Bianca Exklusiv Band 375

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

HOL MIR DIE STERNE VOM HIMMEL von AMY WOODS

Den Glauben an die Liebe hat Lucy längst verloren. Bis der mysteriöse Sam in der Stadt auftaucht und sich so liebevoll um ihre Adoptivtochter Shiloh kümmert, dass er damit auch ihr Herz erobert. Doch kaum beginnt Lucy ihm zu vertrauen, macht Sam ihr ein schockierendes Geständnis …

EIN WOMANIZER FÜRS LEBEN? von LOIS FAYE DYER

Um eine arrangierte Ehe abzuwehren, macht die kluge Frankie mit Playboy Eli Wolf einen Deal: Er spielt ihren Lover, dafür vermittelt sie ihm einen Auftrag. Perfekt, dass seine Nähe in ihr pures Adrenalin freisetzt. Aber Gefühle zeigen? Niemals! Bis ein Unfall alles verändert …

MITTEN HINEIN INS HERZ von NANCY ROBARDS THOMPSON

Herzklopfen und heißes Begehren: Sergeant Shane Harrison weckt längst vergessene Gefühle in der hübschen AJ. Doch nach dem Tod ihres Ex hat sie sich geschworen: Nie mehr verliebt sie sich in jemanden, der täglich sein Leben riskiert! Was nun? Ist eine Affäre etwa die Lösung?


  • Erscheinungstag 25.05.2024
  • Bandnummer 375
  • ISBN / Artikelnummer 0852240375
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Amy Woods, Lois Faye Dyer, Nancy Robards Thompson

BIANCA EXKLUSIV BAND 375

1. KAPITEL

Vermutlich gab es in ganz Texas keine miserablere Köchin als Lucy Monroe, und Lucy selbst würde das jederzeit bestätigen.

In letzter Zeit war bei ihr so vieles schiefgelaufen, dass sie ständig auf neue Katastrophen gefasst war. Dass sie nun dreißig hungrige Achtklässler samt ihrer entnervten Lehrer verköstigen musste – dieser unglückliche Umstand konnte sie nicht mehr sonderlich erschüttern. Die Schulklasse hatte heute Morgen das Lonestar Observatorium in Peach Leaf besichtigt und wartete nun in dem kleinen Café der Sternwarte ungeduldig auf ihr Essen.

Da Lucys Talent zum Bedienen ebenso wenig ausgeprägt war wie ihr Kochtalent, hatte sie es gerade mit Mühe und Not geschafft, die Bestellungen aufzunehmen. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, und das war in letzter Zeit eher selten vorgekommen, würde sich die hungrige Meute da draußen noch eine Weile gedulden müssen.

Seufzend schnappte sich Lucy eine Schürze und band sie um ihren engen blauen Rock und ihre weiße Bluse. Mit einem Messer und der langen Bestellliste bewaffnet, stellte sie sich dann an die Arbeitsplatte und fing an, Brot und Käse für die Sandwiches zu schneiden.

Zum Glück hatte sie frühmorgens schon Apfeltaschen vorbereitet, die sie zum Nachtisch servieren wollte. Das Rezept stammte von Lucys Großmutter und ging so einfach, dass selbst Lucy es hinbekam. Sie hatte das Blech mit den Taschen gerade in den Backofen geschoben und durfte nur nicht vergessen, ab und zu danach zu sehen.

Dieser verfluchte Axel!

Hätte er ihr nicht wenigstens einen Tag früher Bescheid geben können? Dann hätte sie vielleicht noch Ersatz gefunden. Stattdessen hatte Axel heute Morgen angerufen und Lucy mitgeteilt, er könne ab sofort nicht mehr kommen. Sie müsse das verstehen, aber er hätte gestern Abend die Liebe seines Lebens getroffen und sei der glücklichste Mensch auf der Welt, und deshalb hätte er auch nicht ein Fitzelchen eines schlechten Gewissens.

Wahrscheinlich saß er jetzt mit seiner neuen Freundin im Flugzeug nach Las Vegas, während Lucy mit dem ganzen Schlamassel alleine zurechtkommen musste. Wütend schnitt sie den Laib Brot in Scheiben, als könnte das arme Brot etwas dafür.

„Da draußen ist ein ziemlicher Tumult, Lu!“, sagte Tessa, ihre Kollegin und beste Freundin, die gerade zur Küchentür hereinkam. „Die stürmen wahrscheinlich gleich die Küche, wenn sie nicht bald was zwischen die Zähne kriegen.“

„Das habe ich nur diesem Mistkerl zu verdanken!“, schimpfte Lucy.

Tessa lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Anrichte und betrachtete ihre Freundin mit diesem hinterlistigen Blick, den Lucy schon aus Kindertagen kannte, wenn Tessa wieder einmal einen Streich ausgeheckt hatte.

„Was ist los, Tess? Sag schon, was du denkst.“

Tessas Augen blitzten schalkhaft. „Kann es sein, dass du ein bisschen neidisch auf Axel bist? Ist ja immerhin schon eine Weile her seit deinem letzten Date.“

Lucy wollte gerade etwas Passendes erwidern, als ihr plötzlich Brandgeruch in die Nase stieg.

„Oh nein!“ Einen Moment lang starrte sie auf den Backofen, als ob darin der Teufel säße. Sie war unfähig, sich zu bewegen.

Zum Glück griff Tessa geistesgegenwärtig nach den Topflappen und zog das Blech aus dem Ofen. „Vielleicht ist ja noch was zu retten!“, sagte sie mit skeptischer Miene.

Lucy drehte eine Apfeltasche nach der anderen um und hoffte, dass nicht alle verbrannt wären.

„Lass es bleiben, Lu“, sagte Tessa. „Ich kenne mich mit Kochen und Backen zwar genauso wenig aus wie du, aber ich würde sagen …“, sie schüttelte den Kopf, „… da ist nichts mehr zu machen.“

Doch so schnell wollte Lucy nicht aufgeben. Entschlossen griff sie nach dem Messer und fing an, die verbrannte Kruste der Apfeltaschen abzuschneiden. Sie musste noch etwas retten, sonst könnte sie den Kindern da draußen nur Sandwiches servieren. Und dann würden alle nach Hause fahren und herumerzählen, dass man im „Lonestar Café“ nichts Ordentliches zu essen bekam. Und einen schlechten Ruf konnte Lucy beim besten Willen nicht gebrauchen, wo sie ohnehin schon mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte.

Dabei war das Café immer bekannt gewesen für seine hervorragende regionale Küche – schon damals, als Lucys Dad noch die Sternwarte geleitet hatte. Er hatte Wert darauf gelegt, dass alles von erstklassiger Qualität war und modernsten Ansprüchen genügte – von der Ausstattung der Sternwarte bis hin zum Service im Café.

Lucys Vater war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Astrophysik gewesen. Doch statt sich wie viele seiner Kollegen ausschließlich in der Forschung zu betätigen, hatte er die Leitung des kleinen Observatoriums in Peach Leaf übernommen. Das war ein paar Monate gewesen, bevor Lucy zur Welt gekommen war.

Kurz nach Lucys fünfundzwanzigstem Geburtstag starb ihr Dad. Damals hatte Lucy ihr Studium der Astrophysik noch nicht beendet, doch sie wollte unbedingt die Sternwarte weiterführen. Es gelang ihr, die Universität, der das Observatorium gehörte, dazu zu bewegen, ihr die Leitung der Sternwarte zu übertragen. Voraussetzung war, dass sie einen promovierten Wissenschaftler einstellte, der das Observatorium nach außen hin vertrat.

Lucy kannte die Sternwarte von Kindesbeinen an. Ihr Dad hatte sie oft mitgenommen und dadurch früh ihre Begeisterung für dieses Forschungsgebiet geweckt. Als Kind und Teenager hatte Lucy, statt zu spielen oder auszugehen, lieber ihre Freizeit im Observatorium verbracht. Später am College hatte sie dann das Wissen sehr gut gebrauchen können, das ihr Dad ihr vermittelt hatte, und bereits eigene Forschungsprojekte durchgeführt.

Offizieller Direktor der Sternwarte war Dr. Blake, ein freundlicher älterer Herr, der aussah wie der Weihnachtsmann. Er mochte Lucy und respektierte ihre Arbeit, und er ließ ihr in der Verwaltung völlig freie Hand. In ruhigen Momenten empfand Lucy manchmal leises Bedauern, weil sie ihr Studium nicht abgeschlossen hatte. Doch ihre Arbeit füllte sie derart aus, dass sie kaum zum Nachdenken kam.

Das Observatorium war für Lucy nicht nur Arbeitsplatz, sondern immer auch ihr Zuhause gewesen. Für sie gab es nichts Schöneres und Interessanteres, als die Sterne und fernen Galaxien zu beobachten. Und wenn in ihrem Leben einmal nicht alles so lief wie gewünscht, dann brauchte sie nur in den Sternenhimmel zu blicken, um Trost zu finden.

Sie würde alles tun, um das Observatorium zu erhalten. Auch wenn die Finanzierung schwierig war und ihr die Arbeit bisweilen über den Kopf wuchs. Auch wenn ihre Nichte Shiloh sie manchmal an den Rand der Verzweiflung brachte. Oder wenn liebestolle Köche sich Hals über Kopf aus dem Staub machten.

