Bianca Exklusiv Band 366

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UND PLÖTZLICH LACHT DIE LIEBE von AMY WOODS
Paige hat keine Zeit für einen Mann – das muss Liam verstehen. Zwar zieht der Lehrer sie geradezu magisch an, aber ihr kleiner Sohn braucht sie! Erst als es zu spät scheint, wird Paige klar, dass sie und ihr Junge nur mit Liam glücklich werden können …

IM SANFTEN SCHEIN DES MONDES von GINA WILKINS
„Ich glaube nicht an Romantik“, flüstert Kinley – da spürt sie schon Dans Lippen auf ihrem Mund! Der sanfte Mondschein muss schuld daran sein, dass sie – sonst immer vernünftig – den süßen Kuss dieses charmanten Abenteurers erwidert …

EIN BABY VON MR NAVY von RACHEL LEE
Eigentlich ist es nur ein Pflichtbesuch, denkt Hubschrauberpilotin Edie, als sie Seth mitteilt, dass er Vater wird. Was sollte sie von einem One-Night-Stand auch schon erwarten? Doch das sieht Seth anders und lockt Edie mit seinem Charme in das größte Abenteuer ihres Lebens!


  • Erscheinungstag 16.09.2023
  • Bandnummer 366
  • ISBN / Artikelnummer 0852230366
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Amy Woods, Gina Wilkins, Rachel Lee

BIANCA EXKLUSIV BAND 366

1. KAPITEL

„Stellvertretende Schulleiterin Graham«, knackte und rauschte die Fernsprechanlage. „Bitte zum Kunstraum. Ihre Hilfe wird dringend benötigt.«

Paige Graham blickte von den beiden zehnjährigen Kampfhähnen auf, die sie während des zweiten Aufrufs über die Außen-Fernsprechanlage ihrer Schule voneinander getrennt hatte.

Na toll! Und was jetzt?

„Diesmal bleibt es bei einer Verwarnung, aber wenn ihr so weitermacht, werden wir mit euren Eltern reden müssen«, sagte sie streng zu den Jungs.

„Ja, Miss Graham«, antworteten die beiden unisono, funkelten einander jedoch immer noch wütend an.

Paige fuhr sich erschöpft durch das windzerzauste Haar und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Erst neun. Das konnte ja heiter werden! Der erste Schultag nach den großen Ferien war zwar ohnehin schon immer die Hölle – kein Wunder bei einem Haufen ausgeruhter und energiegeladener Kinder, die es kaum erwarten konnten, ihre Freunde wiederzusehen –, aber dieser Tag versprach besonders stressig zu werden. Sie sehnte sich schon jetzt nach dem erlösenden letzten Klingeln.

Paige ließ die beiden Jungs los und überquerte die Straße. Mit einem Blick überzeugte sie sich, dass sie ihren Kampf nicht wiederaufnahmen, bevor sie durch die gläserne Doppeltür der Peach Leaf Elementary School trat und direkt zum Kunstraum ging.

Warum konnte dort eigentlich nicht einer der Lehrer oder eine der extra für Engpässe angestellten Aushilfen nach dem Rechten sehen? Na ja, vermutlich wurden sämtliche Lehrkräfte in den neuen Klassen benötigt und hatten keine Zeit, sich um etwas anderes zu kümmern.

Dummerweise platzte ihr Terminkalender schon jetzt aus allen Nähten. In einer knappen Stunde hatte sie einen Termin mit Mrs Matthews, ihrer Schulleiterin, und davor musste sie noch die Förderunterrichtspläne durchsehen und unterschreiben. Und für den Nachmittag waren zwei Konferenzen zur Individualförderung angesetzt. Da blieb einfach keine Zeit für Vertretungsunterricht.

Sie bereute, am ersten Tag ihre neuen hochhackigen Sandalen angezogen zu haben. Wozu mit der Mode gehen? Mit ihren vernünftigen Ballerinas mit Fußbett wäre sie viel besser dran.

Sie holte tief Luft und öffnete die Tür des Kunstraums.

Einige Schüler jagten einander durch den Raum, und andere hatten die Schränke geöffnet und Stifte und Papier herausgeholt, doch bisher schien niemand verletzt zu sein oder seinen Sitznachbarn angemalt zu haben.

Trotzdem fühlte Paige sich leicht überfordert. Sie hatte längere Zeit als Lehrerin gearbeitet, bevor sie die begehrte Stelle als stellvertretende Schulleiterin an der Peach Leaf Elementary School bekommen hatte, aber seitdem waren einige Jahre vergangen, und sie wollte an ihrem ersten Tag nur ungern unvorbereitet vor eine Klasse treten.

Wo steckte der neue Kunstlehrer nur?

Paige versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern, Sowieso Camden. Nein, Campbell. Das war’s, Liam Campbell! Mrs Matthews hatte ihn in letzter Sekunde von einer Schule in Abilene übernommen. Sein früherer Schulleiter hatte ihn wärmstens empfohlen, obwohl Paige sich insgeheim fragte, warum er die Schule gewechselt hatte, wenn man ihn dort so toll gefunden hatte.

„Hey, gib das zurück!«, riss eine laute Stimme sie aus ihren Gedanken.

Sie straffte die Schultern, betrat den Raum und räusperte sich. „So, Kinder!« Die Schüler erstarrten sofort und eilten zu ihren Plätzen. Vielleicht waren die hohen Absätze ja doch gar nicht so schlecht. Sie verliehen Paige die paar dringend benötigten Extra-Zentimeter und damit anscheinend auch etwas mehr Autorität.

Die Schüler sahen Paige stumm an.

„Einige von euch kenne ich bereits, und den anderen möchte ich mich jetzt vorstellen. Ich bin die stellvertretende Schulleiterin Graham.«

Paige musste innerlich lächeln, als sie das erschrockene Aufstöhnen einiger Schüler hörte. Das Wort „Schulleiterin« schüchterte die Kinder immer so ein, dass sie es sich zweimal überlegten, wie sie sich in ihrer Gegenwart benahmen.

Sie ließ den Blick über die Fünftklässler gleiten, die inzwischen fast alle ihre Plätze eingenommen hatten und sie erwartungsvoll ansahen. „Mr. Campbell verspätet sich etwas, also müssen wir uns ein wenig gedulden.«

Die Kinder tauschten vielsagende Blicke.

„Will mir vielleicht jemand erzählen, was er in den Ferien gemacht hat?«

Einige Kinder verdrehten nur genervt die Augen.

Paige wusste selbst, dass sie es nicht sonderlich geschickt angefangen hatte, aber was blieb ihr anderes übrig? Sie konnte nicht zeichnen, geschweige denn Kunst unterrichten.

„Irgendjemand muss doch etwas Cooles oder Aufregendes erlebt haben.« Ihr Blick fiel auf eine ihr bekannte Schülerin, die sie von der ersten Reihe aus anlächelte. „Katie, erzähl du uns mal, was du diesen Sommer gemacht hast.«

Während die Kleine ihre Woche am Meer beschrieb und einige Kinder ebenfalls mit ihren Urlaubserlebnissen einfielen, beehrte der abtrünnige Mr. Campbell die Klasse endlich mit seinem Erscheinen.

Paige seufzte erleichtert auf.

„Guten Morgen«, begrüßte er die Schüler und ließ den Blick über die neuen Gesichter gleiten. „Ich bin Mr. Campbell, euer Kunstlehrer.«

Seine Haltung war lässig und selbstsicher zugleich. Mit dem großen Campingrucksack über der Schulter sah er eher wie ein Archäologiestudent aus und nicht wie ein Grundschullehrer aus Texas. Paige fragte sich, was ihn in ihre Kleinstadt verschlagen hatte.

Sie konnte nicht umhin, zu bemerken, dass er umwerfend aussah. Er war so groß, dass sein Kopf fast den Türrahmen streifte, hatte dunkelgrüne Augen, zerzaustes schwarzes Haar, und seine Augen funkelten belustigt. Er wirkte wie jemand, der nichts wirklich ernst nahm.

Anscheinend auch nicht seinen ersten Tag im neuen Job!

Paige irritierte das maßlos. Aber wenigstens lenkte sie das von seinem guten Aussehen ab.

Als er Anstalten machte, auf seinen Tisch zuzugehen, versperrte sie ihm den Weg. „Einen wunderschönen guten Morgen, Mr. Campbell. Wie liebenswürdig von Ihnen, uns endlich Gesellschaft zu leisten.«

Eine peinliche Stille entstand. Dann kicherten einige Kinder.

Paige merkte selbst, dass sie etwas zu weit ging, erst recht in Gegenwart der Schüler, aber seine Lässigkeit war wirklich irritierend. War ihm denn gar nicht klar, dass er mit seiner Verspätung ihren so sorgfältig durchgeplanten Tagesablauf durcheinanderbrachte?

„Tut mir schrecklich leid«, sagte er mit jenem gedehnten West-Texas-Dialekt, den fast alle an der Schule hatten. Aus irgendeinem Grund klang er bei Liam Campbell jedoch tiefer und sonorer … beunruhigend sexy.

