Alle lieben Dr. Worthington

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Wenn Dr. Worthington durchs Krankenhaus eilt, leuchten die Augen aller Schwestern. Marnie ist vom ersten Arbeitstag an gewarnt! So ein Traummann kann bestimmt nicht treu sein … Aber als der Single-Dad in eine Notlage gerät, ist sie zur Stelle. Und darf nicht seinem Charme verfallen …


  • Erscheinungstag 24.07.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507943
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es wäre wirklich zu schön gewesen, um wahr zu sein!

Mit jedem Meter, den Marnie Johnson langsam die Beach Road hinunterfuhr, verstärkte sich das ungute Gefühl, das sie verspürte. Die hübschen, neuen Apartmenthäuser, die sie vor einigen Wochen besichtigt hatte, lagen längst hinter ihr. In dieser Gegend gab es nur noch heruntergekommene Häuser mit verwahrlosten Gärten. Häuser, in die man erst viel Zeit, Geld und Enthusiasmus investieren musste, bevor sie zu einem gemütlichen Zuhause wurden.

Marnie hatte nichts davon.

Nach ihrem Vorstellungsgespräch im Bayside Hospital am Rande von Melbourne war sie sehr zuversichtlich gewesen, die Stelle als neue Stationsleiterin zu bekommen. So zuversichtlich, dass sie noch am gleichen Nachmittag umhergefahren und nach einer netten Wohngegend Ausschau gehalten hatte. In die Beach Road hatte sie sich sofort verliebt. Gut, die Wohnungen waren nicht gerade billig, doch so hoch wie in der Innenstadt waren die Mieten trotzdem noch nicht. Die Apartments mit ihren sonnigen Terrassen und der atemberaubend schönen Aussicht auf den Ozean hatten es Marnie sofort angetan. Sie sah sich schon nach einem arbeitsreichen Tag in einen Liegestuhl sinken und bei einem kühlen Drink den Sonnenuntergang genießen.

Nachdem sie die Zusage für den Job erhalten hatte, war alles unglaublich schnell gegangen. Neben ihrem Umzug und der Übergabe ihrer Aufgaben an ihren Nachfolger hatte sie eine Abschiedsparty für die Kollegen organisieren und eine Menge Papierkram erledigen müssen. Und so war es passiert, dass sie – ganz entgegen ihrer üblichen Vorsicht – den Mietvertrag für ein Haus unterschrieben hatte, das sie nicht besichtigt hatte.

Dave, der Makler, der sie durch eine Musterwohnung geführt hatte, war sehr überzeugend gewesen, als er ihr versichert hatte, ihr neues Heim sehe mehr oder weniger genauso aus wie die anderen Häuser in der Straße.

Mehr oder weniger genauso!

Das Haus war eine Bruchbude mit abblätterndem Putz und blinden Fenstern. Das Gras im Vorgarten war so hoch, dass ein Weg nicht mehr zu erkennen war.

Man sollte wirklich niemals einem Immobilienmakler glauben!

Natürlich hatte Marnie das eigentlich gewusst, doch Dave hatte ihr glaubhaft versichert, das Haus sei so frisch auf dem Markt, dass es noch keine Fotos gäbe. Und da sie wirklich unter Zeitdruck gestanden hatte, hatte die sonst so vernünftige Marnie fünfe gerade sein lassen und einfach unterschrieben.

Jetzt musste sie den Schlamassel ausbaden.

Als sie die Tür aufschloss und eintrat, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Grimmig zog sie ihr Telefon aus der Tasche und rief das Maklerbüro an.

„Dave ist bei einer Auktion“, erklärte die Empfangssekretärin, bei der Marnie vor einer Stunde die Schlüssel abgeholt hatte. „Ich glaube nicht, dass er heute noch einmal ins Büro kommt. Aber wenn Sie möchten, kann ich ihm eine Nachricht hinterlassen und ihm sagen, dass er sich bei Ihnen melden soll.“

Marnie schluckte ihren Ärger hinunter. Die junge Frau konnte schließlich nichts dafür. „Ja, es wäre nett, wenn er mich zurückrufen würde. So schnell wie möglich. Danke.“

Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Dave sich noch an diesem Abend melden würde. Morgen war Sonntag, und am Montag fing ihr neuer Job an. Sie würde schlicht und einfach keine Zeit für weitere Besichtigungen haben. Resigniert betrachtete sie die in einem scheußlichen Beige gestrichenen Räume. Wenn man die Wände abscheuerte, die Fenster putzte und alles gründlich sauber machte, würde das Haus schon viel besser aussehen.

