Bianca Exklusiv Band 112

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Wie ein Märchenprinz wirkt Stefan Redwell mit seiner blonden "Löwenmähne" auf die zarte Ferry. Doch der Unternehmer sieht in ihr nur eine tüchtige Sekretärin. Bis sie sich auf einer Budapest-Reise ein Zimmer teilen müssen. Beide sind sehr erregt. Erleben sie eine Nacht der Lust?


  • Erscheinungstag 14.12.2012
  • Bandnummer 0112
  • ISBN / Artikelnummer 9783954461110
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

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Jenny Cartwright

Romantische Nächte in Budapest

1. KAPITEL

Es war ein ausgesprochen schönes Büro mit weißen Wänden und großen Schallschutzfenstern, die den Lärm des Straßenverkehrs schluckten. Die Einrichtung war aus blau und gelb gebeiztem Holz. Auf einer Seite des Raumes befand sich eine blaue Tür – wahrscheinlich führte sie in das Büro ihres neuen Chefs –, auf der anderen Seite stand ein gelber Garderobenständer, an dem sie ihren Regenmantel aufhängte. Danach blieb Ferry ganz ruhig stehen. Angestrengt dachte sie nach. Nachdem sie sich entschieden hatte, setzte sie sich schnell an den Schreibtisch, nahm den Telefonhörer ab und wählte.

“Angela?”

“Hallo, Ferry! Alles in Ordnung? Du gehst doch hin, oder?”

“Ich bin schon da.”

“Es ist doch erst acht Uhr. Ich habe mich noch nicht einmal angezogen.”

“Du weißt doch, wie überrascht sie immer sind, wenn sie merken, wie früh ich mit der Arbeit beginne … Die Busfahrt war auch kürzer als ich dachte. Aber ich bleibe nicht.”

“Aber …”

“Kein Aber. Du hast mir ein Reisebüro versprochen. Wir haben jetzt schon Mitte April. Wenn ich vor der Hauptsaison nach Kreta kommen will, muss ich jetzt da sein, wo es billige Flüge gibt, und mich nicht mit Rechnungen für Pfefferstreuer herumschlagen.”

“Pfefferstreuer?”

“Angela, das ist keine Reiseagentur. Du hast mich angelogen.”

“Habe ich nicht. Ich habe nur gesagt, dass diese Stelle genau das ist, wonach du suchst.”

Ferry seufzte. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie sich diesen Anruf hätte ersparen können. Jetzt, da es so weit war, wünschte sie sich, Angela würde es ihr nicht noch schwerer machen.

“Bis zur Mittagspause. Du hast Zeit bis halb eins, um mir eine Stelle in einem Reisebüro zu verschaffen”, sagte sie und runzelte die Stirn, in der Hoffnung, dass ihre Stimme dadurch bestimmter klang. “Keine Minute später, sonst gehe ich zur nächsten Zeitarbeitsvermittlung und lasse sie in den Genuss meiner unerschütterlichen guten Laune kommen.”

“Aber …”

“Bis zur Mittagspause. Abgemacht?” Sanft legte sie den Hörer auf. Ferry seufzte erleichtert auf. Es musste einfach sein – sie musste diesen Urlaub haben – schon bald. Es war schon alles geplant. Wenn sie eine Woche in Kreta verbringen, in der Sonne liegen, die Sehenswürdigkeiten ohne die üblichen Touristenschwärme besichtigen könnte, würde sich alles fügen. Sie schloss die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, stellte sie fest, dass sie von einem großen Mann beobachtet wurde, der auf der Schwelle der jetzt offenen blauen Tür stand. Ein großer, erstaunlich gut aussehender Mann mit honigfarbenen Augenbrauen, der sie finster betrachtete.

“Hallo”, sagte sie freundlich und hoffte, er würde noch nicht allzu lange dastehen. “Ich bin Miss Lyon. Von der High-Temp-Agentur.”

“Und Ihre gute Laune ist durch nichts zu erschüttern?”, fragte er brummig.

Oh nein. Er war schon lang genug da … Ferry bemühte sich, Haltung zu bewahren. Sie lächelte und zeigte ihre schöne weiße Zahnreihe. “Genau. Und Sie sind …?”

“Stefan Redwell. Unheimlich reizbar.” Das war kein Scherz. Irgendetwas in seiner tiefen, vollen Stimme brachte dies ganz deutlich zum Ausdruck.

Sie schluckte. Sie hatte sich in Schwierigkeiten gebracht …

“Ich beglückwünsche Sie, Mr. Redwell”, begann sie vorsichtig, “zur Wahl Ihres Telefons. Es war eine Freude, es zu benutzen. Diese altmodischen Telefone haben genau das richtige Gewicht. Sie rutschen nicht auf dem Tisch herum. Was für eine tolle Idee, sie an das moderne Digitalsystem anzupassen.”

“Miss Lyon …” Seine Stimme bewies, wie reizbar er war. “Sie scheinen mich für einen Narren zu halten. Sie täuschen sich.”

“Ja, Sir.” Sie biss sich auf die Lippe. Im Zweifelsfall immer zustimmen.

“Kennen Sie Angela gut?”

“Ja, Sir. Seit unserer Schulzeit, Sir.”

“Dann können Sie ihr mitteilen, dass ich kein Narr bin und auch nicht dafür gehalten werden möchte. Wenn Sie jetzt gehen, kommen Sie rechtzeitig in die Agentur, um sich bis Mittag eine Stelle im Reisebüro zu suchen.”

Was sollte sie dazu sagen? Ferry schaute ihn demütig an. Sie senkte den Kopf und richtete den Blick ihrer grauen Augen erwartungsvoll auf ihren Chef. Sie konnte nicht leugnen, diese peinliche Situation selbst heraufbeschworen zu haben. Am besten sollte sie jetzt wohl aufstehen und sich unerschütterlich gut gelaunt verabschieden. Jetzt gleich. Theoretisch war es genau das, was sie tun wollte, aber praktisch gefiel ihr diese Vorstellung überhaupt nicht. Merkwürdig.

“Sind private Telefongespräche während der Arbeitszeit nicht erlaubt, Sir?”, fragte sie sanft.

Er sah auf seine Rolex, die von den dichten blonden Härchen auf seinen Armen fast verdeckt wurde. “Sieben nach acht. Sie haben nicht während der Arbeitszeit telefoniert. Sie fangen doch um neun an.”

Verflixt. Das war doch ihr Argument! “Ja.”

Sein frostiger Blick traf sie. “Sicherlich wollten Sie mich beeindrucken, indem Sie an Ihrem ersten Arbeitstag besonders früh erschienen sind?”

“Nicht nur am ersten, an jedem Tag, Sir.”

“Wirklich?”, fragte er ironisch.

“Ja, Sir.”

“Könnten Sie bitte aufhören, mich Sir zu nennen? Es stört mich.”

“Natürlich, Mr. Redwell.”

“Warum kommen Sie so früh? Einmal sollte genug sein, um einen guten Eindruck zu machen, es sei denn, Sie hoffen, eine Dauerstellung zu bekommen.”

Nervös faltete sie die Hände. “Man bietet mir oft eine Dauerstellung an, Mr. Redwell. Ich bin … nun, ich bin eben sehr gut. Allerdings ziehe ich befristete Stellen vor.”

“Warum kommen Sie dann so früh, wenn Sie doch so gut sind?”

“Ich komme nicht zeitig, um dies zu beweisen”, sagte sie aufrichtig. “Ich komme früh, um einen Großteil der Arbeit in aller Ruhe zu erledigen, solange ich frisch bin. Abends gehe ich zeitig nach Hause. Aber natürlich nur, wenn meine Anwesenheit nicht mehr erforderlich ist.”

“Was tun Sie?”

Oh nein! Was sollte sie dem Mann sagen, um alles wieder ins richtige Licht zu rücken? Es war wirklich entmutigend. Ferry hatte schon für unzählige Chefs gearbeitet. Aber noch nie hatte sie derartige Probleme gehabt.

“Ich bestehe wirklich nicht darauf, Mr. Redwell, falls Sie den Eindruck haben, ich wäre ein bisschen dreist für eine Zeitarbeitskraft. Es ist nur so … nun, die meisten meiner Arbeitgeber waren zufrieden mit dieser Einteilung. Am liebsten habe ich alles bis vier Uhr erledigt. Normalerweise sind die Chefs um diese Zeit auch leicht abgespannt, sodass sie dann nicht mehr viel Arbeit für mich haben.”

“Um vier schon abgespannt? Kein Wunder, dass Sie glauben, Sie wären so gut, wenn Sie sonst für Altersschwache arbeiten.”

“Soll das heißen, dass Sie auch später noch geistig frisch sind, Mr. Redwell?”

“Noch viel später. Und hören Sie auf, mich Mr. Redwell zu nennen.”

“Natürlich, Mr…. hm …” Nach kurzem Zögern fügte sie bestimmt hinzu: “Das ist also keine gute Regelung für uns. Ich bleibe so lange, wie Sie mich brauchen.”

“Das wird nicht nötig sein. Ich würde es mir nie verzeihen, einer Reiseagentur Ihre unerschütterliche gute Laune vorzuenthalten.”

Oh nein! Diese Taktik funktionierte nicht. Seltsamerweise wurde Ferry dadurch ermutigt. Je länger sie miteinander sprachen, desto weniger hatte sie zu verlieren – jedenfalls kam es ihr so vor. Vielleicht, weil sie schon verloren hatte, gestand sie sich wehmütig ein. Sie wollte wenigstens nicht kampflos aufgeben.

Ferry schaute ihren Chef so freundlich wie möglich an. Im Grunde war sie ziemlich verwirrt. Die meisten Männer, die eine Position erreichten, in der sie eine Sekretärin benötigten, waren empfänglich für den unterwürfigen, nach oben gerichteten Blick, den Ferry, aufgrund ihrer Größe, nur im Sitzen zustande brachte. Dieser Mann war jedoch alles andere als gewöhnlich. Er war nicht dick, hüllte sich auch nicht in eine Wolke billigen Rasierwassers. Und dafür, dass er es im Vertrieb von Platztellerchen so weit gebracht hatte, war er ziemlich jung – höchstens Mitte dreißig. Kein Wunder, dass er so reizbar war.

“Würde es etwas ändern”, begann sie schließlich, “wenn ich meine gute Laune verbergen würde? Stört es Sie, dass ich glücklich bin? Liegt es daran?”

Seine Nasenflügel zitterten leicht, als ob er belustigt wäre. Er war beeindruckend groß und hatte ausdrucksvolle Gesichtszüge. Seit sie ihn zum ersten Mal im Türrahmen gesehen hatte, stand für sie fest, dass er ausnehmend gut aussah. Sie betrachtete sein dichtes goldbraunes Haar, dessen makelloser Schnitt nicht verbergen konnte, dass es sich lockte, und kam zu dem Schluss, ihren ersten Eindruck berichtigen zu müssen. Seine Gesichtszüge waren zu unregelmäßig, zu ungewöhnlich, um im klassischen Sinn als schön bezeichnet zu werden. Aber irgendwie wirkte sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der markanten, feinen Nase, die aussah, als hätte er sie sich schon einmal gebrochen, irgendwie unwiderstehlich und beunruhigend attraktiv. Doch obwohl seine goldbraunen Augen unheimlich gelassen wirkten, hatte ihn das leichte Zittern der Nasenflügel verraten.

