Noch ein Kuss und ich bin verloren

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Der attraktive Millionär Jarrett kennt alle Tricks der Frauen! Doch dieser ist neu: eine schöne Unbekannte wird bewusstlos in der Nähe seiner Villa auf der Karibikinsel St. Alicia gefunden. Als die Fremde zu sich kommt, kann sie sich angeblich an nichts erinnern


  • Erscheinungstag 20.07.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734497
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Fallon Bedford rekelte sich auf dem Liegestuhl vor ihrem Bungalow und versuchte sich einzureden, dass es ihr großartig ging. Das Lügen war ihr noch nie leichtgefallen. Selbst im Paradies war es schwer, allein zu sein.

„Du bist im Urlaub“, sagte sie. „Entspann dich.“

Es wirkte nicht. Sie schob die Sonnenbrille hoch und holte tief Luft. Die Sonne war warm auf ihrer Haut, der Himmel postkartenblau. Neben ihr auf dem kleinen Tisch stand ein tropischer Drink mit viel Rum, daneben lag ein Modemagazin. Sie hatte den Tag genießen und sich um nichts und niemanden Sorgen machen wollen. Bis halb zwei Uhr nachmittags hatte sie das auch durchgehalten, dann aber hatte die Langeweile eingesetzt.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, so früh auf die Insel zu kommen. Sie hatte es jedoch für eine gute Idee gehalten. Das Schuljahr war zwei Wochen vor Weihnachten zu Ende gewesen, und anstatt zu Hause darauf zu warten, dass ihre Drillingsschwestern und deren Männer Urlaub machten, war sie selbst aktiv geworden. Der Bungalow, den sie zusammen reserviert hatten, war frühzeitig frei geworden. Also war sie alleine vorgeflogen. Jetzt hatte sie zehn Tage für sich, zum Surfen, Sonnen oder was immer die Leute hier taten. Unglücklicherweise war es erst halb zwei Uhr des ersten Tages.

„Du bist undankbar“, rügte sie sich laut und setzte sich auf. „Oder du bist das Faulenzen nicht mehr gewohnt.“ Die Fünftklässler hielten sie auf Trab. Sie hatte den Beruf, ihre beiden Schwestern und ihre Zukunftspläne. Das alles ließ ihr nicht viel Freizeit. In ein paar Tagen würde ihr das Nichtstun bestimmt weniger schwerfallen, aber im Moment war sie viel zu rastlos. Sie beschloss, einen Spaziergang zu unternehmen.

Fallon band sich ein Tuch um und stand auf. Sie nahm den Hut und die Zimmerschlüssel, nippte noch einmal an ihrem Drink und ging zum Pfad, der zum Haupthaus des Hotels führte.

Die Anlage war ein romantisches Versteck inmitten eines tropischen Paradieses. Die Wilkenson-Hotelkette war bekannt für ihren Luxus, aber hier auf St. Alicia hatten die Architekten sich selbst übertroffen.

Die Bungalows lagen an einer Lagune. Das Hotel selbst bestand aus drei Flügeln und erstreckte sich über fast eine halbe Meile. Der weiße Strand reichte um die gesamte Insel. Fallon hatte gehört, dass man sie zu Fuß umrunden konnte, entschied sich jedoch dagegen, denn St. Alicia war über fünfhundert Quadratmeilen groß, und sie hatte wenig Lust, eine solche Strecke in Sandalen zurückzulegen.

Ein Pfad führte um die Lagune. Sie schlenderte ihn entlang und sog die tropische Süße ein, die die Luft erfüllte. Vögel flatterten umher. Farbenprächtige Blumen säumten den Weg. Kleine Eidechsen dösten auf den Felsen.

Als sie um eine Ecke bog, bemerkte sie, dass etwas in der Lagune trieb. Zuerst hielt sie es für einen Fisch, aber die Form war anders, und was immer es war, es tauchte nicht unter die Oberfläche. Sie ging näher heran, beugte sich hinab und holte eine Flasche aus dem Wasser, in der ein zusammengerolltes Stück Papier steckte.