Marnie war klar, dass dieser Gedanke reiner Zweckoptimismus war. Es gab noch nicht einmal eine Badewanne, sondern nur eine völlig verkalkte Dusche, die sie auf keinen Fall benutzen würde, solange sie nicht geputzt und desinfiziert war.

„Wieso um alles in der Welt denken Australier, dass eine Dusche reichen würde?“, fragte sie sich laut. Zu Hause in Irland hatte sie niemanden ohne Badewanne gekannt. Es gab nichts Entspannenderes als ein heißes Schaumbad.

Seufzend beschloss Marnie, sich nicht länger leidzutun. Sie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden.

Der Umzugswagen würde am kommenden Morgen zusammen mit ihren Brüdern Brandon und Ronan gegen acht Uhr früh ankommen.

Sie sollte also besser zügig mit dem Putzen anfangen.

Marnie band ihr langes, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und holte Eimer, Putzzeug und Staubsauger aus dem Auto. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, dass die Grundreinigung ihres neuen Hauses solche Ausmaße annehmen würde, doch wenn es etwas gab, worin Marnie überragend gut war, dann war es die Fähigkeit, Aufgaben zu strukturieren und abzuarbeiten.

Sie würde das Haus im Nu blitzblank geputzt haben.

Männer, dachte Marnie verächtlich, während sie mit gewohnter Energie ans Werk ging. Sie sahen nur ihre großen, blauen Augen, ihre zierliche Figur und ihr Lächeln, hörten ihren weichen, irischen Akzent – und dachten, sie hätten leichtes Spiel bei ihr.

Doch das war ein Trugschluss!

Dave hatte keine Ahnung, auf was für eine Gegnerin er sich eingelassen hatte.

Kurz darauf klingelte ihr Telefon. Es war Matthew, ein Freund, mit dem sie hin und wieder ausging.

„Wie ist deine neue Wohnung?“

„Toll!“, log Marnie. Sie würde Matthew ganz sicher nicht erzählen, dass man sie hereingelegt hatte. Matthew hatte sie für verrückt erklärt, als sie ihm gesagt hatte, sie würde aus dem Stadtzentrum wegziehen und künftig in einem verschlafenen, kleinen Vorort leben und arbeiten.

„Das hältst du nicht lange aus“, hatte er sie gewarnt. „Du wirst dich zu Tode langweilen.“

In diesem Augenblick hätte Marnie gegen ein bisschen Langeweile nichts einzuwenden gehabt. Sie plauderte kurz mit Matthew und beendete dann das Gespräch.

Es war ihr keine Sekunde lang in den Sinn gekommen, ihn um Hilfe zu bitten. Matthew hatte ohnehin angefangen, etwas zu klammern – was Marnie ganz und gar nicht gefiel. Sie achtete streng darauf, ihre unterschiedlichen Lebensbereiche voneinander zu trennen. Familie, Job, Freunde – sie wollte keine Überschneidungen. Selbst ihr Liebesleben war von allem anderen abgekoppelt. Mit ihren einunddreißig Jahren war Marnie schon lange davon überzeugt, dass dieses Konzept das Beste für sie war. Sie war eine unabhängige Frau und hatte weder ein Interesse daran, dass Matthew herkam und sich über ihre Leichtgläubigkeit lustig machte, noch dass er morgen ihre Brüder traf. Das würde Matthew und ihrer Beziehung zu ihm eine Bedeutung verleihen, die sie nicht verdiente.

