? Er hatte weder Frau noch Kind, kein Zuhause und keine Arbeit. Und keine Zukunft. Seine Vergangenheit würde ihn immer verfolgen, egal, wohin er ging.

Dass ein Mann für seine Verbrechen bezahlte, war Unsinn. Er hatte seine Schuld nie beglichen, denn man hatte sein Konterfei und seinen Namen überall ausgehängt und ihn als gefährlichen Straftäter abgestempelt, obwohl er nur eines Verbrechens für schuldig befunden war.

Er hatte lediglich unwertes Leben ausgelöscht. Sie war ein billiges Flittchen gewesen, das sich aufgedonnert hatte, um wie eine Lady auszusehen, und hatte seine Schwäche ausgenutzt. Sie hatte sich so über seinen Schreibtisch gebeugt, dass er von ihrem Duft berauscht gewesen war.

Es wäre nicht dazu gekommen, wenn Lynn mit ihm geschlafen hätte, doch sie hatte sich ihm verweigert, nachdem sie das Baby in der fünfzehnten Schwangerschaftswoche beinah verloren hätte. So hatte er seine ehelichen Rechte sechs Monate lang nicht einfordern können. Kein Wunder also, dass er auf die Frau hereingefallen war.

Er hatte sie nicht töten wollen. Es war ein Unfall gewesen, eine Panikreaktion. Nachdem er ihr gesagt hatte, dass er seine Frau ihretwegen nicht verlassen würde, hatte sie ihm eine Szene gemacht und gedroht, Lynn anzurufen und ihr alles zu erzählen. Dann hatte er die Beherrschung verloren, und es war einfach … passiert.

Er hätte freigesprochen oder im schlimmsten Fall der Körperverletzung mit Todesfolge für schuldig befunden werden können. Der Richter hatte, wie es schien, gelegentlich Mitgefühl mit ihm gehabt, und die Geschworenen hätten ihn vielleicht für nicht schuldig befunden – wenn Morgan Kincaid nicht gewesen wäre.

Kincaid war derjenige, der ihm alles weggenommen hatte.

Fröhliche Weihnachten, Mr Staatsanwalt!

Der Zeitpunkt der Vergeltung war gekommen.

1. KAPITEL

Mit einsetzender Dunkelheit wurde der Schneefall stärker, und die Flocken, die im Scheinwerferlicht wirbelten, vermittelten Jessica den Eindruck, als wäre sie in einer abgeschlossenen Welt.

Sie war an milderes Klima gewöhnt, denn auf Springhill Island, das an der Westküste lag, war es im Winter stürmisch und regnerisch. Hier, im Landesinneren von Kanada, herrschte jedoch bittere Kälte.

Jessica hatte die letzte Nacht in einem gemütlichen Gasthaus in einer Kleinstadt in der Nähe des Highways verbracht, das mittlerweile ungefähr dreihundert Meilen hinter ihr lag. Wenn sie in dieser Nacht auch Schutz vor dem Wetter suchen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als die achtzig Meilen lange Gebirgsstraße zu befahren, die zu ihrem nächsten Zwischenstopp auf dem Weg nach Whistling Ridge führte.

Sie wischte über die Windschutzscheibe und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Als der Wagen plötzlich nach rechts wegrutschte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Nur die Pfeiler am Straßenrand, die der Messung des Schneefalls im Winter dienten, verhinderten, dass sie den steilen Abhang hinabstürzte.

Es war der reinste Wahnsinn. Aber sie hatte ihren Urlaub nur deswegen abgeblasen und sich auf dieses Abenteuer eingelassen, weil Selena sich bei einem Unfall mit dem Skilift verletzt hatte. Andererseits war es schon immer so gewesen. Wenn Selena in Schwierigkeiten war, ließ sie, Jessica, sofort alles stehen und liegen und eilte ihr zu Hilfe.

Vorsichtig fuhr sie in die nächste scharfe Kurve. Dabei sah sie hinter sich einen Wagen, der ziemlich schnell auf sie zukam. Offenbar war der Fahrer mit den Wetterverhältnissen vertraut.

