Atlantis - Die Braut des Vampirkönigs

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Seit eine Horde Drachen seine Geliebte getötet hat, lebt der Vampirkönig Layel allein für seine Rache. Doch dann trifft er die kampferprobte Amazone Deliah. Obwohl er machtlos ist gegen das Verlangen, das ihn in ihrer Nähe überkommt, darf er sein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Nur haben die Götter einen anderen Plan: Plötzlich findet er sich nicht nur auf einer Insel, sondern in einem tödlichen Wettkampf der Geschöpfe von Atlantis wieder - an seiner Seite: Deliah …


  • Erscheinungstag 10.04.2017
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766351
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leserin,

nach der Veröffentlichung des ersten Titels meiner Atlantis – Serie Der Drachenkrieger im Jahr 2005 wurde ich gefragt, wie ich die untergegangene Stadt Atlantis mit den Geschöpfen aus der Überlieferung kombinieren möchte. Die Antwort ist einfach: Was wäre, wenn …? Was wäre, wenn die Götter ihren größten Fehler in Atlantis versteckt hätten und die Stadt deshalb im Meer verborgen läge?

Diese Frage verzweigte sich in tausend weitere, eine faszinierender als die andere. Was wäre, wenn ein Formwandler in der Gestalt eines Drachens gezwungen ist, das Tor zu bewachen, das zu seinem Zuhause führt, und die Aufgabe hat, jeden zu töten, der es betritt – sogar die Frau seiner Träume (Der Drachenkrieger)? Was wäre, wenn ein moderner Mann in die verbotene Stadt geschickt wird, um ihren größten Schatz zu stehlen … der sich zufälligerweise als schöne Frau entpuppt, der er nicht widerstehen kann (Das Juwel der Macht)? Was wäre, wenn der König der Nymphen jede verführen kann, der er begegnet – außer der Frau, die er liebt (Der Nymphenkönig)?

In Die Braut des Vampirkönigs, meiner jüngsten Geschichte über Atlantis, bekomme ich Gelegenheit, die Frage zu beantworten, die mir meine Leserinnen schon seit Jahren stellen: Was wäre, wenn der Bösewicht aus all diesen früheren Geschichten, nämlich der Vampirkönig, der andere gequält, gehasst und sich mit ihnen bekriegt hat, eine eigene Geschichte bekommt?

Ich hoffe, Sie begleiten mich auf diesen Reisen durch Atlantis – die Stadt, in der die Wesen aus Sagen und Legenden wandeln, wo hinter jeder Ecke Gefahren lauern und sich verbotene Leidenschaften entzünden.

Mit den besten Wünschen,

Gena Showalter

Für Jill Monroe (die Autorin und nicht die knallharte Journalistin der Sendung „Author Talk“), weil sie Vampire genauso liebt wie ich.

Für Sheila Fields, Donnell Epperson und Betty Sanders, weil sie gesagt haben: „Wie wäre es mit einer paranormalen Version von Survivor?“

Für Pennye Edwards, weil sie immer auf mich aufpasst.

Für Kresley Cole, Melissa Francis, Marley Gibson, Kristen Painter, Louisa Edwards, Maria Geraci, Pamela Harty, Elaine Spencer, Deidre Knight, Roxanne St. Claire und (nochmals) Jill Monroe, weil sie mich zum Lachen bringen – so sehr, dass ich ihretwegen Blaubeeren ausgespuckt habe.

Und zu guter Letzt für Jill Monroe (die knallharte Journalistin der Sendung „Author Talk“ und nicht die Autorin), weil sie die Fragen stellt, auf die meine Leserinnen wirklich eine Antwort haben wollen.

Danksagung

An die beiden Damen, die mir helfen und bei jedem Schritt zur Seite stehen: Tracy Farrell und Margo Lipschultz. Ohne euch würde ich es nicht schaffen!

Prolog

Layel, der Vampirkönig und verhasster Sohn von Atlantis, kämpfte so fieberhaft mit seinen Ketten, dass sie ihm tief in Haut und Muskeln schnitten, beinahe bis zum Knochen. Es kümmerte ihn nicht. Er kämpfte weiter. Welchen Nutzen hatten seine Hände, wenn er damit nicht seine Geliebte streicheln konnte?

Susan. Der Name hallte in seinem Kopf wie ein Gebet, ein trostloser Schrei, ein sorgenvolles Klagen, die sich zu einer qualvollen Spirale der Scham verwoben hatten. Wie hatte er nur zulassen können, dass das hier geschah?

„Lass ihn frei“, sagte jemand. Layel hätte denjenigen gern angesehen, aber er konnte den Blick nicht von seiner Frau losreißen. Oder vielmehr von dem, was von ihr noch übrig war. „Er soll aus der Nähe betrachten, was er sich eingebrockt hat.“

Er hörte Schritte, spürte ein Zerren an einem Handgelenk, dann am anderen. Die Ketten gaben nach.

Schwach und beinahe blutleer, wie er war, versuchte Layel sich von dem Eisenzaun zu entfernen, der ihn stützte, doch seine Knie gaben nach, und er brach zusammen. Als er auf den Boden aufschlug, stieß er heißen Atem aus, und die Erkenntnis traf ihn tief. Ich bin zu spät. Sie haben mich so lange festgekettet, bis sie sicher sein konnten, dass man sie nicht mehr zurückholen kann. Ich kann sie nicht retten. Er würgte. Götter, o Götter.

Susan lag nicht mal einen Meter von ihm entfernt. Ihr einst so lebendiger, schöner Körper war jetzt gefesselt, verletzt und verbrannt. Die dafür verantwortlichen Drachen, die ihn umgaben, lachten, und ihre Stimmen drangen mal mehr, mal weniger in sein Bewusstsein vor.

„… das und noch mehr verdient.“

„… und nun seht ihn euch an.“

„… erbärmlich. Er hätte nie zum König gekrönt werden dürfen.“

Layel hatte Susan sicher, in sein Bett gekuschelt und zufrieden schlummernd in seinem Palast zurückgelassen, während er mit mehreren Kriegern ein Feuer im Wald gelöscht hatte. Dass dieses Feuer absichtlich gelegt worden war, hatte er erst begriffen, als es zu spät war.

O Götter, o Götter, o Götter. Ein heiserer Schrei entfuhr ihm, und aus seinem Mund spritzte Blut. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, obwohl doch erst wenige Stunden vergangen sein konnten, seit er in den Hinterhalt zurückgekehrt war und Susans Schreie vernommen hatte. Die Angst in ihren Hilferufen und das Leid, das ihr Gesicht gezeichnet hatte, als sie die Drachen angefleht hatte, ihr ungeborenes Kind zu verschonen … Beides würde ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen.

Susan.

Als er zu ihr vorgedrungen war, hatte sie sich schon nicht mehr geregt. Der leidvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht – erstarrt. Die Stille war zehntausendmal schlimmer gewesen als die Schreie und die körperlichen Qualen.

Tot. Sie war tot. Layel hatte auf jede erdenkliche Art versagt. Und in diesem Zustand der Verzweiflung war er für die Drachen, die sie getötet hatten, leichte Beute gewesen. Sie hatten ihn gefangen genommen. Hatten ihn von Susans leblosem Körper weggerissen und ans Tor vor dem Palast gekettet. Dann, o Götter, dann hatten sie ihren Körper in sein Blickfeld gezerrt, um ihn mit ihrem Tod zu verspotten.

Sein Würgen verstärkte sich, und er erbrach seinen Mageninhalt. Eine Mahlzeit, die Susan mit freudestrahlenden Augen für ihn zubereitet hatte. Und später, zum Dessert, hatte sie ihre wunderschönen dunklen Haare zur Seite gestrichen und ihm ihre Vene angeboten, und sie hatte genau gewusst, wohin es führen würde, wenn er sie biss.

Sein Arm zitterte unkontrollierbar, als er die Hand nach ihr ausstreckte. Mit den Fingerspitzen berührte er ihren Hals. Kein Puls war zu spüren. Klumpen aus Schmutz und Blut hafteten auf ihrer verbrannten, noch heißen Haut. „Susan“, versuchte er zu flüstern, doch er hatte keine Stimme. Seine Kehle war rau von all dem Schreien, Flehen und verzweifelten Verhandeln. Aber nichts hatte geholfen. Die Drachen waren nicht verschwunden, und Susan war nicht wieder zum Leben erwacht.

Obwohl er noch immer von Feinden umzingelt war, konnte er den Blick nicht von seiner Liebsten wenden. Tief im Innern wusste er, dass er sie hier und jetzt zum letzten Mal sehen würde. Meine Liebste. Meine Herzallerliebste.

Bleib im Bett, hatte sie ihn noch vor wenigen Stunden angefleht. Schlaf mit mir.

Ich kann nicht, Liebste, aber ich werde schnell zurück sein. Das verspreche ich dir.

Sie hatte ihre tiefrosafarbenen Lippen zu einer hübschen kleinen Schnute verzogen. Ich kann es nicht ertragen, ohne dich zu sein.

Und ich kann es nicht ohne dich ertragen. Schlaf ein bisschen. Und wenn ich zurück bin, werde ich dich vergessen lassen, dass ich überhaupt weg war. Wie hört sich das an?

Versprochen?

Versprochen. Er hatte ihr einen sanften Kuss gegeben und war aus der Kammer gegangen. Glücklich. Und zufrieden. Sich einer gemeinsamen Zukunft sicher.

„Jetzt kannst du genauso leiden, wie wir gelitten haben“, fauchte einer der Drachen und riss ihn aus seinen Gedanken.

Im Hintergrund hörte Layel teuflisches Gelächter. Er blickte auf und sah mehrere rot leuchtende Augen aus den nahe gelegenen Büschen hervorlugen. Ein Publikum aus Dämonen. Wie lange waren sie schon da und beobachteten die Szene? Hätten sie Susan helfen können? Vermutlich. Dieses Lachen … Sie hatten alles gesehen – und es genossen.

„Deine Leute haben unsere Angehörigen leer getrunken, du Blutsauger. Deshalb haben wir deine verbrannt.“

Ohne die anderen zu beachten, sammelte Layel jegliche verbliebenen Kräfte und kroch so dicht an Susans Körper heran wie möglich, wobei er eine rote Spur hinterließ und ihm heiße Tränen übers Gesicht liefen. Die Drachen versuchten nicht, ihn aufzuhalten. Sein Zittern wurde stärker, als er sie unbeholfen in die Arme schloss. Kein Lächeln bewegte ihre Lippen, keine geflüsterte Liebkosung war zu hören.

Ihr einst hübsches Gesicht war geschwollen, zerschrammt und mit Ruß verschmiert. Ihre seidigen Haare waren dahin, versengt bis auf den Schädel. Wie gern hätte er die dunklen Strähnen um seine Handflächen gewickelt, wie gern das katzenhafte Schnurren gehört, mit dem sie ihn so oft um einen Kuss bat.

Er schloss die Augen, um nicht länger sehen zu müssen, was man ihr angetan hatte, und nahm sie fest, ganz fest in die Arme, ehe er sie vorsichtig zurücklegte. Trotzdem konnte er sich nicht von ihr lösen und fuhr mit der Fingerspitze über ihre Lippen. Sie waren noch immer heiß und verbrannten seine Haut, während aus ihrem geöffneten Mund Rauch hervorquoll.