“Ihre gute Laune wäre sicherlich schwer zu ertragen, wenn Sie blieben. Aber jetzt ist es ja müßig, noch darüber zu reden.”

Da hatte er recht. Er hatte gewonnen. Seufzend stand Ferry auf, ging zur Garderobe und nahm ihren Regenmantel vom Haken.

“Es tut mir leid, dass ich meine Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen konnte”, bemerkte sie. “Jetzt werden Sie glauben, ich sei eine Lügnerin – und das bin ich nicht. Ich bin wirklich eine erstklassige Sekretärin. Aber eigentlich sind wir ja quitt. Schließlich werde ich Sie immer für charakterlos halten.”

“Charakterlos?”

“Ja”, antwortete sie. Für jemanden, der von sich behauptete, sich durch nichts die Laune verderben zu lassen, klang ihre Stimme ziemlich gereizt. “Sie haben ein Privatgespräch belauscht und die Informationen daraus gegen mich verwandt. Immerhin habe ich mich mit Angela gestritten – nicht mit Ihnen. Sie hat mir ein Reisebüro versprochen – und wenn man bedenkt, welches Ansehen meine Dienste ihrer Agentur schon gebracht haben, sehe ich nicht ein, warum ich nicht hin und wieder eine Stelle aussuchen sollte. Ich habe das Missverständnis erst heute Morgen erkannt, als ich die Nachricht bekam, aber da war es schon zu spät. Und obwohl ich Sie im Stich hätte lassen können, bin ich gekommen.”

“Etwas anderes hätte Angela doch sicherlich auch nicht geduldet?”

Ferry hielt mit der Wahrheit zurück. Angela hätte es ihr wahrscheinlich schon durchgehen lassen – zumindest einmal. Sie hatte Angela noch nie enttäuscht – ganz im Gegenteil. Angela hätte es verstanden. Sie waren schon lang gute Freundinnen. Das konnte sie aber Stefan Redwell wohl kaum erzählen.

“Nein, hätte sie nicht. Es ist jedoch auch keine Lüge, dass mir oft hervorragende Stellen angeboten werden. London ist eine sehr große Stadt. Ich bin nicht völlig von Angelas Wohlwollen abhängig. Wenn man bedenkt, dass ich trotz der Pfefferstreuer bereit war, hierzubleiben, hätten Sie ruhig etwas toleranter sein können.”

Er kniff die Augen zusammen, aber seine Nasenflügel bewegten sich wieder. Offensichtlich war er nicht so, reizbar, wie er sich gern gab. “Miss Lyon …”, begann er kühl.

In diesem Augenblick leuchtete das Telefonlämpchen auf. “Entschuldigen Sie mich bitte”, unterbrach sie ihn und nahm den Hörer ab. “Guten Morgen, Mr. Redwells Sekretärin am Apparat”, sagte sie mit ihrer schönsten Telefonstimme. “Was kann ich für Sie tun?”

“Ferry, ich bin’s, Angela! Ich weiß, dass es die falsche Branche ist, aber warte doch erst ab, bis du den Mann siehst. Er ist faszinierend – und ich präsentiere ihn dir auf einem Tablett …”

“Ich habe ihn schon kennengelernt. Du liegst ganz falsch. Er bietet sich mir zurzeit gewiss nicht auf edlem Silber an. Obwohl ich zugeben muss, dass es mich nicht stören würde, seinen Kopf auf einer Silberplatte zu sehen. Er hat mich gerade an die Luft gesetzt.”

“Aber Ferry …”

“Bis bald, Angela.”

Er lächelte. Seine ebenmäßigen weißen Zähne wirkten außergewöhnlich kräftig. Irgendwie erinnerte er an einen Löwen. Sie senkte den Blick. Ein merkwürdiges Gefühl im Magen bestätigte ihr, was sie sich eigentlich nicht eingestehen wollte. Wenn er so lächelte, verstand sie genau, was Angela meinte. Er war faszinierend. Aber er würde sich bestimmt nicht auf einem Tablett reichen lassen. Schon gar nicht ihr.

“Ziehen Sie den Mantel aus, Miss Lyon. Sie können bleiben. Sie sollten aber auch so gut sein, wie sie behaupten”, brummelte er gereizt.

“Das bin ich”, erwiderte sie leise. Obwohl sie jetzt auf ihren Urlaub verzichten musste, war sie erleichtert – sogar richtiggehend übermütig. Sie schlüpfte aus dem Regenmantel und hängte ihn wieder auf. “Danke. Sie werden es nicht bereuen.”

Stefan Redwell blickte sie geringschätzig an. “Das bezweifle ich, Miss Lyon. Aber andererseits hoffe ich, dass Sie meine Entscheidung genauso bereuen werden, wie ich.”

Ferry spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Stefans Worte wirkten bedrohlich – obwohl sie ihm nicht die Schuld dafür geben konnte. Sie war ja selbst von ihrer Offenheit überrascht. Das war sonst gar nicht ihre Art. Irgendetwas war heute Morgen in sie gefahren, und nun hatte sie auf ihren neuen Chef einen schrecklichen Eindruck gemacht. Sie würde sich anstrengen müssen, um die Wogen wieder zu glätten.

Das dürfte aber kein Problem sein, dachte sie unsicher. Sie war wirklich eine gute Sekretärin. Ihre Arbeitgeber zu besänftigen war eine Aufgabe, die zu lösen sie im Laufe der Jahre fast bis zur Perfektion gelernt hatte. Stefan Redwell schien jedoch kein allzu leichter Fall zu sein …

“Ich werde mein Bestes geben, Sir.”

“Das bezweifle ich.”

Plötzlich verspürte sie das unerklärliche Bedürfnis zu lachen, konnte es sich aber gerade noch verkneifen. Er mochte zwar furchteinflößend sein, irgendwie war seine direkte Art jedoch auch belustigend. Sie behauptete ja immer, dass sie in der Lage wäre, es vierzehn Tage lang mit allem und jedem aufzunehmen. Das würde sie jetzt beweisen müssen.

“Was soll ich tun?”, fragte sie gelassen.

“Nebenan steht eine Kaffeemaschine”, erwiderte er und wandte sich unvermittelt der blauen Tür zu. “Ich trinke meinen Kaffee schwarz. Beeilen Sie sich.”

Ferry lächelte halbherzig, als er die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie war sich gerade untreu geworden, nur um eine Stellung zu behalten, die sie eigentlich gar nicht wollte. Es wäre sicherlich nicht so schlimm gewesen, wenn man sie einmal an die Luft gesetzt hätte. Angela hätte es bestimmt verstanden, und wie sie Stefan ja bereits erklärt hatte, war London eine große Stadt. Es hätte ihre berufliche Zukunft gewiss nicht beeinträchtigt. Darüber hatte sie sich aber gar nicht den Kopf zerbrochen.

Sie stand auf. Schwarzer Kaffee. “Beeilen Sie sich”, hatte er gesagt. Wichtige Dinge wie Kaffeemaschinen zu finden bereitete ihr normalerweise keine Probleme. Aber das Redwell-Gebäude hatte sie überrascht. Es hatte eine elegante und vollständig erhaltene georgianische Fassade, war innen jedoch ganz modern und um einen Innenhof gebaut, in dem eine hochgewachsene schottische Pinie stand. Das Haus war so außergewöhnlich wie der löwenartige Mr. Redwell selbst.

“Vertrieb von Tafelzubehör” stand auf der Karte der Agentur. Ferry hatte sich vorgestellt, wie ältliche Serviererinnen einen langen Tisch deckten, wie sie Salz- und Pfefferstreuer aufstellten. Sie hatte sich einen glatzköpfigen Manager in einem glänzenden Anzug, mit einem grauen Schnurrbart vorgestellt, an dem der Kaffee hängen blieb.

Aber obgleich sowohl das Gebäude als auch der Manager schon derart ungewöhnlich waren, übertraf die Kaffeemaschine all ihre Erwartungen. Sie hatte zunächst einmal nur angenommen, dass es eine Kaffeemaschine gab. Eine schlechte Kaffeemaschine mit jenen dünnen Plastikbechern, in die eine schwarze Brühe floss, die vorgab, Kaffee zu sein. Zweifellos sprang hier auch ein unsympathischer Hausmeister herum, der nur darauf wartete, Ferry schöne Augen zu machen. Unentschlossen schaute sie auf das Telefon. Sollte sie Angela anrufen? Oder erst einmal abwarten?

Die Kaffeemaschine stellte sich als echt italienische Espressomaschine heraus, die einen erstklassigen Kaffee herstellte. Zuversichtlich nahm Ferry die Tassen aus feinem Porzellan in die Hand. Sie war zwar nicht besonders schnell gewesen, aber wenn sie so tat, als ob, würde Stefan es bestimmt nicht merken.

“Sind Sie aufgehalten worden?”, fragte er spöttelnd.

Sie lächelte verblüfft. Das passte gar nicht zu ihm. Ihrer Erfahrung nach zählten Chefs, die derartige Dinge bemerkten, zum Schuldirektortyp, Anfang Sechzig. Stefan Redwell sah nicht so aus, als würde man ihm einen Posten in einer englischen Schule übertragen.

“Entschuldigung”, murmelte sie. “Ich habe noch nie so eine Kaffeemaschine benutzt.”

“Sie haben mir das Blaue vom Himmel versprochen, Miss Lyon, und lassen sich schon von einer einfachen Kaffeemaschine verunsichern.”

“Sie müssen zugeben, dass es keine gewöhnliche Maschine ist”, sagte sie fröhlich.

Er zog eine Augenbraue hoch. “Ich gebe gar nichts zu. Es kommt ganz darauf an, woran Sie gewöhnt sind. Lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Tippen Sie bitte die Briefe, die ich auf Ihren Schreibtisch gelegt habe.”

“Ich kann auch Diktate aufnehmen”, erwiderte sie leise. “Sie müssen die Briefe nicht schreiben.”

Er lächelte jungenhaft.

Als sie zu ihrem Schreibtisch kam, stellte sie fest, dass die Briefe so aussahen, als wären sie in Steno geschrieben. Aber in Kürzeln, die ihr nicht geläufig waren. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie schließlich einige davon. Es gab ein L, das auf dem Kopf stand, und ein X mit sechs Strichen, das ihr unheimlich bekannt vorkam. Die Briefe mussten an einen Russen gerichtet sein. Sie waren alle in Kyrillisch. Deshalb also das Lächeln!

Es gab drei Möglichkeiten. Sie könnte ihn fragen, was er sich dabei dachte, ihr russische oder polnische Briefe zum Tippen zu geben. Sie könnte auch den nächsten Bus zur High-Temp-Agentur nehmen. Irgendwie könnte sie ihm aber auch in Rekordzeit einen Stapel Briefe in schönen kyrillischen Buchstaben präsentieren. Sie strich den geschmackvollen blauen Rock glatt und schaltete den Computer an …

Mithilfe des Handbuchs gelang es Ferry schließlich, die unbekannten Zeichen auf den Bildschirm zu bringen. Sie fand jedoch bald heraus, dass sie trotzdem nicht in der Lage war, die Briefe fehlerfrei zu tippen. Woher sollte sie wissen, ob er sich verschrieben hatte? Nervös klopfte sie mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch. Denk nach, Ferry, sagte sie sich. Benutz deinen Verstand …

Übersetzungsbüros? Sie wusste, dass das zu lange dauern würde. Wenn Sie sich ein paar Pluspunkte verdienen wollte, musste sie diese Aufgabe schnellstens erledigen. Sie schaute in ihrem Adressbuch nach, fand schließlich die gesuchte Nummer und wählte.

