Bianca Exklusiv Band 362

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DAS GLÜCK KOMMT ZURÜCKvon LINDSAY MCKENNA
Mit zarten Händen pflegt Krankenschwester Paige den verletzten Thane Hamilton. Sie spürt instinktiv, dass der US-Marine an einem Wendepunkt in seinem Leben angekommen ist. Und gerade deshalb will sie ihm ihre Gefühle nicht gestehen …

ZUM ERSTEN, ZUM ZWEITEN … ZUM VERLIEBEN! von NANCY ROBARDS THOMPSON
Um Spenden für die Kinderklinik zu sammeln, nimmt Dr. Liam Thayer widerwillig an einer Junggesellen-Auktion teil. Eine neue Liebe ist das Letzte, was der junge Witwer will. Aber warum sprühen dann die Funken bei seinem Date mit der schönen Kate?

WAS NACH DEM ERSTEN KUSS GESCHAH von KAITLYN RICE
Freundschaft statt Liebe: So ist das mit Gabe. Ihm vertraut Josie, und er ist für sie da, als sie ein dunkles Familiengeheimnis aufdeckt. Er spürt, wie erschüttert sie ist, zieht sie tröstend in seine starken Arme … und küsst sie sinnlich! Wo soll das hinführen?


  • Erscheinungstag 26.05.2023
  • Bandnummer 362
  • ISBN / Artikelnummer 0852230362
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Lindsay McKenna, Nancy Robards Thompson, Kaitlyn Rice

BIANCA EXKLUSIV BAND 362

1. KAPITEL

Noch zwei Minuten bis zum Kontakt! Keuchend rannte Captain Thane Hamilton weiter. Er musste es schaffen.

„Lauf weiter!“, rief er heiser.

Vor ihm stolperte ein vierzehn Jahre altes Mädchen über den steinigen Boden der Schlucht. In seinem Kampfanzug und mit dem Sturmgewehr in der Hand war er deutlich als U.S. Marine zu erkennen. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Drogenschmuggler mussten dicht hinter ihnen sein.

Hubschrauber! Die Hilfe war ganz in der Nähe! Er packte das Funkgerät fester. „Schneller, Valerie!“

Schluchzend ruderte das rothaarige Mädchen mit beiden Armen, um nicht zu stürzen.

Thane tat die Tochter des Senators leid. Aber sie durfte jetzt nicht aufgeben. Der Canyon, durch den sie flüchteten, verlief direkt an der bolivianischen Grenze, und die dünne Luft in dieser mörderischen Höhe ließ seine Lungen brennen. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Der Rest seines Teams war tot. Sie hatten fünf Leben riskiert, um ein Mädchen zu retten. Thane war der Letzte, und vielleicht würde auch er diese Aktion nicht überleben.

Der Himmel war strahlend blau. Er hörte die CIA-Hubschrauber. Das Geräusch ihrer Rotoren zerriss die Stille und hallte von den steilen Felswänden der Schlucht wider. Der vereinbarte Landeplatz lag auf einer Hochebene vor dem Ausgang des Canyons. Aber die Retter würden nur landen, wenn er ihnen ein Signal gab.

„Weiter, Valerie!“, schrie er.

„Ich kann nicht! Ich bin müde! Ich will mich ausruhen!“ Sie wurde langsamer.

Mit einem leisen Fluch schob Thane das Funkgerät in den Patronengurt. Dann packte er Valeries dünnen Arm. Sie war vom guten Leben verwöhnt. Sie hatte einen reichen und mächtigen Daddy in Washington, D.C. Und selbst in ihrem jungen Alter war sie schon ein Snob. Natürlich war es nicht Valerie Winstons Schuld, dass der Drogenbaron sie hatte entführen lassen. Sie war mit einer kirchlichen Jugendgruppe durch Peru gereist. Thane konnte ihr nicht böse sein.

„Aua!“, rief sie und versuchte, sich loszureißen. „Sie tun mir weh!“

Es war Juni, aber in vierzehntausend Fuß Höhe war es höllisch kalt. Der Titicacasee war nur dreißig Meilen entfernt. Thane hörte, wie die Helikopter mit der dünnen Luft kämpften. Allein das machte den Flug hierher schon lebensgefährlich.

Thane zerrte das Mädchen um die letzte Biegung des Canyons. Vor ihnen ging er in eine kahle Mondlandschaft über, flach, ohne Felsbrocken und jegliche Vegetation. Das musste die Landezone sein! Hinter sich hörte er spanische Stimmen. Sie kamen rasch näher.

Verdammt! fluchte er stumm.

Als er sich umdrehte, sah er zehn Gangster auf sie zurennen, keine halbe Meile entfernt. Schüsse fielen. Die beiden schwarzen Hubschrauber setzten zur Landung an wie zwei Falken, die sich vom Himmel herab auf ihre Beute stürzten.

Thane riss einen kleinen Kanister aus dem Gürtel und postierte sich hinter Valerie. Die Kugeln trafen die Felswände neben ihnen. Unter keinen Umständen durfte Valerie verletzt werden! Er und seine schusssichere Weste mussten die tödlichen Geschosse abfangen.

Als sie das Ende der Schlucht erreichten, schob er sie gegen eine Felswand.

„Bleib stehen“, rief er keuchend und entsicherte die Granate, bevor er sie in weitem Bogen dorthin warf, wo die Retter sie aufnehmen sollten. Sie segelte durch die Luft, und als sie aufprallte, stieg eine pinkfarbene Wolke aus ihr auf. Das war das Signal für die Hubschrauber.

Thane hob das Gewehr an die Schulter. „Valerie, renn weiter, aber halt dich dicht an der Felswand“, befahl er.

Das Mädchen nickte mit weit aufgerissenen Augen und gehorchte.

Thane war klar, dass die Gangster sie genau dann einholen würden, wenn die Hubschrauber landeten. Er gab einige Schüsse ab, um sie aufzuhalten. Es funktionierte. Dann hob er das Funkgerät.

„Black Jaguar One. Black Jaguar One. Hier ist Checkerboard One. Over.“ Ungeduldig wartete er auf die Antwort aus dem großen schwarzen Apache, der vom Himmel zu fallen schien.

„Kommt schon!“, knurrte er. „Antwortet mir!“

„Hier ist Black Jaguar One, Checkerboard One“, meldete sich eine ruhige Frauenstimme. „Wie ist die Lage? Over.“

„Landezone ist heiß“, warnte er. „Ich habe das Paket. Und zehn böse Buben, etwa eine halbe Meile entfernt. Sie kommen aus dem Canyon vor euch. Ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen. Verstanden? Over.“

„Roger. Wir sehen sie. Schlage vor, Sie gehen in Deckung.“

Erst jetzt registrierte Thane, dass er mit einer Frau gesprochen hatte. Natürlich, in der U.S. Army gab es auch weibliche Hubschrauberpiloten. Aber hinter den feindlichen Linien bei geheimen Missionen der CIA? Davon hatte er noch nie etwas gehört. „Danke, Black Jaguar One. Freue mich, Sie zu sehen. Ende und aus.“

Thane grinste vor Erleichterung. Eine Luft-Boden-Rakete würde genügen, ihm die Gangster vom Hals zu schaffen. Er beobachtete, wie der unmarkierte Helikopter den Anflug abbrach und über dem Felsplateau schwebte, um die Rakete abzufeuern. Der zweite Hubschrauber, eine alte Cobra, verlor rasch an Höhe. Thane sah nach rechts. Valerie kauerte an der Wand der Schlucht.

Er fuhr wieder herum und gab fünf oder sechs gezielte Schüsse ab. Zwei der Verfolger wurden getroffen.

Dann sah er etwas, bei dem ihm fast das Herz stehen blieb. Nein!

Einer der Gangster zielte mit einer Boden-Luft-Rakete auf den Apache.

Verdammt!

Thane verließ seine Deckung. Das ohrenbetäubende Knattern der Rotoren traf ihn wie ein Schlag, als er sich dem Feuer der Verfolger aussetzte. Er musste verhindern, dass sie den Apache vom Himmel holten! Darauf zählend, dass keiner der Gangster ein Scharfschütze war, legte er auf den Mann mit der Boden-Luft-Rakete an. Er zielte, schoss und sah, wie der Gangster getroffen wurde. Der Mann brach zusammen, aber mit ihm senkte sich auch der Raketenwerfer. Das Geschoss verließ den Lauf – und flog direkt auf Thane zu!

Die Zeit schien stillzustehen, als er sich aufrichtete. Weg! Nein! Nein, ich werde sterben! Das war sein letzter Gedanke. Als er sich nach links warf und Deckung suchte, wusste er, dass er ein toter Mann war.

Um ihn herum wurde alles schwarz. Er fühlte einen brennenden Schmerz im rechten Bein und hörte Valeries hysterischen Aufschrei. Dann war es vorbei.

Der Lärm in der Kabine der Cobra war unerträglich. Die Triebwerke des Hubschraubers liefen auf Hochtouren. Er war alt, und der Rumpf vibrierte, als er mit Vollgas nach Cusco flog. Tausend Fuß unter ihnen erstreckte sich der Dschungel Perus. Die weißen Wolken an den Berghängen zerstoben wie Rauchwolken vor der Windschutzscheibe.