„Schon gut.« Sie straffte die Schultern. „Dann machen Sie sich jetzt an die Arbeit. Die Stunde ist fast vorbei, und Sie haben sich noch nicht mal mit den Kindern bekannt gemacht. Wir unterhalten uns später.«

„Gern. Ich kann mich nur für meine Verspätung entschuldigen. Wenn Sie die Gründe erfahren möchten …«

„Wie schon gesagt«, fiel Paige ihm gereizt ins Wort und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir unterhalten uns später. Ich habe jetzt einen Termin, und Sie … Sie müssen unterrichten.«

War sie vielleicht doch etwas zu streng mit dem Neuen? Erste Tage waren immer hart. Als Lehrerin und Mutter eines Sohnes hatte sie jedoch die Erfahrung gemacht, dass es ratsam war, gleich von Anfang an die Regeln festzulegen. Für Verständnis und Nachsicht blieb dann immer noch Zeit.

„Okay, wie Sie wollen.« Einer seiner Mundwinkel zuckte belustigt.

Paige beschlich das dumpfe Gefühl, dass der Kollege sie auslachte. Am liebsten hätte sie ihm das freche Grinsen mit einer Ohrfeige vom Gesicht gefegt. Wie konnte er es wagen, sie nicht ernst zu nehmen? Was war so lustig an dieser Situation? „Schön. Ich erwarte Sie nach Schulschluss in meinem Büro.«

Paige ignorierte das kollektive ehrfürchtige „Oh« der Schüler, das Liam mit einem einzigen strengen Blick und einer erhobenen Hand zum Verstummen brachte. Sie war überrascht, wie schnell er die Klasse im Griff hatte. Er besaß eine natürliche Autorität. Vielleicht war er ja doch ein ganz guter Lehrer – vorausgesetzt, er schaffte es in Zukunft, die Regeln einzuhalten.

Erst als Liam die Hände in die Hüften stützte und sie herausfordernd angrinste, wurde Paige bewusst, dass sie ihm im Weg stand. Errötend trat sie einen Schritt zur Seite. „Ach, Mr. Campbell?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen. Sie berührte ihn an einem Arm.

Liam drehte sich zu ihr um. „Ja?«

„Versuchen Sie diesmal bitte pünktlich zu sein.«

„Okay, Leute, das war’s für heute«, sagte Liam am Nachmittag zu der ersten Klasse. „Vergesst nicht, morgen einen Gegenstand von zu Hause mitzubringen. Wir werden uns erst Geschichten dazu erzählen und dann anfangen, ihn zu zeichnen. Nehmt daher nur etwas mit, das ihr auch wirklich mögt. Ihr werdet euch einige Tage damit befassen müssen, also sucht euch nichts aus, das ihr nicht leiden könnt.« Gespielt angewidert verzog er das Gesicht.

Die Kinder lachten.

Liam sammelte die Zeichnungen seiner Schüler ein. Als sie die Klasse verlassen hatten, rieb er sich erschöpft das Gesicht, ließ sich auf seinen Stuhl sinken und legte die Füße auf den Tisch.

Die unglückliche Begegnung mit der stellvertretenden Schulleiterin steckte ihm noch ganz schön in den Knochen. Bisher kannte er nur Mrs Matthews, die ihn eingestellt hatte. Ihre Stellvertreterin war jedoch ein ganz anderes Kaliber. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass sie ihn vor seinen Schülern bloßgestellt hatte, ohne ihm eine Chance zu geben, ihr seine Verspätung zu erklären. Darauf würde er sie bei ihrem Treffen auch gleich hinweisen.

Mit ihren schulterlangen blonden Locken und ihren babyblauen Augen hatte sie so frisch wie ein Frühlingstag gewirkt. Ihm gefiel auch, dass sie kaum Make-up trug. Das hatte er bemerkt, als sie vor Wut errötet war. Liam musste lachen, als er an die Szene von vorhin dachte. Er fand ja, dass die Stellvertreterin völlig übertrieben reagiert hatte. Sie hatte sich aufgeführt wie ein feuerspeiender Drache. Sie wirkte so verkniffen, dass er nicht übel Lust hätte, sie ein bisschen mehr zu provozieren.

Auf der anderen Seite hatte sie natürlich auch irgendwo recht. Liam ärgerte sich über sich selbst, weil er gleich an seinem ersten Tag einen so schlechten Eindruck gemacht hatte. Da würde er sich ganz schön anstrengen müssen, um den wieder auszugleichen.

Er leitete morgens im Rahmen seiner Doktorarbeit eine Kunsttherapie-Gruppe im Krankenhaus in Abilene, das eine Autostunde von Peach Leaf entfernt lag – falls die Straßen frei waren. Die Kinder in dieser Gruppe hatten allesamt Probleme, denen ihre Eltern hilflos gegenüberstanden – von kleinen Sprachstörungen bis hin zu schweren emotionalen Traumata. Es gehörte zu seinem Job, seinen kleinen Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre Emotionen zu bewältigen, indem sie ihnen künstlerisch Ausdruck verliehen.

Der erste Schritt zur Heilung war überhaupt erst die Entdeckung dieser Emotionen. Oft war seinen Patienten nämlich selbst nicht bewusst, was sie fühlten, bis es sich ihnen beim Zeichnen oder Töpfern offenbarte. Das war jedes Mal eine verblüffende Erkenntnis.

Liam träumte, irgendwann später eine eigene Praxis zu eröffnen, wenn er erst mal seinen Doktortitel hatte, doch bis dahin durfte er darüber nicht seinen Lehrerjob vernachlässigen.

Er unterrichtete gern, vor allem Erstklässler. Sie waren noch jung und meistens sehr angenehm im Umgang. Außerdem waren sie noch unverdorben und offen für Neues.

Es hatte ihm große Freude gemacht, ihnen beim Zeichnen zuzusehen. Kindern zu zeigen, dass sie durch das Malen etwas über sich selbst lernen konnten, war einer der Gründe, warum er sich entschieden hatte, Kunstlehrer zu werden – und dann hatte er während seines Studiums die faszinierenden Möglichkeiten der Kunsttherapie kennengelernt. Seitdem wusste er, dass sein Fach Kindern sogar in so schwierigen Lebensumständen wie Tod, Krankheit oder Scheidung helfen konnte.

Als er sich auf den Weg zu der stellvertretenden Schulleiterin machte, nahm er sich vor, ihr zu versichern, dass er seinen Job liebte und sich nicht wieder verspäten würde. Er konnte nicht riskieren, seinen Job zu verlieren, zumal er auf keinen Fall nach Abilene zurückkehren wollte. Zumindest nicht, solange Callie dort noch an der Schule arbeitete. Die Scheidung von ihr machte ihm immer noch zu schaffen.

Liam verband einfach zu viele Erinnerungen mit Abilene und seinem alten Job. Er brauchte einen Neuanfang, und zwar an einem Ort, an dem ihn niemand kannte und ihn nichts an Callie erinnerte. In Peach Leaf war er einfach nur Liam Campbell, der Kunstlehrer – und nicht Liam Campbell, der geschiedene missratene Sohn eines berühmten Öl-Tycoons.

Nein, er brauchte Abstand – von seinem Vater und von Callie. Er hatte sich immer Kinder gewünscht, doch Callie war dagegen. Als sie noch jung gewesen waren, hatte er geglaubt und gehofft, dass sie ihre Meinung irgendwann ändern würde, doch sie war unnachgiebig geblieben. Und dann hatte sie ihn verlassen und sich von ihm scheiden lassen.

Liam musste jetzt nach vorn blicken und sein Zuhause in Peach Leaf finden. Es wurde Zeit, seinen Schmerz zu überwinden und sich auf seine Karriere zu konzentrieren. Für eine Frau gab es derzeit keinen Platz in seinem Leben, und nach den schmerzlichen Erfahrungen mit Callie hatte er das Gefühl, dass es im Leben der Frauen auch keinen Platz für ihn gab.

Fragte sich nur, warum ihm die stellvertretende Schulleiterin dann nicht aus dem Sinn ging.

Jemand anders auch nicht – einer seiner Schüler nämlich. Am Anfang war ihm der Kleine überhaupt nicht aufgefallen, so ruhig und unauffällig hatte er sich verhalten, doch als er auch bis zum Ende der Unterrichtsstunde keinen Ton von sich gegeben hatte, während die anderen Schüler munter drauflos schwatzten, hatte ihm das doch zu denken gegeben. Liam wusste zwar, dass manche Kinder etwas länger brauchten als andere, um aufzutauen, aber das hier war ein bisschen extrem.

Die anderen Kinder hatten ihm bei der Vorstellungsrunde verraten, dass er Owen hieß. Liam nahm sich vor, Miss Graham auf ihn anzusprechen.

„Guten Tag«, sagte er zu der brünetten Frau am Empfangstresen.

Die junge Frau nahm lächelnd ihren Kopfhörer ab. „Ebenfalls guten Tag«, sagte sie freundlich – ganz anders als die stellvertretende Schulleiterin vorhin – und hielt ihm die rechte Hand hin.