“Simon? Es ist doch nicht mehr früh? Es ist schon drei nach neun. Ihr Uni-Angestellten solltet mal das richtige Leben kennenlernen …”

Um neun Uhr sechsundzwanzig rief Simon zurück. Drei Minuten danach schickte sie ihr erstes Fax ab. Sechs Faxe und eineinhalb Stunden später klopfte sie an die blaue Tür.

“Herein …”

Man sah, dass Stefan sich mit den Fingern durch das dichte, wellige Haar gefahren war. Ferry hatte wieder das Bedürfnis zu lachen, hielt sich aber zurück. Wenn seine Frisur zerzaust war, wirkte sie wie eine Mähne … Stefan Redwell, König der Tiere.

“Würden Sie einen Blick darauf werfen, bevor sie unterschreiben?”

Ungeduldig legte er die Stirn in Falten. “Wovon sprechen Sie eigentlich?”, murmelte er, ohne aufzuschauen.

“Von den Briefen. Sie sind fertig.”

Noch immer hielt er den Blick gesenkt. “Könnten Sie mich vielleicht mit meinem Namen ansprechen, Miss …?”

Er tat so, als könnte er sich nicht erinnern. Als hätte sie überhaupt keinen Eindruck auf ihn gemacht. Ihr Name war fast so einprägsam wie der von Miss Piggy.

“Lyon. Ferraleth Lyon. Vielleicht können Sie sich daran erinnern, dass Sie mich vor Kurzem gebeten haben, Sie nicht Mr. Redwell zu nennen.”

“Ich habe mich anders entschieden. Es ist in Ordnung. Aber sagen Sie es nicht dauernd.”

“Sicher, Mr. Redwell. Wenn Sie jetzt einen Blick auf die Briefe werfen würden …”

Er schaute sie finster an. Ungeduldig nahm er die Briefe an sich. “Welche Agentur haben Sie bemüht? Sie sind alle ziemlich gut. Und es ging schnell. Man kann sich viel Arbeit ersparen, wenn der Preis stimmt.”

“Ich war bei keinem Übersetzungsbüro, Mr. Redwell. Ich habe die Briefe selbst getippt.”

Ungläubig kniff er die Augen zusammen. “Soll das heißen, dass Sie Polnisch sprechen?”

“Nur ein Brief ist auf Polnisch. Die anderen sind auf Russisch.”

“Sie haben meine Frage nicht beantwortet.”

“Es tut mir leid, Mr. Redwell. Zufällig spreche ich nur Französisch. Aber nicht besonders gut.”

“Wie haben Sie das dann geschafft?” Er blätterte die Briefe durch.

“Ich habe einen Freund um Rat gebeten. Per Fax habe ich Rechtschreibung und Zeichensetzung überprüfen lassen. Er hat zwei oder drei Veränderungen vorgeschlagen und mir versichert, dass es sich nur um Kleinigkeiten handelt. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Briefe durchlesen würden, um sicherzugehen, dass alles korrekt ist. Schließlich kann ich es nicht beurteilen. Hoffentlich billigen Sie meine Handlungsweise.”

Stefan sah sie lange an. Schließlich las er die Briefe durch. Seine Miene war finster, aber seine Nasenflügel verrieten ihn. Sie bebten nicht nur leicht, sondern bauschten sich richtig auf. Er lachte, dessen war sie sich sicher. Das beängstigte sie. Er nahm einen goldenen Füllfederhalter und klammerte einige Zeilen auf einem der Briefe ein.

“Drucken Sie den noch mal”, ordnete er ironisch an. “Und lassen Sie die markierten Zeilen aus.”

Nach zehn Minuten kam sie mit der neuen Fassung des Briefes zurück. Sie war verärgert. Schließlich hatte sie das Fax ganz genau abgeschrieben. Er hatte diese Änderungen nur vorgenommen, um es ihr schwer zu machen.

“Schon viel besser”, sagte er beim Unterschreiben. Als er diesmal zu ihr aufblickte, lächelte er. “Gut gemacht”, fügte er hinzu. Er war sichtlich beeindruckt.

Erneut hatte sie ein ganz komisches Gefühl in der Magengegend.

“Wer ist denn dieser Freund?”

“Oh, nur jemand, der an der Universität moderne Fremdsprachen unterrichtet”, antwortete sie.

“Ein Exfreund?”

Wie hatte er es nur erraten? “Nein. Nur ein Freund.”

“Belügen Sie mich nicht, Miss Irgendwie Lyon. Er ist ein Exfreund, der noch eine kleine Rechnung mit Ihnen begleichen will. Geben Sie es ruhig zu.” Seine Stimme verriet, wie belustigt er war.

Ferry biss sich auf die Lippe. “Ich heiße Ferraleth Lyon. Und ich fürchte, mein Freund ist alles andere als ein …”

“Bitte!”, unterbrach Stefan sie. “Gerade lief es doch so gut mit uns! Verderben Sie nicht alles mit Ihrer Verlogenheit. Ich bin sicher, dass ich recht habe. Wer sonst hätte in meinen Brief geschrieben: ‚Lassen Sie den Brief noch einmal tippen, damit sie nicht übermütig wird`”?

Ferry zögerte. Wenn sie Simon jemals wiedersehen sollte, würde sie ihn umbringen. Da sie sich jedoch nichts anmerken lassen wollte, lächelte sie strahlend. “Ein früherer Arbeitgeber, Mr. Redwell. Ein Arbeitgeber, der noch eine kleine Rechnung offen hatte.”

Als sie an ihren Schreibtisch zurückkam, dachte sie noch einmal über das Wort Verlogenheit nach. Er hätte sie auch gleich eine Lügnerin nennen können.

2. KAPITEL

Der erwartete Hausmeister stellte sich als Bürobote heraus. Er trug ein graues Drillichjackett anstatt des üblichen braunen Drillichmantels, doch die Wirkung war fast dieselbe. “Sie sehen so fröhlich aus”, sagte er mit einem zweideutigen Blinzeln, als er einen großen Stapel Briefe auf ihren Schreibtisch legte.

“Ich bin immer fröhlich”, erwiderte Ferry lächelnd.

“Ich bin Ray. Ihr kleiner Sonnenstrahl”, sprach er weiter und bewegte die Augenbrauen auf und ab. “Sie können mich Mr. Fields nennen, wenn Sie schlechte Laune haben – was wahrscheinlich meistens der Fall sein wird, wenn Sie unseren Chef erst einmal kennen gelernt haben.” Er deutete auf die blaue Tür. “Er ist ein Raubtier”, fügte er flüsternd hinzu.

“Das ist mir auch schon aufgefallen. Der König der Tiere”, erwiderte sie leise.

Ray kratzte sich am Kopf. “König? Seine Mutter soll eine Prinzessin sein. Ungarischer Lebensstil, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber ich glaube nicht, dass er selbst einen Anspruch auf einen Titel hat.”

Ferry atmete tief ein. “Wollten Sie sonst noch was, Mr. Fields?”

Ray sah sie erwartungsvoll an. “Ist das ein Angebot, Miss …?”

“Miss Lyon”, seufzte Ferry überdrüssig.

“Sie brüllen also wie ein Löwe, Miss Lyon?” Er musste über seinen eigenen Scherz lachen. Dann fragte er: “Haben Sie keinen Vornamen?”

“Ferry”, sagte sie müde lächelnd und fügte hinzu: “Hören Sie, Mr. Fields, ich bin schrecklich beschäftigt. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …”

Ray war verblüfft. Schmollend ging er zur Tür, drehte sich um und winkte ihr eingeschüchtert zu. Ferry hatte Mitleid mit ihm.

Die nächste halbe Stunde widmete sie sich der eingegangenen Post. Der Inhalt überraschte sie. Stefan Redwell schien überall seine Finger im Spiel zu haben – fast alles hatte irgendwie etwas mit Metall zu tun. Sie verstand das meiste nicht, und nie war von Pfefferstreuern die Rede. Es war oft schwierig, sich in die Geschäfte eines Unternehmens einzuarbeiten, aber früher oder später würde sie schon zurechtkommen. Normalerweise konnte sie auf die Hilfe ihres Chefs zählen. Diesmal würde sie sich wohl allein durchbeißen müssen.

Stefan ging in sein Büro hinein und wieder heraus, immer durch die Tür, die direkt auf den langen Gang führte. Ferry konnte die Tür unzählige Male schlagen hören. Bei ihren kurzen Begegnungen lächelte sie, während er finster blickte. Sie sprachen nicht miteinander.

Als sie ihn einmal in sein Zimmer kommen hörte, sagte sie durch die Sprechanlage: “Für heute steht nichts mehr in meinem Terminkalender. Wir könnten doch Ihre Termine durchgehen, damit ich ein paar Dinge eintragen kann.”

“Weshalb? Deprimiert Sie der Anblick einer leeren Seite?”

“Nein, aber wenn ein dringender Anruf kommt, ist es sicherlich hilfreich, wenn ich weiß, wo ich Sie finden kann.”

“Wenn ein dringender Anruf kommt, dann sagen Sie, ich sei außer Haus, und Sie wüssten nicht, wann ich zurück bin.”

Ferry verzog das Gesicht. Er schien seine Pfefferstreuer nicht besonders ernst zu nehmen. “Aber wenn es wirklich dringend ist …”

“Wenn ich außer Haus bin, möchte ich nicht mit dem, was im Haus vorgeht, belästigt werden. Der Bürobote findet mich meistens, wenn ich da bin. Nur während der Mittagspause ist es ein bisschen problematisch.”

“Sie könnten mir doch mitteilen, was Sie vorhaben.”

Stefan schwieg und sagte dann gereizt: “Wenn Sie es wirklich wissen müssen, Miss Lyon, ich werde heute im Bacchinalean speisen mit der ehrenwerten Miss … hm … wie war noch ihr Name? Eitle Blondine … Hat irgendwas mit Orangen zu tun. Irgendwo gibt es eine Akte über sie.”

“Orangen.”

“Ja. Eines der Pillington-Smythe-Mädchen. Die mit der Nase … Wissen Sie, Satsuma? Tangerine?”

Ferry konnte nur raten. “Clementine?”

“Sehr gut. Ich wollte schon Kumquat sagen. Aber ich muss wohl an ihre Hutgröße gedacht haben.”

“Könnten wir vielleicht vereinbaren, uns deutlich auszudrücken, Mr. Redwell?”

Er antwortete ironisch. “Haben Sie nicht behauptet, eine perfekte Sekretärin zu sein? Meiner Meinung nach ist es die Aufgabe einer perfekten Sekretärin, immer genau zu wissen, worüber ich spreche, auch wenn ich mich nicht deutlich ausdrücke.”

“Oh, ich verstehe”, murmelte sie und versuchte, sich nicht über seine Feindseligkeit aufzuregen. “Könnten wir uns vielleicht wieder dem Terminkalender widmen?”