„Sie leben“, schrie Captain Maya Stevenson dem schwer verletzten U.S. Marine ins Ohr. „Wir haben die Tochter des Senators an Bord. Sie sind beide in Sicherheit.“

Seine Augen öffneten sich einen Spalt weit.

Maya sah, wie er etwas zu sagen versuchte. Seine Pupillen waren riesig und pechschwarz von dem Morphium, das die Sanitäterin ihm gegen die Schmerzen injiziert hatte. Gut, dachte sie. Er brauchte nicht zu wissen, was mit seinem Bein los war. Der Marine blinzelte zweimal. Er hatte einen energischen Mund, und sie war sicher, dass man ihm gehorchte, wenn er Befehle erteilte. An seiner Uniform war nirgendwo ein Rangabzeichen, aber sie ahnte, dass er Offizier war.

„Sie sind in Sicherheit. Das Mädchen auch. Halten Sie durch. Wir bringen Sie nach Cusco ins Krankenhaus. Ihr Zustand ist stabil.“ Das war gelogen, aber Maya wollte nicht riskieren, dass der Mann durchdrehte, wenn er die Wahrheit erfuhr.

Es war so laut, dass Thane kaum verstand, was die Frau in der schwarzen Uniform zu ihm sagte. Wo war er? Sein Gehirn funktionierte nicht richtig, und er hatte das Gefühl, als befände er sich nicht mehr ganz in seinem Körper, als schwebte er halb darüber.

Die Frau trug einen Helm, also war sie … Nein, keine Soldatin … Pilotin. Ja, das war es. Ein Hubschrauber. Er fühlte das vertraute Vibrieren im Rücken und in allen Gliedern … nur im rechten Bein nicht. Warum spürte er dort nichts?

Thane Hamilton schaute in ihr Gesicht, sah den grimmigen Zug um die vollen Lippen, die zusammengekniffenen Augen, in denen es gefährlich glitzerte. Sie war eine Kriegerin, kein Zweifel. Und eine Jägerin.

„Captain Hamilton“, krächzte er und schmeckte Schlamm auf der Zunge.

Sie nickte. „Okay … jetzt wissen wir, wer Sie sind.“ Bei Einsätzen wie diesem hatten Soldaten keine Papiere bei sich, nicht einmal die Hundemarke um den Hals. „Wir werden die entsprechenden Stellen informieren, Captain. Ich bin Captain Maya Stevenson, Pilotin der Army. Halten Sie durch. Wir sehen zwar nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber glauben Sie mir, Sie sind in den besten Händen.“ Sie grinste.

Er versuchte zu lächeln und bemerkte erst jetzt, dass sich eine andere Frau, ebenfalls in schwarzer Montur, über seine Beine beugte. Sie war dabei, ihm einen Verband anzulegen. Seltsam, er fühlte es gar nicht. Was war los? Er wollte den Kopf heben, aber der Captain legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn sanft nach unten.

„Bleiben Sie ruhig liegen, Captain. Das ist meine Sanitäterin, Sergeant Angelina Paredes“, erklärte sie.

Sein Mund war wie ausgedörrt. Er hatte Durst. Vorsichtig drehte er den Kopf nach links und sah das rothaarige Mädchen. Es dauerte eine Weile, bis er wusste, wer sie war. Sein Verstand war nichts mehr wert. Er schloss die Augen.

„Gott sei Dank, ihr ist nichts passiert …“

Maya nickte lächelnd. „Sie haben sie gerettet, Captain. Sie sind ein echter Held. Keiner von uns hat geglaubt, dass Sie den direkten Raketentreffer überlebt hätten. Sie sind ein verdammt zäher Bursche … für einen Marine.“ Sie sah, wie sein Mundwinkel zuckte. Vielleicht konnte er es ja doch schaffen. Aber der Blutverlust war gewaltig. Ihr Sergeant arbeitete wie verrückt an seinem verletzten Bein. Maya wollte nicht, dass dieser Offizier erfuhr, wie schwer verletzt er war. In Cusco würden die Ärzte ihm vielleicht das Bein abnehmen müssen.

Die Vorstellung brach ihr fast das Herz. Maya schaute zu dem Mädchen hinüber, das mit großen Augen in einer Ecke kauerte. Das hier würde Valerie Winston nie vergessen. Und Maya hoffte, dass sie auch die Männer nie vergessen würde, die ihr Leben für sie geopfert hatten.

Sie beugte sich zu Captain Hamilton hinab. „Ruhen Sie sich aus. In weniger als dreißig Minuten landen wir in Cusco. Bis dahin kümmert die beste Sanitäterin der Welt sich um sie.“

„Danke … für alles“, stöhnte Thane, bevor er wieder das Bewusstsein verlor.

Maya sah ihren Sergeant an. „Es ist traurig, Angel“, sagte sie zu ihr. „Dieser Bursche verdient einen Orden. Stattdessen sieht es aus, als würde er zur Belohnung sein Bein verlieren.“

„Ich weiß nicht“, keuchte Angel. „Wenn Dr. Prado im Krankenhaus von Cusco Dienst hat, wird er bestimmt versuchen, das Bein zu retten. Er ist der Einzige in Peru, der es schaffen kann.“

„Dann wollen wir hoffen, dass er Dienst hat“, erwiderte Maya grimmig.

„Wird Captain Hamilton sein Bein verlieren?“, fragte Morgan Trayhern den Chirurgen Dr. Jose Del Prado in dessen Büro im Krankenhaus von Cusco.

Der Arzt, ein drahtiger Mann von Anfang dreißig, stand hinter einem schlichten Mahagonischreibtisch. Er trug einen langen weißen Kittel, ein Stethoskop hing ihm aus der Tasche, und in der Hand hielt er den Bericht über Hamilton. „Ich weiß es nicht … noch nicht, Mr. Trayhern“, sagte er.

Morgan verzog das Gesicht. Gleich nachdem er den verschlüsselten Funkspruch aus Peru bekommen hatte, war er auf direktem Weg von Washington nach Cusco geflogen. Captain Thane Hamilton gehörte dem U.S. Marine Corps an und unterstand daher nicht seinem Kommando, aber der Undercover-Einsatz, an dem Hamilton teilgenommen hatte, war von Morgans Behörde organisiert worden.

„Ich verstehe …“

„Nein, das tun Sie nicht“, erwiderte Del Prado scharf. „Ich habe sein Bein nicht amputiert. Irgendwann wird das Bein dieses Offiziers so sehr schmerzen, dass er nicht darauf laufen kann. Im Moment mache ich mir allerdings mehr Sorgen um eine mögliche Infektion. Wenn wir die nicht stoppen können, wird er das Bein doch noch verlieren.“

„Und was jetzt? Darf ich Captain Hamilton in meinem Jet mitnehmen, damit er in den USA weiterbehandelt werden kann?“

„Natürlich. Er ist jetzt stabil. Haben Sie einen Arzt an Bord?“

Morgan nickte. „Ja.“

„Dann schlage ich vor, Sie warten noch zwölf Stunden. Er ist erst vor drei Stunden aus dem OP gekommen und hat ein Einzelzimmer, wie Sie es angeordnet haben. Er ist noch nicht wieder ganz bei Bewusstsein, also lassen Sie ihm Zeit.“

„Wenn er Ihr Patient wäre, was würden Sie noch für ihn tun?“, fragte Morgan.

Die blauen Augen des Arztes funkelten belustigt. „Die Medizin, die wir hier in Peru praktizieren, ist ein wenig anders als die bei Ihnen zu Hause.“

„Man hat mir gesagt, Sie seien hier der Beste auf Ihrem Gebiet, Doktor. Ich möchte, dass Captain Hamilton sein Bein behält. Verraten Sie mir Ihr Geheimnis.“

„Ich würde eine schulmedizinische Behandlung mit alternativen Methoden kombinieren. Hier in Peru nutzen wir die Erkenntnisse der Homöopathie. Wenn ich den Captain hier behalten könnte, würde ich also einen unserer Homöopathen hinzuziehen. Außerdem würde ich dem Patienten physikalische Therapie und Massage verordnen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie haben mich gefragt.“

„Allerdings. Danke, Doktor.“

„Möchten Sie eine Überweisung an einen meiner nordamerikanischen Kollegen, der ein Jahr lang hier mit mir an derartigen Fällen gearbeitet hat?“

Morgan erwiderte das amüsierte Lächeln des Peruaners. „Gern. Wen schlagen Sie vor?“

„Dr. Jonathan Briggs, einen Fachmann für Knochenerkrankungen in Arizona, der sich vor einigen Jahren bei uns weitergebildet hat. Er ist mit unseren Methoden vertraut und hat in Fällen wie diesem schon wahre Wunder vollbracht. Er arbeitet im Red Rock Hospital in Sedona, Arizona.“

„Dieser Dr. Briggs … wird er Ihre Methoden einsetzen?“

„Ja.“

„Ganz sicher?“

Dr. Del Prado lachte. „Dr. Briggs hat unsere Methoden entwickelt.“

Morgan strahlte. „Danke, Doktor. Ich werde dafür sorgen, dass Captain Hamilton in Dr. Briggs’ Klinik landet.“

„Gut. Sie können den Patienten jetzt sehen. Danach kommen Sie zu mir, und ich unterschreibe die Entlassungspapiere. Captain Hamilton liegt auf Zimmer 404.“

Morgan gab ihm die Hand und eilte zum Fahrstuhl.