Sobald sie die Kurve hinter sich gelassen hatte, beschleunigte sie, denn der Wagen kam immer näher, und Überholen war auf dieser schmalen Straße unmöglich. Außerdem war der Schneefall noch stärker geworden, und große Brocken kullerten nun vom Abhang zu ihrer Linken auf die Straße.

Der Fahrer hinter ihr begann, wild zu hupen. Panik schnürte ihr die Kehle zu. War es ein Verrückter, der versuchte, sie von der Straße abzudrängen?

Im nächsten Moment entdeckte Jessica am rechten Straßenrand einen Lawinenschutztunnel. Krampfhaft umklammerte sie das Lenkrad, trat das Gaspedal noch weiter durch und steuerte darauf zu. Der Fahrer hinter ihr folgte ihr praktisch Stoßstange an Stoßstange.

Dann ertönte lautes Donnern, und die Erde schien unter ihr zu beben. Fassungslos stellte Jessica fest, dass die Straße am anderen Ende des Tunnels aufhörte.

Langsam fuhr sie weiter und hielt sich dabei weit rechts, um den anderen Wagen vorbeizulassen. Sie stoppte erst, als sie sah, dass die Tunnelausfahrt von einer Schneewand blockiert war. Ihr Verfolger hatte ebenfalls angehalten und war ausgestiegen. Nun kam er auf sie zu.

Sein Schatten auf der Betonwand war riesengroß und wirkte bedrohlich. Schnell verriegelte Jessica die Türen und wünschte, genauso leicht die Angst verdrängen zu können, die sie befiel.

Schließlich blieb der Mann neben ihrer Tür stehen und beugte sich herunter. Er sah wütend aus. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig. Er war dunkelhaarig, hatte breite Schultern und wirkte autoritär, was allerdings nicht nur an seiner kräftigen Statur lag.

Dass er ans Fenster klopfte und ihr befahl, es herunterzukurbeln, bestätigte diesen Eindruck, zumal sie automatisch gehorchte und es einen Spaltbreit öffnete.

„Sind Sie lebensmüde?“, erkundigte er sich schroff. Sein Atem dampfte in der kalten Luft.

Erst in diesem Moment wurde ihr richtig bewusst, dass sie allein mit einem Fremden war, der so aussah und so redete, als würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen.

Dass sie das Internat für Mädchen auf Springhill Island als jüngste Direktorin seit dessen Gründung leitete, kam jedoch nicht von ungefähr. „Natürlich nicht“, erwiderte Jessica ruhig, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte. „Aber Sie sind es offenbar, Ihrem Fahrstil nach zu urteilen. Sie haben mich praktisch von der Straße abgedrängt.“

Einen Augenblick lang glaubte sie, ihn damit zum Schweigen gebracht zu haben. Er blickte sie entgeistert an und schüttelte schließlich den Kopf. „Haben Sie eine Ahnung, was gerade passiert ist, Lady?“

„Natürlich.“ Sie verstärkte den Griff ums Lenkrad, damit ihre Hände nicht zitterten. „Es hat einen Schneerutsch gegeben.“

„Es war eine verdammte Lawine“, informierte er sie. „Und wenn ich Sie nicht abgedrängt hätte, wären wir jetzt beide unter den Schneemassen begraben – vorausgesetzt, wir wären nicht den Abhang runtergestürzt.“

Erst jetzt machte sich der Schock bemerkbar, und ihre Zähne schlugen aufeinander. „Wahrscheinlich ist es deswegen so kalt hier drinnen“, sagte sie, um es zu überspielen.

Der Fremde richtete sich auf und schlug mit der Faust aufs Wagendach. „Ich fasse es einfach nicht!“, rief er, und seine Worte hallten von den Wänden wider. „Finden Sie das etwa komisch?“

„Wohl kaum“, erwiderte Jessica. „Ich will in Wintercreek übernachten, und bis dahin sind es noch einige Meilen. Daher würde ich wohl kaum meine Zeit damit verschwenden, Sie mit geistreichen Bemerkungen zu unterhalten.“

Wieder beugte er sich zu ihr herunter und spreizte dabei die Beine, sodass sein Gesicht mit ihrem auf gleicher Höhe war. „Sie wollen heute Abend noch nach Wintercreek?“