Verbrannte Apfeltaschen waren dagegen im Grunde eine Lappalie.

Es ging darum, das Lebenswerk ihres Vaters fortzuführen. Das hatte ihr Dad verdient, denn er war der einzige Mann, dem sie je voll und ganz vertrauen konnte.

Tessa nahm Lucy wortlos das Messer aus der Hand, und Lucy spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und schlug die Hände vors Gesicht. „Dad wäre furchtbar enttäuscht von mir. Nie hätte er zugelassen, dass so etwas passiert.“ Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. Ihre kupferrote Lockenmähne stand ihr wild vom Kopf ab.

Liebevoll betrachtete Tessa ihre Freundin und strich ihr das Haar aus der Stirn. „Du weißt, dass das nicht stimmt. Dein Dad hat dich mehr geliebt als seine Sterne, und das will etwas heißen. Aber im Moment hast du einfach zu viel um die Ohren.“

Lucy fühlte sich ein wenig getröstet und lächelte ihre Freundin dankbar an. Doch die Last der Verantwortung blieb an ihr hängen. Irgendwie musste sie die hungrige Meute da draußen zufriedenstellen. Für den Nachmittag hatten sich weitere Gruppen für Führungen angesagt, die ebenfalls bedient werden wollten, um fünf musste Shiloh vom Bus abgeholt werden, und am Abend würde Lucy sich wohl oder übel an die vierteljährliche Steuererklärung machen müssen.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

Bisher hatte sie es immer geschafft, und irgendwie würde sie es auch diesmal schaffen.

Sam Haynes hatte sich in der Entfernung etwas verschätzt. Als er heute Morgen am Flughafen in Austin gelandet war, hatte er nicht geahnt, dass die Fahrt nach Peach Leaf so lange dauern würde. Die Landstraße schien sich endlos in die Ferne zu erstrecken, und außer vereinzelten Ansiedlungen gab es während der gesamten Fahrt keinerlei Abwechslung. Hin und wieder kam ein knorriger Baum in Sicht, ansonsten nur Staub, soweit das Auge reichte – und riesige rollende Kugeln von Gestrüpp, die über die Sandwüste fegten. So etwas kannte Sam bisher nur aus den alten Westernfilmen, die sein Großvater so geliebt hatte.

Zum Glück war das Ortsschild von Peach Leaf schon von Weitem zu sehen. Wie eine Fata Morgana blinkte es am Horizont, und Sam konnte nur hoffen, dass dahinter auch bald die Stadt auftauchen würde. Als gebürtiger New Yorker war er es nicht gewohnt, über lange Strecken durch eine derart eintönige Landschaft zu fahren, und er konnte es kaum erwarten, wieder in die Zivilisation zu kommen. Was gäbe er jetzt für einen starken Kaffee und eine ordentliche Mahlzeit!

Für Sam war es in mehrerer Hinsicht eine lange Reise. Vor ein paar Wochen hatte er einen Privatdetektiv beauftragt, seine Tochter ausfindig zu machen. Als er es schon beinahe aufgeben wollte, sie je zu finden, hatte der Detektiv angerufen und ihm die Adresse mitgeteilt. Sofort hatte Sam die Manager seiner drei Restaurants darüber informiert, dass sie für einige Zeit ohne ihn auskommen müssten. Dann hatte er den Flug gebucht und sich auf den Weg nach Peach Leaf gemacht.

Und hier war er nun praktisch am Ende der Welt angekommen, um seine Tochter kennenzulernen, von deren Existenz er bis vor Kurzem noch keine Ahnung gehabt hatte.

Seine Freunde hatten ihn für verrückt erklärt, weil er einfach aufs Geratewohl losgefahren war, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Doch er hatte im Leben schon öfters die Erfahrung gemacht, dass sich gerade die spontanen Entscheidungen am Ende als goldrichtig herausstellten.

Er konnte es kaum erwarten, seine Tochter endlich zu sehen. Sie musste ungefähr zwölf Jahre alt sein. Ob sie ihm ähnelte? Vielleicht hatte sie braune Augen und braunes Haar wie er selbst. Vielleicht aber auch blaue Augen und rote Locken wie Jennifer, mit Sommersprossen auf der Nase. Ob sie wohl Bücher und Musik genauso liebte wie er? Oder hatte sie die Vorlieben ihrer Mutter geerbt, von der Sam so gut wie nichts wusste?

Es war ein One-Night-Stand auf einer Studentenparty gewesen. Vorher hatte er Jennifer nur vom Sehen auf dem Unicampus gekannt. In seiner Studienzeit hatte er, wie die meisten seiner Kommilitonen, recht sorglos gelebt und sich wenig Gedanken um die Zukunft gemacht. Er wollte vor allem Spaß haben, und dazu gehörten natürlich Mädchen. Erst mit zunehmendem Alter war er reifer und verantwortungsbewusster geworden.

Als er vor einem Monat Jennifers Anruf erhalten hatte, war er aus allen Wolken gefallen. Alles hätte er erwartet, nur das nicht. Zuerst war er wütend geworden, als sie ihm eröffnete, er habe eine Tochter, und es täte ihr schrecklich leid, dass sie ihm das all die Jahre verschwiegen hätte. Doch dann hatte er alles ganz genau wissen wollen. Es stellte sich heraus, dass sie das Kind bald nach der Geburt ihrer jüngeren Schwester in Pflege gegeben hatte, weil sie selbst außerstande gewesen war, das Kind großzuziehen.

Sam glaubte herauszuhören, dass sie psychisch krank war. Wahrscheinlich war sie auch arbeitslos und hatte allgemein Schwierigkeiten, im Leben zurechtzukommen. Woher ihr plötzlich die Erkenntnis gekommen war, dass sie ihrer Tochter den Vater nicht länger vorenthalten dürfe, hatte er nicht herausfinden können.

Angeblich hatte sie ihre Tochter Shiloh nicht mehr gesehen, seit ihre Schwester sie adoptiert hatte. Die Gründe dafür wollte sie ihm nicht verraten. Sie konnte ihm auch nicht mit Gewissheit sagen, ob ihre Schwester und das Kind noch am selben Ort lebten. Unter der früheren Telefonnummer sei niemand mehr zu erreichen.

Die Neuigkeit hatte Sam wie ein Erdbeben erschüttert. Das gesamte darauffolgende Wochenende hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie er mit der neuen Situation umgehen sollte. Auf keinen Fall würde er den Kopf in den Sand stecken und so tun, als hätte er nie von seiner Tochter erfahren. Es genügte, wenn die eigene Mutter ihr Kind im Stich gelassen hatte. Als junger Student hätte er vielleicht noch versucht, sich vor der Verantwortung zu drücken, doch seitdem hatte sich seine Einstellung grundlegend geändert.

Unvermittelt verengte sich die Straße, und Sams Herz pochte schneller. Da vorne musste gleich das Lonestar Observatorium zu sehen sein. Seltsamer Ort zum Wohnen, hatte Sam gedacht, als der Privatdetektiv ihm die Adresse seiner Tochter mitteilte. Was eine Zwölfjährige wohl im Forschungscenter einer Sternwarte zu suchen hatte? Die ganze Sache kam ihm sehr rätselhaft vor, und er war gespannt, was sich noch alles an Geheimnisvollem auftun würde.

Die schmale Straße wand sich einen Hang hoch, und er folgte mit seinem gemieteten Pick-up dem Straßenverlauf. Oben auf der grasbewachsenen Anhöhe war ein großes, weiß getünchtes Gebäude zu erkennen, um das kleinere weiße Objekte gruppiert waren. Sam vermutete, dass es sich um Teleskope handelte. Trotz seiner Nervosität nahm er die Ruhe und schlichte Schönheit wahr, die von diesem Ort ausging. Er hatte keine Ahnung von Astronomie, aber wenn seine Tochter sich dafür interessierte, würde er sich schleunigst das notwendige Wissen aneignen.

Alles wollte er wissen, was seine Tochter anging, doch ihm war auch klar, dass er behutsam vorgehen musste. Er musste sich dem Kind langsam annähern und durfte auf keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen.

Vorerst hatte er sein Zimmer in Peach Leaf nur für eine Woche gebucht. Denn das Wichtigste für ihn war, zunächst festzustellen, ob es seiner Tochter gut ging, ob sie gesund und wohlbehütet aufwuchs. Danach würde er überlegen, wie es weitergehen sollte. Vielleicht wollte seine Tochter ja gar nichts mit ihm zu tun haben. Dann würde er sich damit abfinden müssen und wieder nach Hause fahren. Auf keinen Fall würde er sie zu irgendetwas zwingen.

Vor dem Haupthaus parkten etliche Busse, und er stellte sich mit seinem Wagen in die Reihe. Sein Herz klopfte zum Zerspringen.

Obwohl sich Sam unterwegs genau überlegt hatte, was er sagen wollte, wurde sein Mund vor Aufregung ganz trocken. Vielleicht hatten seine Freunde doch recht, die meinten, es sei verrückt, einfach aufs Geratewohl herzukommen.