Susan. Es brannte ihm in den Augen, als er sich ganz nach unten beugte und die Schläfe auf ihren runden Bauch legte. Er spürte keine Bewegung. Nicht mehr. Ich liebe dich. O Götter, ich liebe dich. Und es tut mir leid, dass ich dich alleingelassen habe. So unendlich leid. Komm zurück zu mir. Bitte. Ohne dich bin ich nichts. Zu der gläsernen Kuppel über sich betete er. Wenn ihr sie nicht zu mir zurückbringt, lasst uns verhandeln. Nehmt mich an ihrer Stelle. Erweckt sie wieder zum Leben – und nehmt mich. Sie ist so gut. Sie ist das Licht. Ich bin die Finsternis und der Tod.

Keine Antwort.

„Genug gekuschelt. Jetzt hörst du uns zu. Wir werden dir erlauben, zu leben, König.“ Der Anführer der Drachen, ein Berg aus Muskeln und Wut, knurrte diese Worte mehr, als dass er sie sprach. „Und mit jedem Atemzug, den du machst, wirst du an diesen Tag und an die Folgen deiner Entscheidung denken, deinen Leuten die freie Herrschaft zu überlassen.“

Layel hörte ihn kaum. Susan, süße Susan. Niemand war sanfter, zärtlicher, liebevoller oder gutmütiger gewesen. Ihr größtes Verbrechen ist, nein, war es, korrigierte er sich mit einem stummen Schrei, mich zu lieben.

Sie war sein Ein und Alles gewesen. Und trotzdem hatten sie seine geliebte Frau getötet. Weil er als Anführer versagt hatte. Man hatte sie gefoltert, weil Layel den Thron der Vampire nicht gewollt und sich geweigert hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und die Armee zu befehligen.

„Ich habe seit vielen Monaten auf diesen Moment gewartet“, sagte eine weitere der Bestien und spie dabei einen Feuerstrahl auf Layel.

Die Flammen versengten ihm die Wange. Doch er reagierte nicht, öffnete nicht mal die Augen. Tatsächlich spürte er nichts außer dem messerscharfen Kummer. Falls die Götter sein Flehen ignorierten, wollte er für immer an dieser Stelle verharren. Dann wollte er mit seiner Frau und seinem Kind sterben. Mit seiner Familie.

„Seht ihn euch an. Seht euch den mächtigen Layel an. Dieses Häufchen Elend.“

Alle Drachen lachten.

„Ich kann verstehen, warum du sie mochtest, Vampir. Ihr enges Inneres hat mich ganz in sich aufgenommen.“

„Ich habe es genossen, in ihren Mund zu stoßen und ihre Kehle zu spüren.“

„Ich glaube, ihr hat es auch gefallen, was wir mit ihr gemacht haben. Du hast ja gehört, wie sie gewimmert hat …“

Endlich öffnete Layel die Augen. Er spürte den Hass in sich aufkeimen und rasant wachsen, bis er ihn verschlang. Dieser Hass überschattete seine Trauer, wurde zum einzigen Gefühl, das er noch kannte. Der Vampir sah zu dem Wald, der sie umgab. Die Dämonen waren noch da, kicherten immer noch wie Kinder. Die meisten der nahen Bäume waren abgebrannt und boten nur wenig Schutz. Jetzt schweifte sein Blick zu den Drachenkriegern. Es waren acht an der Zahl. Großspurig und selbstsicher standen sie vor ihm. In ihren goldenen Augen spiegelte sich der Triumph. Allerdings …

Was auch immer sie in seinem Gesicht sahen – ihr Grinsen erstarb. Einige der Bestien wichen sogar vor ihm zurück.

Vielleicht hatten sie vergessen, dass Vampire fliegen können. Vielleicht dachten sie, ein gebrochener, blutverschmierter Mann konnte keinen Schaden anrichten.

Sie irrten sich.

„SUSAN!“ Layel sprang auf und ging zum Angriff über. Sein Kriegsschrei war ein Echo des Schmerzes, der in ihm wütete.

Die qualvollen Schreie, die kurze Zeit später durch den Wald hallten, stellten alles in den Schatten, was jemals dort erklungen war.

1. Kapitel

Zweihundert Jahre später.

Nur noch ein bisschen dichter, ihr Feuerbestien. Noch ein bisschen dichter.

Layel versteckte sich hinter üppigen taufeuchten Blättern, während er die Drachenarmee beobachtete, die durch das Gebiet mit dem abscheulichen Namen Drachenwald marschierte. Wohin sie gingen, wusste er nicht, ebenso wenig, warum sie sich auf den Weg gemacht hatten. Er wusste nur, dass er sie von ihrer Bürde befreien würde. Eine junge Frau – ein Mensch? – saß gefesselt und geknebelt in einem tragbaren Gefängnis. Mehrere Krieger trugen dieses Gefängnis mittels zweier Holzbalken auf den Schultern, sodass es bei jeder Bewegung schaukelte.

Offensichtlich saß darin ihr Feind.

Layel kannte das Mädchen nicht, doch jeder Feind der Drachen war sein engster Freund. Und es gefiel ihm nicht, dass sein Freund gefesselt war.

Mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen marschierten die Drachen weiter. Layel gab seiner eigenen Armee mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie abwarten und in Deckung bleiben sollten. Sie gehorchten, ohne zu zögern. Seit jenem schwarzen Tag vor zweihundert Jahren hatte er seine Männer mit eiserner Faust geführt – direkt in einen niemals endenden Krieg. Sein Befehl wurde nicht infrage gestellt. Niemals. Nicht ohne ernsthafte Konsequenzen.

„… wird nicht gut ausgehen“, sagte Brand, der zweite Befehlshaber der Drachensoldaten. Goldenes Licht sickerte aus der gläsernen Kuppel, die ganz Atlantis umgab, und formte rings um sein helles geflochtenes Haar und sein ekelerregend attraktives Gesicht einen Heiligenschein.

Brand war stark, mutig, seinem König gegenüber loyal und freundlich zu seinen Leuten. Schade, dass er ein Drache war. Wäre er auch nur als Dämon geboren worden, könnte ich ihn vielleicht sogar mögen, dachte Layel. Brand sollte so lange am Leben bleiben, bis er eine Frau fand. Eine Frau, die Layel ihm stehlen würde. Brand würde leiden, zumindest eine Weile, und dann würde Layel ihn töten.

Brand gehörte nicht zu den Kriegern, die vor all den Jahren hier gelebt hatten – keiner dieser Krieger hatte damals hier gelebt, weil Layel sie alle umgebracht hatte. Beim Gedanken an ihren Tod lächelte er. Nicht alle waren schnell gestorben. Bei einigen hatte er sich Zeit gelassen, ihren Schmerz genossen, hatte jeden Schnitt und jeden Biss ganz in Ruhe ausgeführt.

Trotzdem war es nicht ausreichend gewesen, die Verantwortlichen zu töten. Nicht, um die grausamen Verbrechen zu vergelten, die sie Susan angetan hatten. Hatte man ihm nicht die Schuld für die Taten anderer gegeben? Da war es nur fair, die gleiche Logik gegen die Drachen einzusetzen.

Erst wenn Layel die gesamte Rasse ausgerottet hatte, wäre Susan gerächt. Und erst dann hätte Layel es verdient, sich zu ihr ins Jenseits zu gesellen. Bald, meine Liebste. Bald.

„Wenn ihre Schwestern sie so sehen, wird es Krieg geben“, sagte ein Drache namens Renard.

Renard war ein dunkelhaariger Tyrann, von dem Layel wusste, dass er sich intensiv damit befasst hatte, wie man die verschiedenen Rassen von Atlantis am besten tötete. Die Dämonen, die Nymphen, die Zentauren, die Gorgonen und all die anderen Wesen, die von den Göttern bei ihrem Streben, Menschen zu erschaffen, irrtümlicherweise hervorgebracht worden waren. Von all jenen Wesen hasste Renard die Vampire am meisten, und er war immer kampfbegierig.

Das war Layel auch. Er fuhr sich mit der Zunge über seine verlängerten Zähne.

„Was hätten wir sonst machen sollen?“, rief eine verärgerte Stimme. Tagart. Ungezähmt, beinahe barbarisch, mit schwarzen Haaren und einem noch schwärzeren Herz. Er war niemandem gegenüber loyal und sogar eifersüchtig auf seinen eigenen König. „Noch ein Wort aus dem Mund des Mädchens, und ich hätte ihr die Zunge rausgeschnitten. Wir mussten sie knebeln.“

Die anderen Soldaten nickten. Einer war größer und muskulöser als der andere, und jeder hatte ein langes, bedrohliches Schwert so auf den nackten Rücken gebunden, dass es zwischen den Schlitzen lag, in denen sich die Flügel verbargen. Layel sammelte diese Schwerter und hängte sie sich als Trophäen an die Wände. Und aus den Knochen der Drachen machte er Möbel.

„Was immer auch unsere Gründe dafür waren, sie zu fesseln, sie würden es nicht verstehen. Auch wenn wir sie zu ihnen zurückbringen. Gewissermaßen. Falls wir ihr Lager finden.“ Das war wieder Brand. „Sie ist ihre Geliebte, ihre künftige Königin.“

Schwestern … Geliebte … Königin.

Amazonen, begriff Layel.

Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. Die Amazonen waren wilde Kreaturen. Einander in Liebe ergeben und blutdürstig, auch wenn sie meist unter sich blieben, solange man sie nicht provozierte. O ja. Und boshaft. Der Legende nach findet sich jeder, der eine Amazone bedroht, schon bald mit seiner tiefsten Angst konfrontiert. Ein Schatten, ein entschlossenes Phantom, das ihn in einem Stück verschlingt.

Ja, die Geschichten ihrer Eroberungen waren endlos, auch wenn Layel selbst noch nie gegen eine gekämpft, geschweige denn von einer probiert hatte. Allerdings hatte er daran auch kein Interesse. Bislang waren sie für ihn immer unbedeutende Figuren gewesen, die weder seiner Zeit noch seiner Gedanken würdig waren, da er allein existierte, um die Drachen zu quälen. Sonst nichts.

Nun aber raste sein Verstand, während er nach Möglichkeiten suchte, sie zu benutzen. Vielleicht sollte er diese Gefangene doch nicht befreien. Vielleicht sollte er das Amazonenlager finden, lügen und behaupten, die Drachen wollten dem Mädchen etwas antun, es vielleicht sogar vor den Augen der anderen Amazonen töten. Dann würden die Drachen von kleinen Mädchen fertiggemacht. Das wäre doch einfach …

Ein lauter, schriller Kriegsschrei ertönte.

Hunderte Kriegerinnen schienen aus den Bäumen zu springen, obwohl es in Wirklichkeit nur eine Handvoll sein konnte. Sie waren nur knapp bekleidet. Ihre Brüste waren von dünnen Lederstreifen bedeckt, und um die Hüften trugen sie kurze Fransenröcke. Ihre nackte Haut hatten sie mit blauer Farbe bemalt – der Farbe der Könige.

„Großer Fehler, Drache“, schrie eine Frau.

„Euer letzter Fehler“, rief eine andere.