Verdammt, dachte er. Wenn Hamilton sein Bein verliert, wird er das Marine Corps verlassen müssen …

Er kannte Hamiltons Personalakte fast auswendig, wie bei jedem, der für ihn arbeitete. Der Captain war erst siebenundzwanzig, hatte aber schon mit großem Erfolg an vielen Einsätzen hinter den feindlichen Linien teilgenommen. Eigentlich stand seine vorgezogene Beförderung zum Major an. Als Morgan im vierten Stock aus dem Fahrstuhl stieg, rümpfte er die Nase. Der antiseptische Geruch erinnerte ihn daran, wie oft er selbst in ausländischen Krankenhäusern Verwundungen auskuriert hatte.

Er schwor sich, Hamilton so schnell wie möglich in die Heimat zu schaffen. Möglichst zu Menschen, die ihn liebten und ihm Kraft geben würden. Als er die richtige Tür fand, öffnete er sie leise. Es war ein kleines Zimmer, ganz weiß, und die geschlossene Jalousie am einzigen Fenster tauchte es in ein deprimierendes Grau. Der junge Marine-Corps-Offizier lag mit geschlossenen Augen da. Sein rechtes Bein war eingegipst und hing in einer Schlaufe über dem Bett.

Morgan ging ans Fenster, zog die Jalousie auf und öffnete es einen Spalt weit. Frische Luft drang herein, zusammen mit einem Hauch von Autoabgasen. Hier oben klang das unaufhörliche Hupkonzert auf den Straßen Cuscos gedämpft.

Er drehte sich zu dem Patienten um. Als er ans Bett trat, zuckten die dunklen Wimpern, und die Lider hoben sich gerade weit genug, um grüne Augen mit riesigen schwarzen Pupillen erkennen zu lassen. Offenbar war Hamilton noch nicht vollständig aus der Narkose erwacht.

„Ganz ruhig, Captain Hamilton“, sagte Morgan. „Ich bin Ihr Kontakt, Morgan Trayhern. Als ich hörte, dass Sie den Einsatz überlebt haben, bin ich sofort hergeflogen.“ Behutsam legte er eine Hand auf die Schulter des Offiziers. „Willkommen im Land der Lebenden, mein Junge. Sie sind in Cusco und vor drei Stunden operiert worden. Wie fühlen Sie sich? Schmerzen?“

Thane starrte in das besorgte Gesicht seines hoch gewachsenen Besuchers. Die grauen Schläfen verrieten sein Alter, aber in dem perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug mit der konservativen dunkelblauen Krawatte wirkte er fit und energisch. Es dauerte eine Weile, bis Thane begriff, was der Mann gesagt hatte, aber der warme Druck seiner Hand half ihm dabei.

Er öffnete den Mund. Der Gaumen fühlte sich trocken an, ausgedörrt wie die bolivianische Wüste.

„Durst?“

Thane nickte mühsam.

Morgan goss Wasser in einen Becher und steckte einen Strohhalm hinein. „Haben die Schwestern schon nach Ihnen gesehen?“

Gierig sog Thane an dem Halm. Sein Hals schien nicht richtig zu funktionieren, und das Schlucken fiel ihm schwer. Er flüsterte ein Dankeschön und fiel erschöpft aufs Kissen zurück.

„Kann mich … nicht erinnern … Sir“, krächzte er heiser und sah sich mit gerunzelter Stirn um. Ein dumpfes Pochen drang aus dem rechten Bein bis in die Hüfte. Was war los? Automatisch tastete er danach, und als sein Blick der Hand folgte, stellte er fest, dass es in einer Art Flaschenzug an der Decke hing. Er musste sich konzentrieren, bis ihm einfiel, warum sein Bein so dahing.

Vor seinen geschlossenen Augen lief die Endphase des Einsatzes noch einmal ab. Die Schüsse. Der Tod seiner Männer. Das Mädchen … Valerie. Und dann … das Gesicht einer Frau. Sie trug einen engen schwarzen Overall ohne jedes Abzeichen. Sie schien über ihm zu schweben und musterte ihn voller Besorgnis. Ein Hubschrauber … ja, er erinnerte sich an das Schwanken und Vibrieren. Und sein Bein … Irgendwo in seinem noch halb narkotisierten Kopf sah er eine andere Frau in Schwarz und hörte sie sagen, dass er sein Bein verlieren könnte. Nein! Die Panik vertrieb die Nebelschwaden, und er spürte das Adrenalin, das in seinen Kreislauf schoss und sein Herz schneller schlagen ließ.

„Ruhig, Junge …“

Thane riss die Augen auf. Das Bein saß noch am Körper. Oder nicht? Sein Atem ging jetzt heftiger. Entsetzt darüber, wie schwach er war, hob er den rechten Arm und zerrte am Laken, das sein Knie bedeckte.

„Sie haben Ihr Bein noch.“

Eine noch nie erlebte Erleichterung durchströmte ihn, und er ließ den Arm wieder sinken. Sein Bein konnte er nicht fühlen, nur das schmerzhafte Pochen, das daraus aufstieg. Er stöhnte auf und ballte die rechte Hand zur Faust.

„Mein Bein …“ Er spürte, wie Trayherns Hand sich fester um seine Schulter legte.

„Captain Hamilton, man hat mir berichtet, dass eine Boden-Luft-Rakete Sie knapp verfehlt hat. Sie sind hinter einem Felsen in Deckung gegangen, das Geschoss ist direkt davor explodiert. Ich bin sicher, Sie erinnern sich nicht daran … noch nicht.“

Er versuchte ruhiger zu werden. Seine Gedanken waren wie eine Herde Wildpferde auf der Ranch in Arizona, auf der er aufgewachsen war. Er konzentrierte sich auf den ernsten Mann namens Trayhern.

„Mein Bein? Was noch?“

„Die Ärzte machen sich wegen einer Infektion Sorgen …“

„Lassen Sie nicht zu, dass sie es amputieren …“

Erneut drückte Morgan die Schultern des Verwundeten und fühlte die Muskeln unter dem weißen Krankenhaushemd. Der Mann war topfit. Als Aufklärer im Marine Corps musste er das auch sein. „Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, Captain.“

Schlagartig setzte die Panik wieder ein. „Sie meinen … ich könnte es verlieren?“

Morgan hob die Hand. „Ich weiß es nicht, Captain. Ich muss telefonieren. Wenn ich zurückkomme, werde ich mehr wissen. Ich werde alles versuchen.“

„Ich werde mein Bein nicht verlieren … Sir“, flüsterte Thane. „Eher friert die Hölle zu, als dass ich mir das Bein abschneiden lasse …“

Morgan sah das gefährliche Glitzern in Hamiltons Augen. Die Pupillen wurden kleiner, die Miene trotzig. „Ich bin bald zurück“, sagte er leise.

Als Morgan Trayhern eine Stunde später wiederkam, war Thane bei vollem Bewusstsein. Die Schwester hatte ihm geholfen, sich aufzusetzen, und ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben. Sein Blick zuckte immer zum rechten Bein. Vor fünfzehn Minuten hatte Dr. Del Prado ihm gesagt, dass die Chance, das Bein auf Dauer zu retten, denkbar gering war. Das machte Thane Angst. Große Angst.

Hoffnungsvoll sah er auf, als Morgan Trayhern das Krankenzimmer betrat. Der Mann war selbst einmal bei den Marines gewesen, und ein Marine ließ keinen Kameraden im Stich.

„Entspannen Sie sich, mein Junge“, begann Morgan. „Ich erzähle Ihnen jetzt, wie es weitergeht.“

Er sah die Hoffnung in Hamiltons Augen und bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. „Ich werde Sie in meinem Jet nach Sedona in Arizona bringen. Vom Flughafen aus werden Sie direkt ins Red Rock Hospital gefahren. Dr. Briggs, der dortige Knochenspezialist, ist der Beste seines Fachs. Jedenfalls laut Dr. Del Prado.“ Er lächelte. „Ich habe gerade mit Dr. Briggs gesprochen, und er ist bereit, Ihre Behandlung zu übernehmen. Außerdem habe ich Ihre Mutter angerufen und ihr erzählt, dass Sie am Leben sind und nach Hause kommen. Im Red Rock Hospital gibt es einen ausgezeichneten physikalischen Therapeuten und in Sedona eine Homöopathin namens Rachel Donovan-Cunningham, die Sie ebenfalls betreuen wird. Dr. Briggs hat kein Problem damit, die Schulmedizin mit alternativen Methoden zu verbinden. Sobald wir dort eintreffen, wird er sich die Berichte und Röntgenbilder anschauen.“

Die Augen des jungen Offiziers weiteten sich vor Schreck. Obwohl Morgan den Grund dafür nicht kannte, fuhr er ruhig fort. „Dr. Briggs ist ein Spitzenmann. Ich wollte nicht, dass Sie in irgendein Militärhospital kommen. Sie waren im Auftrag meiner Behörde in Peru, deshalb bestimmen wir, wo Sie behandelt werden. Wir zahlen für alles, falls Sie sich deswegen Sorgen machen. Ich kümmere mich um meine Leute, Captain. Sie bekommen das Beste. Dass Sie zufällig aus Sedona stammen, ist ein glücklicher Zufall.“

Morgan lächelte. „Ihre Mutter freut sich schon darauf, Sie in ihrer Nähe zu haben. Noch kann niemand garantieren, dass Sie das Bein behalten werden. Aber ich weiß, wie wichtig die Familie und Freunde bei einem solchen Kampf sind. Sie sind bald wieder zu Hause.“

Wie vom Blitz getroffen lag Thane da. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Er zerknüllte die Bettdecke zwischen den Fäusten, während der Schmerz mit jedem Herzschlag größer wurde. Zu Hause. Nicht gerade ein Begriff, bei dem er vor Freude jubelte. Und seine Mutter …

„Sir, bei allem Respekt … ich muss nicht nach Hause, um mein Bein zu behalten“, protestierte er heiser.