Er schüttelte sie. „Mein Name ist Liam Campbell. Ich habe um vier ein Treffen mit der stellvertretenden Schulleiterin …«, Liam warf einen Blick auf das Namensschild auf dem Tresen, „… Emma.«

„Natürlich.« Emma warf einen Blick auf ihren Computerbildschirm. „Sie stehen schon im Terminkalender. Ich rufe Miss Graham kurz an und sage Bescheid, dass Sie hier sind«, sagte sie und griff zum Telefonhörer. „Sie können jetzt rein«, sagte sie kurz darauf.

„Sie kann ganz schön kratzbürstig sein, oder?«, fragte Liam und zwinkerte Emma verschwörerisch zu.

Kichernd zeigte sie auf den kurzen Flur hinter ihrem Tresen.

Liam ging zur Tür mit dem Schild „Paige Graham« und klopfte leise an.

Als Miss Graham ihm die Tür öffnete, lief ihm ein Schauer über den Rücken, doch er schob das auf seine Nervosität zurück. Die Aussicht, gleich wie ein ungehorsames Kind abgekanzelt zu werden, war schließlich alles andere als angenehm.

Kein Zweifel, Paige Graham war kratzbürstig, aber auch sehr hübsch. Ihre Haut glänzte im Schein der Nachmittagssonne, die durch das große Bürofenster schien. Sie hatte ihr Jackett abgelegt, sodass man ihre schlanken Arme sehen konnte. Beim Anblick ihres gehetzten Gesichtsausdrucks ertappte Liam sich bei dem Gedanken, dass sie unter ihren Stacheln vielleicht doch einen weichen Kern verbarg …

Er ging an ihr vorbei zu einem der beiden Sessel vor ihrem Schreibtisch.

„Amüsiert Sie etwas, Mr. Campbell?«, fragte sie.

Liam war sich gar nicht bewusst gewesen, dass er gelächelt hatte. Anscheinend musste er dringend an seiner Selbstbeherrschung arbeiten. „Nein.«

„Gut«, erwiderte sie kurz angebunden, setzte sich wieder hinter ihren dunklen Eichenholzschreibtisch und richtete ihre Aufmerksamkeit auf irgendwelche Unterlagen.

Der Schreibtisch passt zu ihr, dachte Liam, während er sich setzte und darauf wartete, dass sie mit ihren Unterlagen fertig würde, denen sie offensichtlich größere Wichtigkeit beimaß als ihm.

Irgendwann hob sie den Blick wieder und sah Liam an. „Mr. Campbell, ich werde mich kurzfassen, um nicht zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen.« Sie verschränkte die Hände auf der Schreibtischplatte.

Liam bekam das ungute Gefühl, nichts weiter als ein abzuhakender Tagesordnungspunkt zu sein.

„Ich möchte ein für alle Mal klarstellen«, fuhr sie fort, „dass Unpünktlichkeit an dieser Schule nicht geduldet wird.«

Liam verzog das Gesicht. Unpünktlichkeit? Er war nicht einer ihrer Schüler, und es passte ihm nicht, dass sie ihn so von oben herab behandelte. Was bildete sie sich denn ein? Er hatte einen Hochschulabschluss in Kunst und machte gerade einen Doktor in Kunsttherapie! Natürlich war sie seine Vorgesetzte, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihn wegen eines einzigen Fehlers abzukanzeln. Er war derjenige, der dieser Schule einen Gefallen erwiesen hatte, indem er in letzter Minute einsprang!

Liam presste die Lippen zusammen, um nicht etwas zu sagen, das er hinterher bereuen würde. Er zwang sich zu einem höflichen Lächeln und sah Miss Graham in die kornblumenblauen Augen. „Wie schon gesagt, es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Es wird nicht wieder vorkommen, Mrs Graham. Aber es gibt einen guten Grund …«

Miss Graham bitte, nicht Mrs«, unterbrach sie ihn.

Nicht zu fassen, dass sie ihn einfach nicht ausreden lassen konnte … Moment mal – warum war er erleichtert über ihren Einwurf? Selbst wenn er auf der Suche nach einer Frau wäre – was definitiv nicht der Fall war –, würde er sich ganz bestimmt nicht eine so verbissene Frau wie Paige Graham aussuchen!

Liam hatte keine Lust mehr, etwas zu sagen, solange sie ihm nicht zuhörte. Er war ein geduldiger Mensch, aber es gab Grenzen.

Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas milder. „So, und jetzt zu etwas anderem.« Erschöpft rieb sie sich die Schläfen und schloss für ein paar Sekunden die Augen.

Die kurze Geste berührte irgendetwas in Liam. Erst jetzt fielen ihm die dunklen Schatten unter ihren hübschen – nein, schönen Augen auf. Sie sah kaum aus wie fünfundzwanzig, obwohl er vermutete, dass sie älter war. Jedenfalls benahm sie sich so, als sei sie älter.

Warum zum Teufel ist sie nur so verkniffen und ernst?

2. KAPITEL

Nach ein paar Sekunden öffnete Paige die Augen. Zu ihrer Überraschung sah Liam sie nachsichtig an. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen, weil sie am Morgen so unfreundlich zu ihm gewesen war. Allerdings würde sie ihr Verhalten nicht rechtfertigen, so groß die Versuchung auch war. Sie wollte nicht über Owen reden.

Früher war es die Aufgabe ihres Mannes gewesen, Owen zur Schule zu bringen, da Paiges Arbeit an der Schule viel früher anfing als der Unterricht ihres Sohnes. Ihre Arbeitszeiten und Owens Stundenplan unter einen Hut zu bringen, war jedoch kein Problem gewesen, als Mark noch da gewesen war.

Als er noch gelebt hatte.

Paige hatte ein hartes halbes Jahr hinter sich, doch ganz egal, wie schwierig ihre Situation war – Owen schien noch viel mehr zu leiden. Schon allein der Gedanke an ihn trieb ihr wieder die Tränen in die Augen. Hoffentlich bekam Mr. Campbell nichts davon mit.

Ihre privaten Probleme gingen ihn nichts an.

Sie hatte ihn nur herzitiert, um ihm deutlich zu machen, wer hier das Sagen hatte. Und für weitere Fragen würde sie ihn an die Schulleiterin verweisen.

Als sie seinen Blick erwiderte, fiel ihr wieder auf, wie tiefgrün seine Augen waren. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass mir mein Verhalten von heute Morgen leidtut.« Sie senkte den Blick zu ihren Händen. Der anstrengende erste Schultag steckte ihr ganz schön in den Knochen. Sie konnte jetzt gut eine Massage gebrauchen. Liams Hände würden sich bestimmt wundervoll auf ihren verspannten Schultern anfühlen …

Als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, errötete sie heftig.

Was ist bloß los mit dir? Reiß dich zusammen, Paige! Du bist die Vorgesetzte dieses Mannes, um Himmels willen!

„Es war zwar unprofessionell von Ihnen, am ersten Tag zu spät zu kommen, aber ich hätte Sie nicht vor den Kindern verwarnen dürfen. Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten.«

Ihr war bewusst, dass ihre Entschuldigung ziemlich hölzern und unaufrichtig klingen musste. Hoffentlich würde Liam sie trotzdem akzeptieren. Sie verstand selbst nicht, warum er sie so aus der Fassung gebracht hatte. Irgendwie fühlte sie sich anscheinend zu ihm hingezogen, aber gleichzeitig empfand sie das Bedürfnis, ihn auf Abstand zu halten.

„Ist schon gut«, antwortete Liam lächelnd.

Paige hoffte, dass sein Lächeln genauso aufrichtig war, wie ihre Entschuldigung hatte klingen sollen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine Auseinandersetzung mit einem Untergebenen. „Können wir vielleicht von vorn anfangen?«, fragte sie. „So tun, als sei das hier unsere erste Begegnung?« Hoffentlich klinge ich nicht zu verzweifelt.

Liam musterte sie für einen Moment aus schmalen Augen – vermutlich wurde er nicht ganz schlau aus ihr. Dann nickte er und hielt ihr nach kurzem Zögern eine Hand hin.

Als sie die Wachsmalstiftspuren unter seinen Fingernägeln sah, musste sie wieder an Owen denken. Ihr Sohn liebte es, zu malen und zu zeichnen. Sie widerstand dem Impuls, Liam zu fragen, ob Owen ihm aufgefallen war.

„Einverstanden«, sagte er und schüttelte ihr die Hand, wobei sie unwillkürlich erschauerte. Er ließ ihre Hand abrupt los und stand auf, um zu gehen, blieb jedoch nach wenigen Schritten stehen. Ihr Herz machte einen Satz. „Da fällt mir gerade noch etwas ein«, sagte er und setzte sich wieder.

„Bitte.«

„Mir ist in meiner letzten Stunde ein Junge aufgefallen, der ein kleines Problem zu haben scheint. Vielleicht irre ich mich auch, aber ich dachte, ich spreche Sie trotzdem mal auf ihn an. Sie kennen vielleicht seine familiären Hintergründe.«

Paige errötete heftig. Sie wusste sofort, von wem er sprach. Gott sei Dank schien er keine Ahnung zu haben, dass sie Owens Mutter war.