Dieser Tag versprach wunderbar zu werden. Layel musste noch nicht mal nach den Amazonen suchen.

Sie hatten sich Messer an ihre muskulösen Arme und Beine gebunden, und ihre wilden Gesichter strahlten Tod und Vernichtung aus. Die meisten waren so groß wie die Drachen, doch einige waren zierlich und sahen beinahe … zerbrechlich aus.

Binnen einem Augenblick tobte ein Kampf zwischen den beiden Rassen.

Waffen wirbelten durch die Luft, Männer und Frauen stöhnten, und Blut spritzte. Der metallische Geruch wehte in seine Nase. Süß und würzig. Layel atmete den Duft tief ein, spürte, wie er sich in seinem Körper ausbreitete, mit Sehnen und Knochen verschmolz und einen unbändigen Hunger auslöste.

„Jetzt!“, rief Layel seinen Männern zu.

Gemeinsam rannten sie nach vorn. Wie gern hätte er mitten in der Schlacht einfach Gestalt angenommen, doch das konnte er nicht. Keiner von ihnen konnte das. Zumindest nicht, wenn sie hofften zu überleben. Ein Vampir konnte allein mithilfe seiner Gedanken an jedem beliebigen Ort Gestalt annehmen, doch das zog Konsequenzen nach sich. Sobald sie ihr Ziel erreichten, waren sie blutleer. Erschöpft. Über Stunden unfähig, sich zu bewegen. Die Flucht war die einzige Situation, in der sich diese Fähigkeit als nützlich erwies, und dem hier wollte er nicht entfliehen.

Als er den Drachenpulk erreichte, in dem Schwerter durch die Luft sausten und sich in fremdes Fleisch bohrten, wärmte das Licht der gläsernen Kuppel seine empfindliche Haut, das um so heißer war, da sich das Feuer der Drachen daruntermischte. Doch keins von beidem konnte ihn aufhalten. Der Schweiß rann ihm über Brust und Rücken. Gleichmäßig bewegte er das Schwert aus dem Handgelenk von links nach rechts, sodass die Klinge so mühelos durch das Fleisch der Drachen glitt wie durch Wasser.

Er weidete sich an jedem Tropfen Blut, der durch seine Hand vergossen wurde, erfreute sich an jedem Körper, der umfiel. Jeder schmerzerfüllte Schrei brachte ein neues Lächeln auf seine Lippen. Nichts liebte er mehr, als in dem Moment in die goldenen Augen seiner Gegner zu sehen, wenn sie begriffen, dass er zugeschlagen hatte. Sie wurden immer ganz groß und füllten sich mit Entsetzen. Und das Licht darin erlosch im selben Moment, in dem die Drachen starben.

Später, nach dem Kampf, würde er über das Schlachtfeld schreiten und ihnen die Köpfe absäbeln müssen. Denn genau wie Vampire erholten sich auch Drachen schnell von ihren Verletzungen. Nur zu gern merzte er jegliche Regenerationsmöglichkeit aus. Doch im Augenblick, während die Flammen in sämtliche Richtungen züngelten, konnte Layel nur ihre faulen Herzen in zwei Teile schneiden.

Zwei Drachen stürzten sich aus verschiedenen Richtungen auf ihn.

Er duckte sich tief, hielt mit der einen Hand sein Schwert nach vorn und bohrte es einem Drachenkrieger in den Bauch, während er mit der anderen Hand einen Dolch aus seinem Hüftgurt zog, den Arm ausstreckte, sich hinüberlehnte … sich streckte … und dem zweiten Krieger in die Lenden stach. Ein entsetzlicher Schrei ertönte.

Beide Krieger brachen zusammen.

Grinsend setzte Layel sich wieder in Bewegung. Irgendwer kam frontal auf ihn zugeschossen und schaffte es, ihm eine Klinge in die Seite zu rammen. Der Vampirkönig fauchte und sah, dass Zane, einer seiner Männer, schon dabei war, sich zu ihm durchzukämpfen. Layel setzte nicht zum finalen Stoß an, sondern trat dem Drachen in den Bauch, sodass er in Zanes Richtung flog. Als er das sah, wirbelte der kampfeshungrige Vampir herum, wobei sein Schwert tödlich sang.

Wenige Sekunden bevor der Kopf des Drachen rollte, spie er noch einen heißen Feuerstrahl. Als sein Körper zu Boden fiel, trafen die Flammen auf Layels Wange. Er wischte sich über die verkohlte siedende Haut. Spürte warmes Drachenblut an seinem Arm hinuntertropfen. Lächelte wieder. Immer noch hielt er den Dolch in der Hand, dessen Klinge blutrot glänzte.

„Alles okay?“, fragte Zane, während er angestrengt ein- und ausatmete.

Er nickte. Mehr. Ich brauche mehr. Er musste noch mehr Verletzungen zufügen, ein noch größeres Blutbad anrichten. Sein Blick traf auf einen Drachen, der sich ganz in der Nähe ein hartes Gefecht mit einem Vampir lieferte. Layel ging auf die beiden zu, schwang sein Schwert und bohrte es der Kreatur ohne Vorwarnung in die Eingeweide. Man hörte ein Grunzen, sah ein Zucken. Der Körper fiel um. Störte es Layel, ihn aus dem Hinterhalt angegriffen zu haben? Keineswegs. Ein fairer Kampf war der sicherste Weg ins Versagen.

Ein anderer Drache beschimpfte ihn. Mit Bewegungen, die so schnell waren, dass ein menschliches Auge sie nicht erfassen konnte, stach er dem Bastard in den Bauch, zog den Dolch heraus, stach ins Herz, zog die Waffe wieder heraus und stach in den Hals. Nur drei Sekunden waren vergangen. Zu schnell und zu einfach, dachte er.

Mehr.

In diesem Moment kam Brand in sein Sichtfeld. Er riss sich gerade eine Amazone von der Brust und warf sie zu Boden. Ja, dachte Layel und fuhr sich dabei voller Vorfreude mit der Zunge über die scharfen Zähne. Der da. Der soll heute sterben. Nicht länger warten. Er würde diesen Dreckskerl nicht einfach nur enthaupten. Er würde ihn umbringen.

Layel trat und biss sich einen Weg durch die Reihen, ohne den Drachenanführer aus den Augen zu lassen. Als er den halben Weg zurückgelegt hatte, hörte er hinter sich ein Knurren, drehte sich kurz um, um die Bedrohung geschickt zu beseitigen, und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Brand zu. Doch als er sein Schwert hob, klirrte es gegen ein anderes, das auf ihn selbst gerichtet war. Aus einer Tötung aus dem Nichts würde diesmal wohl nichts werden.

Er blinzelte, als eine Amazone vor ihm herumwirbelte und ein zweites Mal ihr Schwert gegen ihn erhob. Klink. Mit finsterem Blick wehrte er ihren dritten Schlag ab. Klonk.

„Ich möchte dir nicht wehtun“, sagte er durch zusammengebissene Zähne.

„Wie zuvorkommend“, erwiderte sie trocken – ehe sie ihn abermals angriff.

Er drehte sich zur Seite und entkam nur knapp der scharfen Spitze. Hatte sie ihn gerade verspottet?

Eine vorbeiziehende Windbö strich ihr die himmelblauen Haare aus dem Gesicht. Plötzlich konnte Layel eine atemberaubende, unvergleichliche Schönheit sehen. Eine Schönheit, die selbst die Kriegsbemalung nicht zu verstecken mochte. Eine Schönheit, die ihn beinahe niederstreckte. Auf jeden Fall hatte sie negative Auswirkungen auf seinen Verstand, denn er hörte auf, sich zu bewegen. Brand wer?

Seit zweihundert Jahren hatte Layel sich nicht die Zeit genommen, sich an der Schönheit einer Frau zu erfreuen, und dennoch konnte er sich jetzt nicht dagegen wehren, diese Schönheit, diese lebendig gewordene Fantasie aufzusaugen. Ihm war, als würde sie irgendetwas … Magisches ausstrahlen. Etwas, das jeden zwang, sie anzusehen. Etwas, das ihn nicht einfach so wieder losließe. Aber Amazonen waren nicht in der Lage, andere mit einem Bann zu belegen. Das konnten nur Drachen.

Er musterte sie weiter, suchte nach Anzeichen für eine Drachenverwandtschaft. Ihre Augen waren hellviolett und funkelten wie frisch polierte Amethysten. Lange schwarze Wimpern. Leicht gerundete Wangen. Makellose gebräunte Haut an den Stellen, an denen die Farbe weggewischt war. Im Gegensatz zu ihren muskulösen Schwestern gehörte sie zu der zierlichen Sorte. Sie reichte ihm knapp bis zu den Schultern. Nein, sie hatte nichts von einem Drachen.

Sie war sinnlich und exotisch, angefangen bei ihrer fließenden Grazie bis hin zu ihren perfekten Rundungen, und passte eher ins Bett als auf ein Schlachtfeld.

„Du solltest nicht hier sein. Ich hätte dich töten können, Frau.“ Es machte ihm nichts aus, Frauen zu töten. Das hatte er schon häufig getan. Aber es wäre eine Schande, etwas so Hübsches zu zerstören. Er biss die Zähne aufeinander, als er sich seiner Gedanken bewusst wurde. Verflucht! Er betrachtete keine Frau mit einem Gefühl des Begehrens. Nicht mehr.

Sie zog einen Winkel ihres vollen roten Mundes nach oben, woraufhin sich sein Magen zusammenzog. „O bitte“, erwiderte sie in einem lasziven Ton. „Du musst den Umgang mit dem Schwert noch ein paar Jahrhunderte üben, ehe du gut genug bist, mich auszuschalten, Vampir.“ Wieder griff sie ihn an. Diesmal zielte sie auf seinen Hals.

Es gab keine schnelleren Wesen als Vampire, und es gelang ihm, sich blitzschnell nach hinten zu lehnen, sodass die Klinge knapp über seine Nase sauste. „Und du hältst dich für meine Lehrmeisterin? Vergiss es.“ Allerdings imponierte ihm ihr Selbstvertrauen.

„Was machst du hier?“, wollte sie wissen. Ein weiterer Hieb.

Eine weitere Parade. „Euch helfen.“

Sie ließ ein klimperndes Lachen hören, das wie eine Liebkosung über seine Haut strich. Wieder verkrampfte sich sein Magen. Sein Blick verfinsterte sich, und er kniff den Mund über den rasierklingenscharfen Zähnen zu einer dünnen Linie zusammen. Wieso hatte sie so eine Wirkung auf ihn?

Nicht ein einziges Mal hatte er auch nur das schwächste Verlangen verspürt, seit … Denk nicht an Susan. Sonst verlierst du die Konzentration.

Knurrend führte er einen Schwerthieb gegen die Amazone aus. Sie wehrte den härteren Angriff ab und sah ihn wütend an. Besser. Ein wütender Blick war besser als ein Lachen. Deshalb machte er es noch einmal: ein Hieb mit voller Kraft. Als sich ihre Schwerter dieses Mal trafen, vibrierten ihre Körper bei der Heftigkeit des Schlags.

Ihre feine Nase zuckte. War das Verärgerung? Belustigung? Freude?

Doch wohl kaum eines der letzten beiden Dinge.

So hilfst du mir?“, fragte sie energisch.