Allerdings wäre er womöglich abgewiesen worden, wenn er zuerst angerufen hätte. Wenigstens bekam er seine Tochter auf diese Weise zu Gesicht, und er gab ihr wiederum die Chance, ihren Vater kennenzulernen.

Ganz egal wie das Zusammentreffen verlaufen würde – es war gut, dass er hergekommen war. Und wenn es nach ihm ginge, würde seine Tochter ab jetzt nicht mehr auf ihren Dad verzichten müssen.

Gleich würde er aussteigen und auf den Eingang zugehen. Und dann würde er sich Schritt für Schritt einen Weg zum Herzen seiner Tochter bahnen.

„Nun“, sagte der Weihnachtsmann alias Dr. Edward Blake, wie das Schild auf dem Schreibtisch aus Kirschholz verriet, „ich bin zwar der wissenschaftliche Leiter des Observatoriums, aber wenn Sie nähere Informationen brauchen, dann müssen Sie sich an Lucy Monroe wenden. Sie ist der wahre Kopf des Ganzen.“

Wenn Edward Blake bereits ein anerkannter Experte auf seinem Gebiet war, wie die vielen Zeugnisse an der Wand bewiesen, musste diese Lucy Monroe ja ein wahres Genie sein.

„Dann zeigen Sie mir doch bitte den Weg zu der Dame“, sagte Sam und hoffte, seine Stimme würde seine Unsicherheit nicht verraten.

Dr. Blake musterte Sam von Kopf bis Fuß wie ein misstrauischer Vater den ersten Verehrer seiner Tochter.

„Ich bin nicht sicher, ob das gerade jetzt eine gute Idee ist.“ Er faltete die Hände über seinem ansehnlichen Bauch, was den Eindruck von einem Weihnachtsmann noch verstärkte. Unwillkürlich musste Sam lächeln.

„Und warum nicht, lieber Weih… – Dr. Blake?“, fragte Sam und versuchte, seine Ungeduld nicht zu zeigen.

„Nun“, sagte Dr. Blake, beugte sich über den Schreibtisch und sah Sam direkt in die Augen, „weil Sie mir noch keinen vernünftigen Grund für Ihre Anwesenheit genannt haben. Was genau wollen Sie hier, Mr. Haynes?“

Sam trat unwillkürlich einen Schritt zurück und atmete tief durch.

„Hören Sie, Dr. Blake, ich brauche lediglich eine Auskunft, weiter nichts. Ich bin geschäftlich hier und möchte mit jemandem sprechen, der sich hier auskennt. Da Sie Mrs. Monroe genannt haben, dürfte ich vielleicht kurz mit ihr reden?“

Dr. Blake schien einigermaßen zufrieden mit dieser Erklärung. „Also gut, Mr. Haynes, ich bringe Sie zu ihr. Und bitte entschuldigen Sie, wenn ich etwas übervorsichtig bin.“ Er setzte ein besorgtes Gesicht auf. „Es ist nur so, Lucy ist sehr beschäftigt. Sie macht gerade eine schwierige Phase durch, und da sie hier unentbehrlich ist, muss ich ein wenig auf sie aufpassen. Vielleicht übertreibe ich ein bisschen, aber ich wollte einfach sichergehen, dass Sie unter Ihrem eleganten Anzug nicht irgendwelche falschen Absichten verbergen.“

Unsicher blickte Sam an sich herunter. Wahrscheinlich wirkte er in seinem teuren italienischen Anzug hier auf dem Land etwas deplatziert. Das nächste Mal musste er daran denken, sich etwas unauffälliger zu kleiden. Falls es ein nächstes Mal gab …

Der Privatdetektiv hatte ihm erzählt, dass in der Sternwarte eine Frau wohnte, die dem Kind auf dem Foto, das Jennifer ihm zugeschickt hatte, ähnlich sehe. Sam hoffte, er würde einen Zugang zu dieser Frau finden.

„Nein, Dr. Blake, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“ Er wog sorgfältig seine nächsten Worte ab. „Sehen Sie, ich bin im Gastgewerbe tätig und möchte mich nach dem Café im Observatorium erkundigen. Rein aus kollegialem Interesse.“

Er blickte auf die Uhr, um Dr. Blake bei seiner Notlüge nicht in die Augen sehen zu müssen. Ein besonders gelungener Einstieg war das nicht, das musste er zugeben. Aber er konnte einem Fremden gegenüber ja nicht gleich mit der Wahrheit herausrücken.

Allerdings musste er sich mit den Leuten von Peach Leaf gut stellen, falls er länger hierbliebe. Sollte seine Tochter an einer Beziehung zu ihrem Dad interessiert sein, dann würde er bereitwillig sein Leben danach ausrichten. Zum Glück ermöglichte ihm sein Job eine gewisse Flexibilität. Keinesfalls wollte er Unordnung in das Leben seiner Tochter bringen, sondern sich ganz nach deren Bedürfnissen richten.

„Na, dann kommen Sie mal mit.“ Dr. Blake rollte mit dem Drehstuhl nach hinten, stand auf und wuchtete seine beachtliche Leibesfülle hinter dem Schreibtisch hervor.

Während Sam neben Dr. Blake den Flur entlangging, fragte er in einem Anflug von Übermut: „Sind Sie eigentlich schon einmal als Weihnachtsmann aufgetreten? Sie haben dafür die perfekte Physiognomie. Die Kinder würden Sie lieben.“ Er lächelte Dr. Blake gewinnend an.

Der blieb abrupt stehen und sah Sam mit großen Augen an, als hätte er noch nie eine derart lächerliche Frage gehört. „Weshalb um Himmels willen sollte ich so etwas tun, Mr. Haynes?“

Sam räusperte sich verlegen, und es vergingen ein paar unbehagliche Sekunden. Doch dann breitete sich ein belustigtes Lächeln auf Dr. Blakes Gesicht aus, und ein tiefes dröhnendes Lachen brach sich Bahn.

„Jetzt hab ich Ihnen aber einen Schrecken eingejagt!?“ Der ältere Mann lachte herzlich. „Natürlich habe ich schon den Weihnachtsmann gespielt. Genauer gesagt, mache ich das jedes Jahr hier in der Sternwarte. Wir stellen einen riesigen Weihnachtsbaum vor dem Café auf, und wenn zum ersten Mal die Kerzen angezündet werden, gibt es eine große Feier. Das ist wunderbar.“ Er wurde wieder ernst. „Wissen Sie, die Sternwarte ist nicht nur ein wissenschaftliches Zentrum, sondern ein wichtiger Teil des Stadtlebens. Deshalb ist es so unerlässlich, dass wir die Einrichtung am Leben erhalten.“

Während sie die Treppe zu Lucys Büro hochgingen, fügte er hinzu: „Kommen Sie doch bei mir vorbei, bevor Sie gehen, dann zeige ich Ihnen die komplette Anlage. Wenn Sie schon einmal hier sind, sollten Sie die Gelegenheit dazu nutzen.“ Er zwinkerte Sam zu. „Wir nehmen auch gerne Spenden entgegen.“

Sam hatte als Kind nie an den Weihnachtsmann geglaubt, und Weihnachten war in seiner Familie immer ein eher trauriges Fest gewesen. Seine Mutter hatte ihn alleine großgezogen und folglich nicht viel Zeit für ihn gehabt. Doch der Mann ihm gegenüber, der wie der Weihnachtsmann aussah, gefiel ihm, und er würde ihm nur zu gern seine Wünsche anvertrauen. Er wusste auch schon, welche.

Nachdem sie Lucy vergeblich im ganzen Haus gesucht hatten, schlug Dr. Blake vor, unten im Café nachzusehen.

Sie gingen die Treppe hinunter. „Da vorne ist es“, sagte Dr. Blake. „Eigentlich kann sie nur noch hier sein, wobei ich mich allerdings frage, was sie da macht. Vielleicht isst sie gerade einen Happen? Eine richtige Pause hat sie sich noch nie gegönnt, seit ich hier arbeite, und das sind immerhin schon ein paar Jährchen.“ Der Doktor fasste Sam am Ellbogen und raunte ihm zu: „In der Küche ist sie bestimmt nicht, da würde sie nur alles durcheinanderbringen.“

Während sich Dr. Blake vor Lachen schüttelte, fiel Sam auf, wie anders es hier auf dem Land zuging. Nicht dass die Leute in der Stadt unfreundlich wären, aber hier schien alles viel gemächlicher vonstatten zu gehen. Er war an das konstante Gewusel in New York gewöhnt und würde eine Weile brauchen, sich auf diese andere Gangart einzustellen – sofern er öfters herkäme. Und er müsste aufpassen, was er sagte und tat, denn die Leute würden lebhaft Notiz von ihm nehmen. Er fiel ja auf wie ein bunter Hund.

Das Café war von lärmenden Schülern bevölkert, deren Lehrer vergeblich versuchten, für Ruhe zu sorgen. Gern hätte Sam sich die handgeschreinerten Tische und Stühle näher angesehen, denn das Tischlerhandwerk war sein Hobby. Hin und wieder schreinerte er sogar selbst kleine Möbelstücke für sich oder für Freunde, und sollte er irgendwann einmal mehr Zeit haben, würde er diese Leidenschaft auf jeden Fall ausbauen.