Morgan legte die Stirn in Falten. Er spürte, dass hier etwas nicht stimmte, und zögerte einen Moment.

„Captain, ich war selbst einmal schwer verwundet. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem ausländischen Krankenhaus und war umgeben von Fremden, deren Sprache ich nicht verstand. Ich hatte niemanden. Keine Familie, keine Freunde. Ich weiß noch, wie einsam ich mich fühlte … wie ich nachts im Dunkeln weinte. Der Schmerz darüber war schlimmer als der von den Wunden. Ich wette, ich wäre schneller wieder gesund geworden, wenn ich von geliebten Menschen umgeben gewesen wäre.“

Thane schluckte schwer. Der Schmerz bohrte sich in sein Herz. Er wehrte sich dagegen. Vergeblich. „Es muss doch noch einen Knochenspezialisten in den USA geben. Oder etwa nicht, Sir?“

Morgan hörte die Verzweiflung in seiner Stimme und sah sie ihm an. „Dr. Briggs ist der Beste, und ich will Sie in seinen Händen wissen.“

Verdammt! „Ich würde lieber im Militärhospital in Camp Reed bleiben, Sir.“

Morgan neigte den Kopf ein wenig und versuchte, die Wahrheit hinter den knappen Worten des jungen Marine zu ergründen. „Wenn Sie ein Zuhause haben? Eine Ranch?“, fragte er ungläubig und sah, wie Hamilton den Zorn zu unterdrücken versuchte, der für eine Sekunde in seinen Augen aufgeblitzt war.

„Sie haben mit meiner Mutter gesprochen, Sir?“ Es klang eisig.

„Ja. Warum?“

„Und sie war bereit, mich mit offenen Armen zu empfangen?“ Das klang sarkastisch.

„Ja“, erwiderte Morgan verunsichert. „Sie war erleichtert, dass Sie am Leben sind. Und als ich ihr von meinem Plan erzählte, hat sie selbst vorgeschlagen, Ihr Zimmer auf der Ranch so einzurichten, dass Sie nach der Entlassung aus der Klinik dort wohnen können.“ Er machte eine Pause. „Sie sind ganz offenbar aufgebracht, Captain. Würden Sie mir erklären, was dort unten los ist?“

Thane entspannte die geballten Fäuste und wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er Trayhern ansah.

„Familiäre Differenzen, Sir.“

„Ihre Mutter hat mir gegenüber keinerlei Probleme angedeutet, Captain. Deshalb ist einer meiner Mitarbeiter bereits dabei, alles entsprechend vorzubereiten und ihr zu helfen.“

„Sir … Ich werde überallhin gehen, nur nicht nach Hause, wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen werde.“ Thane durchbohrte Morgan mit einem zornigen Blick.

Morgan verzog das Gesicht. Großartig. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. „Ich werde sehen, was ich tun kann, Captain, aber ich kann für nichts garantieren. Dr. Del Prado hat darauf bestanden, dass Sie rund um die Uhr betreut werden, wenn Sie nicht mehr im Red Rock sind. Sie werden viel Hilfe brauchen, Captain. Ihre Mutter hat mir erzählt, dass die Frau, die als ihre Teilzeit-Haushälterin arbeitet, in der Klinik angestellt ist.“

„Wer soll das sein?“

„Ich glaube, ihr Name ist Paige“, antwortete Morgan.

„Paige?“ Thane schloss die Augen. Er erinnerte sich an Paige. Sie waren zusammen auf der High School gewesen. Ein wunderschönes Mädchen mit geheimnisvoller Ausstrahlung. Paige Black. Halb Navajo, halb angloamerikanisch. Ein verängstigtes kleines Kaninchen von einem Mädchen mit langem schwarz schimmerndem Haar und einem schlanken, anmutigen Körper. Sie war so unglaublich schüchtern gewesen, dass sie mit gesenktem Kopf umhergelaufen war, um jedem Blickkontakt auszuweichen.

„Paige Black zufällig?“, fragte er.

„Ja … Ich glaube, so heißt sie.“ Morgan räusperte sich. „Paige wäre für Ihre Betreuung zuständig, Captain. Sie ist ausgebildete Krankenschwester und Masseurin. Ihre Mutter hätte keinerlei Mitspracherecht und akzeptiert das auch. Sie ist einverstanden, dass Paige so lange auf der Ranch wohnt.“

Thane öffnete die Augen. „Jeder wäre besser als meine Mutter, Sir.“

„Ich verstehe …“

Nein, das tat er nicht, aber das war Thane egal. Er würde die schmutzige Wäsche seiner Familie nicht vor Morgan Trayhern waschen. Thane wusste, dass er nicht genug Geld hatte, um sich in Sedona eine Wohnung zu nehmen, und war seinem Chef dankbar, dass er ihm den besten Arzt im Land besorgt hatte.

„Ich bin einverstanden, wenn Paige Black sich um mich kümmert“, gab er nach.

Morgan seufzte stumm. „Ich freue mich, das zu hören, Captain.“

„Danke für alles. Ich bin jetzt müde, Sir, und würde gern schlafen.“

„Natürlich. Unser Abflug ist morgen um sechs Uhr. Fünf Stunden später werden wir auf amerikanischem Boden sein.“ Er drückte die Schulter seines Schützlings. „Sie sind in guten Händen, also entspannen Sie sich, Captain.“

Nachdem Trayhern gegangen war, schlug Thane die Augen auf. Er war müde, aber nicht schläfrig. Er starrte aus dem Fenster. Der Himmel war strahlend blau, mit einigen Schäfchenwolken. Es musste etwa Mittag sein.

„Verdammt …“

Am liebsten wäre er einfach aufgestanden und davongelaufen. Er lachte bitter. Er hatte nicht einmal zwei gesunde Beine, auf denen er das hätte tun können! Und jetzt musste er auch noch seine Mutter wieder sehen. Jahrelang hatte er die Ranch gemieden. Obwohl er sich nach einer Art von Zuhause sehnte, war ihm klar, dass er das bei seiner Mutter nicht finden würde. Trotzdem hatte er oft an die Ranch namens Bar H denken müssen. Dort war er groß geworden und manchmal vermisste er das weite Land. Aber dann unterdrückte er dieses Gefühl streng. Das Marine Corps war seine Heimat.

Als er an Paige Black dachte, entkrampfte sein Magen sich wieder. Er schloss die Augen und sah ihr hübsches Gesicht vor sich. Die Haut, deren Farbe ihn an einen Sonnenuntergang erinnerte. Das dichte pechschwarze Haar, das auf die hohen Wangenknochen fiel, wenn sie den Kopf senkte. Seine Panik ging langsam zurück.

Auf der High School war Paige ein Schatten gewesen. Alle hatten sich über sie und ihre beiden älteren Schwestern lustig gemacht, weil sie so scheu waren. Das war nicht richtig gewesen. Aber schon im Kindesalter hatten Weiße viele Vorurteile gegen Navajo-Indianer. Er selbst hatte nicht gewagt, Paige anzusprechen. Aus Angst, sie könnte ihn zurückweisen, weil er Angloamerikaner war. Nicht, dass er sich jemals über sie lustig gemacht hätte. Nein, ihn hatte sie nicht an ein ängstliches Kaninchen erinnert, sondern an ein zwar scheues, aber anmutiges Reh.

Er hatte sich oft gefragt, was aus ihr geworden war. Offenbar war sie aufs Yavapai College gegangen. Vier Jahre lang. Irgendwo unter der zerbrechlichen Fassade musste ein eiserner Wille gesteckt haben, wenn sie jetzt Krankenschwester war. Er lächelte anerkennend.

Die Blacks hatten eine kleine Farm, auf der sie Schafe züchteten. Sie waren eine große Familie und webten Navajo-Teppiche, um ihr kärgliches Einkommen aufzubessern. Die Farm lag außerhalb der Reservation, und die Blacks hatten damals manche Widerstände überwinden müssen. Aber durch harte Arbeit hatten sie sich bald den Respekt ihrer nichtindianischen Nachbarn erworben.