Fallon schaute sich um. Wollte jemand ihr einen Streich spielen? Eine Flaschenpost? So etwas gab es im wirklichen Leben nicht. Sie setzte sich auf eine der Steinbänke am Pfad, zog erst den Korken, dann den Zettel heraus und las ihn.

„Mein Name ist Anna Jane, und ich bin neun Jahre alt. Ich wohne in einem großen Haus am nördlichen Ende der Insel. Ich habe niemanden, mit dem ich spielen kann. Ich hoffe, wenn Du diese Nachricht erhältst, kommst Du mich besuchen und wir werden Freunde.“

Unter der Nachricht stand „umdrehen“. Gehorsam drehte Fallon das Blatt um und sah eine mit der Hand gezeichnete Karte, auf der das Haus des kleinen Mädchens mit einem X markiert war.

„Wie traurig“, flüsterte Fallon. Ihre eigene Familie war zwar nicht perfekt gewesen, aber sie hatte das Glück gehabt, mit zwei Schwestern aufzuwachsen.

Fallon betrachtete die Karte. Die Insel darauf ähnelte St. Alicia. Vielleicht lag das gar nicht weit entfernt. Wenn die Eltern nichts dagegen hatten, würde sie das einsame kleine Mädchen gern besuchen.

Sie nahm die Nachricht mit ins Hotel. Am Pool gab es eine Bar unter einem Strohdach. Sie setzte sich auf einen Hocker und lächelte dem Barkeeper zu.

Sie sah auf sein Namensschild. „Hallo, Joshua“, sagte sie und zeigte ihm die Karte. „Wissen Sie, wo dieses Haus ist?“

Der junge Mann studierte die Zeichnung. „Das sieht nach Mr. Wilkensons Haus aus.“

„Der Eigentümer des Hotels?“

Joshua nickte.

„Also muss das hier von seiner Tochter sein“, folgerte sie. „Wo ist seine Frau?“

Joshua runzelte die Stirn. „Mr. Wilkenson ist nicht verheiratet. Und es gibt auch kein kleines Mädchen.“

„Aber es muss ein Kind geben.“ Sie drehte den Zettel um. „Es hat das hier geschrieben.“

Joshua überflog den Text. „Ich weiß nicht, wer sie sein könnte.“

„Seltsam. Gibt es dort noch ein anderes Haus?“

„Der Chef hat keine Nachbarn. Sein Anwesen ist leicht zu finden. Etwa vier Meilen den Strand entlang. Aber seien Sie gewarnt, Mr. Wilkenson legt keinen Wert auf Gesellschaft.“

„Das wundert mich nicht.“ Der Eigentümer der Wilkenson-Hotelkette galt als menschenscheu. „Der Mann interessiert mich nicht, nur das kleine Mädchen. Keine Angst, ich werde ihm nicht sagen, dass Sie mir den Weg verraten haben.“

Joshua beugte sich lächelnd vor. „Gut. Ich möchte nicht mit Mr. Wilkenson sprechen müssen. Meine Schicht ist in zwei Stunden vorüber, und ich freue mich schon auf den Urlaub zu Hause.“

„Wo ist das?“

„Jamaika. Ich habe fünf Schwestern und drei Brüder. Wir werden zum ersten Mal seit vier Jahren Weihnachten wieder zusammen feiern.“ Er sah auf die Uhr. „Mein Flugzeug geht um fünf.“

Fallon glitt vom Hocker. „Wenn ich es über mich hinwegfliegen sehe, werde ich winken.“ Sie nahm den Zettel. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub, Joshua. Und danke für die Information.“

Er lächelte ihr zu.

Fallon studierte die Karte. Vier Meilen am Strand waren wie sechs Meilen auf einem Pfad. Der weiche Sand kostete Kraft. „Denk daran, wie gut es deinen Oberschenkeln tun wird“, sagte sie sich und sah zum Himmel hinauf. Es war fast zwei Uhr. Das Haus zu finden und noch bei Tageslicht zurückzukehren war unmöglich, und sie wollte sich lieber nicht auf Jarrett Wilkensons Gastfreundschaft verlassen. Sie würde morgen früh aufbrechen. Dann konnte sie das Haus finden, konnte herausbekommen, ob dort wirklich ein einsames kleines Mädchen wohnte, und bei Sonnenuntergang wieder im Hotel sein.