„Sagte ich das nicht gerade?“ Sie wünschte, sein Gesicht deutlicher sehen zu können, das nur von einer Seite angestrahlt wurde. „Ich habe ein Zimmer reservieren lassen …“

„Ich habe Sie durchaus verstanden, und ich hoffe, Sie bekommen Ihr Geld zurück“, unterbrach er sie. „Denn sie werden nirgendwohin fahren.“

„Wollen Sie damit sagen, dass ich hier festsitze, bis jemand kommt und mich rettet?“

„Genau.“

„Und … was glauben Sie, wie lange es dauert?“

Der Mann zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen. Wenn wir Glück haben, im Morgengrauen.“

„Das sind ja fast zwölf Stunden!“

„Ich weiß.“ Er stützte die Hände auf die Oberschenkel und richtete sich wieder auf. „Stellen Sie lieber den Motor ab, sonst bekommen wir noch eine Abgasvergiftung, und finden Sie sich damit ab, dass Sie auf dem Rücksitz übernachten müssen. Öffnen Sie den Kofferraum, dann gebe ich Ihnen Ihre Notausrüstung.“

Jessica hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie vollends der Mut verließ, doch genau das hatte der Fremde mit seiner letzten Bemerkung bewirkt. „Notausrüstung?“

„Schlafsack, Kerze, Notverpflegung. Nun machen Sie schon, sonst sterben wir beide an Unterkühlung.“

„Ich … ich habe nur einen Koffer dabei.“

Wieder schlug er mit der Faust aufs Dach. „Das hätte ich mir denken können!“

„Ich nicht“, entgegnete sie scharf. „Im Wetterbericht hat man keine Lawinenwarnung durchgegeben, sonst wäre ich hier nicht langgefahren. Und bitte hören Sie auf, meinen Wagen zu bearbeiteten. Die Situation ist schlimm genug.“

Sie glaubte, ihn fluchen zu hören. „Steigen Sie aus“, befahl er dann.

„Und warum? Sie haben doch gesagt, dass heute Abend niemand mehr kommt.“

„Steigen Sie aus. Oder sind Sie doch lebensmüde?“

„Ich …“

„Steigen Sie aus dem verdammten Wagen aus!“

Jessica vertrat den Standpunkt, dass eine Lehrerin, die sich gegen ihre Schüler durchsetzen wollte, ihre Erwartungen gleich zu Anfang darlegen musste. Ihrer Meinung nach gehörte das Vermitteln gesellschaftlicher Umgangsformen genauso zum Lehrplan wie alle anderen Fächer. Daher war es ihre Pflicht und ebenso die ihrer Kollegen, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Sie widerstand also der Versuchung, ihrem Gegenüber zu sagen, er solle in die nächste Schneewehe springen, und erwiderte höflich: „Kommt überhaupt nicht infrage. Außerdem gefällt mir Ihr Tonfall nicht.“

„Ich bin auch nicht gerade erfreut über die Situation“, erklärte er ungerührt. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, wüsste ich ein Dutzend Leute, deren Gesellschaft mir lieber wäre als die einer Frau, die so wenig Grips hat und bei diesem Wetter ohne die richtige Ausrüstung losfährt.“

„Ich suche Ihre Gesellschaft nicht“, sagte sie scharf.

„Sie sitzen aber mit mir fest.“ Er rieb sich die bloßen Hände, um die Blutzirkulation anzuregen, und wandte sich ab. „Los, steigen Sie aus. Ihr Wagen ist zu klein, als dass zwei Leute sich darin ausstrecken könnten, und ich würde gern etwas schlafen.“

Entsetzt blickte Jessica ihn an, als ihr klar wurde, was das bedeutete. „Erwarten Sie etwa von mir, dass ich die Nacht in Ihrem Wagen verbringe … mit Ihnen?“

„Es ist die bessere Alternative“, erklärte er unverblümt. „Das Leben ist hart genug. Ich habe keine Lust, morgen aufzuwachen und Sie erfroren vorzufinden.“

Der Fremde blies sich in die Hände und bedachte Jessica mit einem gespielt anzüglichen Lächeln. Es war das erste Anzeichen von Humor, das er zeigte. „Ob es gegen die guten Sitten verstößt oder nicht, können wir besprechen, sobald wir im Schlafsack liegen.“

Obwohl sie sein Verhalten äußerst anmaßend fand, konnte sie nicht leugnen, dass die Kälte bereits an ihr hochkroch. Dennoch wollte sie nicht sofort klein beigeben. „Ich muss Sie warnen. Ich habe einige Selbstverteidigungskurse belegt“, sagte sie daher.