Thane fragte sich, wie Paige wohl jetzt aussah. Nach der Schule hatten sich ihre Wege getrennt. Er war mit achtzehn auf die Militärakademie in Annapolis gegangen, um Berufsoffizier zu werden und in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, der General im Marine Corps gewesen war. Er war erst zwölf gewesen, als seine Mutter sich hatte scheiden lassen. Sie war es leid gewesen, alle zwei Jahre an einen anderen Standort versetzt zu werden, und hatte ihren Sohn in Ruhe auf der Ranch ihrer Familie großziehen wollen.

Gegen Thanes Willen hatte der Richter ihr das Sorgerecht zugesprochen. Sein Vater war sein Vorbild gewesen, aber nach der Scheidung hatte er ihn nur selten gesehen, weil er im Ausland stationiert war. Das hatte ihm sehr wehgetan, und er hatte seine Mutter gehasst, anstatt zu versuchen, ihre Beweggründe zu verstehen.

Nun ja, was das Verständnis für Frauen anging, war er ein ziemlicher Versager. Zu viele von ihnen erinnerten ihn auf die eine oder andere Weise an seine Mutter und rissen dadurch alte, nur oberflächlich verheilte Wunden auf.

Nach Hause … Ich kehre nach Hause zurück, dachte er. Was sollte er bloß tun? Seine Mutter war jetzt achtundfünfzig, und er hatte sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Vor zwei Jahren war sein Vater völlig unerwartet einem Herzinfarkt erlegen. Thane hatte sie bei der Beerdigung in Washington, D.C. gesehen. Sie hatte ihn angefleht, zur Familie zurückzukehren, aber er hatte sich standhaft geweigert.

„Verdammt …“, entfuhr es ihm.

2. KAPITEL

Thane verbrachte den Rückflug in die USA damit, den Familien seiner gefallenen Kameraden zu schreiben. Das war seine Aufgabe, denn er war der kommandierende Offizier des Teams gewesen. Aber auch so hätte er es getan. Die Männer waren seine Freunde gewesen, wie jüngere Brüder. Seine Hand zitterte beim Schreiben, und immer wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. Nach dem letzten Brief schlief er erschöpft ein.

Irgendwann zog jemand ihm die Briefe unter seinen gefalteten Händen hervor. Vielleicht war es Jenny, die Unfallärztin, die ihn auf dem Flug betreute, oder Morgan. Thane wusste es nicht, aber es war egal. Beide waren wie er Soldaten und verstanden ihn.

Als er erwachte, waren sie nur noch eine Stunde von ihrem Ziel entfernt. Morgan war vorn und telefonierte. Thane lag hinten. Der Schmerz hatte ihn geweckt. Jenny, Mitte dreißig, mit rotem Haar und blitzenden grünen Augen, saß neben der Trage und gab ein Schmerzmittel in die Infusionslösung.

Als es zu wirken begann, fiel Thane in einen tiefen, nahezu komaartigen Schlaf. Er war sicher, dass er das nicht nur tat, um das Erlebte eine Weile zu vergessen, sondern auch, um nicht an das denken zu müssen, was ihm bevorstand. Das Wiedersehen mit einer Mutter, die ihm wie eine Fremde erschien, und mit einem Haus, in dem er sich wie in einem Gefängnis gefühlt hatte.

Als erneut aufwachte, befand er sich in einem pinkfarbenen Zimmer. Es dauerte einige Minuten, bis er begriff, dass er im Krankenhaus lag. Im Red Rock Hospital in Sedona, Arizona. Der Raum sah nicht aus wie ein Krankenzimmer. Es gab eine fuchsienrote Jalousie, Grünpflanzen und Bilder mit Blumen und Landschaften. Sein Bein hing wie in Cusco in einer Schlaufe, aber hier trug er einen hellblauen Schlafanzug. Der Bettbezug war so rot wie die Jalousie. Vor den beiden großen Fenstern links vom Bett wuchsen Feuerdorn-Büsche mit glänzenden Blättern, und in der Ferne war die Silhouette von Sedona zu erkennen.

Neue Gefühle stiegen ihm auf, während er auf die roten Felsformationen starrte, zwischen denen die Stadt lag. Es war früher Abend, und die untergehende Sonne tauchte die ganze Szenerie in ein romantisches Licht, in dem der Sandstein zu glühen schien. Als er sich von den Fenstern abwandte, bemerkte er die Blumensträuße. Rote, rostfarbene, gelbe und hellblaue Wildblumen, die in der Umgebung wuchsen. Ihr Duft war ihm wesentlich lieber als der antiseptische Geruch in der peruanischen Klinik. Keine Frage, es war Juni, und mit den prächtigen Farben des Sommers waren auch die Touristen nach Sedona gekommen.

Als die Tür sich langsam öffnete, drehte Thane sich mit klopfendem Herzen danach um. Eine junge Frau in hellblauer Bluse und dunkelblauer Hose, Stethoskop um den Hals und Krankenblatt in der Hand, kam leise herein und lächelte ihm zaghaft zu.

Thane erkannte sie sofort. Es war Paige Black. Er hatte befürchtet, es wäre seine Mutter, und die Angst vor dieser Begegnung schmolz in der Wärme dahin, die Paiges Black in ihm auslöste. Aus ihr war eine wunderschöne Frau geworden. Ihre Augen waren groß und schimmerten, als hätte sie geweint. Doch der Blick war herzlich.

„Hi, ich bin Paige Black, Captain Hamilton“, sagte sie ein wenig nervös. „Ich wollte nur kurz nach Ihnen sehen. Ihr Mutter möchte wissen, ob Sie wach sind. Sie will Sie besuchen und willkommen heißen.“

Thanes Blick wanderte an ihr hinab, bis zu den Füßen und dann wieder hinauf zum Gesicht. Paige schluckte. Sie spürte den Blick wie eine Berührung, die sie erregte und nervös machte.

Auch Thane musste schlucken. Paige war schöner denn je. Vielleicht war es die Größe, die ihr eine so magnetische Ausstrahlung verlieh. Das schwarze Haar war nach hinten gekämmt, gehalten von einem silbernen Kamm, in dem kleine Türkise funkelten. Die dichten, sanft geschwungenen Brauen betonten große zimtfarbene Augen. Erst als sie den Kopf senkte, fiel ihm wieder ein, dass ein Navajo den Blickkontakt mit Fremden vermied. Er galt als aufdringlich und respektlos. Und er hatte sie angestarrt wie ein hungriger Wolf. Dennoch blieb sie stehen, die Hände auf dem Bauch verschränkt, und ertrug geduldig, wie er sie musterte.

Verlegen räusperte er sich. „Nennen Sie mich Thane, Paige. Es ist schön, Sie wieder zu sehen.“ Das war es wirklich. Ihre Haut war goldbraun, die Wangenknochen hoch und die Augen leicht zur Seite geneigt, was ihr etwas Rätselhaftes, Exotisches gab. Vor allem ihr Mund faszinierte ihn. Ihre Lippen öffneten sich vor Erstaunen darüber, dass er so freundlich war. Sie hob den Kopf wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos. Warum?

„Sie … erinnern sich an mich?“

Allein ihre sanfte, ein wenig heisere Stimme war beruhigend.

Er lachte. „Mich an Sie erinnern? Aber natürlich, warum denn nicht?“ Thane fühlte, wie sein Herz immer schneller schlug. Er sog ihre natürliche Anmut in sich auf wie einen heilenden Balsam.

Paige lächelte mild und tastete nach ihrer glühenden Wange. „Sie haben ein wunderbares Gedächtnis, Captain. Ich meine … Thane …“ Verunsichert legte sie die Hände wieder zusammen. Wie attraktiv er war! Hastig wehrte sie sich gegen den alten, längst vergessen geglaubten Schmerz. Nie hätte sie erwartet, Thane Hamilton wieder zu sehen, nachdem er nach Annapolis gegangen war. Gut, dass er nicht wusste, wie oft sie ihm auf der High School verstohlen nachgeschaut hatte. Jetzt war er wieder hier, wenn auch unfreiwillig.

Thane legte sich zurück und verstand gar nicht, warum er sich plötzlich so glücklich fühlte. Selbst die Angst vor der Begegnung mit seiner Mutter schmolz unter Paiges warmem Blick dahin. „Ich habe … Sie nie vergessen“, gestand er, und das stimmte. Sie war für ihn immer eine fast unwirkliche Erscheinung gewesen. Zu schön, um wahr zu sein.

Seine Worte gingen ihr ans Herz. Streng sagte sie sich, dass Thane nur ihr Patient war, dass er wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, sobald er gesund war. Trotzdem wurde ihr heiß. Rasch presste sie die Hände an die Wangen und schaute zur Seite.

„Ich erröte wie ein Teenager“, sagte sie mit einem atemlosen Lachen. „Ich schätze, unsere Schulzeit verfolgt uns doch.“

Thane kniff die Augen zusammen. Trotz ihrer atemberaubenden Schönheit war in ihr noch ein Hauch von Kindlichkeit. „Wir haben viel gemeinsam“, erwiderte er. „Wir sind vier Jahre auf dieselbe High School gegangen. Ich bin froh, dass mich jemand betreut, den ich kenne.“

Paige rang um Fassung. Sie hatte nicht erwartet, dass er sich an sie erinnern würde. Hastig trat sie ans Bett.