„Ist alles in Ordnung?«, fragte er und beugte sich vor.

„Ja«, log sie. Keinesfalls wollte sie ihm den Eindruck vermitteln, dass sie ihren Sohn in der Schule bevorzugte.

Auf der anderen Seite war er einfach anders. Sein Zustand war nicht normal, obwohl sie und sein Psychologe in den letzten sechs Monaten alles versucht hatten, um ihn wieder zum Sprechen zu bewegen. Insgeheim hatte sie wohl gehofft, dass Owens Schweigen sich an seinem ersten Schultag nach den Ferien auf wundersame Weise in Luft auflösen würde, sonst wäre sie jetzt nicht so enttäuscht.

Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er wieder zu dem Jungen wurde, der er einmal gewesen war. Allmählich war sie am Ende mit ihrem Latein.

Als sie sich aus ihren trüben Gedanken riss, merkte sie, dass Liam sie neugierig beobachtete. Als Owens Kunstlehrer würde er früher oder später sowieso von dessen selektivem Mutismus erfahren, doch Paige wollte das Problem nicht schon bei ihrer ersten Begegnung zur Sprache bringen. Sie war für alle Kinder verantwortlich, nicht nur für ihren Sohn. „Schießen Sie los.«

„Also, es kann gut sein, dass dieser Junge einfach nur schüchtern ist, aber …« Liam zögerte.

„Aber?«

„Aber er hat die ganze Stunde über nichts gesagt, kein einziges Wort. Wie gesagt, vielleicht lag es nur daran, dass heute der erste Tag nach den Sommerferien war – für mich war er auch nicht einfach –, aber …«

Paige ignorierte die Anspielung auf ihre Konfrontation.

„… aber die meisten Erstklässler sind in ihrem Redefluss kaum zu bremsen. Mir kam sein Schweigen etwas ungewöhnlich vor, aber ich kann mich natürlich irren.«

Paige schluckte. Hoffentlich klang ihre Stimme bei ihren nächsten Worten normal. „Nur so aus Neugierde, darf ich Sie etwas fragen?«

Liam nickte.

Paige wägte ihre nächsten Worte sorgfältig ab. Sie wollte genau erfahren, was während der Schulstunde passiert war, jedes noch so kleine Detail, doch Owen durfte davon nichts mitbekommen. Der Junge würde es als Verrat empfinden, wenn sie mit seinem Lehrer über ihn sprach.

„Haben die anderen Kinder sich über ihn lustig gemacht oder ihn irgendwie aufgezogen? Lassen sie ihn spüren, dass etwas nicht … mit ihm stimmt?«

Falls Liam ihre Frage merkwürdig fand, ließ er sich nichts anmerken.

„Nein, nichts dergleichen. Er scheint sogar einige Freunde in der Klasse zu haben. Als ich mit ihm reden wollte und ihn bat, mir seinen Namen zu nennen, haben die anderen an seiner Stelle geantwortet. Das war lieb und gut gemeint, aber manchmal macht so etwas solche Situationen noch schlimmer.«

„Solche Situationen?« War Liam etwa schon anderen Kindern mit Owens Problem begegnet?

„Ich habe so etwas schon ein paar Mal erlebt, sowohl als Lehrer als auch als …«

Liam wurde unterbrochen, als Paiges Bürotür aufging und ein kleiner blonder Junge ins Zimmer platzte. Bei Liams Anblick blieb er wie angewurzelt stehen.

„Hallo«, begrüßte Liam ihn lächelnd.

„Hi, mein Lieber«, sagte Paige und stand rasch auf. „Komm rein.« Sie drehte sich zu Liam um. „Mr. Campbell, ich glaube, Sie haben meinen Sohn Owen bereits kennengelernt.« Sie holte tief Luft und drückte sanft eine Schulter ihres Sohnes. „Owen, sag Hallo zu Mr. Campbell. Er ist dein neuer Kunstlehrer.«

Schweigend blicke Owen zu Liam auf und reichte ihm eine Hand. Er schien instinktiv zu spüren, dass die Erwachsenen gerade über ihn geredet hatten. Paige widerstand dem Impuls, ihm zu versichern, dass er keinen Ärger bekommen würde. Der Therapeut hatte ihr geraten, Owen ruhig mal mit unangenehmen Situationen zu konfrontieren, weil ihn das vielleicht zum Reden bringen würde. Paige hatte da ihre Zweifel, aber was blieb ihr übrig? Wenn der renommierte Dr. Roberts Owen nicht helfen konnte, wer dann?

„Hi, Owen«, sagte Liam. Lächelnd stand er auf und schüttelte dem Jungen eine Hand. „Das war übrigens ein toller Drache, den du heute Nachmittag gezeichnet hast.«

Owen verzog die Lippen zur Andeutung eines Lächelns, als er das Lob seines Lehrers hörte.

„Ich habe noch nie einen so fantasievollen Drachen gesehen und kann es kaum erwarten, dass er fertig wird.«

Paige warf Liam über den Kopf ihres Sohnes einen dankbaren Blick zu. Anstatt Owen zum Reden zu drängen oder ihm trotz seines Schweigens Fragen zu stellen, behandelte er ihn wie einen ganz normalen Jungen. Normalerweise war Owen gegenüber fremden Menschen sehr zurückhaltend, aber irgendwie war dem neuen Lehrer das Kunststück gelungen, ihren Sohn fast zum Lächeln zu bringen. Paige wollte sich jedoch nicht zu früh freuen. Bisher waren ihre Hoffnungen immer enttäuscht worden.

Owen ließ Liams Hand los und blickte nervös zu seiner Mutter auf, als wolle er wissen, was er jetzt tun sollte.

Paige drückte ihm wieder beruhigend die Schulter und kniete sich vor ihn hin. „Owen, warum gehst du nicht raus zu Emma und leistest ihr Gesellschaft, während ich noch etwas mit Mr. Campbell bespreche? Es wird nicht mehr lange dauern, und sie hat bestimmt ein paar neue Malbücher für dich in der Schublade.«

Sichtlich erleichtert griff Owen nach seinem kleinen roten Rucksack.

Paige brachte ihn vor die Tür und bat Emma über die Fernsprechanlage, für ein paar Minuten auf ihren Sohn aufzupassen. Als sie sich wieder zu Liam umdrehte, sah sie in seinen grünen Augen das gleiche Mitleid, das sich auf den Gesichtern vieler Menschen spiegelte, wenn sie Owen gesehen hatten. Es versetzte ihr immer wieder einen Stich.

„Wollen Sie darüber reden?«, fragte er.

Seine Worte bestürzten Paige. Liam schien jetzt die Gewissheit zu haben, dass es sich bei Owens Zurückhaltung nicht um bloße Schüchternheit oder Lampenfieber handelte. Insgeheim bewunderte sie ihn für seinen Scharfsinn. Ein weniger aufmerksamer Lehrer hätte Owens Problem am ersten Tag vielleicht komplett übersehen, aber Liam war es sofort aufgefallen. Er schien doch mehr auf dem Kasten zu haben, als sie anfangs vermutet hatte.

Kopfschüttelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Wie sollte sie Liam den selektiven Mutismus ihres Sohnes erklären? Die meisten Menschen konnten nicht verstehen, warum ein Kind von einem Tag auf den anderen verstummte, und ihre Kommentare waren manchmal ganz schön verletzend, ganz egal, wie gut sie gemeint waren.

„Das würde ich gern, wirklich, aber …« Paige zögerte einen Moment. „Mr. Campbell?«

„Liam«, korrigierte er sie.

„Liam. Die meisten Lehrer – fast alle Menschen – brauchen eine Weile, bis ihnen auffällt, dass Owen nur mit mir spricht. Ich finde es bewundernswert, wie schnell Sie seinen Zustand bemerkt haben. Zweifellos habe ich Sie und Ihre Fähigkeiten als Lehrer unterschätzt, aber ich würde es vorziehen, wenn Sie ihn nicht anders behandeln als die anderen Kinder in Ihrem Unterricht.«

Liam sah sie etwas gekränkt an. „Ich kann Ihnen versichern, dass Owen von mir keine Sonderbehandlung bekommen wird, nur weil er Ihr Sohn ist.«

Oje, Paige hatte ihn anscheinend auf dem falschen Fuß erwischt.

„Außerdem«, fuhr er mit seinem gedehnten West-Texas-Dialekt fort, „versichere ich Ihnen, dass sich meine Unpünktlichkeit von heute Morgen nicht wiederholen wird. Ich freue mich auf die Arbeit mit den Kindern. Glauben Sie mir, ich nehme meinen Job sehr ernst.« Als er einen Schritt auf sie zuging, machte Paiges Herz einen Satz. „Sie können mir vertrauen.«

Paige wollte ihm aber nicht vertrauen. Sie ging zur Tür und hielt sie ihm auf.

Als er auf sie zukam und sie dabei wieder ansah, fragte sie sich, ob sie jemals fähig sein würde, seinen Blick ohne dieses völlig unpassende Herzklopfen zu erwidern.