„Nein. Damit habe ich mir selbst geholfen. Aber jetzt helfe ich dir.“ Mit einer schnellen Bewegung schickte er seinen Dolch durch die Luft. Die Spitze grub sich in den Hals eines Drachen, der von hinten auf die Amazone zugerannt kam. „Siehst du den Unterschied?“

Sie drehte sich um und beäugte den am Boden liegenden sterbenden Krieger. Als sie sich wieder Layel zuwandte, bestand kein Zweifel mehr daran, welches Gefühl in ihr herrschte: Verärgerung. „Weißt du, was? Wir brauchen deine Hilfe nicht. Und erwarte für dein Angebot bloß keine Belohnung von uns.“

„Deine Dankbarkeit ist überwältigend. Glücklicherweise ist es für mich Belohnung genug, wenn ich meinen Feinden das Herz herausschneide.“

Ihre rosafarbene Zungenspitze schoss hervor, und sie leckte sich über die vollen Lippen, wobei sie ein wenig von der Kriegsbemalung verschmierte. Währenddessen sah sie die ganze Zeit auf seine Lippen. Hatten seine Worte sie … erregt? Vor Schreck stand er wie angewurzelt da. Eine derartige Verdorbenheit hätte sie anwidern müssen. Und ihre Erregung hätte ihn anwidern müssen.

Hätte.

Er fauchte sie an. Mit einem Mal wollte er genauso schnell weg von ihr, wie er die Drachenarmee erledigen wollte. „Wenn du dich mir in den Weg stellst, Amazone, werde ich dir eins verpassen.“ Vielleicht ist das gar nicht notwendig, dachte er, ehe er sich von ihr abwenden konnte. Von hinten näherte sich ihr bereits ein weiterer Drache.

Layels Vehemenz schien sie aus ihrer Starre zu befreien. Sie erwiderte sein Fauchen. „Versuch es, und du wirst genauso sterben wie die Drachen.“ Während sie sprach, führte sie ihr Schwert mit einer schnellen Bewegung nach hinten und versenkte die Spitze in dem Drachen, der sich an sie herangepirscht hatte. Sie drehte die Hand, wodurch sich die Waffe noch tiefer in den Mann hineinbohrte und ihm noch stärkere Schmerzen bereitete.

Die ganze Zeit über ließ sie Layel nicht aus den Augen.

Der Krieger fiel zu Boden und stieß ein letztes Stöhnen aus.

Layel verlor keine Zeit. Er rauschte an der Frau und ihrer todbringenden Schönheit vorbei und wusste, dass sie nur einen unscharfen Fleck wahrnehmen konnte. Sie hatte keine Zeit, sich umzudrehen, da trat er bereits mit einem Bein aus. Und traf sie. Ihre Knöchel schlugen gegeneinander. Sie stöhnte und fiel auf die Knie. Doch im nächsten Augenblick war sie wieder auf den Beinen, wirbelte herum und funkelte ihn an.

Allerdings lag in ihrem Blick kein Fünkchen Wut. Sondern nur Verletzlichkeit. Pure Verletzlichkeit. Es war die Art von Blick, die eine Frau einem Mann zuwarf, mit dem sie gern ins Bett gestiegen wäre – während sie wusste, dass es besser war, der Versuchung zu widerstehen. Ein Blick, dem er seit einer gefühlten Ewigkeit mühelos widerstanden hatte. Sie ist gefährlich.

Layel wich vor ihr zurück und verspürte einen Funken Panik.

„Du hast mich zu Boden geworfen“, stellte sie atemlos fest.

Jahrelang hatte er gedacht, sein Herz sei verkümmert. Tot. Und trotzdem erwachte das dumme Organ plötzlich zum Leben, als er die Erregung in ihrer Stimme hörte, und sprengte fast seinen Brustkorb. Geh weiter von ihr weg, verdammt. „Ja“, entgegnete er. Auf einmal waren seine Beine so schwer. „Das habe ich.“

„Aber … du hast mich zu Boden geworfen.“

Und er würde noch mehr machen, wenn sie noch einmal auf ihn losginge. Er könnte nicht anders. Irgendetwas an ihr …

Verlangen gehörte nicht zu den Dingen, die er in seinem Leben duldete. Musste er sich das wirklich in Erinnerung rufen? Er würde Susans Tod rächen, und dann würde er ihr nachfolgen. Nichts und niemand sonst spielte eine Rolle.

„Sei nett zu meinen Vampiren, kleines Mädchen. Dann lasse ich dir vielleicht ein paar Drachen übrig. Aber wenn nicht, werde ich dich suchen. Und wenn ich dich finde, werde ich dir den Kopf abschneiden und ihn neben meinen Thron hängen – zu all den anderen, die ich in meinem langen Leben bisher gesammelt habe. Das verspreche ich dir.“ Er schenkte ihr ein düsteres Grinsen und stürzte sich mitten in den Kampf, ohne Rücksicht auf irgendwelche Flammen. Nun hatte er Brand wieder im Visier.

2. Kapitel

Dieser Bastard! dachte Delilah. Dieser blutsaugende Teufel. Dieser Krieger mit dem schwarzen Herzen. Dieser … Mann! Er hatte weder ein Gewissen noch ein Gespür für Fairness. Und sie … stand darauf. Sie seufzte und wäre beinahe zu einem Häufchen weiblichen Entzückens zerschmolzen.

Der Krieger hatte sie zu Boden geworfen. Nie zuvor war das irgendjemandem gelungen. Niemandem. Sie war zu stark, zu schnell, zu bedrohlich und zu sehr auf Rache erpicht. Und wenn sie die Rache nicht ausüben konnte, waren ihre Schwestern mehr als bereit, dies für sie zu erledigen, und jede Spezies in Atlantis wusste das.

Der Vampir aber hatte weder Bedenken noch Reue gezeigt. Und was noch schlimmer – oder besser? – war: Er hätte ihr noch viel mehr antun können. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte er hinter ihr gestanden. Er hätte ihr die Kehle durchschneiden können, so wie er es bei so vielen Drachen getan hatte, und sie hätte nichts dagegen unternehmen können.

Tja, sie hätte sterben können. Aber wo blieb da der Spaß?

Vor so viel Können hätte sie auf der Hut sein müssen. Doch sie war es nicht. Sie war nur erregt. Was dämlich war! Nummer acht der zehn Amazonengebote: Kämpfe niemals von Angesicht zu Angesicht mit einem Gegner, wenn du ihn nicht besiegen kannst. Warte – und stich ihn später von hinten in den Rücken. Der Vampir hätte sie besiegen können. Ganz und gar. Und das hätte er auch. Und trotzdem hatte sie praktisch um mehr gebettelt.

Beim Gedanken an sein Fluchen beschleunigte sich ihr Puls, und ihr Blut erhitzte sich, als wäre das Drachenfeuer irgendwie durch ihre Kriegsbemalung gesickert und weiter durch ihre Haut bis direkt in ihre Venen. Er hatte sie umgeworfen, und sie hätte ihn am liebsten dafür geküsst.

Ja, in Ordnung, gut. Sie hatte viele Nächte wach gelegen und sich das gewünscht, was sie weder haben konnte noch sollte: einen Mann, der sie wollte und stark genug war, dafür den Zorn ihrer Schwestern in Kauf zu nehmen. Einen Mann, der sie nicht für zu grausam hielt und sich mehr mit ihr vorstellen konnte als nur ein paar gemeinsame Nächte. Einen Mann, der genauso aus sich herausging wie sie, der mit der gleichen Brutalität kämpfte, mit der sie in jede Schlacht zog. Einen Mann, der jedes Hindernis umwerfen würde, um zu ihr zu gelangen.

Einen Mann, für den sie das Wichtigste im Leben war. Ein Preis, den man gewinnen und würdigen muss.

Doch all diese Sehnsüchte waren ihr peinlich, und sie würde – oder könnte – sie niemals laut aussprechen. Nicht wenn sie den Respekt ihres Stammes wollte. Sie war eine Kriegerin. Das waren sie alle. Der Kampf kam vor allem anderen. Die Liebe – kam niemals.

Außerdem hatte sie es mit der Liebe schon mal probiert. Oder sich zumindest einem Mann hingegeben. Er war nicht gezwungen gewesen, sie zu akzeptieren. War nicht während der Zeremonie der Auserwählten ausgesucht worden, bei der die Amazonen entschieden, mit welchen Sklaven sie ins Bett steigen wollte. Nein, sie war ihm auf dem Schlachtfeld begegnet. Sie hatte ihn abstechen wollen, und er hatte sie geküsst. Fasziniert und geschmeichelt hatte sie ihn am Leben gelassen und sich noch in derselben Nacht aus dem Lager geschlichen, um sich mit ihm zu treffen. Du bist die Einzige für mich. So hatte er gesagt. Das wusste ich vom ersten Augenblick an. Doch nachdem sie miteinander geschlafen hatten, war er weggegangen, ohne sich noch mal umzudrehen. Sie war nicht mehr gewesen als eine kurzlebige Liebschaft, eine Feindin, die man benutzte, eine Frau, mit der er seinen Trieb befriedigte, und später eine schlechte Erinnerung, die es zu begraben galt.

Selbst schuld. Hätte sie in all den Jahren nicht andere Rassen beobachtet, wäre sie beim Anblick der Männer, die um ihre Frauen kämpften und alles taten, um sie zu beschützen, nicht dahingeschmolzen, wäre die Sehnsucht nach einer eigenen Liebe gar nicht erst entstanden. Eine Sehnsucht, die das dritte Gebot eindeutig verletzte: Wenn du anfängst, von einem Mann mehr als Sex zu wollen, töte ihn – sonst nimmt er dich deinen Schwestern weg und verrät dich.

Ein wütendes Knurren hallte durch den Wald und weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie stieß ihr Schwert nach vorn, drehte den Griff und rammte es dann nach hinten. Vor und hinter ihr fielen Drachenkrieger zu Boden.

Ein weiterer Drache kam auf sie zugerannt. Dumme Männer. Sie waren starke Soldaten, keine Frage. Sie hatte schon gegen einige von ihnen gekämpft. Aber sie war stärker. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung.

Delilah hob ihren Dolch, bereit, dem neuen Angreifer entgegenzutreten. Doch dann stellte sich ihm eine ihrer Schwestern in den Weg, und die beiden begannen wild zu kämpfen. Metall klapperte, Funken flogen. Schon bald stürzte die schwächere Nola, die noch in der Ausbildung war, unter den kräftigen Schwerthieben zu Boden. Der Mann warf sein Schwert beiseite, um mit bloßen Händen weiterzukämpfen.

Erstes Gebot: Hilf immer einer Schwester in Not.

Mit sicheren schnellen Schritten ging Delilah zu ihrer Stammesschwester – nur um mit Stolz festzustellen, dass sie sich die Mühe hätte sparen können. Die Amazone sprang plötzlich auf und trat dem Drachenkrieger kräftig gegen die Fäuste. Er grunzte und stolperte.

Nola kommt klar, und ich habe eine Mission. Delilah drehte sich um und betrachtete die makabre Szene, die sich vor ihr abspielte. Blut, Stöhnen, zusammenbrechende Körper. Alles notwendig. Sie war aus einem bestimmten Grund hergekommen: um ihre Schwester Lily zu finden und zu retten.