„Das stimmt. Aber Sie waren der Superstar der Red Rock High School. Ich war ein Niemand.“ Das bin ich noch immer, dachte sie, während sie die Infusion kontrollierte, die ihn mit einem Schmerzmittel und Nährstoffen versorgte. „Ich arbeitete hier als Krankenschwester. Außerdem bin ich ausgebildete Masseurin.“ Sie konzentrierte sich auf die Beutel mit der Infusionslösung, um Thanes kraftvoller Ausstrahlung etwas entgegenzusetzen. Die hatte er immer besessen, aber jetzt war sie noch männlicher, noch wirksamer.

Panik stieg in ihr auf. War sie so unattraktiv, dass er sie immerzu anstarren musste? Johnny hatte sie nur beschimpft. Sie sei hässlich, ihr Gesicht deformiert. Einmal hatte er gesagt, dass ein Mundwinkel höher lag als der andere und dass das linke Auge ein wenig größer als das rechte war. Alles an ihr sei … aus dem Gleichgewicht, und dabei war für einen Navajo Harmonie in jeder Hinsicht, innere und äußere Balance, das Ziel des Lebens. Vielleicht sah Thane sie deshalb so an. Vielleicht war auch ihm aufgefallen, wie unharmonisch ihr Gesicht war.

„Ich bin beeindruckt“, murmelte er. Paige war so nah, so herrlich nah. Ihr Duft war frisch, voller Natur. Ihre Haut war makellos, ein stolzer Beweis ihrer Herkunft. Ihre schwarzen Wimpern waren dicht und umrahmten Augen, in deren Tiefen goldene Punkte glänzten.

„Liegen Sie bequem?“, fragte sie und trat einen Schritt zurück.

Thane nickte. „Ich versuche es. Seit wann bin ich hier? Ich weiß nur noch, dass ich etwa eine Stunde vor der Landung eingeschlafen bin.“

„Sie sind vor einer Stunde hier angekommen.“ Paige sah auf ihre Armbanduhr. „Es ist sechzehn Uhr.“

„Und Morgan Trayhern? Ist er noch hier?“

Sie schüttelte den Kopf. Er war ein großer, athletisch gebauter und äußerst attraktiver Mann, und allein seine Gegenwart machte sie nervös. Aber was sie damals, vor so vielen Jahren, angezogen hatte, war seine Einfühlsamkeit, seine Rücksichtnahme auf andere. Obwohl er der Star des Footballteams gewesen war und es zu zwei Staatsmeisterschaften geführt hatte, war er nie arrogant und selbstsüchtig gewesen. Im Gegenteil, stets hatte er seine Kameraden gelobt und betont, dass sie nur als Mannschaft erfolgreich waren.

Nein, Thane hatte alle gleich behandelt. Nie hatte er zu einer Clique gehört. Und er hatte sich in verschiedenen Schulclubs für arme und alte Mitbürger engagiert. Paige hatte ihn geliebt. Wegen seiner Menschlichkeit und seiner Freundlichkeit zu denen, die weniger hatten als er.

Plötzlich ging ihr auf, dass sie seine Frage noch nicht beantwortet hatte. „Oh … nein“, stammelte sie. „Mr. Trayhern ist fort, aber …“ Sie nahm einen dicken Umschlag von der Kommode. „Er hat das für Sie hier gelassen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass die Briefe, die Sie geschrieben haben, heute Abend an die Familien geschickt werden. Er wird sich um alles kümmern.“

Mit gerunzelter Stirn nahm Thane den Umschlag entgegen. „Danke …“

Paige sah den Schmerz und die Trauer in seinen Augen. Sein Mund wurde zu einem Strich. Sie widerstand dem Bedürfnis, ihn zu trösten. „Ich … ich habe gehört, was passiert ist. Mr. Trayhern hat erzählt, dass Sie ein Held sind. Es tut mir so leid, dass Sie Ihr Team verloren haben, Thane.“ Und dann konnte sie nicht anders und legte ihm eine Hand auf den Arm.

Er wusste, dass es bei den Navajo üblich war, nie über Verstorbene zu sprechen. Dass Paige es dennoch tat, für ihn, rührte ihn zutiefst. „Danke“, sagte er und musste schlucken, als er den gewaltigen Kloß im Hals spürte.

„Kann ich etwas für Sie tun?“

Thane schloss die Augen. Ihre sanfte Stimme drang durch die Wand aus Schmerz. Der leichte Druck ihrer kühlen Finger hatte etwas ungemein Beruhigendes. Zittrig holte er Luft und starrte vor sich hin.

„Nein.“

Das einzelne Wort klang beherrscht und ausdruckslos. Paiges Hand verließ seinen Arm, und er vermisste die Berührung. Idiotisch. Am liebsten hätte er geweint, die Arme um Paige gelegt, sich an sie geschmiegt und schluchzend seinen ganzen Schmerz herausgelassen.

Entsetzt über seine Reaktion zog er sich in sich selbst zurück und sah, wie sie zurückwich. Ihre Miene zeigte ihm, wie sehr er sie verletzt hatte, als er ihre Hilfe so schroff zurückwies. Verdammt. Sie war nun wirklich der letzte Mensch, dem er wehtun wollte. Er wollte sich entschuldigen, brachte aber nichts heraus. Alles, was er fühlte, war eine unendliche Trauer, die ihn wie eine Lawine unter sich zu begraben drohte.

„Ich werde Dr. Briggs rufen.“

„Warten Sie!“

Paige blieb stehen und drehte sich um. Thanes Augen waren dunkel, und in ihnen glitzerten Tränen. Er senkte den Blick, als würde er sich seiner Gefühle schämen.

„Ja?“

„Paige … Ich … Verdammt, ich bin ziemlich durcheinander. Es tut mir leid. Ich wollte es nicht an Ihnen auslassen.“

Das verzeihende Lächeln, das ihre vollen Lippen umspielte, war mehr, als er verdiente. Paige war der einzige Mensch, den er hier kannte. Den er hier kennen wollte. Sie war ein sicherer Hafen für seine Emotionen. Der einzig sichere.

„Ich bin es gewöhnt, dass Menschen, die Schmerzen haben, mich anschnauzen. Also keine Sorge, okay?“

Thane musterte sie. War das ihr Ernst? Oder nur leere Worte, um ihn zu beruhigen? Nein, Paige sagte die Wahrheit. Er sah es ihr an. Trotz ihrer geheimnisvollen Ausstrahlung hatte er in ihrem Gesicht stets wie in einem offenen Buch lesen können. Und selbst jetzt versuchte sie gar nicht erst, ihre Gefühle zu verbergen. Thane staunte darüber. Das Leben hatte ihn gelehrt, sich meistens hinter einer Maske zu verbergen.

„Okay“, sagte er. „Sie sind der einzige Freund, den ich hier habe. Ich will Sie nicht mit meiner mürrischen Art verjagen.“

Paiges Lächeln wurde breiter. „Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich als Freund ansehen.“ Und sie meinte es auch. Johnny hatte gesagt, dass niemand sie jemals wollen würde. Nicht einmal als Freundin. Vielleicht täuschte er sich ja. Hoffnung keimte in ihr auf.

Thane wusste, dass den Navajo Freundschaft mehr bedeutete als den meisten anderen Menschen. Als Freund wurde man gewissermaßen in die Familie aufgenommen. Er brachte ein verlegenes Lächeln zu Stande. „Sie werden mich sogar noch ertragen müssen, wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen bin … bis ich wieder auf beiden Beinen stehe.“

Sie legte die Hand auf den Türknauf.

„Ja, das stimmt. So schnell werden Sie mich nicht los. Judy hat das Gästezimmer für mich vorbereitet. Ich arbeite ja ohnehin schon stundenweise dort. Sie hat so viel mit der Ranch zu tun, dass ich ihr am Wochenende die Hausarbeit abnehme.“ Dass Judy dringend Hilfe brauchte und sich keinen Cowboy leisten konnte, sagte sie nicht. Und auch nicht, dass Thanes Mutter sich unermüdlich für arme Navajo eingesetzt hatte.

Paige wäre gern bei Thane geblieben, um zu erfahren, was er seit seinem Weggang aus Sedona erlebt hatte. Sie war sicher, dass es für ihn eine Frau gab. Er trug keinen Ehering, und Judy hatte nichts von einer Heirat erzählt, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er allein war und nicht geliebt wurde.

Thane runzelte die Stirn. „Sicher ist sie froh, Sie zu haben“, murmelte er finster.

Paige legte den Kopf schräg. Seine Miene war plötzlich verschlossen. Warum? „Ich werde Ihre Mom anrufen und Dr. Briggs sagen, dass Sie wach sind. Er und Mr. Trayhern haben lange über Sie gesprochen. Ruhen Sie sich ein wenig aus“, fügte sie mit einem aufmunternden Lächeln hinzu.

„Warten Sie …“

Paige zögerte in der halb geöffneten Tür. Sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme.

„Sie kommen doch wieder?“, fragte er.

„Natürlich. Sie sind mir gewissermaßen doppelt ausgeliefert“, scherzte sie. „Ich bin nicht nur Ihre Krankenschwester, sondern auch Ihre Masseurin. Mr. Trayhern hat Dr. Briggs ausdrücklich darum gebeten.“ Und natürlich hatte sie sich riesig darüber gefreut, doch das würde sie Thane nie gestehen. Er hatte keine Ahnung, was sie für ihn empfand.