„Schade, dass Sie sich nicht schon vorher Sorgen um Ihr Wohlergehen gemacht haben. Ich bin harmlos, aber es würde Ihnen recht geschehen, wenn … Oh, verdammt!“

Er stieß sich vom Wagen ab, offenbar in dem Bemühen, seine Wut zu zügeln. „Ich gebe Ihnen fünf Minuten. Wenn Sie dann nicht bei mir sind, sollten Sie lieber beten und Ihr Testament machen, denn …“ Wieder blies er sich in die Hände. „… es wird das Letzte sein, was Sie tun.“

Dann kehrte er zu seinem Wagen zurück und schaltete die Scheinwerfer aus. Sie hörte, wie er eine Tür zuschlug und eine andere öffnete, und sah, wie er die Innenbeleuchtung einschaltete, bevor er sich im hinteren Teil des Wagens zu schaffen machte. Es schien sich um ein großes Fahrzeug zu handeln. Während die Kälte immer mehr an ihr hochkroch, überlegte Jessica, dass sie kaum eine Wahl hatte.

Vielleicht war er ein Serienmörder und sie sein nächstes Opfer, doch wenn sie sein alles andere als höfliches Angebot ablehnte, würde sie bis zum nächsten Morgen ohnehin tot sein.

Also schob sie ihre Bedenken beiseite, kurbelte das Fenster hoch und stieg aus. Sofort drang die eisige Kälte durch ihren dicken Wollmantel.

Als Jessica sich dem Wagen ihres unfreiwilligen Retters näherte, öffnete dieser die Hecktür und sprang heraus. Jetzt sah sie, dass es sich um einen Jeep handelte, dessen breite Winterreifen mit Schneeketten bestückt waren. „Eine kluge Entscheidung“, bemerkte der Fremde, während er seine dicke Jacke auszog. „Ziehen Sie Ihren Mantel und Ihre Stiefel aus, und steigen Sie ein.“

„Warum müssen wir uns ausziehen, wenn wir uns schlafen legen wollen?“, rutschte es ihr heraus.

Er stand direkt vor ihr. Im Schein der Innenbeleuchtung und einer brennenden Kerze, die in einer Blechdose unter dem Armaturenbrett auf dem Boden stand, konnte sie seine breiten Schultern und seine schmale Taille erkennen. Ob er bemerkte, dass sie errötet war?

Wenn ja, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Stattdessen sagte er: „Ich bin ein Meter neunzig groß und habe achtundachtzig Kilogramm auf die Waage gebracht, als ich mich das letzte Mal darauf gestellt habe. Aus dem Grund habe ich einen extragroßen Schlafsack gekauft, aber für zwei Leute wird es darin trotzdem ziemlich eng. Und ich möchte Ihre nassen Stiefel genauso wenig in den Kniekehlen spüren wie Sie vermutlich meine. Und den Mantel könnten Sie zusammenrollen und als Kissen benutzen.“

„Natürlich“, erwiderte sie ärgerlich. „Wie dumm von mir!“

„Allerdings!“ Er verdrehte die Augen und deutete mit einer überschwänglichen Geste auf den Jeep. „Steigen Sie ein, verstauen Sie Ihre Stiefel in der Ecke, und machen Sie es sich gemütlich.“

Gemütlich? Von wegen! dachte Jessica und zog ihren Pullover herunter, als sie in den Schlafsack kroch.

Kaum hatte sie sich hingelegt, knallte der Fremde die Hecktür zu und stieg vorn ein. Dann zog er sich Stiefel und Jacke aus, warf die Jacke nach hinten und kletterte über den Sitz. Mit dem Rücken zu ihr kroch er ebenfalls in den Schlafsack.

