Bianca Extra Band 134

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WÜNSCH DIR WAS – WÜNSCH DIR MICH! von ELIZABETH BEVARLY

Hätte er sich von dem legendären Wunsch-Kometen bloß nicht eine Million Dollar gewünscht! Nun bekommt Chance das Geld, wenn er sich um die Zwillinge seines verstorbenen reichen Bruders kümmert. Unmöglich! Es sei denn, die hübsche Rechtsanwältin Poppy, die ihm die Kinder bringt, bleibt …

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  • Erscheinungstag 06.04.2024
  • Bandnummer 134
  • ISBN / Artikelnummer 0802240134
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Elizabeth Bevarly, Melissa Senate, Nancy Robards Thompson, Catherine Mann

BIANCA EXTRA BAND 134

PROLOG

„Voll lahm hier.“

„Sagst du. Das Essen ist lecker.“

Der fünfzehnjährige Chance Foley zupfte zum hundertsten Mal an seiner Krawatte und blickte seine drei Begleiter, die ihm am Tisch gegenübersaßen, fragend an. Sein Bruder Logan war derjenige, der sich beklagt hatte. Mit neunzehn beklagte er sich über alles und jeden und hielt sich für was Besseres. Viel besser jedenfalls als die drei Fünfzehnjährigen, die er im Auftrag seiner Mutter heute Abend beaufsichtigen musste.

Chances Freund Felix Suarez machte sich über seinen Nachtisch her, als hätte er drei Tage nichts gegessen – dabei wohnte er über dem Restaurant seiner Großmutter. Und sein anderer Freund, Max Travers, starrte fasziniert auf die Tanzfläche, über der sich eine Discokugel in Form eines Kometen drehte.

Komet Bob. Eigentlich hatte der einen offizielleren Namen mit vielen Konsonanten, aber den konnte sich keiner merken, also nannte man ihn eben Komet Bob.

Er war auch der Anlass für die heutige Party. Mrs. Barclays Galaxy Ball war die Abschlussveranstaltung des vierwöchigen „Willkommen-zurück-Komet-Bob“-Festivals, das die kleine Stadt Endicott im Süden Indianas alle fünfzehn Jahre veranstaltete. Komet Bob ließ sich nämlich alle fünfzehn Jahre blicken, immer in der dritten Septemberwoche, und die Koordinaten, an denen er der Erde am nächsten kam, lagen direkt über Endicott.

„Mrs. Barclay ist komisch“, bemerkte Logan.

„Ich finde sie nett“, erwiderte Chance. „Nicht viele reiche alte Damen würden Fünfzehnjährige zu so einer Party einladen.“

Allerdings waren Chance und seine Freunde – genau wie alle anderen Fünfzehnjährigen auf der Party heute – auch keine normalen Teenager. Sie waren alle in dem Jahr geboren, in dem Bob das letzte Mal vorbeigeflogen war. In Endicott war man automatisch prominent, wenn man im Kometenjahr auf die Welt kam. Schade, dass man nicht auch automatisch reich wurde.

Aber immerhin bestand die Möglichkeit. Über den Kometen Bob waren über die Zeit viele Mythen entstanden. Eine davon besagte, dass, wenn man im Kometenjahr geboren war und sich etwas wünschte, wenn Bob wiederkehrte, dieser Wunsch erfüllt wurde, wenn der Komet das nächste Mal auftauchte.

Also hatte Chance gestern Nacht, als Bob direkt über ihm stand, seinen Wunsch zum Himmel geschickt: eine Million Dollar. Es störte ihn nicht, dass das Geld frühestens in fünfzehn Jahren eintreffen würde. Sehr viel würde ihre Mom bis dahin von ihren Schulden nicht abbezahlt haben, in die sie die Rechnungen für Behandlungen und Medikamente nach ihrer Krebserkrankung gestürzt hatten. Aber eine Million würde reichen, um den Rest zu tilgen. Dann konnten er, sein Bruder und ihre Mom die schreckliche Zeit ihrer Krankheit endgültig hinter sich lassen.

Chance wollte gerade von seinem Wunsch erzählen, als eine blonde Frau am Nebentisch sich zu ihnen umdrehte und lächelte. „Habt ihr euch schon was gewünscht, Jungs?“, fragte sie. Sie griff nach der Hand des dunkelhaarigen Mannes neben ihr. „Wenn nicht, dann überlegt euch was. Denn wisst ihr – es könnte in Erfüllung gehen.“

Sie lächelten beide, standen auf und gingen zum Ausgang. Vermutlich war die blonde Frau auch ein Kometenkind, und Bob hatte ihren Wunsch erfüllt.

Das war ein gutes Zeichen. Vielleicht würden Chance in fünfzehn Jahren eine Million Dollar in den Schoß fallen. Vielleicht würde Bob auch ihm seinen Wunsch erfüllen, wenn er das nächste Mal vorbeiflog.

1. KAPITEL

Fünfzehn Jahre später

Chance Foley konzentrierte sich darauf, langsam zu atmen und daran zu denken, dass zehn Uhr vormittags zu früh war, um sich einen Drink einzugießen. Der September entwickelte sich zu einem echt miesen Monat, und er war noch nicht mal zur Hälfte vorbei.

Es hatte gleich am Ersten begonnen: Da war sein geliebter Oldtimer-Jeep in den Ohio River gerollt, als Max und er versucht hatten, Felix’ Boot auf dem Trailer zu befestigen. Doch die Neuigkeiten, die ihn vor drei Tagen erreicht hatten, waren noch schlimmer. Sein Bruder Logan, von dem er über zehn Jahre lang nichts gesehen und gehört hatte, war tot. Er war zusammen mit einer Ehefrau, von der Chance auch nichts gewusst hatte, bei einem Lawinenunglück in Österreich beim Snowboarden umgekommen.

Was Chance im Moment daran am meisten beunruhigte, war, dass er seinen Jeep vermutlich mehr vermissen würde als seinen Bruder. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden – der Altersunterschied von vier Jahren war einfach zu groß gewesen, und Logan hatte seinen kleinen Bruder immer nur als Nervensäge betrachtet. Nachdem er weggezogen war, war der Kontakt einfach abgebrochen.

So hatte Chance erst jetzt erfahren, dass Logan und seine Frau Adele zwei Kinder hinterließen – sechs Jahre alte Zwillinge. Deren Vormund er jetzt war.