Ein Ziel und einen Plan zu haben hob Fallons Stimmung beträchtlich. Sie umrundete den Pool und nickte den dort liegenden Pärchen zu. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein.

Am nächsten Morgen stand Fallon früh auf. Der Zimmerkellner brachte ihr nicht nur das Frühstück, sondern auch ein Lunchpaket sowie zwei Flaschen Wasser. Sie verstaute den Proviant zusammen mit der Sonnenschutzcreme und einem Handtuch in einem alten Umhängebeutel.

Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie ihre Zimmertür abgeschlossen hatte, eilte sie zum Strand. Es war erst kurz nach acht, und bis auf einige Jogger lief niemand über den weißen Sand. Fallon schloss sich ihnen nicht an. Zum Haus und zurück waren es acht Meilen, das würde genug Sport sein. Vor allem nachdem sie die letzten Monate in einem Klassenzimmer mit höchst lebendigen Zehnjährigen verbracht hatte, würde das eine echte Abwechslung bedeuten.

Drei Stunden später war aus ihren energischen Schritten ein erschöpftes Stolpern geworden. Ihre Waden schmerzten.

Es gab nur Sonne, Sand und Wasser, nirgends Schatten. Und das Meer erstreckte sich bis zum Horizont.

Fallon nahm den Hut ab und wedelte damit vor dem Gesicht. Ihre Wangen und Schultern schienen zu glühen. Sonnenschutzfaktor 30 war offenbar zu wenig, um ihre blasse Haut zu schützen. Seit zwei Stunden hatte sie keine lebende Seele mehr gesehen. Die Gegend wirkte vollkommen unbewohnt. Hätte sie nicht schon zwei Nächte in der paradiesischen Anlage verbracht, hätte sie schwören können, dass sie auf einem verlassenen Eiland gestrandet war.

„Eine Abenteurerin bist du nicht gerade“, murmelte sie, während sie den Hut wieder aufsetzte und voller Sehnsucht an das schattige Grün des Hotelgeländes dachte.

Sie holte die Wasserflasche heraus. Eine hatte sie bereits geleert, und die zweite war auch nur noch halb voll. Nach dem Winter in San Francisco war sie auf die tropische Hitze nicht vorbereitet. Auch hier war Dezember, aber die Sonne nahm auf den Kalender keine Rücksicht.

Fallon wischte sich den Schweiß vom Gesicht und öffnete das Lunchpaket. Sie aß ein Sandwich sowie einige Kekse und breitete die Landkarte aus. Joshua hatte gesagt, dass das Haus nur vier Meilen entfernt lag, also konnte es nicht mehr weit sein. Hätte Anna Jane die Zeichnung doch nur maßstabsgetreu gezeichnet!

Sie steckte die Nachricht wieder ein, streckte sich auf dem warmen Sand aus und legte sich den Hut auf das Gesicht. Sekunden später war sie fest eingeschlafen, als plötzlich etwas Weiches, Kühlendes sie umschloss und sie anhob, höher und höher. Sie atmete tief durch …

Und schnappte nach Luft. Irgendetwas stimmte nicht. Sie brauchte wertvolle Zeit, um den Schlaf abzuschütteln. Entsetzt fuhr sie hoch und sah sich um. Die Flut hatte die kleine Bucht überschwemmt, und sie wäre beinahe ertrunken. Das Wasser bedeckte den ganzen Strand und reichte fast bis zu den Klippen hinter ihr.

Bleib ruhig, befahl Fallon sich. Sie versuchte, sich treiben zu lassen. Ihr konnte nichts passieren, es war nur die Flut. Sie konnte schwimmen. Die Bucht war nicht groß. Sie würde in Richtung des Hotels schwimmen, irgendwann den Strand erreichen und festen Boden unten den Füßen bekommen. Es konnte nicht weit sein.

Als ihre Panik sich ein wenig legte, drehte sie sich auf den Bauch und begann zu schwimmen. Sie blieb dicht unter den Klippen, wo das Wasser nicht so tief aussah.