Stefan brummelte abweisend: “Also gut, wenn Sie darauf bestehen. Heute Nacht, Miss Lyon, müssen Sie im Terminkalender festhalten, welche Art Orange ich heute Nacht schälen werde? Oder beschränkt sich Ihre Neugier auf meine Mittagspause?”

“Nein, natürlich nicht”, entgegnete sie erschrocken. Sie lächelte die Sprechanlage an und hoffte damit, ein bisschen gute Laune durchzuschicken. Die Streiterei machte Ferry zu schaffen. Sie war es nicht gewohnt, mit ihrem Chef auf Kriegsfuß zu stehen.

“Lächeln Sie, Miss Lyon?”, hörte sie ihn spötteln.

“Ja.”

“Hören Sie auf.”

“Sofort, Mr. Redwell.”

Im Laufe des Vormittags wurde seine Tür zum Gang mehrmals geöffnet und geschlossen. Stefan machte keine Anstalten, ihr mitzuteilen, wohin er ging oder wie lange er bleiben würde.

Schließlich öffnete sich die Verbindungstür. Stefans gestreckter Arm hielt sie weit geöffnet fest. “Sie ist hier. Stell dich vor”, sagte er zu der Dame in Gelb, die geräuschlos ins Zimmer glitt. Die Tür wurde nicht sofort geschlossen. Stefan kam in Ferrys Büro und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Aktenschrank. Ferry bemerkte, dass sein Blick ununterbrochen auf die elegante Person gerichtet war, die in ihrem eleganten gelben Hosenanzug im Mittelpunkt zu stehen schien. Orangen und Zitronen, dachte Ferry. Stefan Redwell schien eine Schwäche für Zitrusfrüchte zu haben. Sie lächelte freundlich.

“Rosa Barton”, murmelte die Erscheinung. “Ich bin Stefans ständige Sekretärin.” Nur ihre geschminkten Lippen bewegten sich beim Sprechen. “Ich habe mich an die russischen Briefe erinnert und dachte, ich sollte mal kurz vorbeischauen … Ich kann Stefan doch nicht mit einer Aushilfe im Stich lassen.”

“Einer der Briefe war auf Polnisch”, entgegnete Ferry sanft. “Sie sind alle schon in der Post. Sie können Ihren Urlaub beruhigt genießen, Miss Barton – hier ist alles unter Kontrolle.”

Die Dame zog ihre schön geformten Augenbrauen hoch. “Erzählen Sie mir nicht, dass Sie auch neun Sprachen beherrschen”, sagte sie mit ungläubigem, schrillem Lachen.

“Tue ich nicht”, erwiderte Ferry bedauernd.

Miss Barton lächelte erleichtert und schüttelte ihre dunklen Locken. “Wissen Sie, ich habe acht Urgroßeltern, alle aus verschiedenen Ländern, alle aus europäischen Königshäusern …”

“Acht Urgroßeltern!”, wiederholte Ferry verblüfft. “Wie ungewöhnlich!”

Rosa blinzelte hochmütig. “Oh nein, ist es schon so spät?”, rief sie, ohne auf ihre Uhr geschaut zu haben. “Ich muss mich beeilen. Wir sehen uns später, Stefan, Liebster. Ciao.”

Sie schwebte aus dem Zimmer. Ferry lächelte zufrieden. Es war schön gewesen, Stefan zu sagen, dass sie die Briefe getippt hatte. Eine weitaus größere Genugtuung hatte es ihr jedoch verschafft, dies Rosa Barton mitzuteilen. Sie sah zu Stefan hinüber, und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen waren unergründlich. Er zog eine Braue hoch, drehte sich um und ging in sein Büro zurück.

Als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, runzelte Ferry die Stirn. Was für eine merkwürdige Begegnung. Stefan hatte Rosa wie ein Adler beobachtet. Sie jedoch hatte Stefan keines Blickes gewürdigt.

Um halb eins kam Stefan noch einmal durch die Verbindungstür. Er hatte sein Jackett halb angezogen und trug einen Packen Papiere in einer Hand.

“Ich gehe essen. Mindestens zwei Stunden”, sagte er kurz angebunden und schlug die Tür mit dem Fuß zu. Er holte eine dicke Akte aus dem blauen Aktenschrank heraus und ließ sie auf Ferrys Schreibtisch fallen. “Ordnen Sie das”, befahl er. “Und machen Sie Notizen über die wichtigsten Punkte, damit Sie später einen Bericht darüber schreiben können. Alles, was mit der Effizienz und der Rentabilität dieses Geschäfts zusammenhängt.”

Solche Dinge gehörten nicht zu Ferrys Aufgabenbereich. Sie wollte schon protestieren, dass er eine Assistentin einstellen solle, wenn er eine brauche, hielt sich jedoch zurück. Keiner würde einer Aushilfe an ihrem ersten Tag eine derartige Aufgabe übertragen, außer er wollte sie unbedingt bloßstellen. Ferry hatte das noch nie erlebt.

“Natürlich, Mr. Redwell.”

Er kniff die Augen zusammen. “Ich habe Sie gebeten, mich nicht ständig so zu nennen.”

“Wie oft soll ich es denn tun, Mr. Redwell?”

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. “Woher soll ich das wissen? Es geht nicht darum, wie oft Sie es sagen. Es geht darum, wie Sie es sagen.”

“Wie ich es sage?”, wiederholte sie.

“Ja! Korrigieren Sie mich, wenn ich unrecht habe, Miss Lyon. Sie versuchen offensichtlich, auf Ihre jeweiligen Arbeitgeber besänftigend einzuwirken, stimmt’s?”

“Ich …” Konnte er Gedanken lesen? “Ich … ich muss zugeben, dass ich ein paar Strategien entwickelt habe, um …”

“Um irgendwelche Volltrottel glauben zu lassen, sie seien die Allergrößten?”

“Ungefähr. Aber nur auf beruflicher Ebene. Um die Arbeitsatmosphäre zu verbessern. Ich …”

“Sie machen ihnen also Kaffee und nennen sie ständig Sir, aber Sie streicheln nicht deren fiebrige Stirn?”

“Nein. Sie haben es erkannt.” Sie seufzte. “Immerhin weiß ich jetzt, dass Sie nicht gern besänftigt werden, Mr. Redwell.”

“Ich habe Sie gerade gebeten, mich nicht so zu nennen.”

“Ach ja. Es tut mir leid. Wie soll ich Sie denn nennen?”

“Am besten Stefan”, murmelte er gereizt. “Probieren Sie es mal aus. Wir werden sehen, ob es funktioniert.”

“Gut, Stefan.”

Er seufzte. “Ich bin gegen vier zurück, um Ihren leeren Schreibtisch zu überprüfen. Reden Sie mit niemandem über die Akte. Und setzen Sie sich mit der Personalabteilung in Verbindung. Lassen Sie sich unsere Pfefferstreuer zeigen.”

Sie schaute ihn argwöhnisch an. Er machte sich über sie lustig. “Welche Art Tafelzubehör vertreibt die Redwell-Gesellschaft eigentlich?”

“Tafelzubehör? Sind das Angelas Angaben?”

Ferry holte die Karte aus der Tasche. “Normalerweise habe ich in der Agentur eine Einsatzbesprechung. Angela sagte aber, dass Sie ihr erst am Freitag auf einem Fest von der freien Stelle erzählt hätten. Es blieb also keine Zeit mehr. Das fand ich heute Morgen im Briefkasten.”

Er zuckte die Schultern. “Typisch”, murmelte er.

“Stimmt es nicht. Vertreiben Sie überhaupt kein Tafelzubehör?”

Wieder zuckte er abweisend die Schultern. “Redwell ist ein alteingesessenes Unternehmen. Im Laufe der Jahre haben wir expandiert – verschiedene Firmen unter einem Namen vereinigt”, sagte er geheimnisvoll. “Unser Hauptwerk ist eine Fabrik in Sheffield, die hochspezialisierte Metalllegierungen herstellt. Hauptsächlich für die Luftfahrtindustrie.”

“Oh”, entgegnete Ferry leise und sah die Karte lächelnd an. “Das muss wohl ein Missverständnis sein. Ich werde es ihr sagen.”

“Nein”, erwiderte er, als würde ihn dieses Gespräch ermüden. “Es ist kein Missverständnis. Dieses Londoner Büro beschäftigt sich wirklich mit Tafelzubehör.”

“Mit diesem kleinen Plastikbesteck, das man im Flugzeug bekommt?”, scherzte Ferry und fragte sich, warum er dies derart gelangweilt äußerte.

Gereizt schüttelte er den Kopf. “Wir haben auch eine ziemlich große Fabrik in Sheffield, die hochwertiges Edelstahl- und Silberbesteck herstellt. Das, was man in großen Geschäften und bei Juwelieren in samtbezogenen Schachteln kaufen kann. Das Marketing und die Werbung dafür werden hauptsächlich hier in London gemacht. Außerdem haben wir eine Vertretung in der Bond Street. Wahrscheinlich hat Angela daran gedacht. Ich bin mir dessen sicher. Das ist der kleine Teil des Unternehmens, der … ah … Pfefferstreuer vertreibt.”

“Ich verstehe.” Sie wollte nicht zugeben, dass es nicht so war.

Als er sich zur Tür wandte, klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab.

“Hallo, Ferry? Du bist noch da? Ich dachte, man hätte dich entlassen.”

“Das muss wohl ein Missverständnis sein.”

“Wie bitte? Jedenfalls habe ich zwei neue Stellen für dich. Es sind keine besonders guten Stellen, und eine davon ist in einem Geschäft, das Eimer verkauft, aber …”

“Natürlich, Sir. Ich werde Mr. Redwell die Nachricht zukommen lassen. Sie sagten, Sie verkaufen Abfalleimer?”

Die Tür fiel zu.

“Tut mir leid, Angela. Der neue Chef lauscht heimlich.”

“Stefan? Lauschen? Nicht doch!”

“Er lauscht und ist gefühllos.”

“Er hat sich doch nicht an dich herangemacht?”

“Nein, Angela. Im Gegensatz zu dir lasse ich es erst gar nicht so weit kommen. Inzwischen solltest du mich besser kennen. Trotzdem bleibe ich. Er hat mich herausgefordert. Ich werde es ihm zeigen, bevor ich meinen nächsten Urlaub buche.”

Bums. Eine Tür fiel zu. Stefan kam zurück. Ferry legte den Hörer auf – nicht schnell genug.

“Planen Sie immer noch Ihren Urlaub?”, fragte er verächtlich.

“Nein. Ich habe Angela gerade mitgeteilt, dass ich doch bleibe.”

“Sie hat also eine Geschlechtsumwandlung hinter sich und verkauft jetzt Abfalleimer?”

Ferry schloss die Augen. “Entschuldigung”, hörte sie sich sagen. Er hatte sie ertappt.

“Sie werden zweifellos urlaubsreif sein, wenn Sie hier aufhören.”

“Ganz sicher”, stimmte sie zu.

“Hoffen Sie auf einen heißen Ferienflirt?”

Ferrys graue Augen funkelten. “Diese Bemerkung war unnötig und beleidigend”, sagte sie zornig. “Reisen bildet. Wenn Sie einen weiteren Horizont hätten, würden Sie verstehen, warum ich kein Interesse daran habe, zwei Wochen in den Armen eines beschränkten Muskelprotzes namens Pepe oder so zu verbringen.”