Marnie öffnete sämtliche Fenster, um so viel Sonnenlicht wie möglich hereinzulassen, und fing dann an, die Küche zu putzen. Als Nächstes kamen die anderen Räume an die Reihe. Von Zeit zu Zeit gönnte Marnie sich eine kurze Pause, um etwas zu trinken, doch insgesamt arbeitete sie zielstrebig und effizient wie ein Roboter. Nachdem die Wände abgeschrubbt waren, putzte sie die Fenster. Sie nahm sämtliche Vorhänge ab und klopfte sie im Garten aus, damit auch das letzte Staubkörnchen davonflog. Bevor sie sie wieder aufhängte, saugte und wischte sie alle Böden. Während der ganzen Zeit dachte Marnie an ihren neuen Job und die damit verbundenen Herausforderungen, die sich ihr ab Montag stellen würden.

Sie freute sich darauf, die Stationsleitung zu übernehmen. Schon seit mehreren Jahren war sie stellvertretende Leiterin in einer großen Klinik in der Stadt gewesen, und als ihr klar geworden war, dass ihre Chefin nicht vorhatte, ihren Platz zu räumen, hatte sie angefangen, sich nach Alternativen umzusehen. Schon kurze Zeit später hatte sie das Stellenangebot vom Bayside Hospital gelesen und den Sprung ins kalte Wasser gewagt.

Sie konnte sich noch gut an ihr Vorstellungsgespräch erinnern. Die Station brauche eine starke Hand, hatte Lillian, die Pflegedienstleiterin, ihr erklärt. Christine, ihre Vorgängerin, hatte offenbar mehr Zeit in ihrem Büro als auf Station verbracht. Die Dienstplanung war chaotisch und undurchsichtig, und die Unzufriedenheit groß. Cate Nicholls, eine Kollegin, hatte die kommissarische Leitung übernommen, wollte sich jedoch nicht auf den Job bewerben, da sie in Kürze heiraten würde.

In der Notaufnahme herrschte ein eklatanter Ärztemangel, der aber bald behoben sein würde, da zwei neue Kollegen gerade eingestellt wurden. Ein weiteres Problem, so hatte Lillian angedeutet, bestand darin, dass einer der Oberärzte, Harry Worthington, das Pflegepersonal immer wieder als Babysitter für seine Zwillinge einsetzte.

„Damit wäre augenblicklich Schluss, wenn ich hier das Sagen hätte!“, hatte Marnie entrüstet angemerkt.

Als sie Lilians zufriedenes Gesicht gesehen hatte, war Marnie sicher gewesen, dass sie die Stelle bekommen würde.

Harry Worthington!

Bei dem abschließenden Rundgang durch die Klinik hatte Marnie noch einiges über verschiedene Personalangelegenheiten erfahren. Harry zum Beispiel war seit etwa einem Jahr verwitwet und seitdem alleinerziehender Vater von einem vierjährigen Zwillingspärchen.

Marnie hatte sich nicht anmerken lassen, dass Harry kein Unbekannter für sie war. Mit einem leisen Lächeln hatte sie sich daran erinnert, was für ein Herzensbrecher Harry früher gewesen war. Kaum zu glauben, dass er jetzt Witwer und alleinerziehender Vater von zwei Kindern sein sollte!

Ihre Gedanken wanderten dabei zurück in ihre Zeit als Schwesternschülerin im Melbourne Central Hospital, wo sie Harry begegnet war. Sie hatten sich kaum gekannt, denn abgesehen von Anweisungen wie „Wie hoch ist sein Blutdruck?“ oder „Würden Sie mir bitte die Akte holen?“, hatte Harry kaum mit ihr gesprochen. Trotzdem war Marnie natürlich nicht entgangen, welche Wirkung er auf fast alle weiblichen Kollegen hatte. Der Klatsch über seine Eroberungen war damals Gesprächsthema Nummer eins in jeder Mittagspause gewesen.

Als überaus charmanter Assistenzarzt, der auch noch ausgesprochen attraktiv war, hatte es ihm nie an Verehrerinnen gefehlt. Schon das Gerücht, dass Harry auf einer Party sein würde, hatte gereicht, um die Zahl der weiblichen Gäste sprunghaft ansteigen zu lassen.