Das lange Haar trieb ihr ins Gesicht, und sie schob es fort. Als ihr die Füße schwer wurden, streifte sie die Schuhe ab. Sie hatte die Klippen fast erreicht, als der erste Krampf einsetzte.

Der Schmerz durchzuckte ihr Bein, und sie krümmte sich. Als sie keuchend nach Luft schnappte, schluckte sie Wasser und musste würgen. Beim zweiten Krampf kehrte die Panik zurück, und Fallon begann zu weinen. Hustend hielt sie sich das Bein und kämpfte verzweifelt darum, an der Oberfläche zu bleiben.

Eine Welle schlug über ihr zusammen und spülte sie dichter an das Kliff. Sie stieß sich mit den Füßen ab und schaffte es, Luft zu holen. Doch dann krampfte sich ihr Magen zusammen. Die nächste Welle ließ sie fast gegen die Felswand prallen. Sie streckte den Arm aus, aber sie hatte nicht genug Kraft, um sich weit genug abzustoßen, und das Letzte, was sie fühlte, war die Wucht, mit der sie gegen die Steinwand geworfen wurde.

„Das ist mein letztes Angebot“, sagte Jarrett Wilkenson und kehrte dem spektakulären Blick aus den großen Fenstern seines Büros den Rücken. „Entweder sie unterschreiben, oder wir brechen die Verhandlung ab. Verstanden?“

„Ja, Sir“, erwiderte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Nur noch zwei Punkte.“

Jarrett zog ein Blatt Papier zu sich heran und strich die drittletzte Zeile durch. Diese zweiwöchentlichen Anrufe dauerten lange, aber es war einfacher zu telefonieren, als jedes Mal in die USA zu fliegen und persönlich zu erscheinen.

„Da wäre noch die Sache mit dem Riverbend Hotel“, fuhr der Anrufer fort. „Meinen Informationen zufolge …“

Die Tür zu Jarretts Büro flog auf. Anna Jane kam hereingestürmt. „Onkel Jarrett, komm schnell! Es gibt einen Notfall.“

Er sah zu seiner Nichte hinüber. Ihre dunklen Augen waren vor Angst geweitet.

„Augenblick, Roberts“, sagte er und schaltete sich aus der Leitung. „Was ist denn?“, fragte er das kleine Mädchen.

Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen und presste die Hände zusammen. „Am Strand ist eine Frau“, verkündete sie atemlos. „Frank hat gesagt, dass sie wahrscheinlich von der Flut in eine Bucht und dann an Land getrieben wurde. Sie ist verletzt. Er sagt, sie braucht einen Arzt.“

Jarrett nickte. Er schaltete das Telefon wieder ein. „Wir reden später weiter, Roberts. Ich muss mich hier um etwas kümmern.“ Ohne die Antwort abzuwarten, legte er auf. Er drückte auf zwei Knöpfe, und der Apparat wählte automatisch eine Nummer. Als eine Frau sich meldete, erzählte er ihr von der verletzten Fremden am Strand und bat sie, sofort den Arzt zu verständigen.

Er stand auf und ging zur Tür. Eine rätselhafte Frau, die an seinen Strand getrieben war. Er verzog das Gesicht. Kein schlechter Trick – originell, wenn auch riskant. Aber sie gingen oft die unglaublichsten Risiken ein, um zu ihm zu gelangen. Irgendwie hatte er geglaubt, hier sicher zu sein. Und für eine Weile war er das auch gewesen.

Er ging durch die Eingangshalle des großen Hauses und eilte zur Hintertür. Von dort war es nicht weit bis zum Strand.

Die Frau kam wahrscheinlich vom Hotel. Hatte sie gewusst, wie gefährlich die Strömung in der Bucht war? Hatte sie das sogar eingeplant? Oder waren ihr die Wasserstandsmarkierungen an den Felsen nicht aufgefallen?

Egal, sagte er sich. Sobald der Arzt eintraf, würde man die Frau dorthin zurückbringen, wohin sie gehörte. Eigentlich sollte er im Haus bleiben. Aber er konnte nicht anders, er musste ihr ins Gesicht sehen. Er musste sicher sein, dass sie lebte.