„Was Owen angeht … sollten Sie je das Bedürfnis verspüren, über ihn zu reden, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Ich habe einige Erfahrungen als Kindertherapeut.«

Paige schüttelte den Kopf. „Danke für dieses Angebot, aber solange Owen kein unterrichtsspezifisches Problem hat oder seine Arbeit nicht schafft, ist das nicht nötig. Er hat bereits einen Therapeuten, den Besten auf seinem Gebiet.«

Leider hatte dieser ihrem Sohn bisher nicht helfen können. Vielleicht wurde es Zeit, langsam zu akzeptieren, dass Owen nie wieder mit jemandem außer ihr reden würde … oder dass er womöglich sogar ganz damit aufhörte.

Schreckliche Vorstellung.

„Na schön«, sagte Liam. „Ich sage Ihnen Bescheid, falls etwas vorfällt.«

„Danke.« Paige lächelte verkrampft. Sie kam allein zurecht, so schwer es ihr auch manchmal fiel. Ihre Mutter hatte Paige und ihre Schwester auch allein großgezogen, nachdem ihr Vater die Familie verlassen hatte, also würde sie das auch schaffen. Nach Marks Tod blieb ihr auch nichts anderes übrig.

Auf der anderen Seite war sie neugierig, welche Erfahrungen Liam mit Owens Problem hatte. Sie hätte ihn vielleicht sogar danach gefragt, wenn sie nicht so ausgelaugt wäre. In diesem Augenblick sehnte sie sich nur nach einem heißen Bad und ihrem Sofa – und einem Glas Rotwein.

Nachdem Liam gegangen war, holte Paige ihren Sohn ab und erlaubte ihm, eines der Malbücher mitzunehmen, die Emma für Familiengespräche aufbewahrte. „Hey, Owen«, sagte sie auf dem Weg nach draußen zu ihrem alten Pick-up. „Wollen wir zum Abendessen bei Barb’s halten?«

Owen nickte eifrig, als er den Namen seines Lieblings-Diners hörte.

Kurz darauf fuhren sie die Main Street entlang, deren Asphalt in der Augusthitze flimmerte, und wandten beide den Blick ab, als sie an ihrem alten Haus vorbeifuhren, in dem sie mit Mark gewohnt hatten. Paige unterdrückte den Impuls, in die Einfahrt zu biegen und ihr altes Leben wiederaufzunehmen. Mark würde weder im Garten noch in der Küche auf sie warten, um ihr ein Glas Wein zu reichen und ihr zuhören, wenn sie von ihrem Tag erzählte.

Dieses Leben war vorbei.

Sie und Owen waren nach Marks Tod noch für eine Weile in dem Haus geblieben, weil Paige ihren Sohn nicht aus seinem gewohnten Umfeld herausreißen wollte, aber dann war das Geld knapp geworden. Als Owen sie irgendwann gefragt hatte, ob sie ausziehen könnten, hatte sie erleichtert zugestimmt.

Das alte Haus war groß, wunderschön und fast so alt wie Peach Leaf selbst. Es war lange im Besitz von Marks Familie gewesen. Mark hatte es bei ihrer Hochzeit von seiner Großmutter geschenkt bekommen, und sie hatten sich sehr darüber gefreut, später jedoch erkannt, dass es sehr viel Geld kostete, so ein Anwesen zu erhalten. Für Paige war das Haus allmählich zur Belastung geworden, auch wenn sie es geliebt hatte wie ein Familienmitglied.

Zumindest bis zu Marks Tod.

Sie wusste noch genau, was für ein Schock der Anblick von Feuerwehrhauptmann Garcia und Marks Kollegen auf ihrer Veranda gewesen war. Garcias Mitteilung über Marks Tod an einer Rauchvergiftung nach der erfolgreichen Rettung eines Babys war kaum bis zu ihrem Bewusstsein vorgedrungen.

Sie erschauderte bei der Erinnerung.

Während der Rückfahrt von Barb’s Diner erzählte Owen ihr von seinem ersten Schultag. Paiges Herz machte einen unerwünschten Satz, als er seinen neuen Kunstlehrer erwähnte. Anscheinend spukte Liam Campbell nicht nur ihr im Kopf herum.

Kurz darauf kamen sie bei ihrer Wohnung an, die sich außerhalb des Stadtzentrums befand, jedoch dicht genug bei der Schule lag, um bei gutem Wetter zu zweit mit dem Fahrrad dorthin fahren zu können.

Paige versuchte, so viel Zeit wie möglich mit ihrem Sohn zu verbringen. Gott sei Dank ließ ihr Job sich gut mit Owens Bedürfnissen vereinbaren. Leider wusste sie nicht mehr genau, was für Bedürfnisse er eigentlich hatte, und je länger er nicht mit anderen Menschen redete, desto verunsicherter war sie.

Als sie sich bettfertig machte, wanderten ihre Gedanken wieder zu Liam und seinem Angebot, über Owen zu reden. Nein, danke! Sie brauchte keine neuen Therapieansätze, die sich sowieso nur als leere Versprechungen herausstellten. Sie hatte die Nase voll, ständig enttäuscht zu werden. Am besten sollte sie endlich akzeptieren, dass Owens Zustand sich nie bessern würde.

Am nächsten Tag in der Schule ging Paige Liam bis auf eine kurze Begrüßung aus dem Weg. Schließlich hatte sie keinen Grund, mit ihm zu reden – wenn es keine schulischen Probleme mit Owen gab.

Trotzdem musste sie ständig an ihn denken. Zugegeben, er sah unglaublich gut aus, aber das erklärte noch lange nicht, warum sie ihn weder bei der Morgenkonferenz noch während ihrer Telefonate mit einigen Eltern und in ihrer Pause aus dem Kopf bekam. Zu blöd, dass heute Nachmittag um drei Uhr auch noch die Konferenz in der Cafeteria stattfand. Sie würde sich mit allen unterhalten müssen, Liam eingeschlossen.

Als Paige in die Cafeteria kam, waren die meisten Kollegen schon da und unterhielten sich genauso angeregt über ihre Ferien wie die Kinder am Tag zuvor. Paige fragte sich, ob jemand außer ihr das Gerücht gehört hatte, dass die Schulleiterin mit dem Gedanken spielte, sich zur Ruhe zu setzen.

Sie konnte sich zwar vorstellen, in die engere Auswahl zu kommen, wusste aber nicht recht, ob sie die Stelle überhaupt wollte, obwohl sie früher mal davon geträumt hatte. Es würde jedoch nicht leicht werden. Sie würde noch mehr arbeiten müssen als bisher, was bedeutete, dass sie noch weniger Zeit für Owen haben würde, aber auf der anderen Seite hätte sie dann mehr Geld für seine Therapie.

Sie suchte sich einen Platz an einem der leeren Tische. Es fiel ihr immer schwer, sich bei solchen Anlässen entspannt zu unterhalten. Von einer stellvertretenden Schulleiterin erwartete man eine gewisse Distanz – etwas, das ihr nicht unbedingt lag. Mit manchen Kollegen war sie sogar befreundet. Sie hielt sich jedoch an die Regeln, damit niemand ihr vorwerfen konnte, einzelne Lehrer zu bevorzugen.

So war es besser.

Die Cafeteria war gerammelt voll, als Liam dort eintraf, und trotzdem sah er niemanden, den er kannte. Er musste wirklich öfter sein Klassenzimmer verlassen, um Kontakte zu seinen neuen Kollegen zu knüpfen. Er und Callie hatten in Abilene einen großen Freundeskreis gehabt, und er vermisste die Gesellschaft anderer Menschen. Er würde neue Freunde finden müssen … irgendwann.

Das war ein weiterer Nachteil einer schmerzhaften Scheidung.

Er ließ den Blick über seine neuen Kollegen gleiten. Vielleicht war er ja doch schon jemandem begegnet, wenn auch nur flüchtig. Gerade als er beschloss, sich als Erster an einen der leeren Tische zu setzen, fiel sein Blick auf Paiges blonde Locken. Wie magisch angezogen steuerte er auf sie zu, doch bevor ihm bewusst wurde, was er tat, hatte sie ihn auch schon entdeckt, und es war zu spät, um jetzt wieder umzukehren.

„Hi«, begrüßte er sie und setzte sich ein Stück von ihr entfernt, damit sie gar nicht erst auf falsche Gedanken kam. Außerdem wollte er sich nicht schon wieder eine Abfuhr einhandeln. Sein Hilfsangebot hatte Paige ja sofort abgelehnt.

Viele Eltern mussten sich erst an die Idee seines alternativen Therapieansatzes gewöhnen. Normalerweise hatten sie jedoch schon andere Methoden ausprobiert und waren für alles offen, wenn sie zu ihm kamen. Paige war noch nicht so weit. Es hatte keinen Zweck, ihr von seiner Therapiegruppe im Krankenhaus in Abilene zu erzählen, obwohl es ihm schwerfiel, sich zurückzuhalten. Er wollte Owen helfen, aber er wollte ihr auch näherkommen, so egoistisch das auch war. Er fühlte sich zunehmend zu Paige hingezogen, ob es ihm gefiel oder nicht.