„Das ist wirklich absurd“, hörte sie sich sagen und hätte sich im nächsten Moment ohrfeigen können, weil sie nicht den Mund gehalten hatte.

Er verlagerte ein wenig das Gewicht und rückte seine zusammengefaltete Jacke zurecht, die er sich unter den Kopf gelegt hatte. „Wieso?“

„Na ja, wir liegen zusammen in einem Schlafsack und kennen nicht einmal unsere Namen.“

„Ja.“

„Ich bin Jessica Simms.“

„Ach ja?“, meinte er gleichgültig. „Dann gute Nacht, Jessica Simms.“

„Gute Nacht“, erwiderte Jessica beleidigt. Sie wollte sich umdrehen, doch es ging nicht, weil es einfach zu eng war.

„Hören Sie auf herumzuzappeln, und kuscheln Sie sich an mich“, forderte er sie ungeduldig auf. „Jedes Mal, wenn Sie sich bewegen, strömt kalte Luft in den Schlafsack.“

„Kuscheln?“, wiederholte sie mit bebender Stimme.

Daraufhin streckte er den Arm aus und zog sie an sich. Es war eine höchst kompromittierende Situation, und sie, Jessica, konnte froh sein, dass keine ihrer Kollegen oder Schülerinnen sie so sehen konnte.

„Danke“, sagte sie höflich. „Sie sind sehr freundlich.“

Er seufzte aus tiefstem Herzen. „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Nun schlafen Sie endlich.“

Schlafen gestaltete sich natürlich als schwierig, zumal sie spürte, dass er genauso angespannt war wie sie. Lange Zeit lag sie wach, aber irgendwann entspannte er sich. Sie musste auch eingenickt sein, denn als sie ihre Umgebung das nächste Mal bewusst wahrnahm, lag er mit dem Gesicht zu ihr auf dem Bauch.

Im Schein der Kerze, die immer noch brannte, sah sie, dass er höchstens Ende dreißig sein konnte. Die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen und der harte Zug um seinen Mund ließen ihn jedoch älter wirken.

Noch während Jessica ihn beobachtete, entspannten sich seine Züge, bis auch die Falten verschwunden waren. Er hatte lange seidige Wimpern und markante Wangenknochen.

Wie attraktiv er ist! dachte sie.

Welche Augenfarbe mochte er haben?

Braun? Nein, er war kein verträumter Typ.

Eisgrün? Das schon eher, denn sie spürte, dass er ein kühler, reservierter Mann war.

Mittlerweile war ihr Arm eingeschlafen, weil sie darauf gelegen hatte. Sie bewegte die Finger und zog ihn ganz vorsichtig nach hinten.

Prompt öffnete der Fremde die Augen. Sie waren blau.

Jessica fühlte sich ertappt, als sie seinem Blick begegnete, und überlegte, ob sie es sich nur einbildete oder ob es sekundenlang zwischen ihnen geknistert hatte.

„Was ist?“, erkundigte er sich misstrauisch.

Jessica kam zu dem Ergebnis, dass sie es sich bloß eingebildet hatte. „Nichts. Mein Arm …“ Sie fuhr fort, die Finger zu bewegen, die unangenehm kribbelten. „Er ist eingeschlafen.“

„Schade, dass Sie nicht eingeschlafen sind.“ Er legte wieder den Kopf auf das behelfsmäßige Kissen.

So plötzlich, wie er aufgewacht war, schlief er auch wieder ein. Jessica erschauerte, allerdings weniger vor Kälte als wegen seiner abweisenden Art. Zweifellos machte sie ihm große Unannehmlichkeiten, und vermutlich hätte er seinen Schlafsack lieber mit Wanzen geteilt.

Selenas Unfall hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt passieren können, überlegte sie. Wäre nicht alles anders gekommen, hätte sie jetzt in Cancún unter einem Sonnenschirm gelegen und versucht, so zu tun, als wäre sie nicht die einsame Frau, die sich mit dreißig damit abgefunden hatte, dass die meisten ihrer Träume nicht in Erfüllung gehen würden. Stattdessen hatte sie Leib und Leben riskiert, um zu ihrer Schwester zu fahren, die sie nur brauchte, wenn es ihr schlecht ging.