Wo bist du jetzt, süße Lily? Vor dem Angriff auf die Drachen hatte Delilah sie in dem Käfig gesehen. Seitdem gab es kein Zeichen mehr von dem Mädchen. Komm schon. Zeig dich. Lily war vor eine Woche verschwunden, und sie waren ihrer Spur bis zum Drachenpalast gefolgt, von wo aus sie sich an die Fersen der Krieger geheftet hatten – bis in den Wald hinein. Es war besser, dort aus einem Hinterhalt zuzuschlagen. Ob die Drachen sie entführt hatten oder ob sie freiwillig mitgegangen war, spielte keine Rolle. Sie hatten sie gefesselt und geknebelt. Sie hatten sie eingesperrt.

Dafür würden sie zuerst leiden. Und anschließend sterben.

Lily war ein Kind, unschuldig, und ihre zukünftige Königin. Delilah – und die anderen Amazonen – waren vernarrt in das Mädchen. Mit ihren dreizehn Jahren war sie charmant, reizend und lustig. Alles, was die restlichen Amazonen nicht waren.

Bringt mir mein Baby zurück, hatte die Königin Delilah mit zitterndem Kinn angewiesen. Zu sehen, dass die sonst so gefasste Kreja den Tränen nah war, war eine Qual für sich gewesen. Du weißt ja, was mit jenen zu geschehen hat, die ihr auch nur den geringsten Schaden zufügen.

Jede Kriegerin, die an diesem Kampf teilnahm, würde alles tun, um Lilys süße Unschuld zu bewahren – falls die Drachen sie nicht bereits zerstört hatten. Und falls sie das hatten … Die Wut vernebelte Delilah die Sicht, überall blitzte es rot und schwarz auf.

Konzentrier dich. Viele der Krieger hatten ihre Tierform angenommen. Haut war Schuppen gewichen, gezackte Schwänze wippten vor und zurück, Flügel schlugen, und Krallen kratzten. So war es schwieriger, sie zu töten, doch sie genoss die Herausforderung.

Aus dem Augenwinkel sah sie weiße Haare und leuchtende kristallklare Augen, die von schwarzen Wimpern eingerahmt waren. Gesichtszüge, die für einen Mann fast zu hübsch waren. Sinnlich, exotisch. Ihr Herz machte einen seltsamen Sprung. Der Vampir, der sie zu Boden geworfen hatte. Er hätte der Gott der Bosheit und Versuchung sein können – sie wäre nicht überrascht.

Wie hieß er? Die Frage zog flüsternd durch ihren Kopf, ehe sie sie aufhalten konnte. Er ist unwichtig, erinnerst du dich? Aber warum konnte sie sich von seinem Anblick nicht losreißen?

Er verschwand in der Menge. Zwei feindliche Krieger stürmten auf ihn zu. Ihre schuppigen Körper waren monströs, ihre Gesichter länglich, ihre Zähne wie Säbel. Hatte der Vampir genügend Kraft, um gegen beide zu kämpfen?

Der Gedanke an seinen Erfolg erregte sie, aber ein Teil von ihr hatte … Angst? Sie legte die Stirn in Falten. Nein. Das war unmöglich. Ihr machte nichts Angst. Kein Kampf, kein Schmerz, nicht mal der Tod. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass ihr Herz plötzlich unregelmäßig schlug. Was, wenn sie den Vampir niederstreckten? Er war von so vielen Kriegern umringt, und sie alle hatten es auf seinen Hals abgesehen.

Delilah richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Nola, die noch immer nur wenige Zentimeter von ihr entfernt kämpfte, und sich nicht ganz so gut schlug, wie Delilah gehofft hatte. Nola gehörte nicht zu ihren engsten Freundinnen. Sie war zu sehr Einzelgängerin, als dass sie überhaupt Freunde gehabt hätte. Aber ihre Artgenossinnen hatten Vorrang. Immer.

Delilah schob den Vampir ein für alle Mal aus ihrem Kopf, stürzte sich auf den Drachen, der ihre Schwester bedrohte, warf ihn zu Boden und gab Nola die Möglichkeit, endlich ihr Schwert in seiner Brust zu versenken.

Er brüllte. „Ihr verdammten Weiber!“ Keuchend lag er da, blickte wütend zwischen seiner Brust und Nola hin und her, stand jedoch nicht wieder auf. „Das tat weh.“

„Gut.“ Neuntes Gebot: Beende niemals einen Kampf, ohne deinen Gegner irgendwie zu verletzen. Delilah wirbelte herum, bereit, einen weiteren Drachen zu Fall zu bringen. Doch wieder ertappte sie sich dabei, wie sie nach dem Vampir Ausschau hielt. Wohl doch nicht vergessen. Er war von unzähligen Feinden umzingelt. Das würde er mit Sicherheit nicht überleben. Trotz seiner Fähigkeiten war er doch nur ein Mann. Ein atemberaubender, gebieterischer Mann, aber genauso fehlbar wie alle seine Brüder.

Nola keuchte, während sie Delilahs Blick folgte. „Sollen wir ihm das Herz herausschneiden?“

„Rühr ihn nicht an. Der Vampir gehört mir“, sprudelte es aus ihr heraus, bevor sie die Worte aufhalten konnte. Fünftes Gebot: Was dir gehört, gehört auch deinen Schwestern. Nola hatte dasselbe Anrecht auf ihn wie sie.

Eine Schrecksekunde lang herrschte Schweigen. „Hat sich die keusche Delilah endlich einen Mann ausgesucht? Den muss ich kennenlernen.“ Nola eilte vor und warf sich ins Getümmel aus Amazonen, Drachen und Vampiren. Die letzten beiden versuchten, sie zu verscheuchen, während sie den Kampf gegeneinander fortsetzten. Sogleich mussten sie für die mangelnde Aufmerksamkeit bezahlen. Ein Krieger nach dem anderen fiel zu Boden wie Regentropfen in einem Sturm, während Nolas Schwert wie ein Blitz leuchtete.

Hatte sie vor, den Vampir für sich zu gewinnen? Zuerst war Delilah so verblüfft, dass sie reglos dastand. Die stoische Nola blieb immer für sich. Noch nie hatte sie um einen männlichen Gefangenen gekämpft, und überhaupt kämpfte sie immer nur, wenn man es ihr befahl – obwohl sie immer besser wurde. Sie war von Natur aus eine Beobachterin und keine Macherin. Sie würde den Vampir nicht wollen. Oder doch?

Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die von seiner Stärke fasziniert ist. Auf einmal verspürte Delilah eine große Wut und stapfte vorwärts. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie erst mal bei den Kämpfenden ankam. Wenn es doch nur eine Option wäre, Nola den Kopf abzuschlagen!

Der verbotene Gedanke nahm ihr die Luft. Wenn sie so etwas laut sagte, würde man sie zum Tode verurteilen.

Irgendjemand warf sie zu Boden, noch bevor sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Der Vampir hatte das Gleiche gemacht, es hatte sie erregt. Aber das hier … nein. Sie rollte sich auf den Rücken. Doch sie hatte keine Zeit, wütend zu sein, da der jüngste Angreifer auf sie sprang und sie hinunterdrückte. Als sie aufsah, erkannte sie den Drachen, den sie als Letztes mit dem Schwert verletzt hatte. Die Wunde war bereits teilweise verheilt – und der Krieger wollte ganz offensichtlich mehr. Sie befreite ihren Arm und wollte ihm einen Hieb verpassen.

„O nein, das wirst du nicht tun.“ Er hielt sie am Handgelenk fest.

„O doch, das werde ich.“ Es gelang ihr, ein Bein zwischen sich und den Feind zu bringen, und sie trat ihn ins Gesicht. Er krümmte sich zur Seite, lastete dadurch nicht mehr mit dem vollen Gewicht auf ihr, und sie war frei. Sie stand auf und trat ihn ein weiteres Mal – direkt auf die klaffende Wunde. Er zuckte zusammen und erstarrte dann mit geschlossenen Augen. Sicher, dass er sie kein drittes Mal angreifen würde, stapfte sie davon und nahm wieder den Vampir ins Visier. Seine fließenden Bewegungen waren von einer tödlichen Grazie. Seine Waffen wirkten wie Verlängerungen seiner Arme, als wäre er mit ihnen in den Händen zur Welt gekommen.

Hinter ihm öffnete ein Drache das Maul, um Feuer auf ihn zu speien.

„Nola!“, rief sie, da sie selbst zu weit weg war, als dass sie den Krieger eigenhändig hätte wegschubsen können. Aber die Amazone war durch den Schwanz abgelenkt, der in ihre Richtung schwang, und hörte den Hilferuf nicht.

Blitzschnell zog Delilah einen der Dolche, die sie sich auf den Rücken gebunden hatte. Mit einem Zischen flog er durch die Luft, bis sich die Spitze in die Brust des Drachen bohrte. Ein schauriges Heulen ertönte, aber zum Glück kam kein Feuer.

Der Vampir wirbelte herum, und ihre Blicke trafen sich. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper, noch stärker als das, was sie bei ihrer ersten Begegnung gespürt hatte. Er sah zu dem Drachen, der auf die Knie sank, und neigte dann in Anerkennung für Delilahs Hilfe leicht den Kopf zur Seite. Zu dem Kribbeln gesellte sich Enttäuschung.

Was hast du denn erwartet? Dass er dir einen Handkuss zuwirft? „Deine Dankbarkeit ist überwältigend“, rief sie ihm zu. Dieselben Worte, die er zuvor zu ihr gesagt hatte.

Wortlos drehte er sich um und griff den nächsten Feuerspeier an. Dass Flammen über seine Haut tänzelten, bis sie Blasen warf und verkohlte, schien ihn dabei nicht zu stören. Je mehr Schritte sie auf ihn zu machte, umso mehr Gegner stellten sich ihr in den Weg. Und als Delilah sich weiter zu ihm durchkämpfte – nein, zu ihrer Freundin, verdammt! –, sah sie Nola abtauchen, an einem Drachen vorbeirasen, der soeben einen Vampir in den Bauch gestochen hatte, und ihm ihr Schwert in die schuppigen Knöchel schlagen. Wieder ertönte ein Brüllen, als die Kreatur umfiel.

In diesem Moment kam Delilah bei ihr an. Der weißhaarige Vampir war verschwunden.

„Wo ist Lily?“, fragte Nola sie, und in ihrer Stimme schwang Panik mit. Schwarze Haarsträhnen peitschten in ihr zartes Gesicht, als sie sich nach links und rechts umsah. Sie mochte eine Einzelgängerin sein, aber sie liebte Lily genauso sehr wie alle anderen.

Delilah folgte ihrem Blick – und entdeckte schließlich den Käfig, in dem Lily gesessen hatte. Er war leer. Nein, nein, nein, nein. „Bestimmt hat eine von uns sie längst befreit und in Sicherheit gebracht.“

„Das war nicht der Plan. Wir sollten sie samt Käfig mitnehmen, damit sie in Sicherheit ist, und sie von hier wegbringen. Höchstwahrscheinlich hat sie das Schloss selbst geknackt. Sie weiß, wie das geht. Zumindest dafür haben wir gesorgt.“

„Stimmt. Also gut. Du gehst nach Norden, ich nach Süden. Wir werden sie finden.“

Nola nickte, und weg waren sie.