Sie erwiderte seinen Gruß verkrampft lächelnd. „Hi, Mr. Campbell.« Hastig griff sie nach ihrem Kugelschreiber und blätterte in einem Stapel Unterlagen vor sich.

Diesmal bat Liam sie nicht, ihn beim Vornamen zu nennen. Vermutlich zog sie die förmliche Anrede in der Öffentlichkeit vor. Er hatte schon viele Vorgesetzte gehabt, darunter auch schwierige, aber aus irgendeinem Grund weckte sie in ihm keinen Fluchtimpuls, ganz im Gegenteil sogar. Leider war es keine gute Idee, die stellvertretende Schulleiterin zu umschwärmen wie eine Biene den Honig.

Und doch saß er hier an ihrem Tisch, obwohl es noch genug andere leere Tische gab.

„Ich kenne bisher niemanden hier, also fürchte ich, Sie sind diejenige, die sich mit dem Neuen abgeben muss«, sagte er und rutschte ein paar Plätze dichter an Paige heran.

Zu seiner Überraschung hörte er sie lachen – ein melodiöses Lachen, das er ganz wundervoll fand. Sie blickte von ihren Unterlagen hoch und sah ihn aus belustigt funkelnden Augen an. Es war das erste Mal, dass sie den weichen Kern unter ihrer rauen Schale zeigte, und Liam wollte mehr davon. Er ertappte sich bei dem Wunsch, alles dafür zu tun, um sie wieder zum Lachen zu bringen.

„Kein Problem. Egal, wie lange ich schon hier bin, ich fühle mich auch immer noch wie ein Neuling«, gestand sie.

Liam erwiderte ihr Lächeln. „Kennt man in Ihrem Job nicht alle Kollegen?«

Zu Liams Bedauern richtete Paige die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Unterlagen. „Irgendwie schon, aber aufgrund meiner Position sind manche Kollegen recht zurückhaltend und erwarten diese Distanz auch von mir.« Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe, als hätte sie schon zu viel von sich preisgegeben. „Ich liebe meine Arbeit, wirklich. Es ist nur … na ja …« Sie schüttelte den Kopf. „Aber jeder Job hat auch seine Schattenseiten, oder?«

Liam nickte verständnisvoll. Er musste sich zwingen, den Blick von ihrem Mund loszureißen und auf ihre Augen zu richten. „Wie wahr«, bestätigte er. „Ich liebe meinen Job ebenfalls. Er gehört zu den härtesten überhaupt, aber er ist auch …«

„… der beste.«

Liam lachte. „Ja, er ist toll. Ich wollte schon immer mit Kindern arbeiten.«

Paige lächelte verschmitzt. „Dann haben Sie als Kind genau wie ich Puppen um sich aufgereiht, die Ihrem Unterricht andächtig gelauscht haben?«

Sie alberte mit ihm herum – ein seltsames Gefühl bei jemandem, der noch am Nachmittag zuvor so zugeknöpft gewesen war. Liam fand sie immer unwiderstehlicher. „Keine Puppen, sondern Spielzeugsoldaten.«

Paige lachte herzlich. Diesmal öffnete sie den Mund dabei, und unwillkürlich fragte Liam sich, wie es wohl wäre, sie zu küssen.

Oh, Mann! Er musste sich wirklich dringend Freunde suchen – vor allem männliche. Er wollte keine romantischen Fantasien entwickeln, schon gar nicht mit seiner Chefin.

„Aha, Spielzeugsoldaten. Ist doch das Gleiche.«

„Nein, ist es nicht«, widersprach Liam mit gespielter Entrüstung.

Möglicherweise war ja doch mehr an der Drachenlady dran, als man auf den ersten Blick sah. Vielleicht kam man ja doch an ihren weichen Kern heran. Ob er sie dazu bringen konnte, ihm mehr davon zu zeigen?

„Dann wollten Sie also schon immer Lehrer werden?«, erkundigte sie sich.

Liam nickte. „Ja, Ma’am. Obwohl sich für mich während des Studiums ein paar neue Türen geöffnet haben und ich jetzt neben meinem Lehrerjob meinen Doktor in Kunsttherapie mache.«

Liam musste an seinen Vater denken. Dieser hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts von Liams Berufswahl hielt. Er hatte andere Pläne für seinen einzigen Sohn gehabt – Pläne, die schon vor Liams Geburt festgestanden hatten, und bei denen er nie ein Mitspracherecht bekommen hatte. Er hatte ins Ölgeschäft einsteigen sollen, und noch nicht mal Liams offensichtliches Desinteresse hatte seinen Vater davon abbringen können. Als er sich dann zur Ruhe gesetzt und Liam den Job rigoros abgelehnt hatte, war der Bruch unvermeidlich gewesen.

„Wow, ich bin beeindruckt.« Paige hob überrascht die Augenbrauen.

„Für mich gibt es nichts Befriedigenderes, als mit Kindern zu arbeiten. Ich finde es faszinierend, wie unvoreingenommen sie die Welt betrachten, und wie ihre Augen aufleuchten, wenn man es geschafft hat, ihnen etwas näherzubringen.«

Als er Paiges neugierigen Blick sah, kam er sich plötzlich albern vor. Er geriet immer ins Schwärmen, wenn er über seinen Job sprach. „Tut mir leid«, entschuldigte er sich. „Aber der Job ist einfach meine Leidenschaft.«

Nur Therapeut war er noch lieber als Lehrer.

„Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen«, widersprach Paige. „Ich wünschte, es gäbe mehr Lehrer wie Sie. Kinder brauchen Lehrer, die ihren Job mit Leidenschaft ausüben und sich aufrichtig für sie interessieren.«

„Ich bin der Ansicht, dass mein Fach unglaubliche Möglichkeiten bietet, Kindern auf den Grund ihrer Seele zu sehen. Die Kunst bietet ihnen wunderbare Ausdrucksmöglichkeiten.«

„Wie meinen Sie das?« Paige beugte sich neugierig über den Tisch.

„Ich halte Kunst für eine der besten Kommunikationsformen überhaupt.« Zögernd fügte er hinzu: „Manchmal bietet sie auch hervorragende Heilungschancen.«

Paige wich etwas zurück. Ihr Blick verdüsterte sich.

„Habe ich Sie irgendwie gekränkt?«

„Nein, nein«, widersprach sie kopfschüttelnd. „Ich habe nur ein Problem mit dem Wort … Heilung.«

„Wieso das?«

„Ach, nur so. Ich frage mich immer öfter, was genau man eigentlich damit meint.«

Liam spürte, dass er gerade etwas Wichtigem auf der Spur war, auch wenn er keine Ahnung hatte, um was es sich handelte. Vermutlich hing es mit Owens Problem zusammen. Es war nicht normal, wenn ein Kind plötzlich verstummte. Die Ursache für selektiven Mutismus war meistens ein traumatisches Erlebnis. Liams erster Verdacht war, dass Owen einen gewalttätigen Vater hatte, aber er wusste von Paige, dass sie nicht verheiratet war, also war diese Option eher unwahrscheinlich … zumindest hoffte er das.

Er würde wirklich gern herausfinden, was Owen zugestoßen war, zumal er davon überzeugt war, dass er ihm und Paige helfen konnte. Er nahm sich vor, nicht lockerzulassen. Vielleicht gelang es ihm ja, im Laufe der Zeit ihre Meinung zu ändern.

3. KAPITEL

Bevor Paige die Chance bekam, etwas zu sagen, knackte das Mikrofon auf der Bühne, und Mrs Matthews hielt eine kurze Ansprache an das Kollegium. Anschließend wurde draußen gegrillt. Als der köstliche Duft von gegrilltem Fleisch in den Raum drang, stellten Liam und Paige sich in die Schlange, um ihre Teller zu füllen.

Paige musste sich mit einigen Lehrern unterhalten, aber sie war zu abgelenkt … von Liam. Sie war beunruhigt, wie sehr er ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. In diesem Augenblick stand er so dicht hinter ihr, dass sie sich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Sie musste sich in Acht nehmen. Mark war zwar schon seit einem halben Jahr tot, aber die Vorstellung, ihn loszulassen, machte ihr Angst, auch wenn sie sicher irgendwann einen Neuanfang wollte.

Nur noch nicht jetzt.

Als Liam seinen Teller füllte, holte Paige sich ein Glas Eistee. Sie hatte auf einmal keinen Appetit mehr. Außerdem musste sie zurück zur Arbeit.

Irgendwie war sie froh, Liam vorerst los zu sein. Sie wusste selbst nicht, warum, aber irgendetwas an ihm zog sie magisch an. Er gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, und das wollte sie nicht, weil es sie so schmerzlich an Mark erinnerte.

Manchmal fragte sie sich, ob sie sich bei all den Sorgen um Owen überhaupt genug Zeit genommen hatte, um den Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Sein plötzlicher Verlust hatte sie in die Verzweiflung gestürzt. Niemals hätte sie mit so einem Schicksalsschlag gerechnet. So etwas hörte man sonst nur in den Nachrichten, und man konnte sich nicht vorstellen, dass es einem selbst widerfahren konnte.