Doch weder Selena noch sie, Jessica, war an der Lawine schuld. Und der Fremde wäre sicher nicht begeistert gewesen, wenn sie schnell genug durch den Tunnel gefahren wäre, um auf der anderen Seite vom Schnee verschüttet zu werden. Ob er sie ihrem Schicksal überlassen hätte und seelenruhig in seinen Schlafsack gekrochen wäre, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden?

In Anbetracht seiner wütenden Reaktion auf ihr Eingeständnis, dass sie keine Notausrüstung dabeihatte, lag die Vermutung nahe, dass er sie hätte ersticken lassen. Diese Vorstellung ärgerte Jessica, und geräuschvoll drehte sie sich auf die andere Seite, um ihn zu bestrafen.

„Liegen Sie endlich still, verdammt!“, beschwerte er sich unwirsch.

Und genau wie zuvor hinderte er sie daran, sich zu bewegen, indem er sie festhielt. Diesmal schmiegte er sich jedoch an sie und legte ein Bein auf ihre Beine. Er war ihr so nah, dass sie seinen Atem im Nacken spürte.

Es war eine sehr intime Situation.

Sehr intim sogar.

Als Jessica am nächsten Morgen aufwachte, war sie allein im Jeep. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zehn nach acht. Unter dem Armaturenbrett brannte eine neue Kerze, und durch die schmalen Öffnungen auf der rechten Seite des Tunnels war das fahle Tageslicht zu sehen. Als sie sich aufsetzte und sich das Haar aus dem Gesicht strich, sah sie ihren Begleiter vom vorderen Ende des Tunnels auf den Wagen zukommen.

Schnell schlüpfte sie aus dem Schlafsack und zog ihren Pullover herunter. Als ihr Begleiter die Hecktür öffnete, hatte sie bereits ihre Stiefel angezogen und sah so respektabel aus, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.

„Ist schon eine Rettungsmannschaft da?“, erkundigte sie sich, während sie ihren Mantel überzog.

„Nein.“ Er kletterte zu ihr in den Wagen und nahm einen kleinen Rucksack vom Beifahrersitz.

„Was haben Sie dann da hinten gemacht?“

Er reichte ihr einen Müsliriegel und zog ironisch die dunklen Augenbrauen hoch. „Das Gleiche, was Sie wahrscheinlich auch bald tun werden.“

Jessica spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. „Oh … Ja, ich verstehe …“

„Keine falsche Scham. Die Sonne ist kaum aufgegangen, und ich schätze, dass man uns frühestens in einer halben Stunde hier herausholt, denn im Dunkeln ist es zu riskant für den Räumdienst. Außerdem muss die Straße frei sein.“

Sie schaute durch die nächste Öffnung, hinter der sich der Himmel bereits zartrosa färbte. „Und wenn die Straße nicht frei ist?“, fragte sie, denn der Gedanke, noch einen Tag mit ihm auf engstem Raum zu verbringen, war ihr unerträglich.

„Dann müssen wir vermutlich bis zum Vormittag warten, vielleicht sogar länger. Wenn der Schnee sehr tief ist, kommt man nur mit schweren Räumfahrzeugen durch.“ Ihr Begleiter kreuzte lässig die Beine, als würde er regelmäßig unter solchen Umständen frühstücken. „Also, Jessica Simms, wollen Sie mir erzählen, was Sie dazu bewogen hat, mit Sommerreifen und lediglich mit einer Straßenkarte bewaffnet in die Berge zu fahren?“

„Ich will meine Schwester in Whistling Valley besuchen.“

„Bis dahin sind es noch sieben Stunden Fahrt. Falls Sie vorhaben, heil dort anzukommen, sollten Sie in Sentinel Pass anhalten und sich einen Satz Schneeketten kaufen.“

„Ja.“ Unter seinem eindringlichen Blick fühlte sie sich unbehaglich, zumal sie immer noch nichts über ihn wusste. „Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie heißen.“