Marnie allerdings hatte nur Augen für Craig, ihren ersten festen Freund, gehabt. Endlich befreit von der Enge ihres Elternhauses, hatte sie ihre neue Unabhängigkeit viel zu sehr genossen, als dass ein Schwerenöter wie Harry für sie infrage gekommen wäre. Doch nun, älter und weiser, erinnerte sie sich wieder an ihn.

Er war groß und sehr sportlich gewesen, mit braunem, immer perfekt gestyltem Haar. Sein Drei-Tage-Bart hatte ihm ein verwegenes Aussehen verliehen und bei nicht wenigen Kolleginnen einen verräterischen Ausschlag im Gesicht zur Folge gehabt. Harry hatte hart gearbeitet und noch härter gefeiert. Er hatte alles getan, um seinem zweifelhaften Ruf als Casanova gerecht zu werden. Trotzdem hatten ihn alle geliebt – vom Pförtner bis zum Oberarzt, von der Schwesterschülerin zur Stationsleitung, und natürlich auch sämtliche Patienten und Angehörige. Harry hatte sie alle mit seinem Charme eingewickelt.

Nur sie nicht.

Plötzlich fiel Marnie ein, dass es doch eine Begegnung außerhalb der Arbeit zwischen ihr und Harry gegeben hatte.

„Na komm schon, Marnie. Hör auf, Trübsal zu blasen …“ Sie erinnerte sich genau an die Stimmen ihrer Mitbewohnerinnen, die sie zum Ausgehen hatten überreden wollen. Obwohl sie keine Lust gehabt hatte, war sie schließlich doch mitgekommen. Schon allein, um endlich in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte den ganzen Abend abseits gestanden und sich an ihrem Glas Limonade festgehalten. Nein, ihr war wirklich alles andere als zum Feiern zumute gewesen. Irgendwann nach Mitternacht hatte sie beschlossen, unauffällig heimzugehen.

„Du gehst schon?“

Harry hatte sich ihr in den Weg gestellt und sie zu einem Drink eingeladen.

Ohne etwas zu erwidern, hatte Marnie ihn angesehen, in seine glitzernden grünen Augen geblickt und war dann wortlos gegangen. Eine für Harry völlig neue Erfahrung.

Marnie überlegte, wie es Harry, dem Herzensbrecher, wohl heute ging. Er musste inzwischen Ende dreißig sein – bestimmt hatte seine wilde Jugend Spuren hinterlassen.

Während sie die Duschkabine abspritzte, stellte Marnie sich Harry mit Falten und einem Bierbauch vor und musste lachen.

Ach ja, er war ja auch noch alleinerziehender Vater.

Damals hatte er nicht die Spur einer Chance gehabt, bei ihr zu landen, und heute waren seine Aussichten definitiv noch schlechter. Sie konnte sich nichts weniger Attraktives vorstellen als einen alleinerziehenden Vater.

Denn Marnie hatte sich bewusst für ihre Freiheit und Unabhängigkeit entschieden und ließ sich nur mit Männern ein, die genauso waren.

Manche nannten sie selbstsüchtig, doch das interessierte Marnie nicht.

Vielleicht lag es an der Dämmerung, die langsam hereinbrach, doch das Haus sah plötzlich viel besser aus als bei ihrer Ankunft. Auch wenn Marnie es Dave gegenüber natürlich nicht zugeben würde, gefiel ihr das Schlafzimmer mit seinen großen Fenstern in Richtung Ozean und dem hübschen Kamin sehr. Bestimmt würde es sehr gemütlich sein, sich an einem kalten Winterabend beim Schein des Feuers mit einem Buch ins Bett zu kuscheln. Oder in die Arme eines Mannes.

Andererseits würde sie im Winter nicht mehr hier sein, rief sie sich in Erinnerung. Sie würde wohl oder übel erst einmal bleiben, doch sobald sich eine Alternative bot, würde sie sofort umziehen. Und Dave würde ganz sicher nie wieder mit ihr ins Geschäft kommen.

Marnie ging ein letztes Mal nach draußen zu ihrem Auto und holte ihre Yoga-Matte, ein Kissen, ihren Kulturbeutel und ihre Bettdecke heraus. Für die erste Nacht musste das reichen.