Nachdem sie den Gastraum durchquert hatten, stieg Sam ein fürchterlicher Geruch in die Nase. Da er ausgebildeter Koch war, wusste er sofort, was passiert war. Außerdem kamen bereits Rauchwolken von dort, wo er die Küche vermutete.

Hustend bahnten die beiden Männer sich den Weg durch eine Gruppe von Neugierigen, die alle versuchten, einen Blick in die Küche zu werfen. Sam vermutete, dass keiner von ihnen noch in den Genuss des bestellten Kuchens kommen würde.

Vielleicht hatte sich sein Besuch hier in mehrfacher Hinsicht gelohnt.

„Hoffentlich zieht dieser Gestank bald ab!“, hörte Sam, als er die Küchentür aufmachte.

„Danke für die freundliche Begrüßung“, scherzte er.

Die Frau, zu der die Stimme gehörte, hatte kurze schwarze Haare und einen olivfarbenen Teint. Sie stand an der Arbeitsplatte und sah ihm lächelnd entgegen. Nach der Beschreibung des Privatdetektivs konnte sie es jedenfalls nicht sein.

Gleich darauf erblickte Sam die bezauberndste junge Frau, die ihm je begegnet war. Sie war mittelgroß und schlank, mit weichen Rundungen genau an den richtigen Stellen. Ohne ihre Schürze würde das alles noch viel mehr zur Geltung kommen.

Eine Lockenmähne in der Farbe von rotem Herbstlaub fiel ihr auf die Schultern, und sie hatte große grüne Augen, die rot umrändert waren – vielleicht von dem Qualm in der Küche. Oder von Tränen? Durch ihre große grüne Hornbrille sah sie ihn neugierig an.

„Hi“, sagte er. „Sieht aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen.“

Dr. Blake murmelte etwas von später sehen und machte sich eilig aus dem Staub.

Für Sam war es zu spät zum Rückzug, denn er hatte sich schon in die Kampfzone begeben. Ohne zu zögern, griff er nach dem Kuchenblech und beförderte die verbrannten Apfeltaschen in den Abfalleimer.

„Was machen Sie da!?“, kreischte die bezaubernde grünäugige Frau hysterisch. Sie riss Sam eine der Apfeltaschen aus der Hand und hielt sie sich wie ein Baby vor die Brust.

Sam starrte sie ungläubig an. „Ich entsorge den katastrophalen Nachtisch, den Sie hier fabriziert haben.“

„Wer sind Sie überhaupt? Und was tun Sie in meiner Küche?“ Es sollte offensichtlich resolut klingen, hörte sich jedoch eher verzagt an.

„Ich bin Sam. Sam Haynes“, erwiderte er in ruhigem Ton. Allem Anschein nach war die junge Frau mit ihren Nerven am Ende.

„Ist das Ihre Küche?“, fragte er mit missbilligend hochgezogener Augenbraue. So wie es hier aussah, passte das nicht zu dem Bild, das Dr. Blake ihm von Lucy Monroe gegeben hatte.

„Im Moment ja, mein Koch hat überraschend gekündigt und …“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und blitzte Sam an. „Was geht Sie das eigentlich an? Was wollen Sie überhaupt hier?“

„Falls Sie Ms. Monroe sind“, sagte Sam, „dann würde ich gern mit Ihnen unter vier Augen reden.“

„Worüber denn?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Seine sorgfältig vorbereiteten Einstiegsworte wären in dieser Situation völlig fehl am Platz gewesen. Er hatte eine Idee. „Aber ich arbeite im Gaststättengewerbe und kann Ihnen vielleicht helfen, wenn Sie es erlauben. Offensichtlich brauchen Sie einen Koch. Und hier bin ich.“

„Sie sind wirklich Koch?“, fragte die rothaarige Schönheit und musterte ungläubig seinen Designeranzug.

„Und vom Himmel geschickt, wie es scheint“, mischte die dunkelhaarige Frau sich ein. Sie streckte Sam die Hand hin. „Ich bin Tessa. Meine Freundin ist sonst die Liebenswürdigkeit in Person, aber sie ist gerade ziemlich im Stress. Der Koch hat sie heute Morgen sitzen gelassen.“

Tessa hielt noch immer Sams Hand fest, was ihr einen irritierten Blick von Lucy eintrug.

„Was denn?“, fragte Tessa mit Unschuldsmiene und ließ Sams Hand los.

„Sie kann es nicht lassen“, sagte Lucy und verdrehte die Augen. „Wo haben Sie denn Kochen gelernt, Mr. Haynes?“

„Bitte nennen Sie mich Sam.“

„Also gut, Sam, wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht und welche Referenzen können Sie vorweisen? Und woher …“

„Moment“, sagte Sam lachend, „eins nach dem andern.“

Blitzschnell überlegte er, wie viel er von sich preisgeben wollte. Er hatte langjährige Erfahrung als Chefkoch, das zumindest konnte er ihr getrost verraten. Ansonsten war Lucys offensichtliche Notlage eine wunderbare Gelegenheit, mehr über seine Tochter zu erfahren. Wenn es ihm nicht passte oder wenn sich herausstellte, dass der Privatdetektiv ihm falsche Informationen geliefert hatte, könnte er jederzeit wieder gehen.

„Ich habe keine Zeugnisse dabei, aber ich bin qualifizierter Koch. Ich schlage vor, ich helfe ihnen unentgeltlich aus, und wenn Sie und Ihre Gäste zufrieden sind, können Sie immer noch überlegen, ob Sie mir eine längerfristige Stelle anbieten.“ Sam streckte Lucy einladend die Hand hin und hoffte, sie würde sein Angebot annehmen.

Nachdem Lucy ihn eine Weile skeptisch von oben bis unten gemustert hatte, ergriff sie seine Hand.

Beinahe erschrak Sam über die Wärme, die ihn blitzartig durchströmte. Und der Frau ihm gegenüber schien es genauso zu gehen, denn ihre Augen leuchteten kurz auf.

„Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Lucy. Lucy Monroe.“ Sie ließ seine Hand los. „Ich schlage vor, Sie bringen Ordnung in dieses Chaos, und dann unterhalten wir uns weiter.“ Nervös blickte sie zur Tür und schob ihre Brille höher auf die Nase.

Noch nie war Sam einer Frau wie Lucy begegnet. Er fand sie einfach hinreißend mit ihrer großen hellgrünen Brille. Gleichzeitig fragte er sich, wie sie wohl aussah, wenn er ihr die Brille abnähme.

„Einverstanden“, sagte er.

„Machen Sie sich bitte keine übertriebenen Hoffnungen“, sagte Lucy. „Erst mal kümmern Sie sich um den Lunch, und dann sehen wir weiter.“

Sam nickte, zog sein Jackett aus und rollte die Hemdsärmel hoch. Lucy zeigte ihm, wo die Schürzen hingen und beobachtete ihn argwöhnisch, während er sich eine umband. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass es nicht leicht wäre, diese Frau für sich zu gewinnen. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, bis sie ihm vertraute. Sie hatte zwar denselben Nachnamen wie Jennifer, aber ob sie wirklich deren Schwester war und in welcher Beziehung sie zu seiner Tochter stand, musste erst noch geklärt werden.

Staunend sahen Tessa und Lucy zu, wie Sam mit beeindruckender Geschwindigkeit und Raffinesse eine beträchtliche Anzahl von Truthahn-Käse-Sandwiches fabrizierte. Es waren keineswegs simpel zusammengeklappte Brotscheiben. Nein, er reicherte die Sandwiches mit allen möglichen Leckereien an, die er in der Speisekammer und im Kühlschrank fand. Und er bewegte sich in der Küche, als würde er schon jahrelang hier arbeiten.

Aus Pinienkernen, Olivenöl und Basilikum kreierte er noch ein köstlich duftendes Pesto, das er zu den Sandwiches reichte. Alles sah so appetitlich aus und roch so lecker, dass den beiden Frauen das Wasser im Mund zusammenlief.

Lucy hatte Axels Gerichte immer ganz okay gefunden, doch Sam ging mit viel mehr Fantasie und Mut ans Werk.

In letzter Zeit waren die Besucherzahlen zurückgegangen. Die Schulen bekamen nicht mehr so viele Zuschüsse für Ausflüge und Freizeitangebote, und auch das Budget der Universität war drastisch gekürzt worden. Die Sternwarte war allerdings auf Touristen angewiesen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, einen Chefkoch wie Sam einzustellen, der zumindest dem Café Auftrieb geben könnte.

„Glaubst du, er ist wirklich Chefkoch?“, flüsterte Lucy. Sie sah Tessa an, die neben ihr an der Spüle stand und die Pfannen abwusch, während Sam auf der anderen Seite der Küche seine Sandwiches zubereitete.

„Wie bitte?“ Tessa musste sich sichtlich zwingen, den Blick von dem attraktiven Rücken des neuen Mannes in der Küche zu wenden. „Auf jeden Fall sieht er gut aus“, erwiderte sie, was ihr einen missbilligenden Blick ihrer Freundin eintrug.