„Mr. Foley?“

Chance hob den Kopf und blickte den ordentlichen Mann im grauen Anzug an, der den Besprechungsraum der Anwaltskanzlei Novak und Hamza betrat. Anwaltsgehilfe Lionel Abernathy, wie er sich vorgestellt hatte, machte seinem Namen in Aussehen und Verhalten alle Ehre.

„Ja?“, erwiderte Chance.

„Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ms. Digby hat gerade eine Textnachricht geschickt. Sie ist jetzt auf dem Weg und sollte jeden Moment mit den Kindern hier eintreffen.“

Ms. Digby war eine Anwältin aus Boston, die Chance heute seine Nichte und seinen Neffen vorstellen und die Einzelheiten des Testaments mit ihm durchgehen würde.

„Danke“, sagte Chance.

Er fuhr sich mit beiden Händen durch sein dunkles Haar und lehnte sich im Stuhl zurück. In seiner Kakihose und dem weißen Hemd fühlte er sich seltsam overdressed. Keine Ahnung, wann er die das letzte Mal angehabt hatte, aber es waren die schicksten Klamotten, die er besaß, und er hatte das Gefühl gehabt, einen guten Eindruck machen zu müssen.

Bisher hatte er nur über E-Mails mit Poppy Digby kommuniziert, und in denen hatte sie auch nicht annähernd so lustig und unbeschwert geklungen wie ihr Name. Im Gegenteil, sie war sehr sachlich und direkt gewesen und hatte dabei die Art von Sprache benutzt, die Trost und Zuversicht verbreiten sollte, was ihr aber nicht gelang.

Der Widerspruch zwischen ihrem Verhalten und ihrem Namen hatte ihn so neugierig gemacht, dass er sie gegoogelt hatte. Das hatte ihn aber auch nicht weitergebracht, denn in jedem Foto, das er von ihr fand, wirkte sie wie eine Elfe in Nadelstreifen, was das Ganze noch rätselhafter machte. Auch ihr Lebenslauf auf der Webseite ihrer Bostoner Kanzlei war nicht hilfreich – hier fand er nur ihre Abschlüsse und Beförderungen. Die waren zwar beeindruckend, aber schienen auch nicht so recht zu ihr zu passen.

Kein Wort über ihre Hobbys oder was sie in ihrer Freizeit machte – Informationen, die man mittlerweile in vielen Lebensläufen fand. Oder sollte die Angabe, dass sie gern Biografien von Wirtschaftswissenschaftlern las und sich für Kakteen interessierte, etwa diesen Bereich abdecken?

Also wusste Chance nur, dass sie ihm gleich seine Nichte und seinen Neffen bringen würde. Quinn und Finn – ernsthaft, Logan? Du konntest ihnen jeden möglichen Namen geben und hast dich dafür entschieden?

Und was zur Hölle hatten sich Logan und seine Frau dabei gedacht, ausgerechnet ihn als Vormund ihrer Kinder einzusetzen? Es musste doch Dutzende von anderen Menschen in ihrem Leben gegeben haben, die die Kinder besser kannten und daher für diese Aufgabe auch viel besser geeignet waren.

Es fiel ihm schwer, nicht wütend auf seinen Bruder zu sein. Sechs Jahre lang hätte Chance der nette Onkel sein können, der der nächsten Generation von Foleys zu Weihnachten Päckchen und zum Geburtstag Karten schickte. Jeden Sommer hätten die Kinder ihn besuchen können, und vielleicht wäre er selbst hin und wieder nach Boston geflogen, um sie besser kennenzulernen und Zeit mit ihnen zu verbringen.

Aber nein. Logan hatte Endicott verlassen und war in die große weite Welt aufgebrochen, als Chance sechzehn war – knapp eine Woche, nachdem sie ihre Mutter beerdigt hatten.

Offenbar war es Logan nicht in den Sinn gekommen, dass es für seinen minderjährigen Bruder ein Problem sein könnte, mit sechzehn plötzlich allein dazustehen. Anderthalb Jahre lang hatten sich abwechselnd Felix’ und Max’ Familie um ihn gekümmert, bis er mit achtzehn seine Angelegenheiten selbst regeln konnte. Auch danach war sein Leben nicht unbedingt einfacher geworden, aber er hatte einen guten Job auf der Werft und ein Talent fürs Schreinern, das er von seinem Vater geerbt hatte. So hatte er schließlich eine Lehre zum Bootsbauer gemacht.

Reich wurde man damit heutzutage nicht, aber es hielt ihn über Wasser, und seine Bootsservice-Werkstatt mit angeschlossenem Laden brachte genug ein, damit er jeden Monat auch noch etwas für die Zukunft zurücklegen konnte.

Jetzt musste er natürlich genug für zwei weitere Personen im Haushalt verdienen. Quinn und Finn. Ernsthaft, Logan? Ernsthaft? Zwei kleine Menschen, über die er nichts wusste und die auch ihn nicht kannten. Zwei kleine Menschen, für die er für die nächsten Jahre verantwortlich sein würde. Er musste sie in der Schule anmelden und Mitglied im Elternbeirat werden. Regelmäßig gesunde Mahlzeiten für sie kochen. Darauf achten, dass sie nicht zu viel Fernsehen schauten oder am Computer spielten und dass sie vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause waren.

Er hörte, wie sich irgendwo im Flur eine Tür öffnete und schloss, dann folgte das schwere Klackern von vernünftigen halbhohen Absätzen und das leisere Schlurfen von Turnschuhen. Ms. Digby und die Kinder waren da.

Sein Magen verkrampfte sich. Wieder öffnete und schloss sich eine Tür, dann waren junge und ältere Stimmen zu hören. Danach folgte Stille – bis einen Moment später ein hoher, spitzer Schrei durch die Tür drang, an den sich unmittelbar das Zerbersten von etwas sehr, sehr Teurem anschloss.

Nach einem Moment angespannter Stille hörte Chance wieder eine Tür, dann einen weiteren Schrei – diesmal weniger hoch und mehr wie Raubtiergebrüll –, gefolgt von dem Laut eines Aufpralls, den ein Baseball, ein Buch oder ein Körperteil verursacht haben mochten.