Delilah raste zwischen den Bäumen hindurch, und Zweige peitschten ihr ins Gesicht und gegen die Arme. Steine bohrten sich durch die Sohlen ihrer Stiefel. Die ganze Zeit über hielt sie den Blick auf den Boden gerichtet, suchte … und suchte … da! Drei Paar Fußspuren. Eine Spur stammte von kleinen nackten Füßen, die anderen zwei waren von großen Stiefeln. Männerstiefeln.

Alle drei führten in Richtung Amazonenlager.

Die Drachen kannten den Weg nicht, und das bedeutete, dass Lily verfolgt wurde.

Aufgebracht beschleunigte Delilah ihre Schritte. Ihr abgehacktes Keuchen klang in ihren eigenen Ohren. Ausnahmsweise bereute sie die Tatsache, dass man Lily, anders als die anderen Amazonen, nicht in die Kunst des Kämpfens eingewiesen hatte.

Die süße Lily, das einzige Kind der Königin. Sie war ein zartes Kind gewesen, eine Frühgeburt, und andauernd krank. Eigentlich hätte sie bei der Geburt getötet werden müssen – oder wenigstens später, als sich herausgestellt hatte, dass sie niemals stark genug wäre, um zu kämpfen. Doch niemand war dazu in der Lage gewesen. Sie hatte ihre Herzen vom ersten Augenblick an erobert.

Da das Mädchen so krank gewesen war, hatte man es nicht von seiner Mutter getrennt. Man hatte Lily nicht im Alter von fünf Jahren ins Kampftraining gesteckt. Hatte sie nicht geschlagen, wenn sie Anzeichen von Schwäche gezeigt hatte, wie Tränen oder Traurigkeit. Hatte ihr keine Verletzungen mit dem Schwert zugefügt und sie anschließend den Elementen ausgesetzt, damit sie zu überleben lernte, während ihr Körper vor Schmerzen schrie und die Welt um sie herum nichts anderes bot als Eiseskälte oder Bruthitze.

Auf sich allein gestellt würde Lily sterben.

Wenn man sie geschändet hatte, würde Lily vermutlich sterben wollen.

Ich komme, Süße. Ich komme. Wo bist du? Wo …?

Ein entsetzter Schrei zerschnitt die Luft, eine Antwort auf ihre Gebete. Ihre Albträume.

Lily! Im Rennen zog Delilah die übrig gebliebenen Dolche aus der Scheide, die sie sich um die Hüfte gebunden hatte. Sie barst durch das smaragdgrüne Dickicht – und sah Lily, die auf den Boden gedrückt wurde. Ihre Knöchel waren zusammengebunden, und sie ruderte wild mit den Armen, während sie versuchte, die Männer abzuschütteln, die sie festhielten.

„Lasst mich gehen!“, schrie sie.

„Du hast den Krieg in unser Zuhause gebracht, Mädchen. Jetzt gehst du zurück zu unserem König, ob du willst oder nicht.“

Die Tränen liefen ihr über die Wangen; sie wimmerte. „Ich will einfach nur nach Hause.“

Mit einem Satz war Delilah bei ihr. Dem einen Mann rammte sie ihren Ellbogen gegen die Schläfe, wirbelte herum und trat den anderen gegen den Hals. Beide gingen zu Boden und stießen dabei benommene Grunzlaute aus. Sie gab ihnen keine Zeit, sich zu erholen, kreuzte die Arme und warf die letzten Klingen. Beide bohrten sich in die Brust ihres jeweiligen Ziels. Man hörte ein Gurgeln, ein Heulen, dann fielen beide Männer um, und jeder Schlag ihrer Herzen brachte sie dem Tod ein Stück näher.

„Lilah“, rief Lily, während sie sich die Fußfesseln abstreifte. Sie rappelte sich auf und warf sich in Delilahs wartende Arme. Das Mädchen zitterte, schluchzte. Noch immer liefen ihm warme Tränen über die Wangen.

Delilah blieb wachsam, während sie dem Mädchen mit einer Hand über die seidenweichen Haare strich. „Jetzt bin ich ja da. Alles wird gut.“

„Ich wollte nicht … das Blut … meine Schuld …“, stammelte Lily zwischen Schluchzern. „Ich wollte doch nur so stark sein wie ihr. Mich beweisen. Erfahrungen sammeln. Als ich den Drachen zufällig über den Weg gelaufen bin, habe ich beschlossen, ihnen eine Falle zu stellen und ihre Krallen als Beweis für meine Fähigkeiten mit nach Hause zu bringen. Ich habe allein geübt. Aber sie haben nicht gegen mich gekämpft. Sie haben mich einfach zu sich nach Hause gebracht und eingesperrt, damit ich ihnen keine weiteren Verletzungen zufüge und sie überlegen können, was sie mit mir machen sollen. Es tut mir leid. Wahnsinnig leid. Es ist nur … Ich bin kein Kind mehr.“

„Ich weiß, Süße. Ich weiß.“ Hauptsache, sie beruhigte sich. Und wenn Delilah dazu lügen musste. Lily war mit ihrem Leben unzufrieden? Vor ihrem Verschwinden hatte Lily andauernd gelächelt und gelacht. Sie war ein strahlender Stern inmitten finsterer brutaler Kriegerinnen. Sie wurde verhätschelt und verwöhnt und schien die Aufmerksamkeit zu genießen.

„Wenn irgendjemand meinetwegen stirbt …“

„Sei kein Dummkopf.“ Delilah legte ihr eine Hand unter das Kinn und hob es hoch, bis sie einander ansahen. Sie blickte in verwässerte grüne Augen, die von den vielen Tränen einen roten, leicht geschwollenen Rand hatten. „Deinen Schwestern wird nichts geschehen. Sie sind durch und durch Kriegerinnen, denen die Feuerspeier nichts anhaben können.“

Und was war mit den Vampiren?

Wieder begann ihr Herz seltsam unregelmäßig zu schlagen, und das Blut in ihren Adern erhitzte sich augenblicklich.

Lily schüttelte sich. „Versprochen?“, fragte sie schwach und hoffnungsvoll.

„Dass ich dir das erst noch versprechen soll, ist wirklich beleidigend.“

„Tut mir leid. Ich würde dich niemals absichtlich beleidigen, aber ich habe auch Angst um die Drachen. Sie haben mir nichts getan, waren sogar nett zu mir.“

„Das spielt keine Rolle.“ Ihre Stimme wurde härter. „Sie hätten dich sofort gehen lassen sollen. Stattdessen haben sie dich gefangen gehalten. Eingesperrt. Deine Mutter war krank vor Sorge.“

„Aber …“

„Wenn wir in dieser Sache nachsichtig sind, werden andere Rassen denken, dass wir es tolerieren, wenn man dich so behandelt. Man wird uns als Schwächlinge betrachten und permanent angreifen. Deshalb müssen wir jetzt kämpfen, um schlimmeren Konflikten vorzubeugen.“ Diese Lektion hatte man ihr eingeprügelt, bis sie genauso selbstverständlich für sie war wie das Atmen.

Ein Schniefen, ein Nicken.

„Ich muss dir jetzt ein Versprechen entlocken.“ Während sie sprach, suchte sie mit ihrem Blick den Wald ab. Bislang gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sie beobachtet oder verfolgt wurden. Was allerdings nicht hieß, dass sie wirklich sicher waren.

Lily knabberte an ihrer Unterlippe, nickte aber.

O, dieses Mädchen, dachte Delilah mit einem Seufzen. Morgen würde sie der Königin ihr Ansinnen vorbringen, Lily in Kampftechniken zu schulen. Sie wollte sie nicht zur Kriegerin machen, aber sie sollte sich besser schützen können. „Versprich mir, dass du unser Zuhause nie wieder ohne Erlaubnis verlässt.“

„Versprochen.“ Die Antwort erfolgte prompt, ohne Zögern. „Ich hatte noch nie solche Angst, Lilah. Männer sind nicht die schwachen, kraftlosen Wesen, für die ich sie gehalten habe.“

Nein, das waren sie nicht. Die Vampire … Delilah packte fester zu und versuchte, den letzten Gedanken abzuschütteln. „Wenn du dieses Versprechen brichst, Kleines, werden Drachen und Vampire nicht das Einzige sein, wovor du dich fürchten musst. Verstanden?“

Lily schauderte. „Ja.“

„Dann lass uns die anderen suchen und nach Hause gehen.“

Während der Kampf wütend weiterging, suchte Layel die Lichtung nach der blauhaarigen Kriegerin ab. Ohne Erfolg. Zu seiner Überraschung war er enttäuscht, was vollkommen inakzeptabel war. Zuerst das Verlangen, jetzt die Sehnsucht nach ihr?

Hoffentlich war sie umgekommen. Ja, hoffentlich, dachte er, obwohl ein versteckter Teil in ihm Nein schrie. Besser, sie starb im Kampf, als dass sie seine Gedanken nur eine Sekunde länger quälten. Sie gehörten Susan. Allein Susan.

„Ich hätte wissen müssen, dass du in der Nähe bist“, hörte er eine gereizte Stimme hinter sich.

Layel drehte sich um und sah sich Brand und Tagart gegenüber. Endlich. O ja, endlich. Sie waren noch in Menschengestalt und somit verletzlicher. Sein Mund verzog sich langsam zu einem Grinsen, während er einen Arm hob und den Zeigefinger ausstreckte. Dabei tropfte Blut von seiner Hand. Seine Stichwaffen hatte er vor einiger Zeit abgelegt, weil er seine Gegner persönlicher töten wollte – mit Fingernägeln und Zähnen. „Du.“

„Ja, ich. Es ist an der Zeit, diese Sache zu beenden, Layel“, sagte Brand.

„Deine Freunde haben gut geschmeckt“, erwiderte er und wischte sich den Mund ab, wohl wissend, dass er sich damit noch mehr Blut ins Gesicht schmierte. „Aber ich denke, ihr zwei werdet noch besser schmecken.“

Ein schwarzer Schleier der Wut legte sich über Tagarts blutbespritztes Gesicht. Der Bauch des Kriegers war aufgeschlitzt und blutete, doch das schien er gar nicht zu bemerken. „Dich zu töten wird mir ein Vergnügen sein, Vampir.“

„Schade, dass du das glaubst. Weil du nämlich nie die Gelegenheit haben wirst, es zu erleben.“

Unter Brands Auge zuckte ein Muskel. „Du wirst für all das leiden, was du unseren Freunden angetan hast und antun wolltest, Vampir. Das weißt du doch, oder?“

„Ich weiß nichts dergleichen. Ich habe deinen Freunden gerade deshalb so Schreckliches angetan, weil ich so leide. Und ja: Ich habe jeden einzelnen Moment genossen.“ Layel mochte die Drachen, die Susan vergewaltigt und verbrannt hatten, getötet haben, mochte einige von ihnen in seinen Kerker gebracht und wochenlang gefoltert haben, bevor er ihren Seelen den Todesstoß versetzte. Aber ging nicht davon aus, dass er jemals müde würde, ihre Stammesbrüder zu verletzen.

Die Wahrheit war, dass er nur noch aus einem Grund lebte: um ihre gesamte Art zu vernichten.