„Onkel Jarrett?“

In der Hektik hatte er seine Nichte völlig vergessen. Er ging langsamer, damit Anna Jane ihn einholen konnte. Sie hob das kleine trotzige Kinn und sah zu ihm hoch. „Onkel Jarrett, ich glaube, ich habe etwas Schlimmes getan.“

Ihre Unterlippe zitterte. Manchmal erkannte er in Anna Jane seine Schwester wieder. Vertraute Züge, ein bestimmter Tonfall, all das versetzte ihn zurück in eine fast vergessene Vergangenheit. Aber es gab auch Zeiten, in denen seine Nichte ihm fremd erschien. Vielleicht lag es daran, dass er sie in ihrem jungen Leben höchstens ein halbes Dutzend Mal gesehen hatte. Bis er sie nach der Beisetzung ihrer Mutter vor wenigen Wochen zu sich geholt hatte, waren sie nie miteinander allein gewesen.

Etwas Schlimmes? Was bedeutete das? Was wusste er über Kinder und das, was sie so alles ausfraßen? Tracy hätte das Sorgerecht jemand anderem übertragen sollen. Einer Freundin mit eigenen Kindern. Jemandem, der wusste, wie er auf große, unschuldig blickende Augen reagieren sollte.

„Ich verstehe“, sagte er.

Anna Jane nickte. „Ich wollte es nicht. Aber ich war so alleine und wollte jemanden zum Spielen, also habe ich einen Brief geschrieben.“

„Das ist doch nicht schlimm“, meinte er und ging weiter.

„Das ist noch nicht alles.“

Er blieb stehen und sah sie an. Der Pfad führte zum Strand hinunter. Anna Jane stand oben, eine winzige Gestalt vor den hohen Bäumen und dem dreistöckigen Haus hinter ihr. Zum allerersten Mal hörte er ihre Worte. Ich war so alleine.

Einsamkeit war ihm vertraut. Er hatte sich daran gewöhnt wie an einen chronischen Schmerz oder einen lästigen Verwandten, der bei ihm eingezogen war. Und doch hatte er nicht damit gerechnet, dass ein Kind sich einsam fühlen würde. Kinder hatten doch immer etwas zu tun. Wieder fragte er sich, was seine Schwester gedacht hatte, als sie ihr Testament verfasste. Aber seine Schwester hatte nicht erwartet, dass sie so jung sterben würde.

Er betrachtete das traurige kleine Mädchen und wünschte, er könnte mehr für seine Nichte tun.

„Ich habe in dem Brief geschrieben, dass derjenige, der ihn findet, mich besuchen soll“, gestand Anna Jane. „Ich habe eine Karte von der Insel gemalt und das Haus mit einem Kreuz eingezeichnet.“

„Ich verstehe nicht, was …“

„Ich habe den Brief in eine Flasche gesteckt und sie ins Wasser geworfen“, unterbrach sie ihn. „Deshalb ist sie hier.

Sie hat meinen Brief gefunden, und jetzt stirbt sie.“

Wie Mommy. Anna Jane sprach die Worte nicht aus, aber Jarrett hörte sie. Einsamkeit und Schuldgefühl. Die zwei Hunde, die das Tor zur Hölle bewachten. Wie konnte er ihr erklären, dass nichts davon ihre Schuld war?

„Wenn du deine Flasche erst vor Kurzem ins Meer geworfen hast, kann sie noch keine andere Insel erreicht haben“, sagte er.

Sie legte die Hände ineinander, betrachtete sie und lächelte plötzlich. „Du hast recht. Ich habe sie erst gestern ins Wasser geworfen.“ Sie ging zu ihm und berührte ihn. „Danke, Onkel Jarrett.“

„Kein Problem. Jetzt lass uns nach unserem rätselhaften Gast sehen.“

Er ging vor. Als sie unten am Strand ankamen, knieten Frank und Leona, das Ehepaar, das als Haushälterin und Gärtner auf dem Anwesen arbeitete, neben einer reglosen Gestalt.

„Bleib hier“, wies Jarrett seine Nichte an und eilte hinüber.