Die Stimme der Schulleiterin riss Paige aus ihren trüben Erinnerungen. „Na? Wie läuft es?«

„Ganz gut. Ich glaube, ich habe an fast alle Kolleginnen und Kollegen ein paar aufmunternde Worte gerichtet. Sie haben wie immer ausgezeichnete Fachkräfte eingestellt«, sagte Paige lächelnd.

„Das freut mich.«

Paige kannte die ältere Frau schon seit Jahren und bewunderte sie sehr. Ihr silbriges Haar und ihre runden roten Wangen gaben ihr ein großmütterliches Aussehen, auf das die Kinder sehr positiv reagierten. Sie war freundlich und fair und widersprach sämtlichen Klischees einer strengen Schulleiterin. Falls sie demnächst tatsächlich in den Ruhestand ging, würde es nicht leicht werden, sie zu ersetzen.

„Paige.« Mrs Matthews legte ihr eine Hand auf eine Schulter. „Ich möchte morgen Nachmittag gern etwas mit Ihnen besprechen, falls Sie einen Moment Zeit haben.«

„Ja, natürlich.« Paige bekam ein mulmiges Gefühl. Was würde ihre Chefin wohl mit ihr besprechen wollen? „Soll ich bei Ihnen vorbeikommen?«

„Gern.« Mrs Matthews drückte Paige sanft die Schulter, bevor sie sich anderen Mitgliedern des Kollegiums zuwandte.

Paiges Magen meldete sich. Anscheinend kehrte ihr Appetit zurück.

Sie ging zum Grill und bediente sich von den Resten des Büfetts. Erst als sie sich an einen Tisch setzte, fiel ihr plötzlich ein, dass sie vorhin ihre Notizen und ihren Lieblingskugelschreiber liegen lassen hatte. Als sie gerade aufstehen wollte, um sie zu holen, spürte sie die Gegenwart eines Menschen im Rücken und drehte sich um. Liam: Er stand verstörend dicht hinter ihr und roch fantastisch – eine einzigartige Mischung aus Seife und Farbe.

„Tut mir leid, Sie zu stören«, sagte er und reichte ihr ihren Stift und ihre Mappe mit Notizen. „Aber ich glaube, das hier haben Sie vergessen.«

Als er ihre Hand streifte, stieg eine Mischung aus Verlangen und Panik in ihr auf. „Vielen Dank«, sagte sie errötend. „Meine Großmutter hat mir diesen Kugelschreiber geschenkt, als ich meinen ersten Job als Lehrerin bekam.«

Liam zögerte einen Moment. „Ich musste noch mal über Owen nachdenken und bin überzeugt, dass ich ihm helfen kann. Es ist ziemlich schlimm, die Fähigkeit zu verlieren, mit Gleichaltrigen zu reden. Als sein Lehrer würde ich gern mehr über die Hintergründe erfahren.«

Paiges Mutterinstinkt gewann die Oberhand. Sie wusste, dass Liam es nur gut meinte, aber sie hatte es satt, sich ständig irgendwelche Ratschläge anzuhören. Deshalb hatte sie sogar schon einige ihrer Freunde verloren. Jeder maßte sich an zu wissen, was das Beste für Owen war.

Am schlimmsten waren die Vorschläge gewesen, Owen zum Reden zu zwingen, weil er ja nur aus einem Grund schweigen konnte: um Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei war das das Letzte, was Owen wollte! Im Gegenteil, er schien bloß einen Wunsch zu haben: komplett unsichtbar zu sein, und das im zarten Alter von sechs Jahren!

Nein, danke! Sie wollte keine Ratschläge mehr hören, zumal sich dahinter sowieso nur eines verbarg: Kritik an ihr als Mutter.

„Dazu gibt es nichts zu erfahren«, antwortete sie abweisend. „Wie schon gesagt, solange er im Unterricht keine Probleme macht, brauchen wir nicht über ihn zu reden.«

Ihre Antwort schien ihn nicht zu befriedigen. Er sah sie mit einer irritierenden Mischung aus Neugier und Mitgefühl an. „Aber ich kann ihm wirklich helfen«, beharrte er und nahm neben ihr Platz.

Warum konnte der Kerl sie nicht einfach in Ruhe lassen? Was faszinierte ihn so an Owen? Er hatte doch selbst gesagt, dass Owens Problem kein Einzelfall war, wieso ließ er dann nicht locker? Vielleicht musste sie Liam gegenüber noch etwas deutlicher werden. „Owen und mir geht es gut, Mr. Campbell«, sagte sie kalt und stand mit ihrem Teller und ihren Notizen auf. „Bitte sprechen Sie mich nie wieder auf dieses Thema an.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ sie den Tisch. Ihr Essen warf sie auf dem Weg nach draußen in einen Mülleimer.

Liam schluckte. Paiges Reaktion ließ darauf schließen, dass er zu weit gegangen war. Normalerweise war er nicht so hartnäckig, aber Owen hatte etwas an sich, das ihm einfach keine Ruhe ließ. Obwohl der Junge noch kein Wort zu ihm gesagt hatte, strahlte er einen ruhigen Ernst, eine Reife und eine Liebenswürdigkeit aus, die seinem Alter weit voraus waren. Auch die anderen Kinder schienen das zu spüren. Anstatt ihn wegen seines Schweigens zu ärgern oder ihn zu ignorieren, hielten sie zu ihm.

Liam versuchte nicht mehr an den Jungen zu denken, als er den Kunstraum aufräumte. Das Durcheinander hielt sich zwar in Grenzen, und die Kinder halfen immer gut mit, aber je größer ihre Fortschritte wurden, desto mehr würde zu tun sein. Die Vorstellung brachte ihn zum Lächeln.

Als er von einem Tisch hochblickte, sah er Owen in der Tür stehen. Liam war überrascht über sein Auftauchen.

„Hey, Owen«, sagte er, obwohl er nicht mit einer Antwort rechnete.

Owen rückte seinen kleinen roten Rucksack zurecht und sah Liam erwartungsvoll an, als wartete er auf eine Aufforderung zum Eintreten.

„Komm rein.« Liam packte den Rest der Farben weg und begann, die Pinsel im Waschbecken auszuspülen. Owen hatte seinen Rucksack inzwischen in seinem Fach verstaut und sich an einen der Tische gesetzt.

„Ich habe ganz frischen Ton im Schrank da drüben«, sagte Liam. Seine Hände waren nass, weshalb er nur auf den Schrank zeigte. „Du kannst dir gern welchen rausnehmen und damit arbeiten, wenn du willst.«

Owen nickte und stand auf. Er durchsuchte den Schrank, bis er den Ton fand und sich ein paar Farben aussuchte. Liam fragte sich, ob der Kleine nach Schulschluss vielleicht vergeblich in Paiges Büro gewartet und sich dann gelangweilt hatte. Für alle Fälle beschloss er, sie vom Telefon auf seinem Tisch aus anzurufen. „Owen, ich sage deiner Mom nur rasch Bescheid, dass du hier bist, okay?« Er nahm den Hörer ab.

Owen nickte, und Liam tippte Paiges Durchwahl ein. „Hallo, Emma, hier ist Liam Campbell. Ich wollte die stellvertretende Schulleiterin sprechen. Ist sie da?«

Emma teilte Liam mit, dass Paige gerade ein Gespräch mit der Schulleiterin hatte, sie sie jedoch über Owens Verbleib informieren würde.

Liam legte auf und ging zu Owen hinüber. Er stellte fest, dass der Kleine sich für den roten Ton entschieden hatte. „Macht es dir etwas aus, wenn ich mich zu dir setze?«, fragte er.

Owen nickte, sodass Liam sich auf einen der kleinen Stühle ihm gegenüber quetschte. Er nahm etwas von dem blauen Ton und begann damit, ihn zu einem Auto zu formen. Er genoss das glatte kühle Material unter seinen Händen. „Ich arbeite sehr gern mit Ton«, erzählte er. „Es fühlt sich wirklich gut an, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen.«

Owen sagte nichts, sondern fuhr fort, den roten Ton zu bearbeiten.

„Ist es nicht toll, dass man sich einfach irgendeinen ungeformten Klumpen nehmen und alles daraus machen kann, was man will?«

Owen sah Liam aus Augen an, die eine Schattierung heller waren als die seiner Mutter.

Liam verspürte plötzlich den Wunsch, ihn zum Lächeln zu bringen. Genau wie seine Mutter. Erstaunlich, wie sehr die beiden ihm nach nur wenigen Tagen ans Herz gewachsen waren.

Erstaunlich … und ganz schön furchterregend.

Als Paige das Büro der Schulleiterin verließ, war sie völlig geschafft, doch irgendwie gelang es ihr, sich zurück an ihren Schreibtisch zu schleppen. Anscheinend war sie die einzige Kandidatin für Mrs Matthews Nachfolgerin als Schulleiterin.