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. Stefan lachte.

“Sie sind verärgert”, stellte er zufrieden fest. “Ich habe diese schreckliche gute Laune im Keim erstickt. Gut.”

“Gratuliere”, erwiderte sie verstimmt. “Könnten Sie vielleicht aufhören, weiterhin so gereizt zu sein?”

Er lachte erneut. “Leider ist meine schlechte Laune nicht aufgesetzt. Sie ist der echte und spontane Ausdruck meiner Stimmung. Ich habe nicht vor, sie zu zügeln.”

“Das ist nicht fair!”, rief sie aus. “Ich bin von Natur aus fröhlich.”

Er lächelte sie an. “Nicht mehr”, spöttelte er.

Sie runzelte die Stirn. Er hatte recht. “Wollten Sie irgendetwas?”, fragte sie frostig. “Außer mich beim Telefonieren erwischen?”

Er beugte sich zu ihr und schrieb eine Telefonnummer auf einen Zettel. “Das ist die Nummer meiner Sekretärin in Sheffield. Candice Legrice. Ich stehe ständig mit ihr telefonisch in Verbindung. Sagen Sie ihr immer Bescheid, wenn ich das Haus verlasse oder betrete.”

Ferry unterließ es, ihn daran zu erinnern, dass er sich gerade geweigert hatte, sie das Gleiche wissen zu lassen. Das machte aber nichts. Sie würde schon eine Möglichkeit finden, sich durch das Mädchen am Empfang über ihn auf dem Laufenden zu halten. Ferry nahm den Hörer ab, wählte die Nummer und beobachtete, wie Stefan hinausging. Er sah zwar aus wie ein Löwe, benahm sich aber wie ein schlecht gelauntes Rhinozeros.

An diesem Nachmittag lernte Ferry drei Dinge. Zwei davon vor vier Uhr, bevor Stefan kam, um ihren Schreibtisch zu überprüfen.

Die erste Entdeckung war so angenehm, dass Ferry sich entschloss, die Mittagspause ausfallen zu lassen. Sie fand heraus, dass eine dicke Akte so fesselnd sein konnte wie ein guter Krimi. Das traf jedenfalls zu, wenn die Akte Briefe enthielt, die die bewegte Geschichte eines ungarischen Silberschmieds und seiner Vorfahren offenlegten, und zwar vor dem Hintergrund der bewegten ungarischen Geschichte. Glücklicherweise lag eine Übersetzung der Briefe bei. Dies zu lesen war nicht schwer. Viel schwieriger war es, die wichtigen Punkte herauszusuchen, wenn man sich hauptsächlich dafür interessierte, wie der Vater des Silberschmieds der Frau seines Lebens begegnete und sie heimlich in einem bulgarischen Kloster heiratete. Die große Anzahl an Import- und Exportlizenzen, Visa und Vorschriften, die sich zwischen den Briefen befanden, war geradezu ärgerlich.

Die zweite Entdeckung war, dass es in der Produktpalette von Redwell kaum Pfefferstreuer gab. Die Vertretung, für die die Londoner Büros hauptsächlich arbeiteten, stellte sich als eine Art von Riesenjuwelier heraus, der Designer und Silberschmiede zusammenbrachte. Die stellten dann vergoldete, juwelenbesetzte Terrinen, Bestecke und Saucieren her, die die Tafeln der steinreichen Kunden schmückten. In bestimmten Kreisen schien Redwell äußerst beliebt zu sein. Ferry hatte natürlich noch nie davon gehört. Man führte sie in die Lagerräume und zeigte ihr eine Auswahl der erstaunlich luxuriösen Artikel.

Zwei Minuten vor vier kehrte Stefan zurück. Zuerst rauschte er in sein eigenes Büro. Um Punkt vier betrat er Ferrys Zimmer und betrachtete ihren leeren Schreibtisch.

“Was steht an?”, fragte sie.

“Sie hoffen, dass ich nichts sage, damit Sie heimgehen können, stimmt’s?”

Sie seufzte. Er hatte recht. Es war ein langer Arbeitstag gewesen, und sie war sich gar nicht mehr so sicher, ob es richtig war, um diese Stelle zu kämpfen. Eigentlich hatte sie ihr Leben unter Kontrolle, nur nicht, wenn Stefan Redwell in ihrer Nähe war. Der Aufenthalt in Kreta hätte alles geregelt. Aber Stefan hinderte sie an dieser Reise.

“Das wäre bestimmt sehr schön. Aber da Sie ja wünschen, dass ich länger arbeite, wäre es nicht besonders vernünftig, darauf zu hoffen, oder?”, erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln.

“Fröhlich und vernünftig”, sagte er ungläubig. Er zog die Augenbrauen so weit hoch, dass sich seine Stirn in tiefe Falten legte. “Wo ist die Akte?”

“Auf Ihrem Schreibtisch, zusammen mit meinen Anmerkungen.”

Er warf ihr einen finsteren Blick zu. “Wie war noch Ihr Vorname?”

“Ferraleth.”

Er schaute sie aus den Augenwinkeln an. “So kann ich Sie unmöglich nennen.”

“Sie können auch weiterhin Miss Lyon zu mir sagen”, schlug sie vor.

Er schüttelte den Kopf. “Ferraleth?”

“Das ist wirklich ein komischer Name. Meine Mutter hat ihn ausgesucht. Wenn Sie in einem Namenslexikon nachschlagen, finden sie ihn …”

“Das bezweifle ich nicht. Trotzdem kann ich ihn nicht verwenden.”

“Warum nicht?”

“Er ist viel zu schön. Wie werden Sie von Ihren Freunden genannt?”

Ferry betrachtete ihn durchdringend. “Zu schön? Würden Sie mir verraten, was Sie damit meinen? Ich bin bereit, bei der Arbeit einiges wegzustecken, aber wenn Sie das meinen, was ich denke, sollte ich diese Beleidigung nicht einfach so hinnehmen.”

Seine Mundwinkel zuckten leicht, und seine Nasenflügel bebten. “Was glauben Sie, was ich meine?”

“Ich werde mich erst dazu äußern, nachdem Sie meine Frage beantwortet haben.”

Er zuckte die Schultern. “Ich finde den Namen einfach schön. Ich habe ihn zwar noch nie gehört, aber jetzt kann ich Ihren Eltern nur zu Ihrem guten Geschmack gratulieren. Und deshalb kann ich den Namen nicht benutzen. Er ist viel zu schön, um ständig im Büro herumgeschleudert zu werden.”

“Das dachte ich mir”, sagte Ferry missbilligend. “Ich kann sehr wohl herumgescheucht werden, aber nicht mein schöner Name. Sehr aufschlussreich.”

Stefan lächelte. “Erwarten Sie ein Kompliment?”

“Bestimmt nicht”, entgegnete Ferry. “Wie wir beide wissen, kann sich meine Schönheit keinesfalls mit der meines Namens messen.”

Er sah sie belustigt an, ohne ihr zu widersprechen. “Wie soll ich Sie dann nennen?”

Sie blinzelte. “Nennen Sie mich Ferry. Solange Sie akzeptieren können, dass ich Stefan zu Ihnen sage. Sobald Sie Ihre Meinung ändern, können Sie mich wieder mit Miss Lyon ansprechen.”

“Ferry ist gut”, stimmte er zu, öffnete seine Manschettenknöpfe, rollte die Ärmel zurück und ging zur Tür. “Bitten Sie die Personalabteilung, die Bewerbungen der Kandidaten zu bringen, die in der engeren Wahl stehen. Die Mitarbeiter wissen schon, welche ich meine. Bringen Sie sie mir dann. Danach können Sie ein Diktat aufnehmen.”

“Sehr wohl. Ich werde das gleich veranlassen”, brummelte Ferry. Aber nachdem er das Büro verlassen hatte, saß sie erst einmal reglos da. Seine Bemerkungen über ihren Namen waren ein bisschen kokett gewesen. Das war merkwürdig, zumal beide wussten, dass ihr strenger Pagenschnitt, ihre hübschen Gesichtszüge und die schlanke Figur, die Tatsache, dass sie von oben bis unten mit Sommersprossen bedeckt war, nicht wettmachen konnten. Selbst ihre Lippen waren voller Sommersprossen. Ferry störte sich nicht daran. Sie hatte immer genügend Verehrer gehabt, und die meisten hatten ihr früher oder später den Kosenamen “kleines gesprenkeltes Ei” gegeben. Aber keiner ihrer Verehrer war mit Stefan zu vergleichen.

Abgesehen von seinem blauen Blut und seinem fesselnden, löwenhaften Gesichtsausdruck, strahlte er ein erhabenes Selbstvertrauen aus, das offenbarte, dass er sich nicht mit der zweiten Wahl zufriedengeben musste. Und obwohl solch ein gesprenkeltes Ei eine Bereicherung für den Frühstückstisch der meisten Männer sein mochte, würde eine mit Sommersprossen übersäte Dame nicht in den Arm dieses Mannes passen. Weshalb hatte er dann mit ihr geflirtet? Wollte er ihr eine Abfuhr erteilen? Aber er hatte sie doch gar nicht gedemütigt. Sie war diejenige, die seine Worte als Beleidigung aufgefasst hatte. Seine stillschweigende Zustimmung war viel sympathischer und schmeichelhafter als jeder halbherzige Widerspruch. Es war, als würde ein geheimnisvolles Einverständnis zwischen ihnen bestehen. Als ob er durch seine Zustimmung, dass ihr sommersprossiges Gesicht bei Weitem nicht so schön war wie ihr Name, bereit wäre, sie so zu akzeptieren, wie sie sich sah – was wahrscheinlich auch ihre Behauptung einschloss, eine ausgezeichnete Sekretärin zu sein.

Er war also bereit einzugestehen, dass sie ihre Arbeit gut erledigte, obwohl er bisher kaum Beweise dafür hatte. Und er war auch bereit dazu, ihr von Anfang an deutlich zu machen, dass sie ihn nicht zu fürchten brauchte.

Zu diesem Zeitpunkt machte Ferry ihre dritte Entdeckung. Sie bemerkte, dass sie Stefan Redwell für den erstaunlichsten, attraktivsten Mann hielt, dem sie jemals begegnet war. Diese Feststellung erschreckte sie sehr gründlich. Beunruhigt machte sie sich an die Arbeit.

Als sie in sein Büro ging, betrachtete er gerade ihre Anmerkungen mit gereizter Miene. Offensichtlich gefielen sie ihm nicht. Das hatte sie auch nicht erwartet.

“Setzen Sie sich”, sagte er, ohne Ferry anzusehen.

Sie folgte seiner Aufforderung.

“Sie scheinen unsere Vorschläge nicht gutzuheißen”, begann er ungehalten. Langsam hob er den Blick, sah sie herausfordernd an und lehnte sich zurück.

Sie biss sich auf die Lippe und wünschte, sie hätte ihre Anmerkungen auf finanzielle Angelegenheiten beschränkt. Was war heute in sie gefahren? Jetzt konnte sie jedoch nichts mehr daran ändern. Sie musste den Stier bei den Hörnern packen.