Leona erhob sich, als er näher kam. „Oh, Mr. Jarrett, Anna Jane hat Ihnen von ihr erzählt. Das arme Ding.“ Sie zeigte auf die Fremde. „Sie atmet, aber sie wacht nicht auf. Frank meint, wir können nicht wissen, was mit ihr ist. Haben Sie den Arzt gerufen? Wissen Sie, wer sie ist? Jemand aus dem Hotel vielleicht. Oder von einer Segeljacht. Sie könnte über Bord gefallen sein.“

Jarrett hockte sich neben die Frau und legte die Finger an ihren Hals. Der Puls war schwach, aber spürbar.

„Kennen Sie die Frau?“, fragte er seinen Gärtner.

„Nein.“

Jarrett betrachtete die junge Frau. Abgesehen von der dunklen Schwellung an der linken Seite des Gesichts, der Schnittwunde an der Stirn und den Kratzern an Armen und Beinen war sie blass. Das lange blonde Haar lag ausgebreitet auf dem Sand. Sie trug einen Badeanzug und Shorts. Keine Schuhe. Mitte zwanzig. Er hatte sie noch nie im Leben gesehen.

„Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist“, vermutete Frank.

„Gut.“

Jarrett fügte sich in das Unvermeidliche, hob die Bewusstlose auf die Arme und trug sie zum Haus. Als er sie in einem der Gästezimmer aufs Bett legte, war Dr. John Reed bereits eingetroffen. Leona führte ihn nach oben, und Jarrett empfing ihn an der Tür.

Die beiden Männer gaben sich die Hand. John hatte an einer angesehenen Universität studiert und in New York eine einträgliche Praxis eröffnet. Nach fünfzehn Jahren in der Stadt hatte er sich ausgebrannt gefühlt. Jarrett hatte ihm ein tropisches Paradies, ein Haus am Meer sowie genug Geld geboten, um sein neues Leben zu genießen. Auf diese Weise bekam die Insel ihren ersten ansässigen Arzt, und John Reed hatte die Medizin nicht ganz aufgeben müssen.

„Was ist passiert?“, fragte er und beugte sich über die Bewusstlose.

Jarrett erzählte ihm, was er wusste. Er spürte, dass Leona, Frank und Anna Jane in der Tür standen und gespannt zusahen.

„Sie ist jung“, meinte John. „Und hübsch.“

„Hmm.“ Jarrett interessierte es nicht, wie sie aussah.

John untersuchte sie. „Nichts gebrochen. Nur ein paar Kratzer. Vermutlich hat sie eine Menge Wasser geschluckt. Ich …“

Ein leises Stöhnen ließ ihn verstummen. Jarrett ging näher ans Bett. Die Lider der jungen Frau zuckten, dann schlug sie die Augen auf. Ihre Farbe erinnerte ihn an Sommergras. Ein reines, makelloses Grün. Sie blinzelte.

„Was …“ Sie brach ab und hustete.

John setzte sich neben sie und lächelte. „Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Sie hatten einen kleinen Unfall auf dem Meer, aber jetzt sind Sie okay. Ich bin Dr. John Reed. Holen Sie tief Luft, bevor Sie zu sprechen versuchen.“

Die Frau gehorchte. „Ich war im Meer?“, fragte sie und sah sich um. „Wo bin ich?“

„In einem Privathaus“, erklärte John. „Wie fühlen Sie sich?“

Die Frau bewegte sich und verzog das Gesicht. „Es tut weh, aber es geht.“

Sie hob die Hand und tastete über ihr Gesicht. „Bin ich gegen etwas gestoßen?“

„Es sieht so aus.“ John leuchtete ihr in die Augen. „Wie viele Finger halte ich hoch?“

„Zwei“, antwortete die Frau. „Mir ist nicht schwindlig, wenn Sie das meinen. Das Zimmer dreht sich nicht. Mir ist ein wenig übel, und ich fühle mich schwach, aber ich bin nicht verletzt.“

„Gut.“ Der Arzt warf Jarrett einen Blick zu. „Ich möchte, dass sie sich noch einen Tag lang ausruht, aber ich denke, sie kommt wieder auf die Beine.“

Jarrett biss sich auf die Zunge, bevor er ablehnen konnte. John wusste genug über seine Vergangenheit und hätte ihn nicht darum gebeten, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre. „Einverstanden“, knurrte er.