Nachdem sie ihre Toilettenartikel in das nun blitzblank geputzte Bad geräumt und schnell geduscht hatte, ging sie in ihr neues Schlafzimmer, wo sie ihre Sachen für den nächsten Tag herauslegte und dann ihr Lager einrichtete. Danach stellte sie ihre Fotos auf den Kaminsims.

Als Erstes ihr Lieblingsfamilienfoto. Marnie mit ihren Eltern und ihren fünf jüngeren Brüdern. Es war an dem Tag aufgenommen worden, an dem Ronan seinen Abschluss gemacht hatte.

Ronan, der Jüngste, war schon immer Marnies Lieblingsbruder gewesen. Bei seiner Geburt war sie fast elf gewesen und hatte entsprechend einen großen Anteil daran gehabt, ihn großzuziehen. Es war ein komischer Gedanke, dass er schon einundzwanzig sein sollte. Er war ein gut aussehender Computerfreak, der außerdem noch begnadet Klavier spielte.

Das nächste Foto zeigte eine vierzehnjährige Marnie mit ihrer besten Freundin, Siobhan, aufgenommen an dem Tag, an dem die Johnsons nach Australien ausgewandert waren, um dort ein neues Leben zu beginnen. Obwohl die beiden Mädchen tapfer in die Kamera lächelten, konnte Marnie die Tränen in ihren Augen sehen. Der Abschied war ihr und Siobhan unglaublich schwergefallen.

Trotzdem hatte Marnie sich nicht unterkriegen lassen und sich in Australien neue Freunde gesucht. Doch kurz nachdem sie sich in Perth eingelebt hatte, war die Familie noch einmal umgezogen, diesmal nach Melbourne, sodass Marnie wieder allein gewesen war.

„Du wirst neue Freunde finden“, hatte ihre Mutter sie beruhigt.

Und sie hatte recht behalten. Trotzdem hatte Marnie nie wieder eine so enge Freundin wie Siobhan gehabt.

Marnie schloss nicht schnell Freundschaften, doch wenn sie jemanden in ihr Leben gelassen hatte, dann war es für immer. Und so waren sie und Siobhan auch jetzt, fast zwanzig Jahre später, noch immer beste Freundinnen. Sie schrieben einander fast täglich E-Mails, unterhielten sich per Video-Anruf und alle paar Jahre besuchten sie einander. Lächelnd stellte Marnie das Foto auf und holte den letzten Bilderrahmen aus der Kiste.

Vielleicht lag es daran, dass es ein langer und anstrengender Tag gewesen war, doch beim Anblick des Fotos traten Marnie Tränen in die Augen. Marnie weinte nur selten und war entsprechend überrumpelt von ihrer eigenen Schwäche. Sie war einfach erschöpft und deshalb nah am Wasser gebaut. Wehmütig betrachtete sie das Bild. Ihren kostbarsten Besitz. Eine achtzehnjährige Marnie hielt ein Baby im Arm.

Declan.

Endlich hatte sie ihn auf den Arm nehmen dürfen.

Die Erinnerung an diesen Augenblick war bittersüß. Ganze zwei Wochen lang hatte man ihr nicht erlaubt, ihren Sohn hochzunehmen. Tagelang hatte sie neben dem Brustkasten gesessen, ihn angesehen und sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihn endlich in ihre Arme schließen zu dürfen.

Bis zu dem Tag, an dem das Foto gemacht worden war, hatte sein winziger Körper an Schläuchen und Apparaten gehangen. Erst als klar war, dass man nichts mehr für ihn tun konnte, hatten die Ärzte ihn davon befreit.

Man hatte Marnie und Craig ein ruhiges Zimmer überlassen, damit sie sich ungestört von ihrem Sohn verabschieden konnten.

„Ihr seid noch jung und könnt noch viele Kinder haben“, hatte Marnies Mutter sie später zu trösten versucht.

Doch ihre Mutter hatte sich geirrt.

Es würde keine anderen Babys geben.

Declan war ihr Sohn und würde für immer den größten Platz in ihrem Herzen ausfüllen.

Zärtlich strich Marnie über das Foto. Sie sah in seine großen, dunkelblauen Augen, die so müde von seinem langen Kampf waren, und genau wie jeden Abend sagte sie ihm gute Nacht.