Erleichtert ließ er sich zurücksinken. „Gut …“

„Bis bald“, versprach sie.

Die Tür schloss sich hinter ihr. Thane seufzte. Er starrte auf sein Bein, das auch jetzt noch hoch gelagert war, um eine tödliche Thrombose zu verhindern. Er hätte es sich gern genauer angesehen, aber das ließ der dicke Verband nicht zu.

„Thane?“

Ruckartig hob Thane den Kopf, als er die feste, klare Stimme seiner Mutter hörte. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Zur Tür herein kam eine hoch gewachsene Frau in weißer Bluse, Jeans und Stiefeln. Ihr dunkelbraunes Haar war an den Schläfen schon silbrig.

„Herein“, knurrte er und bemühte sich vergebens, die Abneigung in seiner Stimme zu unterdrücken. Sie stammte aus seiner Jugend, und er hatte gehofft, sie inzwischen überwunden zu haben. Aber das hatte er nicht. Sie war noch da, deutlich spürbar, und wollte sich Luft machen. Mit zusammengekniffenen Lippen sah Thane seiner Mutter entgegen.

Schockiert stellte er fest, wie sehr sie in den zwei Jahren seit der Beerdigung seines Vaters gealtert war. Judy Hamiltons Schönheit war verblasst, aber noch zu erkennen. In der einen Hand hielt sie einen Strauß gelber Rosen, in der anderen einen alten, staubigen Stetson-Hut, der sie, zusammen mit der großen silbernen Schnalle am schwarzen Ledergürtel, wie ein Cowboy aussehen ließ.

Thane registrierte die Wärme in ihren Augen, als sie ihm einen kurzen Blick zuwarf, doch dann zögerte sie, und ihre langen abgearbeiteten Finger zitterten sichtlich. Sie war nervös.

Nun ja, warum auch nicht? dachte er. Automatisch ballte er die Hände zu Fäusten, als sie näher kam. Seine Mutter war immer schlank und drahtig gewesen, ohne ein überflüssiges Gramm Fett. Ihr Gang war forsch, ihre Haltung gerade. Die Haut war von den Jahren harter Arbeit unter freiem Himmel tief gebräunt.

Ihr Lächeln war herzlich und wirkte echt. Das verunsicherte ihn. Er wollte sie nicht verletzen, er wollte sie nur nicht in seinem Leben haben, das war alles.

„Hi, Fremder“, sagte sie freundlich und trat an sein Bett. „Es ist gut, dich zu sehen, Thane.“

Er hoffte inständig, dass sie ihn nicht küssen würde. „Wie geht es dir, Judy?“

Seine Kälte ließ sie zusammenzucken. Nervös wedelte sie mit der Hand. „Oh, viel beschäftigt wie immer, mein Sohn. Glaub mir. Sieh mal, ich habe dir ein paar Rosen aus meinem Garten mitgebracht.“ Sie sah sich um. „Ich hasse Krankenhäuser“, murmelte sie und nahm eine leere Vase aus einem Regal. Sie stellte sie auf den Nachttisch und füllte den Krug mit Leitungswasser. Offenbar war sie froh, etwas zu tun zu haben.

Thane starrte auf die Rosen. „Ich wusste gar nicht, dass du Blumen magst.“

Sie ignorierte seinen Sarkasmus und arrangierte den Strauß. „Ich liebe alles, was wächst“, sagte sie. „Außerdem verdrängen sie den klinischen Geruch, der hier herrscht.“

Thane nickte nur. Er hasste sich dafür, dass er so unfreundlich zu ihr war, und sehnte sich nach Paige. Ihre Nähe beruhigte ihn, besänftigte das fauchende verbitterte Raubtier in ihm. Judy dagegen provozierte es.

Judy wandte sich wieder zum Bett. Sie sah Thane an, dass er nicht von ihr berührt werden wollte. Das tat weh. Sehr sogar. Sie versuchte, zu verstehen, warum er so zornig war. Er hatte seinen Vater vergöttert und ihr nie verziehen, dass sie Colin verlassen hatte. Aber er hatte sie auch nie nach dem Grund für die Scheidung gefragt. Sie hatte gehofft, dass sie irgendwann darüber würden reden können. Aber Thane war hart geblieben. Und sie der Feind. Das stimmte sie so traurig, dass sie am liebsten geweint hätte. Aber Tränen würden Thanes Abneigung nur noch verfestigen, das wusste sie.

Sie legte die Hände auf das niedrige Geländer am Bett. „Paige und ich waren begeistert, als wir hörten, dass du herkommst. Mr. Trayhern hat mich angerufen und mir erzählt …“ Sie senkte die Stimme. „Was passiert ist.“ Sie widerstand der Versuchung, ihm über die Schulter zu streichen. „Es tut mir ja so leid um deine Männer, Thane. Natürlich kann ich nicht annähernd nachempfinden, wie du dich fühlst.“

„Nein, das kannst du nicht.“

Judy presste die Lippen aufeinander. Diese eisige Härte, diese Unnachgiebigkeit hatte er von seinem Vater, nicht von ihr, Judy war stolz auf ihre Anpassungsfähigkeit. Als Besitzerin einer kleinen Ranch konnte sie es sich nicht leisten, starrsinnig zu sein. Sie strich mit den Fingern über das Metallrohr. „Kann ich etwas für dich tun?“, fragte sie leise. „Oder für die Familien deiner toten Kameraden?“

Thanes Atem ging immer heftiger. Er ertrug es nicht, ihr so nah zu sein. „Nein, nichts“, erwiderte er scharf.

Judy versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Freust du dich, dass Paige dich betreuen wird, wenn du erst hier heraus bist?“

Er nickte. „Es ist okay.“

Tränen brannten in ihren Augen. Judy wandte sich kurz ab, dann zwang sie sich, ihren Sohn zu betrachten. Wie ähnlich er doch Colin sah. Nicht nur äußerlich, auch in den einsilbigen Antworten, in der schroffen, abweisenden Art. Sie holte tief Luft.

„Wenn du möchtest, dass ich dich besuche, ruf mich an. Ich werde mich dir nicht aufdrängen, Thane. Ich weiß, was du für mich empfindest, aber ich möchte dir gern helfen, wieder gesund zu werden. Du bist auf der Ranch willkommen. Paige wird dich betreuen, nicht ich. Vielleicht wird dir das den Aufenthalt erträglicher machen. Ich weiß, wie viel dir das Marine Corps bedeutet, wie sehr du es liebst. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen.“

Thane spürte, wie die Trauer ihm das Herz brach. Er brachte es nicht fertig, seine Mutter anzusehen. Das Zittern in ihrer Stimme sagte mehr als alle Worte.

„Das Haus sieht anders aus, als du es in Erinnerung hast“, fuhr sie fort. „Dein Zimmer liegt an einem Ende, meins am anderen. Die Küche ist in der Mitte, das Wohnzimmer auf deiner Seite. Paiges Zimmer befindet sich direkt neben deinem. Mr. Trayhern lässt eine Sprechanlage einbauen, damit du sie rufen kannst, falls du nachts etwas brauchst. Aus dem alten Arbeitszimmer wird ein Übungsraum, in dem du trainieren kannst, wenn du so weit bist. Ich hoffe, du hast dich bei ihm bedankt. Er ist wirklich ein großartiger Mann.“

„Ich habe mich bedankt“, antwortete Thane. „Und ich danke dir, dass du mich aufnimmst“, fügte er ein wenig heiserer hinzu.

Judy nahm die Hand vom Geländer. „So, dann gehe ich mal wieder.“ Sie setzte den schwarzen Cowboy-Hut auf ihr kurzes welliges Haar. „Ich muss das Vieh füttern. Wir sehen uns, mein Sohn. Ich liebe dich …“

Thane schluckte schwer und sah ihr nach, als sie zur Tür ging und sie öffnete. Er wollte etwas sagen, sich entschuldigen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie hinaus.

„Du Bastard“, murmelte er. „So hättest du sie nicht behandeln dürfen.“

Was zum Teufel war los mit ihm? Thane versuchte gar nicht erst, sein Verhalten mit der Verwundung zu rechtfertigen. Oder damit, dass er vier seiner besten Freunde verloren hatte. Nein, das hier war etwas Altes. Etwas, das ihn seit seiner Jugend quälte.

Seine Mutter hatte sich benommen, als wäre alles in Ordnung. Das hatte sie immer getan. Sie hatte ihm nie zurückgezahlt, was er ihr angetan hatte. Sie war großmütig und nicht nachtragend. Trotzdem war er froh, dass nicht sie, sondern Paige sich auf der Ranch um ihn kümmern würde. Seine Mutter würde ihm aus dem Weg gehen. Genau so wollte er es.

Woher um alles in der Welt kamen dann diese Schuldgefühle? Thane rieb sich die Brust und starrte auf die Tür. Wie von selbst fiel sein Blick auf das verletzte Bein. Er durfte es nicht verlieren. Er durfte es einfach nicht! Vielleicht würde Dr. Briggs ihm ja etwas Mut machen …

3. KAPITEL

„Um Himmels willen“, flüsterte Schwester Jodie Smith aufgeregt. „Geh da bloß nicht hinein! Dieser Offizier von den Marines ist ein richtiger Bär. Der reißt jedem den Kopf ab!“

Paige blieb vor Thanes Zimmer stehen. Jodie, eine kleine rundliche Frau, wirkte verängstigt und fuhr sich nervös durch das kurze blonde Haar.