„Ms. Digby“, hörte er dann Lionels Stimme. Sein Tonfall verhieß nichts Gutes. „Das war Ms. Novaks Vander-Award. Der ist aus böhmischem Kristall!“

„Lionel“, erwiderte eine Frau, von der Chance annahm, dass es Ms. Digby war. Es war ihr anzuhören, wie sehr sie darum rang, die Ruhe zu bewahren. „Wären Sie so lieb, kurz auf die Kinder aufzupassen, während ich mit Mr. Foley spreche?“

Lionel murmelte etwas mit gepresster Stimme, das sehr nach „Sind Sie völlig übergeschnappt?“ klang.

„Geben Sie Finn Ihr Handy“, hörte Chance Ms. Digby sagen.

„Auf gar keinen Fall!“

„Die Geräte der Kinder sind aus Versehen beim Umzugsgut verpackt worden“, erklärte Ms. Digby. „Die Kinder langweilen sich schnell. Sie haben doch bestimmt irgendeine App auf dem Handy, mit der Finn sich beschäftigen kann? Quinn war sehr begeistert von ‚Was für ein Kaktus ist das?‘ auf meinem.“

„Nein“, erwiderte Lionel entschieden.

„Ich kaufe Ihnen ein neues.“

Das schien Lionel zu beeindrucken. „Was für eins?“

„Was immer Sie wollen. Und jetzt geben Sie Finn Ihr Handy. Quinn hat bereits meins.“

Chance hörte ein Klackern, das andeutete, dass sie sich dem Besprechungsraum näherte, dann hielt sie noch einmal inne.

„Ach ja, Lionel …“

„Ja, Ms. Digby?“

„Lassen Sie die Kinder keinen Augenblick aus den Augen.“

Chance hoffte, dass er sich das hörbar schwere Schlucken des Anwaltsgehilfen nur einbildete.

„Ja, Ms. Digby.“

Klack-klack-klack-klack-klack. Es wirkte gebieterisch, wie Ms. Digby sich dem Besprechungsraum näherte – doch als sie dann eintrat, machte ihr Erscheinungsbild diesen Eindruck wieder zunichte. Sie trug natürlich Nadelstreifen – einen Bleistiftrock und ein doppelreihiges Jackett in Dunkelblau –, doch Ersterer war mit etwas bekleckert, was vermutlich mal ein Milchshake gewesen war, und Letzteres war zerknautscht und gab den Blick frei auf eine ebenfalls bekleckerte Bluse. Ihr kurzes dunkles Haar, das auf allen Fotos perfekt gestylt gewesen war, wirkte völlig zerzaust, und ihre runde Schildpattbrille hing ihr schief auf der Nase.

Während sie sich näherte, rückte sie die Brille halbwegs zurecht, und ihr Blick wirkte gelassen und souverän. Chance bemerkte, dass ihre Augen von einem klaren Hellgrün waren, wie er es noch nie gesehen hatte. An ihrem Kinn hatte sie etwas Grünes, das in lebhaftem Kontrast zu ihrem leicht verschmierten roten Lippenstift stand. Es erinnerte Chance an einen dieser Matchadrinks, die es bei Julies Java Joint gab.

„Mr. Foley“, sagte sie, nahm ihre lederne Aktentasche in die linke Hand und strecke Chance selbstsicher die rechte hin.

Chance schüttelte sie und stellte fest, dass Ms. Digby einen festen Griff hatte, was er angenehm fand.

„Mein Beileid zum Verlust Ihres Bruders und Ihrer Schwägerin.“

„Danke“, murmelte er automatisch.

Ihre Stimme war so faszinierend wie der ganze Rest von ihr: tief und ziemlich rau für eine Frau. Noch dazu war sie einen ganzen Kopf kleiner als er.

„Ich weiß, Sie wollen so bald wie möglich Ihre Nichte und Ihren Neffen sehen“, fuhr sie fort, „aber es wäre hilfreich, wenn wir zuerst kurz allein über die Wünsche Ihres Bruders und Ihrer Schwägerin sprechen könnten.“

„Okay“, erwiderte er.

Ehrlich gesagt hatte er nichts dagegen, die Begegnung noch ein wenig hinauszuzögern. Noch immer erfüllte ihn die Aussicht, der Vormund der Kinder zu werden, mit reiner Panik.

Sie legte ihre Aktentasche auf den Tisch, nahm einige Dokumente heraus und blätterte sie durch, während er aus dem Fenster schaute. Es war ein herrlicher Tag mit einem strahlend blauen Himmel und einer angenehmen Brise. Zwischen der Kanzlei und dem Fluss erstreckte sich ein Wohngebiet mit hübschen Häusern in baumgesäumten Straßen. Auch die Marina mit ihren vielen Booten war von hier aus zu sehen. Auf dem Fluss herrschte reger Bootsverkehr. An jedem anderen Sonntag wäre Chance mit seinem Sportboot, das er selbst von Grund auf restauriert hatte, unter ihnen gewesen. An keinem Ort der Welt war er lieber als auf dem Wasser.

„Also dann, Mr. Foley …“

„Nennen Sie mich Chance“, unterbrach er sie sanft.

Es wurde ihm immer unbehaglich, wenn andere ihn mehr als einmal Mr. Foley nannten.

Ms. Digby – Poppy, verbesserte er sich, denn er selbst sprach Menschen auch lieber mit Vornamen an – sah aus, als wolle sie ihn nur noch nachdrücklicher Mr. Foley nennen.

„Was wissen Sie über die Situation Ihres Bruders?“, fragte sie.

„Nur das, was mir die Polizisten erzählt haben, die vor ein paar Tagen vor meiner Tür standen und mir seinen Unfalltod mitteilten. Und das, was Sie mir seitdem per E-Mail geschrieben haben.“

Sie nickte. „Sie haben erwähnt, dass Sie nicht mal wussten, dass er verheiratet war und Kinder hatte.“

„Nein. Ich wusste nicht mal, wo er war, bevor Sie mich wegen des Testaments kontaktiert haben. Dass er überhaupt eins hat, überrascht mich fast noch mehr als seine Familie.“

„Wieso?“

„Weil wir beide nicht gerade sehr vorausschauend sind. Unsere Familie hatte einfach nie genug, um sich Gedanken über die Zukunft zu machen.“

„Sie haben also kein Testament?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Das war nie nötig.“

„Wollen Sie Ihre Lieben nicht versorgt wissen, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte?“

„Ich habe keine Lieben, die ich versorgen müsste“, erwiderte er. „Aber da ich mich jetzt um Quinn und Finn kümmere, sollte ich vermutlich eins machen“, fügte er hinzu.