„Du forderst uns zum Krieg heraus!“, bellte Brand.

„Lustig. Ich dachte, das hätte ich schon vor zweihundert Jahren getan. Ist die Herausforderung gerade erst bei euch angekommen?“

„So ist es. Und ich nehme sie hiermit an.“ Tagart machte einige Schritte nach vorn, ehe Brand ihn am Arm packte und festhielt. Der dunkle Krieger sah aus, als wäre er bereit, die Hand seines Kommandanten abzuschütteln und anzugreifen.

„Noch nicht“, befahl Brand. Dann brüllte er laut und lange und nahm seine Drachengestalt an. Seine Kleider zerrissen, fielen zu Boden, und grüne Schuppen überzogen seine Haut. Sein Gesicht verlängerte sich zu einem Maul, an seinen Fingern wuchsen Krallen, und seine Zähne wurden scharf und spitz. Aus seinem Rücken traten dünne, durchsichtige Flügel hervor, die sich bis zu den Bäumen erstreckten und täuschend harmlos wirkten. Kurz darauf verwandelte sich Tagart ebenfalls.

„Kommt, holt mich, ihr Kleinen“, forderte Layel sie auf.

Ein Feuerschwall, und schon flogen Brand und Tagart auf ihn zu. Layel sprang ihnen entgegen. Er war bereit. Mehr als das. „Susan!“, rief er. Sein Kampfschrei. Eine ewige Erinnerung an das, was man ihm genommen hatte, wofür er kämpfte, wofür er sterben würde.

Nur dass er die Krieger nicht erreichte.

Auf halber Strecke wurde seine Welt schwarz und löste sich Stück für Stück in nichts auf. Nichts neben ihm, nichts vor ihm, nichts hinter ihm. Der Boden, sein einziger fester Anker, öffnete sich und verschluckte ihn. Sein Körper fiel plötzlich in eine tiefe dunkle Leere. Er wirbelte rundherum, wedelte mit den Armen, um irgendwo Halt zu finden, doch alles, was er zu packen bekam, war Luft.

Er ignorierte die Panik, die ihn packte, und zwang sich, langsam zu atmen und seinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Transport. Jetzt! Er versuchte es, ließ einen Moment verstreichen, aber nichts geschah. Er fiel weiter, sein Körper war eine feste Masse. Die Zähne fest aufeinandergebissen, breitete er die Arme aus und versuchte zu fliegen. Doch die unsichtbare Kette zog ihn hinunter … hinunter … hinunter … ohne das Tempo zu drosseln, ohne ihn loszulassen.

Schrecken und Wut gesellten sich zur Panik und rasten mit einer widerwärtigen Intensität durch seinen Körper. Er wusste nicht, was da geschah oder wie es geschah. Nur, dass er es nicht aufhalten konnte.

Seine Hand schlug gegen etwas Hartes. Eine Männerbrust, begriff er. Der Mann griff nach ihm, seine Finger suchten nach Halt. Layel fauchte, schon bald war sein Arm blutig gekratzt. Zum Glück gelang es ihm, sich loszureißen – und schon knallte er gegen einen weichen Frauenkörper. Sie keuchte. Es klang leise und verängstigt. Wie viele sind das hier? fragte er sich, als er gegen ein … Pferd prallte. Er hörte ein Wiehern.

Irgendwer schrie. Jemand anderes wimmerte. Und die ganze Zeit über fielen sie weiter hinab. Kein Ende war in Sicht.

Mitten im Wald schob Delilah Lily hinter sich. Plötzlich lauerte Gefahr in der Nähe. Sie konnte es spüren, beinahe sogar riechen. Als wäre die Luft plötzlich dicker.

„Was ist?“, flüsterte Lily ängstlich.

„Bleib hinter mir.“ Delilah nahm die Dolche wieder an sich, mit denen sie die Drachen getötet hatte, und hielt sie fest im Griff. Wo bist du? Sie suchte mit dem Blick Bäume ab, Blätter, Schatten. Da, rechts von ihnen, raschelte irgendetwas in den Zweigen. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, konnte aber keine Gestalt ausmachen. Nur …

Ein Keuchen entfuhr ihr, als das Etwas plötzlich in ihr Blickfeld kam, so durchsichtig wie die Luft, die sie atmete, nur dicker. Wie Wasser. Sie hatte weder Zeit zu reagieren noch anzugreifen. Dann war es da, direkt vor ihr, und verschlang sie, zog sie in ein schwarzes Loch.

„Lily!“, schrie sie. Die Dolche wurden ihr aus den Händen gerissen, während sie mit den Armen ruderte und verzweifelt nach Halt suchte. Sie fand nichts. Nur Luft. Je weiter sie fiel, umso stärker wurde das Schwindelgefühl in ihrem Kopf, bis es so intensiv wurde, dass sie sich krümmte. In ihren Ohren hallte ein einziges Schreien, Grunzen und Stöhnen, das genauso unharmonisch klang wie die Glocken, die läuteten, wenn eine Amazone starb.

„Lily!“

„Amazone“, rief eine vertraute Männerstimme, die sich über das Chaos erhob.

„Vampir?“ Ihr Herzschlag hätte sich nicht beruhigen sollen. Der Schweiß, der gerade begonnen hatte, sich auf ihrer Haut auszubreiten, hätte nicht abkühlen sollen. Doch er tat es. Sie hätte nicht erleichtert sein sollen, doch sie war es. Als sie nach ihm griff – eine Berührung, sie brauchte nur eine Berührung –, knallte ihr Kopf gegen etwas, das wohl ein zerklüfteter Felsen war, und sie stöhnte. Durch den gewaltigen Aufprall entfernte sie sich wieder von dem Vampir.

Sie sah weiße Sterne, die immer größer und größer wurden, bis sie ihr gesamtes Blickfeld ausfüllten. Irgendwie war das Licht noch beängstigender als die Dunkelheit. Ein Hoffnungsstrahl, der auf grausamste Weise zerstört wurde.

„Versuch, mich zu greifen“, befahl der Vampir.

„Ich kann nicht“, wollte sie sagen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken.

Letztlich brauchte sie nicht nach ihm zu greifen. Sie prallte gegen eine andere Wand und flog nach vorn. Ihre Körper kollidierten, so heftig, dass ihr die Luft aus der Lunge getrieben wurde. Augenblicklich verwandelte sich das schreckliche Weiß in eine angenehme Dunkelheit. Delilahs Muskeln wurden schlaff, und ihr Kopf sackte gegen etwas Hartes. Sie spürte, wie der Vampir seine Finger um ihren Arm schloss. Sie waren heiß und stark und wichtiger als das Atmen. Sie schlang die Arme um seinen Körper und hätte sich am liebsten für immer an ihn geklammert.

Nimm dir, was du willst. Es gehört dir. Das sechste Gebot schoss ihr durch den Kopf. Sie wusste genau, dass die Amazone, die die Gebote einst niedergeschrieben hatte, nicht damit gemeint hatte, sich an einen Mann zu schmiegen und die eigene Sicherheit in seine Hände zu legen. Trotzdem hielt sie ihn fest. Lass mich nicht los, dachte sie noch. Dann verlor sie das Bewusstsein.

3. Kapitel

Layel blinzelte. Er nahm ein trübes Licht wahr, eine Kombination aus hell und dunkel, klar und schleierhaft. Während er die Verwirrung niederrang, verspürte er einen stechenden Schmerz hinter den Schläfen und stöhnte. Wo war er? Was war passiert? Hatte er nicht auf dem Schlachtfeld gestanden?

Ja, dachte er, ganz sicher. Die Szene raste ihm durch den Kopf: er, der mit erhobener Waffe auf seinen Feind losging. Brand und Tagart in Drachengestalt, die auf ihn zugeflogen kamen. Der Tod, der in ihren goldenen Augen aufflackerte. Und dann war er ins Nichts gezogen worden.

Jetzt gerade … lag er am Boden, wie ihm bewusst wurde. Auf Sand. Ein weiterer Schmerz, gefolgt von dichter werdendem Nebel, und der Strom des Begreifens riss ab. Er kniff die Augen zu. Ein Augenblick verstrich, dann noch einer. Wie er gehofft hatte, lichtete sich der Nebel, und seine Gedanken wurden wieder klarer. War er tödlich verletzt worden, bevor er Brand und Tagart erreicht hatte, und ruhte jetzt in der Ewigkeit?

Noch nicht, hätte er fast geschrien. Ich bin noch nicht bereit. Ich habe Susan noch nicht gerächt.

Ruhig. Denk nach. Man hatte ihn tatsächlich verletzt, daran erinnerte er sich. Ein Schnitt in die Brust, ein Arm zerfetzt. Wenn er noch am Leben war, wären diese Verletzungen noch immer sichtbar. Zitternd schob er sich eine Hand unters Hemd und rieb über Brust und Arm, um sich zu vergewissern. Er fühlte Wundschorf, und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen.

Okay … was ist passiert? fragte er sich wieder.

Er atmete ein und aus, und der Duft von Salz und Kokosnuss stieg ihm in die Nase. Vertraut. Das Rauschen brandender, am Ufer brechender Wellen klang in seinen Ohren. Auch das: vertraut.

Wieder öffnete er die Augen. Diesmal ganz langsam, um sich nach und nach an das Licht zu gewöhnen. Zuerst sah er nur weiße bauschige … Dinge über eine grenzenlose blaue Fläche ziehen. Nicht vertraut. Normalerweise war Atlantis von einer gläsernen Kuppel umgeben, die sich in einem scharfkantigen Bogen erhob. Wo war er?

Konzentrier dich. Behutsam setzte er sich auf.

Goldene und rosafarbene Punkte flackerten vor seinen Augen auf. Er atmete weiter ein und aus. Als die Punkte verblassten, traten üppige Palmen in verschiedenen Grün- und Weißtönen in sein Blickfeld – vom strahlendsten Smaragdgrün über blassestes Jadegrün bis zu Elfenbeinfarben. Er drehte den Kopf und musste sich die Schläfen massieren, um das nächste heftige Stechen abzuwenden. Weicher Sand erstreckte sich bis in einen klaren azurblauen Ozean hinein, dessen Wasser Wellen schlug, schäumte, trübe wurde, und das alles unter den sanften Strahlen eines hellen orangefarbenen … Balles.

Eines Balles, der ihm – wie er feststellen musste – die Haut bei Weitem stärker verbrannte, als die Kuppel es je vermocht hatte. Sein Blick verfinsterte sich weiter.

Seine Augen füllten sich so stark mit Tränen, dass er wieder auf den Sand schauen musste. Das milderte das Brennen zwar nicht, doch schon bald wurde das Brennen zu einer seiner geringsten Sorgen. Über den gesamten Sand lagen Körper verteilt. Bewusstlos. Tot?

Layel verharrte an Ort und Stelle und musterte den Mann, der ihm am nächsten lag. Zane, stellte er fest, der keinerlei Verletzungen mehr hatte. Die Brust des Kriegers hob und senkte sich. Ein Beweis dafür, dass er noch am Leben war. Den Göttern war Dank. Als Nächstes sah er … Er verkrampfte sich. Nur wenige Meter entfernt lag Brand auf dem Rücken im Sand. Obwohl er sich während des Kampfes in einen Drachen verwandelt hatte, wobei seine Kleidung zerfetzt worden war, lag er jetzt in Menschengestalt und angezogen da. Neben ihm lag Tagart, ebenfalls als Mensch und bekleidet.