Als sie das Foto aufgestellt hatte, stellte Marnie ihren Wecker auf sechs Uhr und machte es sich auf der Yoga-Matte einigermaßen bequem.

Es machte ihr nichts aus, auf dem Boden zu schlafen.

Denn Marnie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden.

2. KAPITEL

„Ich glaube, Sie kennen Marnie bereits“, sagte Lillian, die Pflegedienstleiterin, als sie Marnie Dr. Vermont vorstellte.

„Ja, allerdings“, nickte der ältere Arzt und reichte Marnie lächelnd die Hand. „Wir haben uns bei Marnies Vorstellungsgespräch kennengelernt. Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass Sie die Stelle angenommen haben. Hoffentlich gelingt es Ihnen, ein bisschen Ordnung in die Abteilung zu bringen.“

„Ich werde mir die größte Mühe geben“, versprach Marnie. Sie hatte Dr. Vermont auf Anhieb gemocht. Er war ein Mediziner der alten Schule und hatte offenbar sehr klare Vorstellungen, aus denen er auch kein Geheimnis machte. Da Marnie offene, direkte Ansagen sehr schätzte, war sie zuversichtlich, dass sie gut mit ihm auskommen würde.

„Harry!“, rief Lillian erfreut. Marnie drehte sich um und musterte Harry Worthington ungeniert. Sie hatte sich geirrt. Harrys wilde Jugend hatte weder Falten noch einen Bierbauch hinterlassen. Er sah im Grunde noch besser aus als mit Mitte zwanzig. Erwachsener. Sein gut geschnittener, dunkelgrauer Anzug unterstrich seine schlanke, muskulöse Figur. Allerdings wirkte er etwas gehetzt und mitgenommen und hatte es offensichtlich nicht mehr geschafft, sich zu rasieren.

Doch am allermeisten erstaunte es Marnie, dass der einst stets sexy und cool wirkende Harry an jeder Hand ein Kleinkind hielt.

„Darf ich dir Marnie Johnson vorstellen? Sie ist unsere neue Stationsleitung. Leider hast du es ja nicht geschafft, an ihrem Vorstellungsgespräch teilzunehmen.“ Lillians Worte klangen tadelnd.

„Stimmt. Ich hatte damals Nachtdienst“, verteidigte Harry sich. „Aber Dr. Vermont hat mir bereits von Ihnen vorgeschwärmt.“ Er ließ seine Tochter kurz los, um Marnie die Hand zu schütteln. Das kleine Mädchen nutzte die Gelegenheit und hüpfte den Gang entlang.

„Charlotte!“, rief Harry warnend und rollte mit gespielter Verzweiflung die Augen, bevor er sie zurückholte. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du bei mir bleiben sollst!“

„Aber ich habe Hunger.“

„Das glaube ich gern, denn du hast dich ja geweigert, deine Cornflakes zu essen.“

Marnie bemerkte Lillians missbilligenden Blick und vermutete, dass diese Szene sich nicht zum ersten Mal im Krankenhaus abspielte. Harry war anscheinend gerade erst angekommen und musste seine Kinder vor Dienstbeginn noch im Kindergarten abgeben.

„Eigentlich müsstet ihr zwei euch schon kennen“, setzte Lillian die Unterhaltung fort. „Sie haben doch im Melbourne Central Ihre Ausbildung gemacht, Marnie, nicht wahr?“

Harry runzelte die Stirn. Fragend sah er Marnie an, musterte ihr rabenschwarzes Haar und ihre leuchtend blauen Augen und konnte sich nicht vorstellen, dass er mit dieser Frau drei Jahre lang in der gleichen Abteilung gearbeitet haben sollte, ohne sie jemals bemerkt zu haben.

„Nein“, korrigierte Marnie. „Ich war nur während meines ersten Ausbildungsjahres im Melbourne Central. Danach bin ich ans Royal gegangen.“ Sie wandte sich an Harry. „Trotzdem erinnere ich mich an Sie …“ Als sie Harrys leicht besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, musste Marnie lächeln. Bestimmt war es Harry unangenehm, jemanden zu treffen, der sich womöglich an seine wilden Zeiten erinnerte.