„Du bist unmöglich. Da überlasse ich einem fremden Mann die Küche, weil Axel, dieser Mistkerl, mich sitzen gelassen hat, und alles, woran du denkst, ist sein Aussehen!?“

„Hey, es ist einfach erfrischend, zur Abwechslung mal ein gut angezogenes, attraktives männliches Wesen hier zu sehen. Sonst kriegen wir ja nur Wissenschaftler in alten Cordhosen und schlabbrigen Strickjacken zu Gesicht.“ Lucy wusste, dass Tessa es nicht so meinte. In Wahrheit mochte sie ihre Kollegen ebenso sehr wie Lucy.

„Ist dir eigentlich aufgefallen“, fuhr Tessa fort, „wie er dich vorhin mit Blicken verschlungen hat? Dabei siehst du heute, ehrlich gesagt, etwas ramponiert aus. Der Typ scheint sich für deine wahren Werte zu interessieren.“

Lucy schüttelte lachend den Kopf angesichts der unverfrorenen Art ihrer Freundin. „Jedenfalls kam er wie gerufen. Als hätte er gewusst, dass Axel gerade seinen Job hingeschmissen hat. Ich frage mich, was er wirklich hier will.“

„Vielleicht ist er ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen ist, nur um dir aus der Patsche zu helfen.“

Lucy glaubte nicht an Engel, auch nicht an Wunder und schon gar nicht an das Glück. Sie glaubte nur daran, was sie sehen und anfassen und messen konnte – an harte Daten und Fakten.

Sie konnte sehen und riechen, was dieser geheimnisvolle Mann an Köstlichkeiten in ihrer Küche fabrizierte. Alles andere waren Spekulationen. Sie würde ihm eine Chance geben, und wenn es wider Erwarten doch nicht mit ihm klappen sollte, dann könnte sie immer noch eine Stellenanzeige aufgeben. Da es in dieser ländlichen Gegend nicht viele Jobangebote gab, würde sie problemlos einen neuen Koch finden können.

2. KAPITEL

Lucy irrte sich selten, und wenn es einmal vorkam, dann war sie am Boden zerstört. Diesmal hatte sie sich wirklich gründlich getäuscht.

„Okay, ich gebe zu, es ist ganz gut gelaufen“, sagte Lucy. Sie saß am späten Nachmittag mit Tessa an einem Tisch im Café, während Sam die Küche sauber machte. „Das heißt aber noch lange nicht, dass ich ihn einstelle! Vielleicht war es nur Anfängerglück.“

„Na komm, Lucy, ausgerechnet du redest von Glück, wo du doch weder an das Glück noch an die Liebe glaubst.“

„Natürlich glaube ich an die Liebe“, sagte Lucy mit Betonung auf dem entscheidenden Wort. „Ich glaube nur nicht an die romantische Liebe, das ist der große Unterschied.“ Bevor Tessa wieder ihre üblichen Einwände vorbringen konnte, fuhr Lucy fort: „Jedenfalls weiß ich aus meiner wissenschaftlichen Arbeit, dass bei Experimenten oft fehlerhafte Ergebnisse herauskommen, und deshalb brauchen wir mehr Daten, bevor wir eine Schlussfolgerung ziehen können.“

„Sam ist doch keins deiner wissenschaftlichen Experimente. Er ist ein Mann aus Fleisch und Blut. Und was für einer!“

Tessa wackelte anzüglich mit den Augenbrauen und brachte Lucy damit zum Lachen.

„Klar, irgendwie hat er mich gerettet“, gab Lucy zu.

Es stimmte, dass Sam himmlische Sandwiches gemacht und ganz ohne Rezept die leckersten Cookies der Welt gebacken hatte. Und der Salat, den er später für Lucy und Tessa angerichtet hatte, war das Köstlichste gewesen, was Lucy je gegessen hatte.

„Er hat noch viel mehr getan“, wandte Tessa ein. „Er hat euren Ruf gerettet. Kannst du dir vorstellen, was passiert wäre, wenn all diese Lehrer und Schüler in Austin herumerzählt hätten, dass es im ‚Lonestar Café‘ nichts Ordentliches zu essen gibt?“

Eine Antwort auf diese Frage erübrigte sich. Lucy war sonnenklar, welche finanziellen Einbußen es bedeuten konnte, wenn auch nur ein einziger Gast mit dem Service unzufrieden war.

„Er soll ja auch seine Chance kriegen. Für morgen lasse ich ihn das Menü ausarbeiten, und wenn er beim Einkaufen nicht mit meiner Kreditkarte durchbrennt, kann er von mir aus bleiben.“

In diesem Moment kam Sam aus der Küche und setzte sich zu ihnen. Sein Haar war zerzaust und sein Hemd voller Essensflecken, aber trotzdem sah er unwiderstehlich aus.

„Also“, sagte er und sah Lucy erwartungsvoll an, „bekomme ich den Job?“

„Nicht so hastig, Mr. Haynes“, erwiderte Lucy. „Ich weiß ja überhaupt nichts über Sie. Falls Sie hierbleiben, muss ich ein Formular für die Personalabteilung der Universität ausfüllen.“ Sie hob streng den Zeigefinger. „Wohlgemerkt – falls Sie hierbleiben.“

Als er amüsiert lächelte, spürte sie eine seltsame Regung. Der Mann war mehr als attraktiv, so viel war klar. Er hatte regelmäßige Gesichtszüge mit einer perfekt geformten Nase und einem kräftigen, leicht eckigen Kinn. Seine Augen waren braun mit goldenen Flecken darin, und sein dunkelblondes Haar, das sich über der Stirn wellte, schimmerte in der einfallenden Nachmittagssonne.

Lässig streckte er die Arme über den Tisch, und Lucy blickte unwillkürlich auf seine sehnigen gebräunten Unterarme. Seit wann fiel ihr so etwas bei einem Mann überhaupt auf? Sie war doch immer das Mauerblümchen gewesen – die ruhige, tüchtige Lucy Monroe, die sich keinerlei Allüren erlaubte.

Sie war zufrieden mit ihrem Leben, so wie es im Moment verlief. Den Gedanken an eine Liebesbeziehung hatte sie längst aufgegeben. Wo hätte sie auch jemanden kennenlernen sollen? Die meisten ihrer Kollegen waren verheiratet und hatten ohnehin nur ihre Arbeit im Kopf. Bei keinem von ihnen hatte sie auch nur das entfernteste Interesse an ihr als Frau wahrgenommen. Allenfalls schätzten sie Lucy als intelligente Zuhörerin, wenn sie von ihren astronomischen Forschungen berichteten.

Früher war sie noch manchmal ausgegangen und hatte auch Männerbekanntschaften gemacht. Einmal, mit Jeremy, war es sogar etwas Ernsteres gewesen. Doch nachdem es mit keinem Mann so recht geklappt hatte, war ihr die Lust auf eine Liebesbeziehung vergangen.

Abgesehen davon, hatte sie überhaupt keine Zeit für solche Dinge. Sie managte das Observatorium, was gewiss keine leichte Aufgabe war. Und sie sorgte für ihre Nichte Shiloh, die sie mehr liebte als alles auf der Welt, die aber mehr Aufmerksamkeit beanspruchte als andere Kinder in ihrem Alter.

In letzter Zeit war Lucys Verhältnis zu ihrer Nichte allerdings schwieriger geworden. Shiloh wurde zunehmend aufsässiger, und Lucy kam häufig nicht mehr an sie heran. Das schmerzte sie umso mehr, als ihre Nichte ihr früher immer alles erzählt hatte. Sie hätte gern gewusst, ob Shiloh Probleme hatte, bei denen sie ihr helfen könnte. Denn das Glück dieses Kindes lag ihr mehr als alles andere am Herzen.

„Hab schon verstanden“, sagte Sam und unterbrach ihre Gedankengänge. „Falls Sie mich einstellen.“ Er lächelte so herzlich, dass sich Fältchen um seine braunen Augen bildeten.

Lucy merkte, wie sie rot wurde, und blickte schnell weg. Wahrscheinlich wollte er einfach nur den Job haben und ließ deshalb seinen Charme spielen. Trotzdem tat es ihr gut, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.

Umso mehr, als die Aufmerksamkeit diesmal ihr galt und nicht Tessa, die normalerweise durch ihre kokette Art immer im Mittelpunkt stand. Das war schon in der Schule so gewesen. Trotzdem hatten die beiden Mädchen sich gleich am ersten Schultag angefreundet, und die Freundschaft hielt noch immer.

Lucy sah auf die Uhr.

Shiloh! Sie stand abrupt auf.

„Tut mir leid, dass wir das Gespräch nicht fortsetzen können, Mr. Haynes – ich meine Sam –, aber ich muss meine Nichte abholen. Wollen wir uns morgen früh wieder hier treffen und alles Weitere besprechen? James, unser Frühstückskellner, ist sehr früh da und stellt ein kleines Büfett für die Kollegen und Besucher bereit – Muffins, Obst und Kaffee, nichts Besonderes. Danach können wir das Mittagsmenü besprechen. Ach, und ehe ich’s vergesse – vielen Dank, dass Sie mir heute geholfen haben!“

„Keine Ursache“, sagte Sam mit diesem warmen Lächeln, das bei Lucy seltsame Regungen hervorrief. „Es war mir eine Freude. Ich komme dann morgen gegen sieben und helfe beim Frühstück, wenn es Ihnen recht ist.“

„Sehr schön.“ Lucy fuhr sich durch ihre Lockenmähne, was ihre Haarpracht vermutlich noch mehr durcheinanderbrachte.