John wandte sich wieder seiner Patientin zu. „Ich möchte, dass Sie für den Rest des Nachmittags im Bett bleiben. Sie haben einen Schock erlitten. Ihr Körper muss sich erholen.“ Er runzelte die Stirn. „Ich war wohl zu lange in der Sonne“, scherzte er. „Ich habe ganz vergessen, nach Ihrem Namen zu fragen.“

Die Frau lächelte. „Es gab Wichtigeres. Ich bin …“ Sie zögerte mit offenem Mund. Ihre Lippen bewegten sich, aber es kam kein Wort heraus. Das Lächeln verblasste, die Augen weiteten sich. Ihre Finger krümmten sich, als sie in die Luft griff, nach etwas, das weder John noch Jarrett sehen konnten.

Sie starrte John an. „Ich weiß meinen Namen nicht.“

2. KAPITEL

Jarrett saß an seinem Schreibtisch und starrte auf seinen Füllfederhalter, während sein Freund sich einen Scotch aus der Karaffe einschenkte. Erst nachdem John einen Schluck getrunken hatte und ans Fenster ging, hob er den Kopf.

„Wie sind ihre Aussichten?“

John zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie so gründlich wie möglich untersucht. Die Reflexe sind in Ordnung, keine Anzeichen einer inneren Verletzung. Sie hat ein paar Prellungen und wird sich noch mindestens einen Tag lang schwach fühlen, aber abgesehen davon ist sie in Topform.“ Er sah Jarrett an, als würde er einen Kommentar zu seiner doppeldeutigen Diagnose erwarten.

Jarrett ignorierte ihn. Sicher, auch ihm war aufgefallen, dass die Fremde einen reizvollen Körper besaß. Na und? Hunderte, Tausende von Frauen besaßen reizvolle Körper. Das bedeutete nicht, dass er an einer von ihnen interessiert war.

„Sie braucht Ruhe“, fuhr John fort, als Jarrett schwieg. „Ich kann mir denken, dass du sie möglichst bald wieder loswerden willst, aber wirf sie bitte frühestens morgen hinaus.“

„Ich bin kein Unmensch“, bemerkte Jarrett eisig.

„Gut zu wissen. Manchmal bin ich mir nicht ganz sicher.“

Jarrett ignorierte auch diese Bemerkung. „Spielt sie uns etwas vor?“

„Der Gedächtnisverlust? Schwer zu sagen. Kopfverletzungen sind kompliziert. Wir wissen so wenig über das Gehirn und seine Heilung. Oft wird eine solche Amnesie durch ein traumatisches Erlebnis hervorgerufen. Meistens verschwindet sie von allein. Andererseits …“

„Natürlich simuliert sie“, unterbrach Jarrett ihn. „Und praktischerweise hat sie ihren Ausweis verloren oder ihn gar nicht erst mitgenommen.“

„Aha.“

„Ich kenne die Frauen.“ Jarrett starrte aus dem Fenster. Der Anblick des blauen Himmels und des glitzernden Wassers beruhigte ihn zwar nicht so sehr, wie er wünschte, aber alles war besser, als an die Vergangenheit zu denken.

John nahm noch einen Schluck Scotch, bevor er sich in den Sessel vor den Schreibtisch setzte. „Wenn du weißt, dass sie simuliert, warum fragst du mich dann?“

„Ich kenne die Masche und lasse mich nicht noch einmal für dumm verkaufen.“

„Ich verstehe.“ John strich sich über das schüttere Haar. „Mir ist neu, dass du immer wieder von Frauen heimgesucht wirst, die behaupten, das Gedächtnis verloren zu haben. Aber wenn das so ist, kennst du dich natürlich besser mit so etwas aus. Ich beuge mich deinem größeren Wissen und deiner Erfahrung.“

Jarrett kniff die Augen zusammen. „Ich finde dich kein bisschen amüsant.“

John grinste. „Schade.“

Jarrett blieb ungerührt.