Als wäre die Wut nie weg gewesen, sondern hätte sich nur in seinem Hinterkopf versteckt, wurde Layel auf einmal mit voller Wucht davon gepackt. Die Wut darüber, dass ihr Kampf so abrupt beendet worden war. Die Wut darüber, dass die Drachen nicht tot waren.

Was auch immer geschehen war, dass sie an diesem seltsamen Ort gelandet waren, es war Layel plötzlich gleichgültig. Die Drachen mussten sterben. Sollten eigentlich schon tot sein. Noch immer finster dreinblickend, sprang er auf. Eine Welle des Schwindels brachte ihn zum Wanken, doch er stolperte dennoch vorwärts. Er griff nach seinen Dolchen, und seine Fingerspitzen pulsierten nur so vor Entschlossenheit.

Die Waffen waren weg. In seiner Kehle bildete sich ein Knurren, das lauter wurde, als er nach kurzer Überprüfung begriff, dass sein gesamtes Waffenarsenal verschwunden war.

Trotzdem drosselte er sein Tempo nicht. Mit den Zähnen konnte er ihnen die Kehlköpfe genauso gut herausreißen. Auch wenn es nett gewesen wäre, ein paar Waffen zur Verfügung zu haben. Nur für alle Fälle. Aber egal.

Er war fast bei ihnen … fast … da prallte er mit voller Wucht gegen eine unsichtbare Barriere.

Jeder Knochen in seinem Körper vibrierte durch den Aufprall, sodass dieses verfluchte Schwindelgefühl wieder durch seinen Kopf fegte. Er blinzelte irritiert, hob die Arme und drückte sie in die Luft. Was um Hades willen war das? Irgendeine Art … Schild?

Ja, genau, begriff er. Genau das war es. Klar, durchsichtig und dennoch so fest, dass es ihn daran hinderte, auch nur einen Zentimeter weiterzugehen. Er schlug mit den Fäusten dagegen, doch der Schild hielt. Er krallte mit den Fingernägeln danach, aber der Schild bekam keinen Kratzer. Stattdessen wurden ihm zwei Nägel aus dem Nagelbett gerissen, sodass ihm Blut über die Hände rann. Er rammte die Schulter dagegen und kugelte sie fast aus, doch der Schild wackelte nicht mal.

Verdammt noch mal! Er würde sich nicht aufhalten lassen. Und wenn es ihn einen Arm oder ein Bein kostete. Was machte schon körperlicher Schmerz, wenn man so einem erfreulichen Ergebnis entgegensah? Während er sich wieder und wieder gegen die Barriere warf, starrte er auf seine noch immer schlafenden Feinde. Noch nie war die Zeit so reif gewesen, sich zu rächen. Bald …

Neben den Drachen lagen zwei Amazonen, von denen eine doch tatsächlich seine blutdurstige blauhaarige Schlachtfeldbekanntschaft war. Nicht meine, korrigierte er sich sofort energisch. Aber er konnte nicht leugnen, dass sich bei ihrem Anblick sein Atem erhitzte und ihm die Lunge versengte. Konnte nicht leugnen, dass sein Blut schneller floss.

Als er durch die dunkle Leere gefallen war, hatte er ihre raue Stimme gehört und ihren erschlafften Körper festgehalten. Sie hatte sich warm und weich angefühlt, eine Qual für ihn. Und trotzdem hatte er einen merkwürdigen Beschützerinstinkt verspürt. Er hatte sie an sich gedrückt und ihren meerähnlichen Duft bewundert, während er daran dachte, wie sie ihn auf dem Schlachtfeld angesehen hatte: als wäre er Wunder und Teufel zugleich, beides zu demselben verlockenden Bündel geschnürt.

Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er sie losgelassen hatte, und doch waren sie ganz offensichtlich getrennt worden. Jetzt weidete er sich an ihrem Anblick, obwohl er hätte wegsehen sollen.

Sie wirkte zerwühlt, als wäre sie nach einer Stunde leidenschaftlichem Sex eingeschlafen und gerade erst erwacht, um weiterzumachen. Ihre Augen waren leicht nach oben verdreht, die Lider halb geschlossen und von langen dunklen Wimpern gerahmt. Sie hatte eine kleine, zierliche Nase, und ihre Lippen waren immer noch rot und üppig. Und ihre Haut … Noch mehr war davon entblößt worden, glatte bernsteinfarbene Haut, unter der ihr Puls an einigen Stellen auf köstliche Art hämmerte. Auf der linken Seite ihres Kiefers prangte ein großer Bluterguss. Ihre Brüste …

Denk nicht so über sie, du widerlicher Haufen Drachenscheiße. Frauen waren für ihn tabu.

Layel riss den Blick von der Amazone und betrachtete wieder die anderen Kreaturen. Dabei bemerkte er, dass er aufgehört hatte, sich gegen den Luftschild zu werfen. Alle begannen, sich zu rühren, sich aufzusetzen, sich die Gesichter zu reiben. Er vermochte sie vielleicht nicht zu erreichen – noch nicht –, aber er konnte sie hören. Schon bald wurde das Rauschen der Wellen vom Stöhnen überlagert.

Zwei Nymphen, ein Mann und eine Frau, drückten sich in den Stand hoch und starrten irritiert auf den von verschiedensten Kreaturen übersäten Strand. Rings um sie standen jeweils ein Pärchen Minotauren, Dämonen, Zentauren, Formorier und Gorgonen. Auf dem Kopf der Gorgonen saßen fauchende Schlangen, deren Eckzähne noch viel schärfer waren als Layels. Zwei von jeder Rasse? Warum zwei?

Was in Hades Namen geht hier vor? fragte er sich wieder.

Die Amazone rieb sich mit der Hand über das feine Gesicht. Nun waren kaum noch Reste der wirbelnden blauen Muster übrig. Nur diejenigen an ihren Schläfen verschmierten nicht. Waren das Tätowierungen? Sie blinzelte, so als könnte sie nicht recht glauben, was sie sah.

Du siehst sie schon wieder an. Mit einem leisen Knurren widmete er seine Aufmerksamkeit wieder den Drachen, wobei seine Wut stärker wurde. Er drückte gegen die unsichtbare Mauer. Immer noch da, immer noch unnachgiebig. Seine Finger waren jetzt blutig und ramponiert, beinahe nutzlos. Die Schulter war völlig ausgerenkt.

Er musste nachdenken, einen Plan schmieden. Mehr noch: Er musste Schatten finden. An den Stellen, an denen seine Haut nicht von Kleidung bedeckt war, fühlte sie sich so an, als wäre sie voller Blasen. Was sie vermutlich auch war. Obwohl er sich dafür hasste, dass er sich zurückziehen musste, machte er langsame Schritte nach hinten. Darum bemüht, keine ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, blieb er neben Zane stehen, hockte sich hin, fasste den Vampir an den Schultern und schüttelte ihn.

Zane öffnete ruckartig die Augen und fauchte. Gleichzeitig schlug er reflexartig mit einer Klaue zu. Blitzschnell bückte sich Layel nach unten und schaffte es, dem tödlichen Schnitt durch die Kehle auszuweichen. „Ruhig“, befahl er leise.

Mehrere Sekunden verstrichen, während Zane sich orientierte. „Was ist passiert?“, fragte er mit rauer Stimme. Eine Sekunde später war er auf den Beinen. Der vollendete Krieger. Er stand mit hüftbreit gespreizten Beinen und an den Seiten geballten Fäusten da und war sofort kampfbereit. Seine Augen wirkten dunkel und matt, und er sah blutdurstig aus. Wie bei Layel war auch seine Haut rot und begann, Blasen zu werfen.

„Ich weiß es nicht genau.“ Layel erhob sich und wies mit dem Kinn auf die anderen Kreaturen. „Im einen Moment haben wir noch gekämpft – und im nächsten nicht mehr.“

„Was ist das hier für ein Ort?“ Zane ließ den Blick über die Umgebung kreisen. „Warum habe ich das Gefühl, in Flammen zu stehen?“ Er tastete sich ab und knurrte. „Und wo sind meine Waffen?“

Plötzlich kamen Layel Worte in den Sinn, die Susan vor langer Zeit gesagt hatte, nachdem sie sich draußen unter der gläsernen Kuppel von Atlantis geliebt hatten. Vor Erstaunen öffnete er den Mund. Ich wünschte, wir könnten in die Welt reisen, in der meine Leute leben. Nur für eine Weile. Bei allem, was mir meine Familie darüber erzählt hat, würde es uns dort bestimmt gefallen.

Aus Sorge, sie könnte ihm durch die Finger gleiten, hatte er sie fester gehalten. Erzähl mir davon.

Und das hatte sie getan, so detailliert, als wäre sie in ihren Träumen bereits dorthin gereist. Eine anscheinend nicht enden wollende blaue Fläche – der Himmel. Dicke, aufgeplusterte weiße Dinger – Wolken. Ein leuchtender orangefarbener Ball – die Sonne.

„Ich denke … ich denke, wir sind auf der Überwasserwelt.“ Wie? Warum? „Ich weiß, dass wir das Tageslicht unter der Kuppel aushalten können, aber das Sonnenlicht hier ist viel intensiver. Greller. Und die Waffen? Verschwunden.“

„Überwasser?“ Genau wie Layel fiel auch Zane die Kinnlade herunter.

„Wir müssen Schatten finden. Sofort.“

„Unser Kampf …“

„Kann warten.“

Gemeinsam bewegten sie sich rückwärts. Keiner von beiden war bereit, den anderen Kreaturen den Rücken zuzuwenden, Schild hin oder her. Im Dickicht der Bäume angelangt, kühlte Layels Körper sofort ab.

Er seufzte. „Wir bleiben im Wald, bis wir wissen, was hier vor sich geht.“ Selbst wenn das hieß, die Drachen zu verschonen. Im Augenblick, da die Sonne sie wie Liebhaber streichelte, statt sie wie verhasste Gegner zu verbrennen, schienen sie im Vorteil zu sein.

„Wir sollten uns neue Waffen machen“, schlug Zane vor.

„Ja.“ Doch Layel bewegte sich keinen Zentimeter. Konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die blauhaarige Amazone war soeben aufgestanden. Ihr Blick war wild. Sie griff sich an die Hüfte – vermutlich auf der Suche nach einem Dolch –, fand nichts und legte die Stirn in Falten. Wie zuvor er und Zane tastete auch sie sich ab. Und wie zuvor die beiden Vampire musste auch sie feststellen, dass sie gänzlich unbewaffnet war.

Irgendjemand hatte ihnen allen die Waffen abgenommen.

Er beobachtete, wie sie sich unruhig im Kreis drehte und mit ihrem Blick ihre Umgebung abtastete. Als sie die andere Amazone entdeckte, eilte sie nach vorn.

„Nola!“, schrie sie so laut, dass Layel sie ohne Probleme von seinem neuen Rückzugsort aus hören konnte. Sie bückte sich, wobei ihr die seidigen Haare über die Schultern fielen, und schüttelte ihre Schwester.

Autor

Gena Showalter
Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.
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