Sam stand ebenfalls auf. „Darf ich Sie begleiten, Ms. Monroe? Ich möchte gern die ganze Anlage kennenlernen, falls Sie nichts dagegen haben.“

Lucy zögerte. Shiloh würde es gefallen, wenn sie jemanden mitbrachte. Im Moment verhielt sie sich jedem Fremden gegenüber freundlicher als gegenüber ihrer eigenen Tante.

„Warum nicht?“ Sie sah wieder auf die Uhr. „Eigentlich haben wir noch ein paar Minuten Zeit. Kommen Sie.“

Sam hielt ihr die Tür auf, und gemeinsam verließen sie das Café. Beim Zurückblicken sah Lucy, dass Tessa ihr zuzwinkerte.

Sie gingen über das Gelände, und Lucy zeigte Sam die verschiedenen Teleskope. Er hörte interessiert zu, als sie ihm die verschiedenen Größen der Spiegelfernrohre und Kuppeln erklärte und erzählte, wie diese riesigen Instrumente das Licht von fernen Galaxien einfingen.

Irgendwann merkte sie, dass sie sich wie üblich von ihrer Begeisterung mitreißen ließ und sah Sam verlegen an. „Tut mir leid, dass ich Sie so mit Informationen überschütte, aber ich liebe diesen Ort ganz einfach. Und ich möchte anderen etwas von meiner Begeisterung vermitteln. Es gibt noch so viel über das Weltall zu lernen. Außerhalb unseres Planeten existiert ein unendliches Universum, von dem wir bisher nur einen Bruchteil kennen, und meine Wissbegierde ist grenzenlos.“

Sam blieb stehen und suchte ihren Blick. Sie merkte, wie sie rot wurde. „Rede ich zu viel? Bitte sagen Sie es ehrlich.“

„Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich finde es fantastisch, wenn jemand seine Arbeit so leidenschaftlich liebt. Mir geht es mit meiner Tätigkeit ganz genauso.“

Unter Sams intensivem Blick wurde sie immer verlegener. „Haben Sie schon immer gern gekocht?“, fragte sie, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

Sie bemerkte einen seltsamen Ausdruck in Sams Gesicht, bevor er rasch wegblickte, als hätte sie ihn ertappt. Gern hätte sie ihn gefragt, was er gerade dachte, aber das wäre wohl zu indiskret. Sie verstand selbst nicht, wie sie dazu kam, so offen mit ihm zu reden. Aber es kam ihr eben vor, als würden sie sich schon ewig kennen.

Trotzdem war es besser, sachlich zu bleiben. Männer wie Sam interessierten sich nicht für Frauen wie sie. Das hatte sie schon in der Highschool gelernt, und manche Dinge änderten sich nie. Und sie konnte damit gut leben – sie durfte einfach keine zu hohen Erwartungen stellen.

„Ja“, erwiderte Sam auf ihre Frage. „Als ich anfing, mich für das Kochen zu interessieren, war ich sofort Feuer und Flamme. Durch Zufall hatte ich einen Job als Küchenhelfer in einem sehr guten Restaurant bekommen. Ich hatte Glück und durfte vieles ausprobieren. Damals habe ich gelernt, dass Kochen viel mit Fantasie und Kreativität zu tun hat. Vorgegebene Rezepte haben mich nie interessiert. Ich fing an, meine eigenen Gerichte zu kreieren, und das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht. Kochen ist eine Möglichkeit, sich auszudrücken, genau wie es Künstler mit ihren Werken tun!“ Seine Augen leuchteten, während er erzählte.

Das mit dem Experimentieren konnte Lucy gut verstehen, aber sich wie ein Künstler mit seiner Arbeit auszudrücken – dieser Gedanke war ihr bislang völlig fremd.

„Haben Sie direkt nach der Highschool mit dem Kochen angefangen?“

„Nein, ich bin aufs College gegangen und habe Anthropologie studiert. Das Fach hatte ich gewählt, weil mir nichts Besseres eingefallen war, und es gibt ja im Grunde auch nichts Interessanteres als den Menschen.“

Lucy konnte sich eine Menge interessanterer Dinge vorstellen. Mit Sternen und fernen Galaxien konnte sie einfach mehr anfangen als mit Menschen. Dinge mathematisch berechnen und Modelle erstellen, das erschien ihr wesentlich sinnvoller, als sich mit den unkalkulierbaren Wesenszügen von Menschen zu befassen. Doch das verschwieg sie Sam. Schließlich wollte sie ihn nicht vor den Kopf stoßen.

„Und hat Ihnen das Studium gefallen?“

Sam schüttelte lachend den Kopf. „Nein, es war mir einfach zu trocken. Viel Zeit habe ich nicht an der Uni verbracht.“

„Solche Leute kenne ich“, sagte Lucy.

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja, ich meine …“, nervös nestelte sie an ihrer Brille herum, „… ich habe auch Leute wie Sie an der Uni kennengelernt.“

„Leute wie mich?“ Sam blieb stehen. „Verzeihen Sie, aber Sie kennen mich doch gar nicht.“

Natürlich hatte er recht, stellte Lucy beschämt fest. Da sie zu verlegen war, um etwas zu erwidern, ging sie einfach schweigend weiter.

Auch Sam sagte nichts mehr, und als sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, wirkte er in Gedanken versunken.

Lucy drängte es, ihn zu fragen, was er gerade dachte. Aber das ging sie nun wirklich nichts an. Allerdings war es schwer für sie auszuhalten, dass er die Augenbrauen runzelte und offensichtlich verstimmt war. Seltsamerweise machte sie das traurig, und sie überlegte, wie sie ihn wieder aufheitern könnte.

Glücklicherweise waren sie wieder am Eingang der Sternwarte angekommen, und gleich würde Shilohs Bus dort halten. Es war ein großes Glück, dass der Bus bis hierher fuhr. Immerhin lag das Observatorium etliche Kilometer von der Stadt entfernt. Die Schule hatte für Shiloh eine Ausnahme gemacht, da Lucy wegen ihrer Arbeit in der Sternwarte nicht jeden Tag in die Stadt fahren konnte, um ihre Nichte von der Schule abzuholen.

Die nette Busfahrerin hatte Shiloh ins Herz geschlossen, und Lucy vertraute ihr voll und ganz. Sie würde ihre Nichte immer wohlbehalten nach Hause bringen. Neuerdings war Shiloh diese bevorzugte Behandlung unangenehm, genau wie ihr jede andere Bevorzugung unangenehm war.

Manchmal war Lucy am Ende ihres Lateins, wenn Shiloh wieder herummurrte, und sie sehnte sich nach der Zeit zurück, als ihre Nichte noch ein süßes kleines Mädchen gewesen war. Aber selbst wenn Shiloh sie manchmal zum Verzweifeln brachte – Lucy liebte ihre Nichte über alles und konnte ihr nie lange böse sein. Sie hoffte inständig, dass diese Trotzphase bald vorüberginge und nicht während der ganzen Pubertät anhalten würde.

In eine Staubwolke gehüllt, rumpelte der Schulbus heran. Lucy winkte Mrs. Stevens zu und wartete darauf, dass die Busfahrerin die Rampe herunterließ, um Shilohs Rollstuhl herausfahren zu können. Verstohlen blickte Lucy zu Sam und sah dessen bestürzte Miene, als er merkte, dass Shiloh nicht auf ihren zwei Beinen aus dem Bus stieg.

Lucy war es gewohnt, dass die Menschen das Kind im Rollstuhl unwillkürlich anstarrten. Es war nicht böse gemeint, sondern eine ganz normale menschliche Reaktion auf alles, was nicht der Norm entsprach. Bei Sam war die Reaktion jedoch ungewöhnlich heftig. Sein Mund wurde schmal, und sein Blick bekam etwas Verzweifeltes. Dabei hatte er doch sicher schon einmal ein Kind im Rollstuhl gesehen.

„Was haben Sie denn?“, fragte Lucy und hoffte, Sam würde ihr eine ehrliche Antwort geben. Meistens versuchten die Menschen das Thema zu umgehen, aber Lucy war es lieber, wenn jemand Fragen stellte oder darüber sprach, was er fühlte. Warum etwas ignorieren, was offen zu Tage lag?

„Nichts weiter“, erwiderte Sam und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er Lucy an, und seine zuvor so betroffene Miene war gänzlich verschwunden. „Es ist nur, dass ich keine Ahnung hatte, dass Ihre Nichte im Rollstuhl sitzt. Sie hatten das gar nicht erwähnt.“

Lucy sah ihn fragend an.

„Natürlich hatten Sie auch überhaupt keinen Grund dazu“, fügte er rasch hinzu, als er ihren irritierten Blick sah.

Shiloh winkte mit beiden Armen, und Lucy war gerührt, dass ihre Nichte sich manchmal doch noch wie ein kleines Mädchen verhalten konnte.

„Was ist das denn für ein feiner Pinkel!?“, platzte sie ohne Begrüßung heraus und musterte Sam von oben bis unten.

Shilohs direkte Art brachte Lucy oft ziemlich in Verlegenheit.