Der Arzt seufzte. „Na gut. Wir machen es so, wie du willst, aber ich finde, du nimmst dir diese Sache zu sehr zu Herzen. Es ist durchaus möglich, dass die Frau harmlos ist. Sie muss es nicht auf dich und dein Geld abgesehen haben.“

„Ich kann mir nicht leisten, unvorsichtig zu sein.“ Jarrett starrte den Arzt an, der trotz seines Misstrauens ein guter Freund geworden war. „Du weißt, was in der Vergangenheit passiert ist, John, aber du weißt nicht alles. Ich muss das Schlimmste annehmen. Zumal Anna Jane jetzt bei mir lebt. Ich bin für ihre Sicherheit verantwortlich.“

„Möchtest du, dass sie heute Nacht bei mir schläft?“, fragte John.

Jarrett zog die Augenbrauen hoch. „Sie ist erst neun, John. Ich kann sie nicht allein lassen.“

„Stimmt. Ich bin Arzt. Ich könnte heute Abend hierbleiben. Etwas Ruhe würde mir guttun.“

Johns Ruf war legendär. Sein Haus am Meer hatte schon unzählige Frauen beherbergt. Die meisten waren Hotelgäste, die einen Teil ihres Urlaubs mit ihm verbrachten. Manche gehörten zum Personal. Er machte keinen Hehl daraus, dass er nur eine flüchtige Affäre wollte, und die Frauen schienen damit zufrieden zu sein.

„Anna Jane ist hier sicher genug“, fuhr Jarrett fort. „Du sagtest, die Frau wird morgen transportfähig sein.“

„Alles, was sie braucht, ist eine Nacht Schlaf. Außerdem kannst du inzwischen herausfinden, ob sie eine Betrügerin ist oder nicht“, erwiderte der Arzt. „Wenn sie dich zu täuschen versucht, wirst du sie überführen. Wenn sie echt ist, hast du ein paar Stunden in der Gesellschaft einer hübschen Frau verbracht. Es gibt Schlimmeres.“

„Was wird, wenn sie ihr Gedächtnis wirklich verloren hat?“

„Ich bin nicht sicher. Die Erinnerung kann stückweise oder auf einen Schlag zurückkehren. Das Gehirn ist ein kompliziertes Organ.“ John leerte sein Glas. „Was willst du tun?“

„Ich bin nicht für sie verantwortlich. Frank wird sie morgen früh ins Hotel bringen. Ich bezweifle, dass sie von einer der Nachbarinseln kommt. Bestimmt hat sie Freunde, die sie heute Abend zurückerwarten.“

John stand auf. „Es ist deine Entscheidung. Aber bist du denn gar nicht neugierig, wer sie ist?“

„Warum sollte ich?“

„Eine wunderschöne Frau wird an deinen Privatstrand gespült. Sie weiß nicht, wer sie ist oder woher sie kommt. Wie mysteriös und abenteuerlich.“

Jarrett verzog das Gesicht. „Sie könnte mich verklagen.“

„Du bist völlig unromantisch.“

Stimmt. Er hatte seine Gefühle schon vor langer Zeit abgeschaltet. Das Leben war einfacher, wenn man nichts fühlte. Er verließ sich auf Logik und Tatkraft.

John ging zur Tür. „Ruf mich an, wenn ihr Zustand sich verändert. Vergiss nicht, ihr etwas zu essen zu geben. Du könntest sie zum Essen einladen.“

„Auf Wiedersehen, John.“

John zwinkerte ihm zu. „Du Glückskerl. Warum passiert mir so etwas nie?“

Jarrett sah ihm nach. John kannte seine Vergangenheit nicht, sonst würde er sich wohl kaum wünschen, mit ihm zu tauschen.

Anna Jane blieb vor dem Arbeitszimmer ihres Onkels stehen. Die große Tür stand offen. Sie wollte nicht hineingehen. Sie wollte ihm nicht die Wahrheit sagen, denn dann würde er ihr böse sein. Vielleicht brauchte sie es ihm nicht zu sagen. Vielleicht würde Leona nichts sagen, und sie könnte einfach …

Autor

Susan Mallery

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.

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