„Was ist denn passiert?“

Jodie verdrehte die Augen. „Dr. Briggs hat ihm gesagt, dass er wahrscheinlich sein Bein verlieren wird … irgendwann. Captain Hamilton war natürlich nicht gerade … erfreut über diese Prognose. Ich meine, wer wäre das schon? Aber jetzt knurrt er jeden an, der zu ihm geht und etwas für ihn tun will. Martha, die Diätassistentin, ist gerade in Tränen aufgelöst herausgekommen. Mich hat er auch angeblafft, aber ich lass mir nichts bieten. Für wen hält der sich?“ Sie pustete sich eine Strähne aus den Augen. „Und du bist seine Privatschwester, du Ärmste.“

Paige lächelte. „Danke für die Warnung. Ich werde meine Rüstung anlegen, bevor ich zu ihm gehe.“

Ihre Kollegin rümpfte die Nase. „Du tust mir wirklich leid! Ich habe gehört, dass du ihn rund um die Uhr betreuen sollst, wenn er entlassen ist und zu seiner Mutter zieht. Stimmt das?“

Paige nickte.

Jodie stieß einen leisen Pfiff aus. „Ich drücke dir jedenfalls die Daumen … Ich muss los! In der Unfallstation warten sie auf mich. Bis dann!“

Paige winkte ihr nach und spürte, wie ihr Lächeln verblasste. Sie fühlte mit Thane mit und verstand seine Wut. Für einen Mann wie ihn, einen kampferprobten Marine und ehemaligen Footballstar, musste die Aussicht, ein Bein zu verlieren, noch grauenhafter sein als für andere.

Er sah niedergeschlagen aus, als sie leise eintrat. Hastig setzte er eine undurchdringliche Miene auf, während sie die Tür hinter sich schloss.

„Ich bin hier, um Ihren Puls und Blutdruck zu notieren“, sagte sie sanft und trat ans Bett. Dabei entging ihr nicht, wie seine Hände rastlos mit der Decke spielten. Seine Augen waren schmal und finster. Sie legte das Patientenblatt in seinen Schoß. „Halten Sie das einen Moment“, bat sie und blickte auf den Monitor, der seine Werte anzeigte.

„Junge, Junge!“, scherzte sie. „Ihr Blutdruck bricht alle Rekorde. Zweihundert zu hundert.“ Sie merkte, wie er verkrampfte, als sie ihm das Klemmbrett aus der Hand nahm.

„Das würde Ihrer auch tun, wenn Sie gerade erfahren haben, dass Sie ein Bein verlieren werden“, murmelte er. Trotz der Bitterkeit in seiner Stimme spürte er, wie gut Paiges Nähe ihm tat. Ihr mildes Lächeln war wie das eines Engels, und jede ihrer Bewegungen war voller Anmut. Er sog ihren Anblick in sich auf.

„Ja, das habe ich gehört“, erwiderte sie leise, bevor sie das Klemmbrett zurücklegte und sein rechtes Handgelenk zwischen zwei Finger nahm, um den Puls zu fühlen. Sie sah auf die Uhr und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Wie oft hatte sie als Teenager davon geträumt, Thane zu berühren! Nachts im Bett hatte sie es sich ausgemalt, manchmal sogar, wie er sie küsste. Als sie jetzt fühlte, wie die Röte sich vom Nacken her in ihr Gesicht stahl, presste sie die Lippen zusammen.

Paiges Fingerspitzen fühlten sich kühl an, beruhigend, tröstend. Allein ihre Gegenwart half ihm, die außer Kontrolle geratenen Emotionen zu bändigen. Trotzdem hätte er am liebsten geweint. Aber ein Marine weinte nicht. Die Angst davor, ein Bein zu verlieren, war schwer zu verdrängen.

„Sie haben alles gehört?“, fragte er.

Paige ließ sein kräftiges Handgelenk los. Es fiel ihr schwer. „Ich habe gehört, dass meine Kolleginnen sich kaum noch in Ihr Zimmer wagen.“ Sie sah ihn an und zog einen Mundwinkel hoch.

Sie hatte es so gesagt, als wollte sie ihn nicht tadeln, sondern ihn nur wissen lassen, dass er die Gefühle ihrer Kolleginnen verletzte. Die alte Paige hätte das nie gewagt. Was hatte er erwartet? Sie war erwachsen geworden. Sie war kein scheues Reh mehr, sie war eine reife junge Frau. Selbst unter dem weiten Kittel, den sie trug, war das nicht zu übersehen.

„Dann sollte ich mich wohl bei ihnen entschuldigen“, murmelte er. „Könnten Sie …?“

„Gern“, erwiderte sie fröhlich. „Sie sind da, um Ihnen zu helfen, und wollen Ihnen nichts Böses. Und auch wenn Sie es nicht glauben, sie sind genauso betrübt wie Sie über das, was Dr. Briggs Ihnen mitgeteilt hat. Ich übrigens auch.“ Sie nahm das Stethoskop vom Hals und schob es in die Tasche.

Thane betrachtete sie, als sie den frischen Verband abwickelte und sich sein Bein anschaute.

„Und? Meinen Sie, Briggs wird es mir abhacken?“

Paige versuchte, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Das Bein sah schlimmer aus, als sie geahnt hatte. Behutsam verband sie es wieder.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Dr. Briggs auf seinem Gebiet der Beste ist. Und ich weiß auch, wie wichtig es Ihnen ist, das Bein zu behalten.“

„Hm. Für mich sieht er aus wie jeder andere Arzt. Er verdient sein Geld damit, Leuten etwas abzuhacken, oder nicht?“

Lächelnd überprüfte sie den Sitz der Gurte, die sein Bein hielten. „Das ist wahr, aber Dr. Briggs’ Einkommen hängt nicht davon ab, ob Sie das Bein behalten oder nicht. Er ist ein international gefragter Spezialist.“

Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich. „Ihr Humor gefällt mir.“

„Und mir Ihrer. Er ist wenig … schneidend, aber wir werden ihn überleben.“ Paige gestattete sich, ihn anzusehen. Er war wirklich ungemein attraktiv, mit einem kantigen Gesicht, kurzem schwarzen Haar und großen grünen Augen. Seine markante Nase hatte einen winzigen Höcker, und sie erinnerte sich daran, dass er sie sich in den Entscheidungsspielen zur Football-Meisterschaft mindestens zweimal gebrochen hatte. Neu war die etwa fünf Zentimeter lange Narbe neben dem rechten Auge.

„Woher haben Sie die Narbe?“, fragte sie und zeigte darauf.

Thane tastete danach. „Die …“ Er zuckte mit den Schultern. „Von einem Einsatz.“

„Oh?“ Paige trat an seine Seite. Sie sollte seine Nähe nicht so sehr genießen, doch sie tat es. All die Träume, die ihr jahrelang die Nachtruhe geraubt hatten, waren plötzlich wahr geworden. Natürlich durfte Thane das nicht wissen. Vermutlich würde er sie hinauswerfen, wenn er es erfuhr. Er stand davor, sein Bein und damit den Beruf zu verlieren, und sie kostete jede Sekunde mit ihm aus.

„Ja“, fuhr er leise fort. „Die habe ich vor etwa einem Jahr bekommen. Wir, mein Team und ich, waren in Bosnien, um eine Frau zu befreien, die von den Serben entführt worden war. Sie war die Frau eines amerikanischen Milliardärs und betreute bosnische Flüchtlinge. Das gefiel den Serben nicht. Sie wollten Lösegeld für sie.“

„Und haben Sie sie befreit?“

Er nickte. „Ja. Wir sind alle lebend herausgekommen.“

„Aber nicht unverletzt?“

„Ein wütender Serbe hat mir seinen Gewehrkolben ins Gesicht gerammt. Ich habe mich geweigert, seine Fragen zu beantworten. Meine Kameraden griffen ein, holten die Frau und mich heraus. Ich kam erst im Hubschrauber wieder zu mir.“ Verlegen rieb er über die Narbe. „Ich bin mit einem gebrochenen Wangenknochen d...

Autor

Lindsay Mc Kenna
Lindsay McKenna führt ein unglaublich buntes, interessantes Leben und hat so viele Dinge gemacht und gesehen, dass es kein Wunder ist, dass ihre Romances zu den beliebtesten, meist gelesenen überhaupt gehören! Sie ist von indianischer Herkunft und glaubt fest daran, dass man sein eigenes Schicksal in die Hände nehmen muss,...
Mehr erfahren
Nancy Robards Thompson
<p>Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
Mehr erfahren
Kaitlyn Rice
Kaitlyn Rice liebte schon als Kind das Lesen. Sie wuchs allerding in einer Familie von Nicht – Lesern auf und verschlang deswegen noch viel mehr jedes Buch oder Magazin, das sie kriegen konnte. Ihr erster richtiger Job war in einer Buchhandlung. Zu dieser Zeit waren ihre Bücherregale zu Hause übervoll...
Mehr erfahren