Vielleicht sollte sie ihn ein wenig necken. Dr. Vermont plauderte gerade mit Harrys Sohn und Lillian las eine Nachricht auf ihrem Pager – Marnie konnte der Versuchung nicht widerstehen, Harry aus dem Konzept zu bringen.

„Aber Sie erinnern sich bestimmt trotzdem noch an mich, oder?“

„Ähm … also …“ Harry ließ Charlottes Hand wieder los, um sich nachdenklich am Kopf zu kratzen. „Wenn ich mich recht erinnere …“

„Natürlich erinnern Sie sich!“, erklärte Marnie im Brustton der Überzeugung und freute sich insgeheim diebisch über seine Verlegenheit.

„Charlotte!“, rief Harry tadelnd, doch Marnie konnte die Erleichterung in seiner Stimme deutlich hören. Endlich hatte er einen Grund, das quälende Gespräch zu unterbrechen.

„Ich führe Marnie gerade herum und stelle sie allen Kollegen vor“, beendete Lillian Marnies heimlichen Spaß. „Möchten Sie sich vielleicht vorher umziehen?“

Marnie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nötig.“

Doch Lillian war anderer Meinung. „Wir legen Wert darauf, dass unser Führungspersonal formell gekleidet ist. Vor allem bei offiziellen Anlässen wie einer Vorstellungsrunde. Ein schicker Blazer verleiht gleich noch eine Extraportion Autorität.“

„Ich kann mir auch ohne einen Blazer Respekt verschaffen“, widersprach Marnie, und diesmal war es Harry, der sich ein Lächeln nur schwer verkneifen konnte. Es gab nicht viele Menschen, die es wagten, so mit Lillian zu sprechen.

Marnie war offenbar sehr durchsetzungsfähig.

„Ich glaube“, bemerkte Dr. Vermont nachdenklich, nachdem Marnie und Lillian gegangen waren, „dass Marnie Johnson genau die Richtige für die Abteilung ist. Haben Sie Lillians Gesicht gesehen?“

Harry nickte grinsend.

„Und? Erinnern Sie sich an sie aus Ihrer Zeit am Melbourne Central?“

„Ehrlich gesagt, nein.“

Um Dr. Vermonts Augen bildeten sich kleine Lachfältchen. „Aber sie erinnert sich an Sie!“

„Ich schätze, ich bringe die zwei hier jetzt erst einmal in den Kindergarten“, wechselte Harry das Thema. Er folgte Marnie und Lillian den Korridor entlang und versuchte vergeblich, nicht auf Marnies zierliche und dennoch wohlproportionierte Figur zu starren. Gerade waren die beiden Frauen stehen geblieben, und Marnie schüttelte Dr. Juan Morales, einem der neuen Oberärzte, die Hand.

„Und wann fängt Dr. Cooper an?“, hörte er Marnie fragen.

„Soweit ich weiß, in vier Wochen“, antwortete Juan.

Den Rest der Unterhaltung konnte Harry nicht mehr hören. Gut, dass er nicht dabei war, wenn Lillian und Marnie herausfanden, dass er am Tag zuvor Juans Urlaub genehmigt hatte. Der neue Kollege würde ab der nächsten Woche für drei Wochen auf Hochzeitsreise sein. Der personelle Engpass in der Notaufnahme war also noch längst nicht überwunden.

Harry trug Charlotte und Adam in die Anwesenheitsliste ein und versuchte, sich auf seine aktuellen Aufgaben zu konzentrieren. Über den Dienstplan für die nächsten Wochen konnte er sich auch später noch Sorgen machen.

Seit Jills Tod hatte er gelernt, dass dies die einzig sinnvolle Herangehensweise war.

„Holst du uns heute Abend ab, Daddy?“, fragte Adam.

„Ich versuche es“, versprach Harry. „Aber falls mir etwas dazwischenkommt, rufe ich Evelyn an, damit sie euch holt.“

Harry konnte Adams trauriges Nicken kaum aushalten. Er wusste, dass sein Sohn mit den Tränen kämpfte. Seufzend kniete er sich vor ihn und sah Adam eindringlich an. „Wir hatten doch ein schönes Wochenende, oder nicht?“

Sie hatten wirklich ein tolles Wochenende gehabt. Das beste seit Monaten.