Sie nickte. „Ich kann veranlassen, dass sich jemand von Novak und Hamza deswegen mit Ihnen in Verbindung setzt.“

„Danke.“

Wieder blickte sie auf ihre Papiere. „Also dann, Mr. Foley …“

„Chance.“

Wieder blickte sie zu ihm auf und ging wieder nicht auf sein Angebot ein. „Wie ich schon in der E-Mail schrieb, haben Logan und Adele die Kinder finanziell abgesichert. Die beiden haben einen Treuhandfonds, der alle Kosten abdeckt, bis sie volljährig sind – einschließlich Collegegebühren, Hochzeiten und allem anderen, was nötig sein könnte. Sie erhalten eine monatliche Zahlung aus diesem Fonds für alles, was sie im Alltag brauchen.“

So überrascht Chance über den Treuhandfonds war, er war auch eine Erleichterung. Seine Eltern waren immer knapp bei Kasse gewesen, und Logan und er hatten auf viel verzichten müssen. Er war froh, dass das für seine Nichte und seinen Neffen nicht der Fall sein würde.

„Und Ihr Bruder hat auch an Ihre Bedürfnisse gedacht“, fuhr Poppy fort.

Davon hatte sie noch nichts geschrieben und Chance gab einen überraschten Laut von sich. Er hätte nie gedacht, dass sein älterer Bruder sich um jemand anderen als sich selbst kümmerte. Offenbar war Logan sehr viel reifer geworden, nachdem er die Stadt verlassen hatte.

„Sie klingen skeptisch, Mr. Foley.“

„Chance.“

„Mr. Foley. Aber Logan und Adele wollten sicherstellen, dass ihre Kinder und Sie alles haben, was sie brauchen.“

Sie schob ihm ein Blatt Papier hin. „Das ist ein Statusbericht des Treuhandfonds. Ich schicke Ihnen vierteljährlich ein Update, da ich und meine Firma die Treuhänder sind.“

Anstatt auf das Blatt zu schauen, richtete Chance sich auf. „Sie persönlich sind die Vermögensverwalterin der Kinder?“

„Ja, aber meine Firma wird die Verwaltung des Fonds ebenfalls beaufsichtigen. Ich bin keine Anwältin für Erbrecht, ich vertrete Unternehmen.“

„Aber wenn Sie persönlich die Vermögensverwalterin sind, kannten Sie denn dann meinen Bruder?“

Wieder verdunkelten sich ihre grünen Augen. „Ja. Allerdings kannte ich seine Frau noch besser. Adele war meine Cousine.“

„Oh. Wow.“ Chance schluckte. „Das tut mir sehr leid. Mein Beileid auch Ihnen.“

„Danke.“

Er musste nicht fragen, ob die beiden sich nahegestanden hatte, das sah man ihr an. Also blickte er auf den Fondsbericht. Natürlich hatte er vorher noch nie einen gesehen und wusste nicht, was er sich da durchlas. Es gab viele Spalten und Worte und Zahlen – – Zahlen, die viel mehr Stellen vor dem Komma hatten, als ihm logisch erschien.

„Ich verstehe nicht, was mir das sagen soll“, gab er zu.

Sie riss sich von ihren Gedanken los und wurde wieder zu der nüchternen Anwältin aus ihren E-Mails. Abgesehen von ihrer zerzausten Frisur und dem verschmierten Lippenstift.

„Der Bericht stellt dar, wie hoch die Summe im Fonds der Kinder derzeit ist.“

Wieder blickte Chance auf die Zahlen, die viel zu groß waren für den jungen Mann, der Endicott mit ein paar hundert Dollar und einer gebrauchten Kawasaki verlassen hatte.

Er hob den Kopf „Aber danach sieht es so aus, als hätte Logan mehr als hundert Millionen Dollar gehabt.“

Sie blickte ihn aus ihren hellgrünen Augen gelassen an, und Chance wurde es ganz heiß.

„Das liegt daran, dass Ihr Bruder bei seinem Tod mehrere hundert Millionen Dollar besaß“, erwiderte sie ruhig.

Chance riss die Augen auf. „Wie kommt Logan zu mehreren hundert Millionen?“

„Logan hat für ein Hightech-Unternehmen in Boston gearbeitet, als er …“

„Moment, Moment“, unterbrach er sie wieder. „Logan hat für ein Hightech-Unternehmen gearbeitet?“

Obwohl sein Bruder ihm früh das Programmieren beigebracht hatte und als Teenager ein guter Hacker gewesen war, konnte Chance sich nicht vorstellen, dass er für ein regelmäßiges Gehalt in einem Großraumbüro gearbeitet hatte.

„Ja“, sagte Poppy. „Er hat ein Programm entwickelt, mit dem Unternehmen legal alle möglichen Informationen über die Nutzer ihrer Webseiten sammeln und weiterverkaufen können. Natürlich ist das eine wahre Goldgrube für die Wirtschaft, und die Wirtschaft hat ihn fürstlich dafür bezahlt.“

Okay, das klang mehr nach seinem Bruder. Er hätte sich denken können, dass Logan sein Talent fürs Hacken in bare Münze verwandeln würde.

Poppy zog ein weiteres Blatt aus ihrem Stapel. „Hier ist noch ein Bericht, diesmal für Ihren Fonds, Mr. Foley.“

Er wollte sie gerade erneut korrigieren, als ihm die Bedeutung ihrer Worte klar wurde. „Mein Fonds“?

„Ihr Bruder und Ihre Schwägerin haben einen zweiten Treuhandfonds für Sie eingerichtet.“

Chance wusste nicht, was er sagen sollte, also sagte er gar nichts und blickte Poppy nur verwirrt an.

„Der Fonds der Kinder wird nach und nach auf sie übertragen, wenn sie zweiundzwanzig sind. Zur gleichen Zeit gehen die Mittel in Ihrem Fonds komplett an Sie über.“

Wie aus dem Nichts tauchte eine Erinnerung in ihm auf, an die er schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte – der Wunsch, den er mit fünfzehn an den vorbeifliegenden Kometen geschickt hatte. Ein Wunsch, der laut der Legende jetzt in Erfüllung gehen würde, denn seit zwei Wochen feierte Endicott das „Willkommen-zurück-Komet-Bob“-Festival. Der Gedanke ließ seinen Magen schwer wie Blei werden.