„Hallo, mein Schatz“, sagte sie und ignorierte die unhöfliche Frage ihrer Nichte. „Darf ich dir Sam, unseren Aushilfskoch, vorstellen?“

Shiloh beschattete ihre Augen und blickte zu Sam hoch. „Hi, Sam“, sagte sie in undefinierbarem Tonfall.

Lucy konnte sich nicht erinnern, als Kind jemals so forsch gewesen zu sein wie ihre Nichte. Allerdings war ihr auch klar, dass dieses lässige Gehabe für einen Teenager dazu diente, die Gefühle zu verschleiern.

„Hallo“, erwiderte Sam mit einem breiten Lächeln und streckte Shiloh die Hand hin. Er schien nicht im Mindesten brüskiert, dass die Kleine es an Höflichkeit mangeln ließ. „Ziemlich coole Fortbewegungsart, muss ich sagen.“

Shiloh lächelte über das ganze Gesicht – etwas, das Lucy seit Monaten nicht zu sehen bekommen hatte. Wirklich ein hübscher Anblick. Dieser Sam konnte nicht nur kochen, sondern auch mit pubertierenden Mädchen umgehen.

„Wie lange hast du den Rollstuhl denn schon?“, fragte Sam.

Shilohs Miene wurde plötzlich misstrauisch, und Lucy hielt die Luft an. Vermutlich würde ihre Nichte gleich mit einer weiteren Unverschämtheit herausplatzen. Einerseits fürchtete sie Shilohs Direktheit, andererseits machte es sie froh, dass ihre Nichte so selbstbewusst war. Sie selbst war als Teenager eher schüchtern gewesen, und das hatte ihr nicht unbedingt gutgetan. Manchmal könnte sie heute noch ein bisschen von Shilohs Selbstvertrauen gebrauchen.

Sam traf es wie ein Schlag. Mühsam versuchte er, eine neutrale Miene aufzusetzen, während in seinem Kopf alles drunter und drüber ging.

Dieses Mädchen war zweifellos seine Tochter.

Er wusste es, auch wenn sie ihm nicht ähnlich sah. Sie hatte die gleichen kobaltblauen Augen wie Jennifer und kupferrotes Haar und Sommersprossen wie Jennifer und Lucy.

„Meinen Sie, wie lange ich diesen Rollstuhl schon habe oder wie lange ich überhaupt … so bin?“ Sie deutete auf ihre Beine.

Sam schluckte. Er war sich selbst nicht sicher, was er genau gemeint hatte. Er wollte einfach alles von dem Mädchen wissen, jedes kleinste Detail, und deswegen kam es nicht darauf an, was sie zuerst erzählte. So lange sie überhaupt etwas erzählte.

„Beides“, entschied er. Sicher war es besser, von Anfang an offen zu sein, auch wenn er nicht wusste, wie er auf diesem unbekannten Terrain vorankommen sollte.

Shiloh sah ihn lange an, dann zuckte sie mit den Schultern, als wäre diese Antwort für sie ganz in Ordnung.

„Also, den Stuhl habe ich letztes Jahr zu Weihnachten von Dr. Blake bekommen“, sagte sie und deutete auf die Aufkleber mit den Namen von Rockbands an der Rückenlehne. „Und das …“, wieder deutete sie auf ihre Beine, „… habe ich schon lange.“ Sie warf ihre rote Mähne nach hinten.

Sam war von ihrer Offenheit beeindruckt, und obwohl er kein Recht dazu hatte, war er stolz auf die selbstbewusste, aufrichtige Art seiner Tochter.

„Seit dem Unfall“, fügte sie hinzu.

„Wie war es denn in der Schule?“, fragte Lucy und bemühte sich eifrig, das Thema zu wechseln.

Shiloh tauschte einen verständnissinnigen Blick mit Sam aus. „Sie meint: Wie war die Mathearbeit?“, erklärte sie seufzend.

„Shiloh kann alles, wenn sie nur will“, wandte Lucy streng ein, „aber sie mag Mathe nicht, und deshalb strengt sie sich nicht an.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Manchmal muss man sich aber anstrengen im Leben, auch wenn man nicht will. Das weißt du, Shi, oder?“

Shiloh verdrehte die Augen und warf den Kopf mit einer so dramatischen Geste zurück, dass Sam laut auflachen musste. „Ja, ich weiß“, sagte sie dann gelangweilt.

„Du bist also ganz schlecht in Mathe?“, fragte Sam lächelnd.

Lucy fand diese Frage etwas übergriffig, aber Shiloh lachte nur.

„Das kann man wohl sagen.“

Lucy stellte sich hinter den Rollstuhl, um Shiloh ins Haus zu fahren. Doch plötzlich steuerte Shiloh den Stuhl so schnell in Sams Richtung, dass sie eine Staubwolke aufwirbelte.

Sam blickte lächelnd auf seine Tochter hinunter. „Genau wie ich.“ Etwas musste sie ja schließlich von ihm haben.

Seine Tochter war wunderhübsch, genau wie ihre Mutter und ihre Tante.

Er nahm sich vor, später den Privatdetektiv anzurufen und ihm zu sagen, dass seine Ermittlungen erfolgreich gewesen waren.

Während Shiloh auf dem Weg zum Haus mit dem Rollstuhl unbekümmert Achten drehte, hing Sam seinen Gedanken nach.

Nun, da er seine Tochter gefunden hatte, konnte er anfangen, sein Leben neu einzurichten. Sein Chefkoch Jack in New York könnte in seiner Abwesenheit alles Notwendige regeln und ihn im Zweifelsfall anrufen. Die Restaurants in Los Angeles und Seattle liefen von selbst, und Sam brauchte dort nur hin und wieder nach dem Rechten zu sehen. Alles andere erledigte seine Assistentin selbstständig. Er könnte also durchaus eine Weile in Peach Leaf bleiben.

Natürlich hatte er jede Menge Fragen, aber merkwürdigerweise war es ihm gar nicht so wichtig zu erfahren, was es mit Shilohs Unfall auf sich hatte. Viel lieber würde er wissen, was sie jetzt so machte. Dass sie Mathe nicht mochte, wusste er nun schon, aber was war ihr Lieblingsfach in der Schule? Was tat sie am liebsten in ihrer Freizeit? Welche Träume und Sehnsüchte erfüllten ihr junges Herz?

Was wusste sie von ihrem abwesenden Vater? Wollte sie überhaupt etwas von ihm wissen? Vermisste sie ihn, oder war ihr Leben friedlicher ohne ihn?

Worauf es ihm vor allem ankam, war, ihr zu sagen, dass er sie nicht absichtlich verlassen hatte. Auf keinen Fall sollte sie denken, sie sei ungewollt gewesen. Sie sollte erfahren, dass ihr Dad sie liebte und von nun an für sie da sein würde. Sobald ihr das bekannt war, lag es an ihr zu entscheiden, was sie mit dieser Neuigkeit anfing.

Wenn es nach ihm ginge, würde er liebend gern jede Möglichkeit nutzen, um mit Shiloh und ihrer Tante zusammen zu sein.

Es war unglaublich, wie sein Leben sich innerhalb von ein paar Tagen grundlegend verändert hatte. Als Jennifer ihm über die kratzige Telefonleitung die Neuigkeit mitgeteilt hatte, erinnerte er sich vage an ein geplatztes Kondom, das er in der Hitze des Gefechts nicht weiter beachtet hatte.

Nun, da er das Ergebnis seiner damaligen Achtlosigkeit leibhaftig vor sich sah, war er schlichtweg hingerissen. Eine Flut von tiefen, nie gekannten Gefühlen erfüllte sein Herz, wenn er seine Tochter ansah, und ein unbeschreibliches Glücksgefühl, dass er sie gefunden hatte.

Sicher hatte er noch einen schwierigen Weg vor sich, aber es gab nichts in seinem bisherigen Leben in New York, das ihm auch nur annähernd so wichtig erschienen wäre wie seine Tochter.

3. KAPITEL

Thor döste neben der Haustür, als Lucy und Shiloh nach Hause kamen. Kaum hörte der Hund das quietschende Gartentor, schoss er hoch und sauste mit fliegenden Ohren und freudigem Gebell auf die Ankömmlinge zu. Dann sprang er vor Freude jaulend auf Shilohs Schoß und schnüffelte an ihrem Gesicht. Seit der Mischlingshund ihnen vor sechs Jahren als magerer Welpe zugelaufen war, hatte niemand es geschafft, ihn richtig zu erziehen.

Als Lucy den Hund lachend hinter den Ohren kraulte, leckte er ihr kurz die Hand, bevor er sich wieder seiner wahren Liebe, Shiloh, zuwandte.

Das Haus, in dem sie wohnten, gehörte zum Gelände der Sternwarte. Als Lucys Vater damals die Leitung des Observatoriums übernommen hatte, war das Haus Teil des Vertrags gewesen. Lucy war hier aufgewachsen und hing an dem Haus. Daher hatte sie sich gefreut, als der Vorstand des Observatoriums ihr zusammen mit der Leitung der Sternwarte auch das Haus zur weiteren Nutzung angeboten hatte.

Mit wenigen Mitteln hatte sie es renoviert, die Wände frisch gestrichen und hübsche Vorhänge genäht, und sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu leben.