Dank Juan hatten sowohl Harry als auch Dr. Vermont endlich einmal einige ungestörte freie Tage gehabt. Dr. Vermont war mit seiner Frau verreist, um ihren bevorstehenden Hochzeitstag zu feiern, und er selbst war mit seinen Zwillingen am Samstag an den Strand gefahren und hatte am Sonntag ein wenig im Garten gebuddelt und später einen Film mit ihnen angesehen.

„Ich wollte nur …“, fing Adam an, beendete seinen Satz aber nicht. Harry wartete geduldig. Er machte sich große Sorgen um Adams Sprachentwicklung. „Schon gut“, murmelte Adam.

Nichts war gut.

Harry schaute in Adams dunkle, ernsthafte Augen, die denen seiner Mutter so ähnelten. Und genau wie Jill beschwerte Adam sich niemals über Harrys unmögliche Arbeitszeiten – was Harrys Schuldgefühle noch verstärkte.

„He, wie wäre es, wenn wir heute Abend Bananenbrot backen? Dann habt ihr morgen ein tolles Frühstück, das ihr notfalls im Auto essen könnt, falls wir wieder einmal zu spät dran sind.“

„Versprichst du es?“, vergewisserte Adam sich.

„Ich hasse Bananenbrot!“, mischte Charlotte sich ein.

„Ich weiß. Aber du magst den Zuckerguss“, beschwichtigte Harry sie.

„Ja! Darf ich den Zuckerguss machen?“ Charlotte ließ sich wesentlich leichter aufheitern als Adam.

„Also abgemacht. Wenn ich heute pünktlich nach Hause gehen kann, backen wir.“ Diese Einschränkung musste sein, denn in Harrys Job konnte man keine verbindlichen Verabredungen treffen.

„Bitte versuch es!“, sagte Charlotte.

Schon viel zu lange hatte Harry das Gefühl, weder seinem Job noch seinen Kinder wirklich gerecht zu werden.

Er drückte sie noch einmal kurz an sich, bevor die beiden zu ihren kleinen Freunden liefen, um einen weiteren, viel zu langen Tag im Kindergarten zu verbringen.

Irgendetwas musste sich ändern.

Harry ging zurück in die Notaufnahme und versuchte, nicht an die unangenehme Entscheidung zu denken, die er schon bald würde treffen müssen.

Er war nämlich nicht nur Facharzt für Notfallmedizin, sondern auch ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Handchirurgie. Obwohl ihm die Vorstellung nicht gefiel, überlegte er seit einiger Zeit, sich aus dem aufreibenden Klinikleben zurückzuziehen und sich als Handchirurg niederzulassen. Die Notaufnahme ließ sich nämlich nur sehr schlecht mit seinem Leben als alleinerziehender Vater vereinbaren.

Harry hatte sich vorgenommen, seinen Jahresurlaub zu nehmen, sobald Juan aus den Flitterwochen zurück war, damit er seine Entscheidung in Ruhe überdenken konnte.

Zunächst musste er aber die nächsten drei bis vier Wochen überstehen.

Nachdem Marnie ihr neues Büro inspiziert hatte, wischte sie sämtliche Oberflächen mit Desinfektionsmittel ab. Der Raum wirkte schrecklich kühl, und so suchte sie im Internet nach einem Floristen und bestellte telefonisch einen Blumenstrauß. Dann bat sie Cate Nicholls, die nach Christines Kündigung kommissarisch die Station geleitet hatte, um ein Update. Der Papierkram dauerte eine Weile, denn es hatten sich zahllose Beschwerdebriefe angesammelt.

„Bei den meisten geht es um zu lange Wartezeiten“, erklärte Cate.

„Und um Sauberkeit“, bemerkte Marnie, nachdem sie den Stapel kurz durchgeschaut hatte. „Gibt es eine Verfahrensanweisung für die Vorbereitung der Behandlungsräume?“

„Nein. Jedenfalls nichts Schriftliches.“

Autor

Carol Marinelli
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