„Wie viel Geld ist in dem Fonds?“

Ihre faszinierenden hellgrünen Augen wirkten ernster als je zuvor. „Eine Million Dollar, Mr. Foley.“

2. KAPITEL

Poppy Digby wartete geduldig ab, wie Chance Foley auf die Neuigkeiten, die sie ihm gerade verkündet hatte, reagieren würde. Doch er saß vollkommen reglos da und starrte sie aus seinen grauen Augen an. Es waren die sinnlichsten grauen Augen, die sie je gesehen hatte, dunkel, heißblütig und geheimnisvoll – Augen, in denen eine Frau sich leicht verlieren konnte.

Sie schob ihre lüsternen Gedanken weit von sich und versuchte sich auf das zu konzentrieren, weshalb sie hier war. Noch immer konnte sie es kaum fassen, dass er vierzehn Jahre lang überhaupt nichts von seinem Bruder gehört hatte. Poppy hatte Logan nicht so gut gekannt wie ihre Cousine, aber sie hatten zu der Zeit, als Adele mit ihm ausgegangen war, und in den ersten Jahren ihrer Ehe öfter gemeinsam etwas unternommen. In den letzten vier, fünf Jahren war sie zu sehr mit ihrer Karriere beschäftigt gewesen, um noch viel zu unternehmen, doch in der Zeit davor hatte Logan seinen jüngeren Bruder oft genug erwähnt, sodass sie angenommen hatte, die beiden hätten ein normales Verhältnis.

Dass Chance nicht einmal etwas von der Existenz seiner Nichte und seines Neffen wusste, hatte sie schockiert. Und jetzt sollte er die Kinder bei sich aufnehmen …

Das war nicht gut. Selbst, wenn sie nicht unerwartet kam, stellte die Vormundschaft für ein Kind alle Beteiligten oft vor große Probleme. Und mit den Foley-Kindern würden diese Probleme den Rahmen des Üblichen deutlich sprengen. Denn die Foley-Kinder waren, wie Poppy in den letzten Tagen festgestellt hatte, keine typischen Kinder. Tatsächlich war sie sich inzwischen nicht mehr sicher, ob sie überhaupt Kinder waren und nicht etwa verkleidete tasmanische Teufel. In den letzten Tagen hatte ihre einzige Beschäftigung darin bestanden, sie davon abzuhalten, alles, was in ihre Reichweite geriet, zu zerstören. Das Wort nein kannten sie offenbar nicht. Oder das Wort Stopp. Oder die Worte Mach das nicht kaputt.

Doch das passierte eben, wenn Menschen – in diesem Fall Adele und Logan – ihre Kinder übermäßig verwöhnten und sie dann, wenn sie nicht mehr mit ihnen zurechtkamen, einer Reihe von ebenfalls zu nachsichtigen Kindermädchen überließen, die alle nach ein paar Monaten fluchtartig das Weite suchten. Denn aus Kindern, die zu sehr verwöhnt wurden und denen niemand Grenzen setzte, wurden eben kleine tasmanische Teufel. Logan und Adele stammten beide aus finanziell schwachen Elternhäusern, und als sie beinahe über Nacht reich geworden waren, hatten sie es einfach übertrieben. Sie kauften alles, was sie und ihre Kinder glücklich machte, gaben ihre Jobs auf und jetteten um die Welt, um all das zu tun, was sie sich früher nicht hatten leisten können. Die Au-pairs der Kinder hatten sie angewiesen, den beiden jeden Wunsch von den Augen abzulesen und sie in ihrem Tatendrang niemals zu bremsen.

Demzufolge waren die letzten Tage ein einziges Chaos gewesen. Natürlich waren die Kinder wegen des Verlustes ihrer Eltern verstört, doch sie waren auch undiszipliniert und schrien nach Aufmerksamkeit – oft im wörtlichen Sinn. Poppy hatte ihr Bestes getan, ihnen zuerst mit Nachsicht, dann mit Nachdruck zu begegnen, doch nichts hatte etwas geholfen.

„Sie haben bestimmt Fragen, Mr. Foley“, sagte sie.

„Chance“, korrigierte er sie. Schon wieder.

Was ihm aber nichts nutzen würde. Sie sprach Klienten nie mit dem Vornamen an. Chance Foley und sie würden in den nächsten fünfzehn Jahren ständig geschäftlich miteinander zu tun haben. Deshalb war es unabdingbar, dass Poppy nie als Chance an ihn dachte. Wenn sie das tat, würde aus ihrer Geschäftsbeziehung womöglich mehr, und in ihrem derzeitigen Leben hatten andere Beziehungen als geschäftliche einfach keinen Platz.

„Ich habe so viele Fragen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll“, sagte Chance.

Das ging Poppy genauso. Doch die meisten davon drehten sich um Chance und seine Geschichte, seine Ansichten und ob er Boxershorts trug oder nicht, also war es vermutlich besser, ihn reden zu lassen.

Schließlich fragte er: „Wie lange sind Sie in der Stadt?“

Das kam unerwartet und stand nicht mal auf ihrer Liste. „Ich fliege heute Abend zurück nach Boston“, antwortete sie.

Nun wirkte er alarmiert statt verwirrt. „So bald schon?“

„Ich muss schnellstmöglich zu meiner Arbeit zurück“, erklärte sie. „Ich habe in zehn Tagen einen wichtigen Prozess und muss noch viel vorbereiten. Ich bin schon jetzt zu lange weg.“

„Aber wir müssen noch über so viel reden!“

„Weshalb wir ja jetzt auch hier sitzen.“

„Aber …“

Er betrachtete sie schweigend aus diesen dunklen, traumhaft schönen Augen und Poppy gab sich Mühe, der Versuchung zu widerstehen, die in ihr aufstieg. Dann lächelte er sie an, und ihre Mühe war vergebens.

„Besteht die Möglichkeit, dass Sie ein paar Tage länger bleiben?“, fragte er. „Und vielleicht bei der Eingewöhnung der Kinder helfen?“

Der Anziehungskraft von Chances rauchgrauen Augen hatte sie nicht viel entgegenzusetzen. Auch seine hohen Wangenknochen und seine sinnliche volle Unterlippe waren nicht zu verachten. Und wenn sie die Augen schloss, waren es seine tiefe, warme Stimme, die sie in seinen Bann zog, genau wie sein erdiger, männlicher Duft. Oh, wie gern wäre sie für immer hiergebl …

„Leider nicht“, sagte sie fest.