Eigentlich müsste das kleine rote Backsteinhaus dringend saniert werden, aber da das Observatorium an chronischem Geldmangel litt, wurde die Renovierung immer wieder hinausgeschoben.

Einige Dinge, wie die Rampe für Shilohs Rollstuhl, hatte Lucy nach dem Unfall selbst anfertigen lassen. Inzwischen war das Holz jedoch morsch, sodass die Rampe nicht mehr benutzt werden konnte. Lucy hatte schon verschiedene Schreiner wegen einer neuen Rampe angerufen, aber die Kostenvoranschläge waren einfach zu hoch gewesen.

Und sie traute sich nicht, Tessas Bruder Andy wieder darum zu bitten. Der hatte ihr damals die Rampe gebaut hatte, allerdings mit mehr Liebe als Geschick, und er wäre sicher zerknirscht, dass sie schon kaputtgegangen war. Tessa hatte Lucy hoch und heilig versprechen müssen, ihrem Bruder nichts von der kaputten Rampe zu erzählen.

An den Steinstufen zur Veranda blieb Lucy stehen und bückte sich, um ihre Nichte aus dem Rollstuhl zu heben. Seit die Rampe baufällig geworden war, war es ihr zur Routine geworden, das Mädchen hochzutragen. Nur schien es Shiloh neuerdings unangenehm zu sein, von Lucy auf den Arm genommen zu werden. Wehmütig dachte Lucy daran, dass ihr kleines Mädchen bald zu einer jungen Frau heranwachsen würde. Hoffentlich gäbe es dann später jemanden, der sie auf seinen Armen tragen würde.

„Okay, mein Schatz, am besten machen wir gleich die Hausaufgaben, dann haben wir es hinter uns.“

Shiloh stöhnte auf so theatralische Weise, wie es nur Teenager konnten. Aber Lucy wusste, sie würde trotz ihres Gejammers die Hausaufgaben erledigen, und das war das Wichtigste. Manchmal fragte sich Lucy, was sie tun würde, wenn ihre Nichte genauso ein unbändiges Kind wäre, wie ihre Mutter Jennifer es gewesen war. Shiloh war zwar manchmal aufsässig und konnte sich meisterlich aufspielen, aber sie verhielt sich im Grunde wie ein vernünftiges Kind.

Jennifer hingegen war schon immer unberechenbar und egozentrisch gewesen. Als Kind hatte sich Lucy mit ihrer Schwester noch gut verstanden, doch später war sie gar nicht mehr mit ihr klargekommen. Jennifer wurde immer exzentrischer, und Lucy war froh, als ihre Schwester die Stadt verließ, um aufs College in New York zu gehen. Als sie dann ihre Zwischenprüfung nicht schaffte, weil sie andere Dinge im Kopf hatte, war niemand sonderlich überrascht. Irgendwie passte es auch zu ihr, dass sie die Verantwortung für ihr Kind nicht übernehmen wollte. Und dass sie niemandem erzählt hatte, wer der Vater war.

Kaum waren sie im Haus, lenkte Shiloh ihren Rollstuhl direkt ins Wohnzimmer. Lucy wusste schon, was sie vorhatte, und bevor das Mädchen den Fernseher anmachen konnte, nahm sie ihr schnell die Fernbedienung ab.

„Ich wollte doch gar nicht fernsehen!“, rief Shiloh aufgebracht, doch Lucy glaubte ihr nicht.

„Du kriegst ja schon eine ganz lange Nase vom Lügen“, scherzte sie, und Shiloh seufzte dramatisch.

„Na gut, dann geh ich eben in mein Zimmer“, maulte sie.

Wie so oft am Abend blickte Lucy unschlüssig in den Kühlschrank und fragte sich, was sie zum Abendessen machen sollte. Meistens griff sie dann zum Telefon und wählte die Nummer der Pizzeria in Peach Leaf. Es war einfach zu verlockend, sich nach einem langen Arbeitstag das Essen bringen zu lassen.

Während Shiloh in ihr Zimmer gefahren war, um ihre Hausaufgaben zu machen, notierte sich Lucy, was sie morgen einkaufen musste. Plötzlich musste sie an Sam denken. Wie fantastisch wäre es, jemanden wie ihn hier wohnen zu haben. Genüsslich rief sie sich den Lunch von heute Mittag in Erinnerung.

Was für ein Mann, der kochen konnte und noch dazu umwerfend aussah! Wenn er sich auch noch als anständiger Kerl herausstellte, müsste sie sich fragen, ob er wirklich aus Fleisch und Blut wäre.

Aber es ging sie doch überhaupt nichts an, was dieser mysteriöse Sam Haynes für ein Typ war, auch wenn er im Moment in ihrem Büro im Observatorium kampierte. Kopfschüttelnd fragte sie sich, was in sie gefahren war, so etwas zuzulassen. Tessa hatte Sam einfach das Sofa in Lucys Büro für die Nacht angeboten, nachdem das Zimmer in der Pension in Peach Leaf erst am nächsten Tag frei wurde. Vermutlich hatte die Wirtin, Mrs. Frederickson, den Termin verwechselt. Die reizende alte Dame wurde in letzter Zeit etwas vergesslich.

Im Grunde war es Lucy ganz recht, dass Sam hierblieb. Womöglich hätte er sich sonst überlegt, ob er morgen wiederkommen sollte, nachdem er heute das Chaos in ihrer Küche erlebt hatte.

Nachdem sich Sam von ihr und Shiloh verabschiedet hatte und zu seinem Wagen gegangen war, hatte Lucy angenommen, dass er direkt in die Stadt gefahren wäre. Doch dann rief Tessa an und sagte, er sei zu ihr an die Rezeption zurückgekommen und habe ihr erzählt, sein Zimmer würde erst morgen frei, und im ganzen Umkreis sei kein Hotelzimmer zu bekommen. Daraufhin habe sie ihm Lucys Sofa angeboten, und er sei ihr sehr dankbar gewesen.

Auch wenn Lucy, was diesen Mann anbetraf, vielleicht nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war, so blieb sie doch misstrauisch. Schließlich war dieser Sam aus heiterem Himmel hier aufgetaucht, ohne zu erklären, woher er kam und was er hier wollte. Lucy nahm sich vor, ihn gleich morgen früh darauf anzusprechen.

Jedenfalls konnte er sich glücklich schätzen, auf ihrer gemütlichen alten Couch übernachten zu können. Das Möbelstück stammte noch von Lucys Vater. Damals hatte er öfters im Büro übernachtet – angeblich, weil er bis tief in die Nacht mit seinen Forschungen beschäftigt war. Sicher war das mit ein Grund, aber vielleicht vermied er damit auch die ewigen Streitereien mit seiner Frau.

Shiloh kam mit ihrem Rollstuhl in die Küche gesaust. „Na, hast du was Leckeres gekocht, Tantchen?“

Das war spöttisch gemeint, so viel war Lucy klar. „Ich hasse es nun mal zu kochen“, rechtfertigte sie sich. „Es ist so anstrengend, sich jeden Tag was Neues zu überlegen.“

„Und ich hasse alles, was du dir ausdenkst. Nie gibt es Gemüse, nur weil du das nicht magst.“

„Das stimmt nicht! Ich esse Gemüse … manchmal.“

Shiloh starrte ihre Tante nur kopfschüttelnd an.

„Okay, einmal die Woche … einmal im Monat“, gab Lucy zu. „Ich esse mindestens einmal im Monat Gemüse. Aber ich trinke viel Vitaminsaft.“

„Ja, genau, dann brauchst du nicht zu kauen. Wundert mich, dass du überhaupt noch Zähne hast.“

Plötzlich brachen sie beide in Gelächter aus, woraufhin Thor neugierig angeprescht kam, um zu sehen, was da in der Küche los war.

Während Lucy weiter an ihrer Einkaufsliste schrieb, fragte sie Shiloh: „Erzähl doch mal, wie es in der Schule war.“

Als Shiloh nicht antwortete, sah Lucy zu ihr hin und bemerkte, dass sie an den Nägeln knabberte. Jennifer hatte das früher auch gemacht, und Lucy hatte diese Unart immer gehasst.

„Lass das, Kleines, das ist ekelhaft. Erzähl lieber mal, was du auf dem Herzen hast. Ist in der Schule was passiert?“

Shiloh nahm die Finger aus dem Mund. „Klar, in der Schule passiert immer was.“

„Komm schon, Shi, du weißt genau, was ich meine. Was ist los?“

Shiloh zögerte, und Lucy hatte das Gefühl, dass ihre Nichte überlegte, wie viel sie ihrer Tante verraten sollte. Lucy war diese Vorstellung una...

Autor

Amy Woods
<p>Amy Woods' Credo ist: Für die wahre Liebe lohnt es sich zu kämpfen, denn sie ist es absolut wert. In ihren Romanen schreibt die Autorin am liebsten über Personen mit liebenswerten kleinen Macken, die sie zu etwas Besonderem machen. Wenn Amy Woods mal nicht in die Tastatur haut, unternimmt sie...
Mehr erfahren
Lois Faye Dyer
Mehr erfahren
Nancy Robards Thompson
<p>Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
Mehr erfahren