“Nicht besonders”, erwiderte sie fröhlich lächelnd. “Nicht, dass es mich etwas angeht, und schließlich bin ich die Letzte, die sich ein Urteil erlauben dürfte. Ich weiß überhaupt nichts über handgearbeitetes Tafelsilber. Aber ich glaube nicht, dass Ihre Pläne dem Silberschmied, Mr…. Munkácsy, und seinem Sohn gegenüber fair sind.”

“Warum nicht? Wenn wir ihnen die Unterstützung bieten, die ich empfehle, dürften sie keinen Grund zur Klage haben.”

“Das ist sehr großzügig”, gestand Ferry. “Aber ich … nun ich glaube, dass Sie schrecklich romantisch sind.”

“Romantisch?” Sein Tonfall war voller Verachtung.

“Ja.” Ferry war sich nicht sicher, ob sie das glaubte, was sie sagt. Beim Durchlesen der Akte hatte sie überall nach Fehlern gesucht, nur um Stefan zu verärgern. “Den Munkácsy eine kleine Fabrik einzurichten und ihr Geschäft wieder aufblühen zu lassen, das wäre wie das glückliche Ende eines Märchens.” Sie zeigte auf die Akte. “Zweifellos wäre der Vater begeistert, weil er wie besessen ist von der Handwerkstradition seiner Familie. Er muss jedoch kurz vor der Pensionierung stehen. Und was ist mit dem Sohn? Was hält er denn davon? Er ist ja Bibliothekar in einer Medizinschule in Budapest. Vielleicht lässt er sich nur dem Vater zu Liebe in seiner Freizeit die alten Techniken beibringen. Möglicherweise hasst er den Beruf? Will er überhaupt das Stadtleben aufgeben, um auf dem Land Messer und Gabeln herzustellen, so prunkvoll sie auch sein mögen? Jedenfalls müssen beide schrecklich hinter der Zeit herhinken. Vom geschäftlichen Gesichtspunkt aus, halte ich es für eine äußerst zweifelhafte Idee.”

“Ha!”, rief Stefan. “Ich könnte schon heute Aufträge annehmen. Die Möglichkeit, dass Vater und Sohn die Produktion wieder aufnehmen, ist hier auf großes Interesse gestoßen. Sind Sie sich im Klaren darüber, dass der Urgroßvater des alten Mannes zu seiner Zeit Fabergé Konkurrenz machte?”

“Ich nehme an, der Urgroßvater des alten Mannes ist nicht mehr bei bester Gesundheit?”

“Natürlich nicht”, seufzte Stefan. “Unser Buchhalter ist es aber schon, und er ist entzückt. Seiner Meinung nach wird sich das Geschäft, wenn man es richtig anpackt, zu einer wahren Goldgrube entwickeln.”

“Ach so. Wenn Sie nur am Marketingeffekt interessiert sind, sind Sie auf dem richtigen Weg. Ich denke aber immer noch, dass Sie mehr über den Sohn herausfinden sollten, bevor Sie weitermachen.”

“Sie sind wirklich sehr eigensinnig, finden Sie nicht auch?”, fragte Stefan.

“Ja”, antwortete Ferry herausfordernd. Sie hatte sich zwar noch nie für eigensinnig gehalten, aber da sie sich so zu benehmen schien, konnte sie es wohl schwerlich abstreiten.

“Weshalb haben Sie sich dann entschieden, Sekretärin zu werden? Es ist bestimmt genau der falsche Beruf für jemanden, der nicht Ja sagen kann, und darüber hinaus sehr zermürbend für Ihren Arbeitgeber. Frauen können doch heutzutage viel entscheidungsfreudigere Positionen einnehmen.”

“Ich bin nur eine Aushilfssekretärin, keine fest angestellte.”

“Besteht da ein Unterschied?”

“Ja. Ich kann so oft in Urlaub fahren, wie ich möchte. Und zufällig kann ich kurzzeitig ganz gut Ja sagen. So ist es jedenfalls bis jetzt gewesen. Mein Erfolg liegt eigentlich darin, dass ich meine verschiedenen Arbeitgeber nicht verärgert habe. Die meisten Arbeitgeber legen mir jedoch am ersten Tag keine wichtigen Akten vor, mit der Bitte, die entscheidenden Informationen herauszuziehen. Sie werden feststellen, dass alle nötigen Daten über die finanzielle Seite genau aufgelistet sind.”

“Ist der Urlaub alles, was für Sie zählt?”

“Nein.”

“Ich dachte, Sie wären so gut im Ja sagen.”

Sie seufzte verzweifelt. “Das bin ich auch. Aber die meisten Arbeitgeber …”

“Dazu gehöre ich nicht, Ferry.”

“Nein.”

“Sind Sie bereit fürs Diktat?”

“Ja.”

“Ha! Welch ein Fortschritt. Dann legen wir mal los …”

Er muss beim Telefonieren ein Vermögen einsparen, dachte Ferry, wenn er immer so schnell spricht.

Als sie um halb sechs begann, das Diktierte zu tippen, fiel ihr ein, dass sie noch nichts gegessen hatte. Sie nahm den Telefonhörer ab und veranlasste, dass ihr etwas gebracht wurde.

Ray Fields brachte ihr ein Sandwich.

“Immer noch glücklich?”, fragte er.

“Ich bin immer glücklich.” Sie lächelte. “Immer. Danke für das Bringen, Mr. Fields. Kann ich Sie wieder einmal bemühen?”

Ray zwinkerte vielsagend. “Sie können mich wirklich jederzeit bemühen …”

Sie atmete tief durch. Aus Erfahrung wusste sie, dass es nur eine Möglichkeit gab, so etwas abzustellen. Je früher sie es hinter sich brachte, desto besser. “Danke, Ray”, sagte sie zuckersüß und zwinkerte zurück. “Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.”

Völlig verunsichert machte er sich eilig davon.

Um zwanzig vor sieben kam Stefan erneut zu ihr. Diesmal rollte er die Ärmel herunter. Das Jackett lag locker über einer Schulter. “Zeit zu gehen”, sagte er.

Ferry nickte zustimmend und schaltete den Computer aus. Sie war nicht so verrückt, ihren Chef weiterhin beeindrucken zu wollen. Sie war müde.

Er setzte sich an den Rand ihres Schreibtisches und warf ihr ein zauberhaftes Lächeln zu. “Trinken Sie noch schnell ein Gläschen mit mir”, schlug er unvermittelt vor.

Ihr Herz begann heftig zu klopfen … aus Furcht? “Nein, danke”, antwortete sie. “Ich habe Ihnen doch schon erklärt, dass ich mich auf nichts einlasse.”

Stefan seufzte gereizt. “Sie wären die Letzte, mit der ich etwas anfangen wollte.”

“Oh!”, entgegnete sie unsicher. “Warum haben Sie mich dann eingeladen?”

“Weil ich wissen wollte, ob Sie außerhalb des Büros genauso irritierend sind”, sagte er. Er betrachtete sie einen Augenblick lang durchdringend, stand auf und zog das Jackett an. Langsam ging er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, ohne sich zu verabschieden.

Ferry streckte ihm die Zunge heraus und reckte sich. Es war an der Zeit, sich auf die lange Heimfahrt zu machen.

3. KAPITEL

Wie immer saß Ferry im oberen Teil des Doppeldeckerbusses. Das war ihr schon so zur Gewohnheit geworden, dass es sie allmählich beunruhigte. Würde sie in zwanzig Jahren immer noch hier sitzen, wenn sie von der Arbeit nach Hause fuhr? Sie verzagte. Irgendetwas ging in letzter Zeit ziemlich schief. Ihr Leben verlief in derart gleichförmigen Bahnen, dass es fast schon entmutigend war. Es fiel ihr immer schwerer, ihre gute Laune beizubehalten. Sie hatte sich entschieden, befristete Stellen anzunehmen, um viel Freiheit genießen und Erfahrungen sammeln zu können. Doch mit der Zeit verfiel sie immer mehr in den gleichen Trott. Fand sie Stefan nur deshalb so faszinierend, weil er all ihren Erwartungen widersprach?

Sie rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis. Die hohen Wangenknochen, das dichte goldbraune Haar, die bernsteinfarbenen Augen, die abwechselnd leisen Spott und gelangweiltes Desinteresse ausdrückten. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Sie erschauerte. Das Merkwürdigste war, dass sie ihn höchst attraktiv fand. Denn obwohl sie mit vielen Männern ausgegangen war, die sie wirklich mochte, konnte sie sich nicht daran erinnern, sich je zuvor zu einem Mann so hingezogen gefühlt zu haben. Eigentlich war sie nur einmal richtig verliebt gewesen. Damals war sie vierzehn gewesen und hatte eine Zahnspange getragen, die jeden Kuss verhinderte. Graham Sheen, ein eher schüchterner Junge, hatte sich scheinbar nicht daran gestört.

Seitdem hatte sie sich nur mit Männern verabredet, deren Charakter ihr zusagte. Sie hatten sie alle geküsst, aber keiner dieser Küsse hatte ihr Herz jemals schneller schlagen lassen. Und was sie besonders beunruhigte: Auch wenn ihr die Männer vor dem Kuss noch so intelligent und nett vorgekommen waren, ging danach immer alles schief. Sobald ihre Begleiter spürten, dass Ferry ihre Umarmungen langweilig fand, verschwanden sie entweder aus ihrem Leben, oder sie fingen an, sich schrecklich wichtigtuerisch zu gebärden. Sie hatte dann immer Mitleid mit ihnen. Denn das bedeutete, dass sie aus deren Leben verschwinden würde.

Dies schien sehr lange keine wichtige Rolle zu spielen. In letzter Zeit, seit ihr Berufsleben so langweilig geworden war und ihre Freundinnen sich entweder mit ihren glänzenden Karrieren oder mit dem Mann ihrer Träume beschäftigten, musste Ferry immer stärker gegen ein äußerst ungutes Gefühl ankämpfen. Sie war doch fest entschlossen gewesen, stets glücklich zu sein. Jetzt hatte sie die schreckliche Vorahnung, dass dies nicht mehr lange anhalten würde. Und sie wusste nicht, was sie dagegen unternehmen sollte.

Stefans Bild erschien wieder vor ihrem geistigen Auge. Sie schluckte. Er konnte sie nicht ausstehen. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sie sich von ihm ungeheuer angezogen fühlte. Sie erschauerte. Würde sie sich in ihn verlieben? Es wäre sicherlich reine Zeitverschwendung und darüber hinaus eine schmerzliche Erfahrung. Aber zweifellos besser, als oben im Bus zu sitzen, das hektische Treiben auf den Straßen zu beobachten und sich zu zwingen, unter allen Umständen fröhlich zu bleiben …

Als sie in ihrer Wohnung in die Badewanne stieg, beschäftigte Ferry sich immer noch mit dieser Frage. Sie hatte vorher nie versucht, sich zu verlieben. Sie hatte sich vorgestellt, dass es einen einfach aus heiterem Himmel überkommen würde. Und obwohl Stefan keine gesprenkelten Eier mochte, hatte er völlig unbekannte Gefühle in ihr entfacht. Sie war sich sicher, dass es nichts schaden könnte, wenn sie sich verliebte.

Am nächsten Morgen war er vor ihr da. Als Ferry um drei nach acht den Computer einschaltete, hörte sie Stefan in seinem Büro pfeifen.