Er wirkte niedergeschlagen und sie musste an sich halten, um ihm nicht die Hand auf den Arm zu legen.

„Ich werde Ihnen heute helfen, so gut es geht“, bot sie an und stellte fest, dass ihr das wirklich nichts ausmachte. Wenn sie zu zweit waren, würden sie diese Kinder vielleicht irgendwie bändigen können.

Aber wem wollte sie was vormachen? Selbst Attila und die Hunnen wären mit Quinn und Finn Foley überfordert gewesen.

Ihr Angebot brachte Chance zum Strahlen, und Poppy gab sich Mühe, es ihm nicht gleichzutun.

„Ehrlich?“, fragte er, als sei er sich nicht sicher, ob er sich wirklich freuen durfte „Vielen, vielen Dank. Das würde mir so sehr helfen. Sie kennen diese Kinder, oder? Und die beiden kennen Sie.“

Sie seufzte. „Ich kannte sie früher. Aber vor dieser Woche habe ich sie jahrelang nicht gesehen. Und damals waren sie noch …“ Süß, dachte sie. Lustig. Neugierig. Ja, die beiden waren wirklich entzückend gewesen, als sie noch klein waren. Bevor ihre Eltern sie verzogen hatten.

„Sie waren noch klein“, sagte sie stattdessen. „Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich gut an mich erinnern.“

„Warum haben Logan und Adele nicht Sie zum Vormund eingesetzt?“, fragte Chance. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, fügte er eilig hinzu, „ich bin gern bereit, für sie da zu sein, aber ich wusste ja bis vor Kurzem nicht mal, dass es sie gibt. Ich denke einfach, dass es doch andere Menschen in ihrem Leben geben muss, bei denen sie sich wohler fühlen würden. Menschen wie Sie, zum Beispiel.“

„Adele hat mich mal gefragt, ob ich ihr Vormund werden wolle“, gab Poppy zu. „Das war kurz nach ihrer Geburt.“

„Und warum haben Sie es nicht gemacht?“

„Ich war zu jung“, erklärte sie Chance und hoffte, dass er sich damit zufriedengab. Doch als er sie weiterhin erwartungsvoll anblickte, fügte sie hinzu: „Ich will keine Kinder. Das ist nicht mein Ding. Ich wäre keine gute Mutter.“

Er wirkte überrascht. „Wie können Sie sich da so sicher sein? Ich meine, ich hatte auch nicht vor, Vater zu werden, aber nicht, weil ich denke, ich wäre nicht gut darin. Ich werde es zumindest versuchen.“

„Aber genau das ist es ja“, sagte Poppy. „Man kann die Elternschaft nicht einfach aufgeben, wenn man merkt, dass man nicht gut darin ist. Man kann ein Baby nicht im Babygeschäft zurückgeben und sagen: ‚Ach wissen Sie, das ist doch nichts für mich, kann ich es gegen ein Saxofon tauschen? Vielleicht liegt mir Musik mehr als Kindererziehung.‘ Das geht einfach nicht. Wenn man ein Kind bekommt, ist es einem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, ob man gut ist oder nicht.“

Das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen. Ihre eigenen Eltern hatten sie nicht wirklich gewollt.

„Oh, ich wette, Sie sind in allem gut, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben, Poppy Digby.“

Es war das erste Mal, dass er ihren Namen gesagt hatte, aber es klang, als hätte er ihn schon oft benutzt. Es klang geradezu liebevoll.

Oh, das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Sie hätte ihm niemals ihre Hilfe anbieten dürfen, nicht mal für diesen einen Tag. Sie hätte sich an ihre Pläne halten und hier verschwinden sollen, solange sie noch die Chance hatte.

Bei dem Gedanken verzog sie das Gesicht. Genau darum ging es ja gerade. Sie würde Chance nicht haben, und damit basta.

„Wir müssen noch eine Menge besprechen“, erinnerte sie ihn und deutete auf den Papierstapel. „Adele und Logans Testament, ihre Immobilien, die Schul- und Krankenakten der Kinder …“

„Können wir das heute Nachmittag machen?“, bat er. „Ich kann es jetzt wirklich kaum erwarten, die beiden kennenzulernen.“

Poppy seufzte innerlich. Nach ein paar Minuten mit ihnen würde er es nicht abwarten können, dass der Tag zu Ende ging …

„Natürlich“, sagte sie.

Lionel war bestimmt froh, als Babysitter abgelöst zu werden.

Chance stand auf. „Hoffentlich macht es die Umgewöhnung für die Kinder leichter, wenn wir den Rest des Tages zu viert verbringen.“

Das hoffte Poppy auch. Sie erhob sich ebenfalls. Ob es noch zu früh für einen Martini war?

„Ich habe das Haus so gut wie möglich für sie hergerichtet, bis ihre Sachen aus Boston angekommen“, fuhr er fort. „Ich hoffe, dass es ihnen nichts ausmacht, auf Luftmatratzen zu schlafen, bis ihre Möbel kommen.“

„Die Umzugsleute haben versprochen, dass alles bis Donnerstag ankommt“, sagte sie.

„Nun ist es wohl gut, dass ich nie dazu gekommen bin, mein Gästezimmer auch wirklich einzurichten, zumal ich nie Gäste habe. Und bis dahin habe ich auch mein Büro ausgeräumt, dann haben beide ihr eigenes Zimmer. Die Arbeit mache ich dann einfach in meinem Büro in der Werkstatt. Zu Hause komme ich vermutlich sowieso nicht mehr dazu.“

Sie hätte ihm gern gesagt, dass er sein Leben für die Kinder nicht auf den Kopf stellen musste, doch das wäre eine Lüge gewesen. Selbst in weniger dramatischen Situationen und mit weniger stressigen Kindern stellte Familienzuwachs alles auf den Kopf. Sie hoffte nur, dass die drei irgendwann ein gemeinsames Leben hatten, das sicher nie perfekt, aber zumindest einigermaßen reibungslos verlaufen würde.