Insgeheim hatte sie zwar geahnt, dass man sie zumindest in Erwägung ziehen würde, aber sie war davon ausgegangen, dass es noch genug andere qualifiziertere Bewerber gab. Mrs Matthews würde zwar noch mit dem Schulinspektor reden müssen, aber anscheinend war das nur noch eine reine Formalität. Man hatte ihr die Stelle quasi auf dem Silbertablett angeboten. Paige war bewusst, was für eine Ehre das war – und ein Grund zum Feiern.

Warum war sie dann nur so bedrückt?

Aber konnte sie sich wirklich noch mehr Verpflichtungen aufbürden, noch mehr Meetings und Konferenzen? Owen brauchte sie doch! Auf der anderen Seite konnte sie es sich nicht wirklich leisten, das Angebot abzulehnen. Je schneller sie beruflich vorankam, desto mehr Therapiestunden konnte sie Owen finanzieren. Sie könnte dann auch eine größere Wohnung mieten und Owen eines Tages vielleicht sogar eine gute College-Ausbildung ermöglichen, falls sein Zustand sich besserte.

Die Entscheidung überforderte sie so, dass sie am liebsten nie wieder von ihrem Bürostuhl aufstehen wollte. Manchmal sehnte sie sich danach, einfach für ein paar Tage abzutauchen, aber dann bekam sie sofort ein schlechtes Gewissen. Was war mit Owen?

Owen … oh Gott! Wo steckt er eigentlich?

Voller Panik sprang Paige auf und rannte zu Emmas Tresen.

Emma nahm rasch ihren Kopfhörer ab und sah Paige an, als sei sie verrückt geworden. „Hallo, Miss Graham. Ist alles in Ordnung?«

„Wo ist Owen? Ich hatte vorhin eigentlich seine Babysitterin anrufen und sie bitten wollen, ihn abzuholen und nach Hause zu bringen, aber dann hatte ich den Termin bei der Schulleiterin und habe es total vergessen … oh Gott, wie konnte mir das nur passieren?«

„Miss Graham!« Emma hob einlenkend eine Hand. „Alles ist gut.«

Paige hörte kaum hin, so durcheinander war sie.

„Mr. Campbell hat vor einer Stunde angerufen. Owen ist bei ihm, und alles scheint in Ordnung zu sein, deshalb wollte ich Sie nicht bei Ihrem Meeting stören. Und als Sie zurückkamen, sind Sie direkt ins Büro gegangen und haben die Tür zugemacht, als ob Sie ein bisschen Zeit für sich allein bräuchten. Sie sahen ganz blass aus.«

Paige ließ sich auf einen Stuhl fallen und schlug die Hände vors Gesicht. „Wie habe ich ihn bloß vergessen können?«

„Sie sind einfach nur gestresst.« Emma setzte sich neben sie. „Das ist vollkommen verständlich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, alles ist gut.«

„Sie brauchen Mr. Campbell nicht anzurufen. Ich hole kurz meine Sachen und gehe dann selbst zu Owen. Danke, Emma.«

Paige verschwand in ihrem Büro, um ihre Handtasche zu holen. Sie schloss ihre Tür ab und wünschte Emma eine gute Nacht. Auf dem Weg zu Liams Klassenzimmer machte sie sich immer noch Vorwürfe, sich so verantwortungslos verhalten zu haben. Bei anderen Menschen würde sie eine solche Fahrlässigkeit sofort verurteilen.

Sie musste wieder an das Jobangebot denken. Sie liebte die Schule und die Kollegen. Insgeheim hatte sie diese Stelle schon immer gewollt – trotz ihres Vaters, der früher einmal an der Highschool von Peach Leaf Schulleiter gewesen war. Bisher hatte sie sich das noch nie eingestanden, aber sie hatte immer das Gefühl gehabt, die traumatische Erfahrung mit ihm auslöschen zu können, wenn sie auch eine Schule leiten würde und darin erfolgreich wäre, so lächerlich das auch war.

An jenem Nachmittag vor vielen Jahren, der alles verändert hatte, war sie dieselben Flure entlanggegangen. Sie war in Owens Alter gewesen, als ihr Vater nach der Arbeit nach Hause kam und Paiges Mutter mitteilte, dass er mit einer Lehrerin seiner Schule zusammen war und Paiges Mutter nicht mehr liebte.

Paige kam gerade aus ihrem Zimmer, um ihm von ihrem Tag zu erzählen, blieb jedoch wie angewurzelt auf der Treppe stehen, als sie das laute Gebrüll ihrer Eltern hörte.

Seine nächsten Worte würde sie nie vergessen: Er hatte Paiges Mutter gesagt, dass er eine neue Familie gründen wollte – ohne seine Frau und Töchter.

Damit hatte er Paige das Herz gebrochen und ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Er war nie mehr zurückgekehrt, hatte weder Paige noch ihre Schwester Emily auch nur ein einziges Mal besucht.

Das Letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, dass er in eine andere Stadt gezogen und dort Rektor an einer Highschool war – weit weg von seiner unerwünschten Familie.

Dieser Skandal hatte ihren Familiennamen für immer beschmutzt, zumindest in Paiges Augen. Sie hatte daraufhin umso härter daran gearbeitet, eine gute Schülerin zu sein und ein College-Stipendium zu bekommen.

Trotz der bitteren Erfahrung mit ihrem Vater hatte sie immer unterrichten wollen; das hatte er ihr nicht nehmen können. Nach ihrem Universitätsabschluss war Paige nach Hause zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Sie war Mark begegnet und hatte eine eigene Familie gegründet. Ihr Vater war für sie zu einer bloßen vagen Erinnerung verblasst; an den meisten Tagen dachte sie überhaupt nicht an ihn.

Doch in diesem Augenblick war die Erinnerung wieder sehr lebhaft. Sie hatte vorhin Owen vergessen – ein unverzeihlicher Fehler. Die Vorstellung war für Paige, dass Owen sich jetzt vielleicht fragte, wo sie gesteckt hatte, und warum ihn niemand abholte, um ihn nach Hause zu bringen und … dass er sich in diesem Moment vielleicht genauso verlassen fühlte wie sie damals als kleines Mädchen.

Als Paige beim Kunstraum ankam, stand die Tür weit offen. Liam und Owen saßen an einem Tisch und arbeiteten mit Ton.

Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem. Owen wirkte ja richtig glücklich! So hatte sie ihn seit dem Tod seines Vaters nicht mehr gesehen.

Und seitdem hatte ihm auch kein Mann mehr so große Aufmerksamkeit geschenkt wie Liam in diesem Augenblick. Auch er schien großen Spaß zu haben. Was sie vor sich sah, war mehr als nur ein Lehrer, der mit einem Schüler arbeitete.

Es war ein magischer Augenblick.

Sie blieb für einen Moment stehen, um den Zauber nicht zu brechen.

In diesem Augenblick bemerkte Liam sie in der Tür und lächelte ihr über Owens Kopf hinweg zu, bevor er den Blick wieder auf Owen richtete. Sein Blick war so liebevoll wie der eines Vaters. Er hielt Owen sein Auto hin.

Owen unterbrach seine eigene Arbeit. Seine Augen leuchteten bei dem Anblick von Liams Objekt auf. „Cool«, sagte er so leise, dass Paige zuerst kaum ihren Ohren traute.

Doch als Liam triumphierend zu ihr aufsah, wusste sie, dass sie sich das nicht nur eingebildet hatte.

Liam zwang sich, den Blick von Paige abzuwenden und sich wieder auf Owen zu konzentrieren. Ihr Sohn hatte gerade zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder mit einem anderen Menschen als mit ihr gesprochen!

Als er wieder hockblickte, sah er Tränen in ihren Augen schimmern, doch sie wischte sie rasch weg und verschränkte die Arme vor der Brust, um Owen weiter zu beobachten.

Liam konnte ihre emotionale Reaktion gut nachvollziehen. Es machte ihn auch immer glücklich, wenn er einen Durchbruch bei seinen Schülern oder einem seiner Patienten miterlebte, und dieser hier war etwas Besonderes. Am liebsten hätte er Paige in die Arme genommen und den Erfolg mit ihr gefeiert.

Trotzdem wusste er aus Erfahrung, dass es zu früh für Optimismus war. Ein kurzer Durchbruch war bei Kindern wie Owen nicht ungewöhnlich, aber oft zogen sie sich rasch wieder in sich selbst zurück. Auch sonst konnte es noch Wochen dauern, bis Owen wieder normal sprach.

Das wollte er Paige unbedingt erklären. Sie musste verstehen, wie heikel die nächsten Tage waren, und wie wichtig es war, keine große Sache aus Owens Fo...

Autor

Amy Woods
<p>Amy Woods' Credo ist: Für die wahre Liebe lohnt es sich zu kämpfen, denn sie ist es absolut wert. In ihren Romanen schreibt die Autorin am liebsten über Personen mit liebenswerten kleinen Macken, die sie zu etwas Besonderem machen. Wenn Amy Woods mal nicht in die Tastatur haut, unternimmt sie...
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Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden! Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt seitdem...
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