Sie öffnete die Verbindungstür. “Kaffee?”

“Hnngg …”, erwiderte er. Er hatte einen Bleistift zwischen den Zähnen und beschäftigte sich mit einer Grafik, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet war.

Als sie ihm den Kaffee brachte, streckte ihr Chef die Hand mit den blonden Härchen aus, um den Kaffee entgegenzunehmen. Vorsichtig trank er einen Schluck.

“Zu heiß.” Er sah kurz zu Ferry hinüber.

Seine Augen glänzten in der Morgensonne.

“Könnten Sie mir mehr über das Geschäft erzählen?”, fragte Ferry, um sich vom Anblick seiner Hände abzulenken, die gerade die Ärmel des blauweiß gestreiften Hemdes aufknöpften. Sie stellte sich vor, wie diese Hände die Knöpfe ihrer grünen Seidenbluse öffneten. Er rollte die Ärmel auf. Die hereinfallenden Sonnenstrahlen tauchten die Härchen auf seinen muskulösen Unterarmen in ein goldenes Licht. Jetzt stellte sie sich vor, wie sie mit den Lippen über seine Arme fuhr. Noch nie hatte sie solche Gedanken gehabt. Was, in aller Welt, war mit ihr los? War sie dabei, sich zu verlieben?

“Warum? Befassen Sie sich mit Börsengeschäften?”

Die Frage brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. “Nein.”

“Weshalb wollen Sie das dann wissen?”

“Nun … Ich arbeite hier.”

Er zuckte die Schultern. “Nur für ein paar Wochen.”

“Ja. Aber wenn ich besser informiert wäre …”

“Was?” Er strich sich eine Locke aus der Stirn. “Sie meinen, Sie wären eine noch bessere Sekretärin, wenn Sie besser informiert wären?” Er zog die Augenbrauen ungläubig hoch. “Was haben Sie vor, Miss Lyon? Wollen Sie sich eine Dauerstellung beschaffen? Sich so perfekt einarbeiten, dass Sie unersetzlich werden?”

“Bestimmt nicht. Ich dachte nur …”

“Als sie gestern herkamen, dachten Sie, wir würden Pfefferstreuer verkaufen. Und im Grunde tun wir genau das. Ich nehme an, der Bursche aus der Personalabteilung hat Ihnen unsere Ware gezeigt.”

“Ja.”

Er zuckte erneut die Schultern. “Dann wissen Sie ja, wie unsere Pfefferstreuer aussehen. Was könnte Sie denn noch interessieren?”

“Wenn ich zum Beispiel wüsste …”

“Sie müssen nicht mehr wissen, weil es im Grunde nichts mehr zu wissen gibt. Ich müsste jedoch noch einiges in Erfahrung bringen. Den Nachnamen und die Telefonnummer einer gewissen jungen Dame, die ich gestern Abend im Club kennengelernt habe. Können Sie Nachforschungen anstellen?”

“Natürlich.”

“Sehr gut. Irgendwo in Rosas – in Ihrem – Büro steht etwas über Burke. Damit können Sie anfangen. Der Bruder ihres Vaters ist Lord – irgendwo in Devon mit einem Schloss. Schauen Sie im Who is Who nach. Die Schwester ihrer Mutter schreibt Bücher über Reiseerlebnisse. Sie sollten in der Lage sein, die junge Dame ausfindig zu machen. Sobald Sie herausgefunden haben, wer sie ist, rufen Sie sie an und vereinbaren mit ihr einen Termin zum Mittagessen. Reservieren Sie einen Tisch im Bacchinalean.”

“Wie ist ihr Vorname?” Ferry gelang es, gelassen zu klingen.

Er blickte sie unverwandt an, warf den Kopf zurück und begann zu lachen. “Ich kann mich nicht erinnern”, gestand er belustigt. “Angela war gestern mit ihrem Verlobten da. Vielleicht weiß sie es. Fragen Sie sie. Die junge Dame hat langes schwarzes Haar und genau hier einen kleinen Leberfleck …”

“Ich werde mich darum kümmern”, murmelte sie und eilte hinaus. Gleich würde er die sinnliche Figur dieser Frau beschreiben, und das wollte sich Ferry ersparen. Sie hatte genug.

Der Name der Gesuchten stellte sich als Belinda Cholmondeley heraus. Wenn sie sprach, hatte man das Gefühl, sie würde lediglich ihre Unterlippe bewegen. Und sie schien nicht darüber erfreut zu sein, dass ihre Verabredung mit Stefan Redwell von einer einfachen Sekretärin getroffen wurde. Trotzdem sagte sie zu.

Eine Stunde später verlangte er einen zweiten Kaffee. “Diesmal nicht so heiß.”

“Espresso wird mit Dampf zubereitet. Dampf entsteht, wenn Wasser auf hundert Grad erhitzt wird. Ich kann die physikalischen Gesetze nicht ändern.”

“Wirklich nicht?”, spöttelte er. “Ihre Fähigkeiten haben also auch ihre Grenzen? Das wundert mich.”

Allein der Klang seiner Stimme genügte, um Ferry innerlich aufzuwühlen. Mit klopfendem Herzen und feuchten Handflächen wartete sie, bis der Kaffee fertig war. Sie drehte eine Tasse um und blickte auf die Unterseite. Masons Porzellan. Klassisch. Die Betrachtung der Tasse beruhigte ihre erregten Sinne jedoch nicht.

Als sie ihm den Kaffee brachte, sagte Stefan: “Bei Rosa hat er immer die richtige Temperatur.”

“Vielleicht bläst Rosa darauf.” Ferry lächelte zuckersüß. Sein Blick war alles andere als sanft, und ihr Herz pochte noch schneller.

Grübelnd setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Sie fand Stefan zweifellos attraktiv, war aber bestimmt nicht im Begriff, sich in ihn zu verlieben. Er war so schrecklich grob zu ihr. Das ungute Gefühl befiel sie erneut. Spielte es wirklich eine Rolle, dass er sie so sehr verabscheute? Schließlich erwartete sie ja nicht, dass er ihre Zuneigung erwiderte …

Freudlos drückte sie die Spitze des Kugelschreibers in den Radiergummi. Sie hatte sich so sehr bemüht, fröhlich zu bleiben. In letzter Zeit war sie jedoch immer einsamer geworden, und das erschreckte sie zu Tode. Sie musste sich stärker anstrengen, sich in Stefan zu verlieben. Es würde schmerzlich werden. Zu leiden war jedoch immer noch besser, als völlig abzustumpfen. Ferry erschauerte.

Bei diesen Gedanken fühlte sie sich noch elender. Sie stand auf, eilte zur Tür und zwang sich zu lächeln. Sie würde die Post holen. Ein bisschen Bewegung würde ihr gut tun.

Ray sortierte gerade die Briefe in der Pförtnerloge.

“Danke. Das erspart mir einen Weg.”

“Gern geschehen.” Sie lächelte. “Diese Tätigkeit geht bestimmt auf die Beine.”

Ray nickte. “Ich habe entzündete Fußballen”, gab er zu. “Manchmal tun sie schrecklich weh. Meine Frau sagt, ich sollte mir eine andere Beschäftigung suchen, aber in meinem Alter ist es nicht so leicht, sich zu verändern.”

Ferry warf ihm einen verständnisvollen Blick zu, bevor sie ihr Lächeln diskret hinter ihrem kinnlangen Haar verbarg. Zweifellos war es ihr gestern gelungen, Ray in seine Schranken zu verweisen. Jetzt konnten sie wie normale Menschen miteinander reden, ohne dass er das Gefühl hatte, sie beeindrucken zu müssen. Weshalb verhielten sich Männer so? Merkten sie nicht, dass sie viel interessanter waren, wenn sie nicht versuchten zu beeindrucken? Möglicherweise fand sie Stefan deshalb so attraktiv. Er versuchte überhaupt nicht, eindrucksvoll auf sie zu wirken. Er dachte, sie wäre es nicht wert.

Eine Stunde später hörte sie, wie seine Bürotür ins Schloss fiel. Nach weiteren elf Minuten kam er in Ferrys Büro.

“Warum lächeln Sie immer?”, fragte er argwöhnisch.

“Weil ich immer glücklich bin. Das haben Sie doch gestern schon herausgefunden.” Er sah sehr löwenhaft aus, wenn er den Kopf leicht nach vorne neigte und ihm eine Locke in die Stirn fiel. War seine Haltung wichtigtuerisch? Nein. Dazu waren seine Bewegungen viel zu unbewusst. Er versuchte nicht, ihr zu imponieren.

Er seufzte verächtlich. “Das ist ja fast schon krankhaft. Haben Sie jemals mit einem Psychiater darüber gesprochen?”

“Nein. Das ist keine Krankheit. Ich habe mich entschieden, fröhlich zu sein.”

“Sie meinen, es ist so, wie wenn man sich entschließt, Vegetarier zu werden?”

Ferry sah ihn verwundert an. Keiner ihrer früheren Chefs hatte sie über ihren Gemütszustand befragt. Sie hatten ihre Ausgeglichenheit einfach als selbstverständlich hingenommen. Stefan dagegen erweckte den Eindruck, als würde er es vorziehen, wenn sie griesgrämig wäre.

“Ungefähr”, antwortete sie. “Ich habe darüber nachgedacht, das Für und Wider erwogen und mich dann entschlossen, immer glücklich zu sein.”

“Widerlich. Das klingt nach unverbesserlichem Optimismus.

“Oh nein. Ich stelle mich auch unangenehmen Dingen. Ich weigere mich nur, mich in die Abgründe der Mutlosigkeit treiben zu lassen.”

“Abgründe der Mutlosigkeit … Wie dramatisch.”

“Die meisten Menschen, die in die Abgründe der Mutlosigkeit zu fallen drohen, finden es auch ziemlich dramatisch. Sie jammern über alles. Über die Kosten ihrer Hypotheken, darüber, dass ihnen die Hausarbeit über den Kopf wächst und dass sie nicht genug Geld haben, um in die Karibik fahren zu können. Sie kennen doch bestimmt solche Leute?”

“Und?”

“Im Gegensatz zu ihnen erkenne ich, dass es in meinem Leben gewisse Grenzen gibt, und versuche, das Beste daraus zu machen. So bleibe ich glücklich.”

“Ihre Weltanschauung ist nicht besonders motivierend.”

“Ich komme damit zurecht.” Sie bemühte sich, nicht verärgert zu klingen. “Ich bin nicht darauf aus, Sie zu bekehren.”

“Absoluter Unsinn.”

Ferry zwang sich zu einem überzeugenden Lächeln.

Stefan beugte sich weiter vor. “Welche Grenzen?”

Wollte er es wirklich wissen? Sie freute sich. Es war ihr so wichtig, und keiner interessierte sich dafür. Nicht einmal Angela.

“Sie wissen schon. Finanzielle zum Beispiel. Und zeitliche – das Leben ist zu kurz, um alles tun zu können. Man muss auswählen. Das Gleiche gilt für Freundschaften … Ich weiß, wo meine Prioritäten liegen, versuche, das Beste aus allem zu machen, und auf das, was ich nicht bekomme, zu verzichten.”

“Wie sind Sie denn in ihren jungen Jahren so … weise geworden, Ferry?”, spöttelte er.

“Ich habe meine Mutter beim Anbringen der Weihnachtsdekoration beobachtet.”