„Und ich habe kinderfreundliche Lebensmittel eingekauft“, fügte er hinzu, als sie auf den Flur traten. „Das hoffe ich zumindest. Ich jedenfalls habe als Kind Dino Buddies geliebt.“

Bitte hör auf, hätte Poppy am liebsten gesagt. Denn mit jedem seiner Worte wurde er liebenswerter. Und sie konnte es sich gerade einfach nicht leisten, jemanden liebenswert zu finden. Sie hatte eine Karriereleiter, die sie erklimmen musste. Die sie seit Jahren mit eiskalter, rücksichtsloser, halsabschneiderischer Leidenschaft erklomm. Na ja, bisher hatte sie niemandem den Hals abgeschnitten. Hatte nur hin und wieder jemanden mit einer gemurmelten Entschuldigung sanft zur Seite geschoben. Aber sie war eiskalt und rücksichtslos, da konnte man jeden fragen.

Und inzwischen war sie so weit oben angelangt. Sie war so nah dran. Wenn sie den kommenden Prozess gewann – und natürlich würde sie ihn gewinnen, weil sie noch nie einen verloren hatte –, dann würde sie in ihrer Kanzlei zur Partnerin aufsteigen. Darauf arbeitete sie seit mehr als zehn Jahren hin. Das war für sie das Wichtigste auf der Welt.

„Ach ja, und ich habe auf meinem Dachboden gestöbert“, fuhr Chance fort. „Ich war mir ziemlich sicher, dass da oben noch meine LEGO-Sachen und Pokémon-Karten sein müssen. Ich weiß nicht, ob Kinder das immer noch mögen, aber immerhin wird es sie ein wenig beschäftigen, bis ihre Sachen kommen.“

Lieber Himmel, konnte ein Mann noch süßer sein?, dachte Poppy auf dem Weg zu dem Raum, wo sie Lionel mit den Kindern allein gelassen hatte. Schon nur ein Tag mit ihm würde ihr Herz zum Schmelzen bringen. Ihr eiskaltes, rücksichtsloses, halsabschneiderisches Herz, das niemand – hörst du das, Chance Foley? Niemand! – jemals erobern konnte.

„Danke noch mal, dass Sie mir heute helfen“, wiederholte er, als sie den Empfangsbereich durchquerten.

„Das ist das Mindeste, was ich tun kann“, erwiderte sie.

Was nicht ganz stimmte. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ihn vor den kleinen tasmanischen Teufeln zu warnen, die in ein paar Sekunden in sein Leben treten würden, damit er sich wappnen konnte. Sie blieb stehen.

„Es gibt da etwas, was Sie über die Kinder wissen sollten, Chance, bevor Sie sie kennenlernen.“

Zu spät merkte sie, dass sie seinen Vornamen benutzt hatte. Und wie natürlich es sich anfühlte. Ja, richtig schön sogar.

Auch er blieb stehen. „Gibt es ein Problem?“

Sie seufzte und versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Adele und Logan wurden von ihrem plötzlichen Reichtum ein wenig überrumpelt. Es ging alles ein bisschen schnell – der Umzug von einer Ein-Zimmer-Wohnung, die sie kaum bezahlen konnten, in ein Stadthaus im angesagtesten Viertel. Vom Busfahren zum Mercedes und Ferrari. Von Tiefkühlpizza zum eigenen Koch. Und so weiter.“

Chance nickte. „Ja, ich kann mir vorstellen, dass Logan es etwas übertrieben hat, als er plötzlich so viel Geld hatte.“

„Das war nicht nur ein wenig übertrieben“, stellte Poppy richtig. „Sie haben sich alles gegönnt, was ihnen gerade in den Sinn kam, und haben auch ihren Kindern jeden Wunsch von den Augen abgelesen, ohne jemals mäßigend auf ihre, nun ja, weniger angemessenen Verhaltensweisen zu reagieren. Aber Kinder brauchen nun mal Grenzen und Disziplin, um persönliche Verantwortung und Rücksicht zu lernen. Diese Chance hatten Quinn und Finn nie. Sie sind, kurz gesagt, eine echte Herausforderung.“

„Die beiden sind also maßlos verwöhnt“, sagte Chance lächelnd. „Und dass sie ihre Eltern gerade verloren haben, ist bestimmt auch nicht hilfreich.“

„Nein, auf keinen Fall. Ich nehme an, ihr Verhalten hat sich seitdem noch verschlimmert.“

„Danke für die Erinnerung“, sagte er. „Ich habe mich so darauf konzentriert, das Haus für sie herzurichten, dass ich gar nicht über ihre emotionalen Bedürfnisse nachgedacht habe.“

Was vielleicht auch daran lag, dass er selbst seine Eltern verloren hatte, als er noch ein halbes Kind war. Sie hatte Mitleid mit allen dreien.

„Die kommenden Wochen werden für Sie vermutlich nicht leicht“, sagte sie mitfühlend. „Quinn und Finn sind clever und kreativ, sie finden immer wieder neue, meist destruktive Wege, Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber im Herzen sind sie gute Kinder. Ihnen fehlte nur ein ein bisschen was, trotz ihres Reichtums.“

Chance nickte verständnisvoll.

„Na dann, auf geht’s“, sagte sie und ging auf das Büro zu, wo sie Lionel mit den Kindern zurückgelassen hatte. „Stellen wir Sie Ihrer Nichte und Ihrem Neffen vor.“

Sie machte die Tür auf und betrat den Raum. Es hätte sie nicht überrascht, Lionel an die Heizung gefesselt vorzufinden, während die Kinder schwarze Magie an ihm ausübten. Doch stattdessen saßen die drei um den Besprechungstisch herum und wirkten relativ entspannt.

Zwar war ein Gemälde an der Wand – eins von Picassos Frauenbildern – mit den Resten von Finns zweitem Ananasshake bekleckert, doch die Kinder blickten gebannt auf ihre Handys und Lionel war dabei, die Scherben von Ms. Novaks Trophäe mit Sekundenkleber zusammenzusetzen. Sie sah schon wieder fast wie neu aus. Das war bestimmt nicht leicht gewesen.

„Na also“, sagte er, als er das letzte Stückchen Kristall einsetzte. „Nicht perfekt, aber wieder heil. Vielleicht merkt es Ms. Novak gar nicht.“

Bei seiner Bemerkung blickte Finn von ihrem – oder besser Lionels Handy – auf. Lionel bemerkte es, drückte die Trophäe beschützend an sich und stand auf. Leider stolperte er beim Rückwärtsgehen über seinen Stuhl.

Die Kristallkugel fiel ihm aus den Händen und ging erneut in tausend Scherben. Lionel fluchte wie ein Seemann. Quinn und Finn wiederholten die neu entdeckten Schimpfwörter begeistert im Chor. Sechs Mal.