„Morgan. Verdammt, warum haben Sie Ihre Reise nicht sorgfältig geplant, wenn Sie gewusst haben, dass Sie über Weihnachten hierherkommen? In jedem Reisebüro hätte man Sie über die Wetterbedingungen hier informiert.“ Er biss von seinem Müsliriegel ab, bevor er scharf hinzufügte: „Vielleicht hätten Sie dann etwas passendere Kleidung mitgenommen als diesen dünnen Mantel und diese armseligen Stiefel.“

Offenbar fand er ihre Unzulänglichkeit auf geradezu morbide Art faszinierend. „Ich hatte keine Zeit für irgendwelche Vorbereitungen, Mr Morgan. Ich musste ganz plötzlich aufbrechen.“

„Ach so.“ Morgan zerknüllte die leere Verpackung, warf sie in den offenen Rucksack und nahm anschließend eine Flasche Mineralwasser heraus.

Jessica schüttelte den Kopf, als er ihr die Flasche entgegenhielt, nachdem er den Verschluss abgeschraubt hatte. Sie würde nicht einen Tropfen zu sich nehmen, solange keine Toilette in der Nähe war.

„Handelt es sich um einen Notfall?“

„Was?“

„Dieser plötzliche Entschluss, Ihre Schwester zu besuchen. War es …?“

„Oh.“ Jessica schob die Hände in die Manteltaschen und zog die Schultern hoch. Es kam ihr noch kälter vor als am Abend. „Ja. Sie hat sich bei einem Unfall mit dem Skilift an der Wirbelsäule verletzt, und zuerst sah es so aus, als wäre es etwas Ernstes.“

„Erscheint es Ihnen jetzt nicht mehr so schlimm, weil Sie selbst bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken?“

„Nein“, entgegnete sie scharf. „Bevor ich gestern weitergefahren bin, habe ich im Krankenhaus angerufen, und man hat mir gesagt, dass ihr Zustand stabil sei.“ Sie seufzte. „Es ist nur so, dass Selena ständig in Schwierigkeiten steckt.“

„Das liegt wohl in der Familie“, bemerkte er spöttisch, bevor er einen Schluck Wasser trank.

Jessica blieb eine Antwort erspart, denn vom hinteren Ende des Tunnels war plötzlich das Motorengeräusch schwerer Fahrzeuge zu hören.

Morgan schraubte die Flasche zu und öffnete die Heckklappe, um auszusteigen. „Es scheint so, als hätte der Räumdienst es geschafft. Offenbar ist es doch nicht so schlimm gewesen.“

„Was für ein Glück!“ Sie folgte ihm nach draußen. „Und vielen Dank, Mr Morgan. Sie haben mir das Leben gerettet, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ja, das habe ich, Miss Jessica. Es war mir ein Vergnügen.“

„Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest.“

Ihr war, als würde ein Schatten über sein Gesicht huschen, doch Morgan sagte nur: „Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Straße geräumt ist.“

„Meiner Meinung nach ist es das reinste Wunder, dass der Räumdienst überhaupt gekommen ist.“

„Die gefährlichsten Stellen am Highway sind mit Sensoren ausgerüstet. Sobald die Lampe auf der Anzeigetafel erlischt, weiß der Räumdienst, dass es einen Schneerutsch gegeben hat, und normalerweise machen sich die Männer sofort auf den Weg.“

„Ach so.“ Jessica zog ihren Kragen fester. „Ich glaube, ich warte trotzdem lieber im Wagen. Mir ist schon wieder kalt.“

„Wie Sie wollen.“ Er schloss die Heckklappe. „Aber lassen Sie erst den Motor an, wenn Ein- und Ausfahrt geräumt sind. Nachdem wir die Nacht heil überstanden haben, wollen wir doch nicht an einer Kohlenmonoxidvergiftung sterben, oder?“

Autor

Catherine Spencer

Zum Schreiben kam Catherine Spencer durch einen glücklichen Zufall. Der Wunsch nach Veränderungen weckte in ihr das Verlangen, einen Roman zu verfassen. Als sie zufällig erfuhr, dass Mills & Boon Autorinnen sucht, kam sie zu dem Schluss, diese Möglichkeit sei zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Sie wagte...

Mehr erfahren