“Es wird ja immer schlimmer”, murmelte er und schloss die Augen.

Ferry biss sich auf die Lippe. Sie war zutiefst enttäuscht. Da er sie gefragt hatte, würde sie es ihm jetzt auch erzählen. Er hatte kein Recht, eine Sache, die ihr so wichtig war, so geringschätzig abzutun.

“Sie hat mich allein großgezogen. Einmal stellte sie fest, dass der Glitzerschmuck ganz brüchig geworden war. Sie war sehr aufgebracht darüber. Damals habe ich festgestellt, dass Weihnachtsschmuck dazu da ist, um Freude zu bereiten – doch meine Mutter hat sich davon die Laune verderben lassen.”

Er betrachtete sie eingehend, und Ferry wurde immer angespannter. “Ich habe geschworen, dass mir niemals das Gleiche passieren würde.”

“Ist Ihre Mutter denn nicht glücklich?”

Ferry seufzte tief. “Doch, zufällig schon. Und ich bin umso glücklicher.”

“Diese Weltanschauung macht sie also noch glücklicher? Demnach werden Sie von Tag zu Tag fröhlicher? Wann werden Sie denn vor Glück platzen? Können Sie mich vorwarnen? Ich werde dann die Teppichreinigungsfirma bestellen.”

“Warum sind Sie so grob?” Ferry erschrak über ihren eigenen Tonfall. Sie war es nicht gewohnt, aufgebracht zu klingen.

Plötzlich lächelte Stefan sie strahlend an. “Weil ich herausfinden möchte, ob Sie wirklich die ideale Sekretärin sind. Perfekte Sekretärinnen sollten nie die Geduld mit ihrem Chef verlieren, stimmt’s? Außerdem interessiere ich mich für Ihr zwanghaftes Bestreben, immer glücklich sein zu wollen.”

Er hatte gewonnen. Sie würde sich nicht mehr mit ihm streiten. Dieses Thema war ihr viel zu wichtig. Schließlich würde sie ihn ja sowieso nie überzeugen können. Wenn er es schaffte, ihr die Laune zu verderben, würde sie sich nur noch lächerlicher machen. Sie zuckte die Schultern. “Eins zu Null für Sie”, gab sie müde lächelnd zu.

“Wenn es Ihnen so leichtfällt, glücklich zu sein, muss das Leben bisher sehr gut mit Ihnen gemeint haben”, spöttelte er, richtete sich auf und schob die Hände in die Hosentaschen.

Sie seufzte leise auf. Wie hatte sie nur weitersprechen können, als sein Gesicht ihrem so nah gewesen war, dass sie jede Pore seines frisch rasierten Kinns sehen konnte? Ihr zitterten die Knie.

“Wenn Sie meinen”, murmelte sie nachgiebig.

“Warum stimmen Sie mir zu?”

“Welchen Zweck hätte es, Ihnen zu widersprechen?”

Stefan schaute sie ungläubig an. “Sie verschwenden meine Zeit, Ferry. Ich bin zum Arbeiten gekommen. Nicht, um über den Sinn des Lebens zu diskutieren. Wo ist der Bericht, den Sie gestern Abend getippt haben?”

“Auf Ihrem Schreibtisch.”

“Wann ist er denn dort gelandet?”

Sie blickte auf die Uhr. “Vor ungefähr siebzehn Minuten haben Sie Ihr Büro für circa elf Minuten verlassen. Da habe ich ihn hineingelegt.”

Er ging zur Verbindungstür. “Nur weil Sie Ihren Beruf gut beherrschen, heißt das noch lange nicht, dass Sie meine Zeit mit unnützem Geschwätz vergeuden können. Halten Sie Ihre Antworten in Zukunft knapper.”

“Ja.”

Wenn Sie nicht ganz falsch lag, hatte er sich gerade widersprochen. Eigentlich hatte sie Angela zugesichert, sie würde gehen, wenn dies passierte. Aber sie würde nirgendwo hingehen, schon gar nicht, um eine andere Stelle zu finden. Diese Entscheidung war weder besonders vernünftig noch erfreulich.

Den ganzen Morgen über hörte sie Stefans Tür aufgehen und zufallen. Konnte er nicht stillsitzen? Was war denn mit ihm los? Sie empfand dies als äußerst störend, denn jedes Mal, wenn er sein Büro verließ, hoffte sie, er würde ihres betreten. Das tat er jedoch nicht. Hatte sie sich schon ein bisschen verliebt? Woher sollte sie das wissen?

An diesem Nachmittag hatte Ferry drei Besprechungen zu protokollieren. So verbrachte sie insgesamt drei Mal eine drei viertel Stunde mit Stefan. Wenn ihr Blick nicht gerade auf ihren Block gerichtet war, sah sie verstohlen zu Stefan hinüber. Sie betrachtete sein Profil eingehend. Die leicht gekrümmte Nase, die markante Kinnlinie und die hohe Stirn waren ihr schon vertraut. Der wohlgeformte Mund wirkte von der Seite viel voller, fast schon sinnlich. Irgendwie kam es ihr beinahe schon wollüstig vor, wie sie ihn musterte.

Um sich abzulenken, richtete sie ihr Augenmerk auf Stefans Bewegungen – die Art, wie er den Kopf nach vorn beugte, wenn er aufmerksam zuhörte, wie er immer mit den Fingern durch das weizenblonde Haar fuhr. Seine Körpersprache deutete darauf hin, dass er stets das bekam, was er wollte. Am Abend stand für sie fest, dass er ein sehr faszinierender Mann war. Sie fand ihn zunehmend attraktiver. Aber sie hatte es immer noch nicht geschafft, sich in ihn zu verlieben.

Später, als sie gerade dabei war, ihre Kurzschrift zu entziffern, schlenderte er in ihr Büro herein und setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtisches. Ferry löste die Haare, die sie hinters Ohr gestrichen hatte, sodass sie wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fielen.

“Sie müssen müde sein”, sagte er.

“Eigentlich nicht.”

“Ich schon.” Er seufzte und sah sie stirnrunzelnd an. “Sie müssen müde sein. Sie waren doch auch stundenlang bei den Besprechungen. Sie brauchen mir nicht mehr zu beweisen, wie unbesiegbar Sie sind. Sie haben mich schon überzeugt. Jetzt können Sie Ihre gelegentlichen kleinen Schwächen ruhig zugeben.”

Ferry lächelte zufrieden. Auf einmal war er richtig nett. “Danke! Ich bin aber nicht erschöpft. Sie haben fast zweieinhalb Stunden lang ununterbrochen geredet. Ich habe nur zugehört. Das ist bei Weitem nicht so anstrengend.”

Er verdrehte die Augen und rieb sich das Gesicht. “Wenn Sie wirklich noch nicht müde sind, können Sie mir ein Sandwich holen. Ich bin schrecklich hungrig.” Er stand auf und ging in sein Büro.

Ferry bat Ray, das Essen zu bringen. Das ging fast schon zu weit!

Sie durfte sich nicht ausnutzen lassen, nur weil sie diesen Mann attraktiv fand. Ein bisschen Freundlichkeit war eine altbekannte Masche, um aus Sekretärinnen Bedienungen zu machen. Während sie auf die Sandwiches wartete, tippte sie in Windeseile ihre Notizen ab und brachte sie Stefan zusammen mit dem Essen.

“Wie haben Sie das so schnell geschafft?”, fragte er erstaunt.

“Ich habe Ray gebeten einzukaufen.”

Stefan schaute sie belustigt an. “Erzählen Sie mir nicht, dass Ray plötzlich auch glücklich ist.”

Ferry fühlte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. “Ganz und gar nicht.”

Er lachte. “Die meisten weiblichen Angestellten hätten es am liebsten, wenn wir Ray kündigen würden. Seinetwegen haben wir schon daran gedacht, uns mit dem Problem der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zu beschäftigen.”

Ferry blinzelte. Ray war ihr sympathisch geworden, und sie konnte nicht umhin, ihn zu verteidigen. “Wollen Sie ihm kündigen, weil er ein normaler Mann ist? Wie viele Männer haben Sie aus dem gleichen Grund entlassen?”

“Keinen einzigen. Über die anderen hat sich auch noch keiner beschwert.”

“Ich kann nicht glauben, dass sie alle fehlerfrei sind. Der gedrungene Bursche in dem rosafarbenen Hemd – der, der sich heute Nachmittag über die europäischen Wechselkurse ausgelassen hat? Ich wette, dass er sich von jeder Frau, die er trifft, ein Abenteuer erwartet.”

Stefan schaute sie eindringlich an. “Mark? Er ist sehr clever …”

“Sicher. Viel zu clever, um unter den gegebenen Bedingungen zweideutige Bemerkungen zu machen. Das heißt aber nicht, dass er kein Frauenheld ist. Ray ist zu einfältig, um zu bemerken, dass sich die Zeiten geändert haben. Er ist ziemlich harmlos. Im Grunde fürchtet er sich vor Frauen. Aber auf jeden Fall hat er schrecklich entzündete Fußballen.”

Stefan lachte. “Soll das heißen, dass er harmlos ist, weil er entzündete Fußballen hat? Dadurch wird man nicht impotent.”

Ferry errötete noch tiefer. “Das heißt nur, dass seine Füße schmerzen und er weiß, dass er älter wird. Ich glaube, er wäre nicht erfreut, in seinem Alter wegen einer Bagatelle entlassen zu werden. Wenn Sie mit ihm sprechen und ihm erklären würden, dass die Frauen heutzutage am Arbeitsplatz andere Erwartungen haben als früher, würde er sich bestimmt ändern. Kümmern Sie sich lieber um Mark. Auch wenn sich noch niemand über ihn beschwert hat, bin ich mir sicher, dass er einen hohen Verschleiß an Sekretärinnen hat.”

Stefan warf ihr einen finsteren Blick zu. “Sie wissen, dass dies eine ungeheuerliche Beschuldigung ist. Wenn Sie also keine stichhaltigen Beweise haben …”

Ferry war etwas verunsichert. “In den letzten sechs Jahren habe ich für mehr als hundert Männer gearbeitet”, sagte sie abwehrend. “Ich brauche keine Beweise. Meine Instinkte sind sehr gut ausgeprägt.”

Stefan kniff die Augen zusammen. “Ich hätte nicht gedacht, dass sexuelle Belästigung ein Problem für Sie darstellt. Ich bin mir sicher, dass Sie neunundneunzig Prozent der männlichen Bevölkerung mit einem einzigen Lächeln zu Tode erschrecken können.”

Erneut spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Diese Bemerkung hatte sie tief getroffen. Ferry mochte die Menschen – einschließlich der Männer, auch wenn sie letzten Endes immer Mitleid mit ihnen empfand –, und sie hatte nie einen Grund gehabt, zu bezweifeln, dass man sie auch mochte. Dieser Mann war das einzige Problem. Er machte sie aggressiv. So war sie doch gar nicht. Oder doch?

“Erkundigen Sie sich in der Personalabteilung”, antwortete sie steif. “Wenn ich mich irre, nehme ich jedes Wort zurück.”

Autor

Sandra Field

Sandra Field hätte sich nicht träumen lassen, dass sie mal eine erfolgreiche Romance-Autorin sein würde, als sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Nahrungsmittelforschung tätig war.

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