Hinter Poppy stimmte Chance mit ein, aber zum Glück so leise, dass die Kinder es nicht hören konnten.

Poppy klatschte gespielt fröhlich in die Hände. „Nun ja, hoffen wir mal, dass der Picasso eine Reproduktion ist. Falls nicht, haben die Kinder gerade einen großen Teil ihres Erbes ausgegeben.“

3. KAPITEL

Chance war klar, dass er sehr behutsam sein musste, wenn er nicht wollte, dass ihm die Kinder entglitten, bevor er sie auch nur begrüßt hatte. Andererseits würden sie für den Rest seines Lebens zu ihm gehören – je früher er ihnen also Grenzen setzte, desto besser.

Das hatte er zumindest in den paar Online-Artikeln über Kindererziehung gelesen, die er geschafft hatte, bevor die Panik ihn übermannte.

Bis vor ein paar Tagen hatten Kinder in seinem Leben absolut keine Rolle gespielt und er hatte auch noch nie über sie nachgedacht – weder im Allgemeinen noch darüber, ob er selbst welche wollte. Dass er keine wollte, stand schon lange für ihn fest. Nicht nur, weil er noch nie eine Beziehung gehabt hatte, die ernst genug für diese Frage gewesen wäre, sondern auch, weil seine eigenen Erfahrungen in Sachen Familienleben nicht so toll waren. Das musste man nicht unbedingt wiederholen.

Jetzt allerdings blieb ihm gar keine andere Wahl. Er war jetzt so was wie ihr Vater und er musste sich um sie kümmern, ein Zuhause für sie schaffen, sie nicht nur versorgen, sondern ihnen auch Geborgenheit geben. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.

Während Poppy zu Lionel eilte, um ihm mit den Scherben zu helfen, betrachtete Chance die Kinder. Die beiden waren zweieiige Zwillinge und beide Logan mit seinen dunkelbraunen Haaren und noch dunkleren Augen wie aus dem Gesicht geschnitten. Darüber hinaus erinnerten sie Chance an seine Mutter. Mit etwas Glück hatten sie auch das sonnige Gemüt ihrer Großmutter geerbt. Wenn sie das aktuelle Trauma überwunden hatten, würde es sich hoffentlich zeigen.

Als hätte er laut gesprochen, wandten sich beide Kinder gleichzeitig zu ihm um und blickten ihn skeptisch und trotzig an.

„Wir nennen dich nicht Dad“, verkündete Finn als Begrüßung.

Ihm fehlte ein Schneidezahn, und auf dem Nasenrücken hatte er einen kleinen Kratzer. Ein zu kleines Ninja-Turtles-Pflaster bedeckte eine Schürfwunde an seinem Knie und am Schienbein hatte er einen blauen Fleck. Typische Blessuren für einen aktiven Jungen, der Fahrrad und Skateboard fuhr und auf dem Spielplatz tobte.

„Kein Problem“, sagte Chance und zwang sich zu einem Lächeln. „Ihr könnt mich nennen, wie ihr wollt.“

„Okay. Dann nenne ich dich Onkel Blödföhn.“

Während Chance noch nach einer Antwort darauf suchte, lächelte Quinn ihn an. Auch sie hatte eine Zahnlücke, und ihr Haar war kurz geschnitten. Ihre Zehen- und Fingernägel waren bunt lackiert, die Fingernägel allerdings abgekaut bis zum Nagelbett.

„Hi, Onkel Blödföhn“, sagte sie.

Okay. Das war nicht der beste Start für seine neue kleine Familie. Vermutlich war es keine gute Idee gewesen, den Kindern die Wahl zu überlassen, wie sie ihn nannten.

„Ach, kommt schon. Warum solltet ihr mich so nennen?“

Sie schauten ihn an, als wäre er dämlich. Wofür sie ihn auch hielten, das hatten sie ja schon deutlich gemacht.

„Weil du unser Onkel bist“, sagte Finn.

„Und ein Blödföhn“, fügte Quinn hinzu.

„Ich bin euer Onkel“, stimmte Chance zu, „also könnt ihr mich auch so nennen. Aber wieso denkt ihr, ich wäre ein Blödföhn? Ihr habt mich doch gerade zum ersten Mal gesehen.“

„Das wissen wir einfach“, sagten die Kinder wie aus einem Mund.

Chance atmete tief durch. Ganz gleich, was die Kinder gerade durchmachten, Unhöflichkeit würde er ihnen nicht durchgehen lassen. Vermutlich war es das Beste, wenn er das gleich klarstellte.

„Nun ja, ihr könnt mich nicht Onkel Blödföhn nennen“, sagte er gelassen. „Aber Onkel Chance. Oder einfach nur Chance, wenn euch das lieber ist. Einverstanden?“

Die Kinder ignorierten ihn einfach. Er wollte etwas hinzufügen, doch inzwischen hatten Poppy und Lionel die Scherben aufgesammelt. Lionel verließ fluchtartig den Raum, wobei er etwas von einer Rechnung für den entstandenen Schaden rief.

Poppy blickte ihm unverhüllt neidisch nach, dann wandte sie sich Chance zu und lächelte. Ein wenig. Na ja, ihre Mundwinkel hoben sich minimal.

„Immerhin ist der Picasso wirklich eine Reproduktion“, erklärte sie. „Er hat ein viel tieferes Rot benutzt, und das letzte Mal, als ich das Bild gesehen habe, hing es in der Tate Gallery.“

Offenbar waren berühmte Ökonomen und Kakteen nicht Poppys einzige Interessen. Leider waren sie da grundverschieden. Abgesehen von Booten interessierte Chance sich für kleine Whiskey-Destillerien und Barbecuerezepte. Die einzige Kunst, die er kannte, waren die kleinen „Live Laugh Love“-Türschilder, die Ivy Clutterback samstags auf dem Markt verkaufte. Wieso also fühlte er sich so zu Poppy hingezogen, zerrupft, wie sie aussah? Aber vielleicht lag es gerade daran. So effizient und perfekt sie normalerweise auch war, offenbar störte es sie nicht, dass sie gerade eher einer Naturkatastrophe glich.

„Nehmen Sie sich den Blödföhn nicht zu Herzen“, fügte sie so leise hinzu, dass die Kinder es nicht hörten. „Es könnte schlimmer sein. Mich nennen sie Poopy.“

„Und Sie lassen das zu?“

„Glauben Sie mir, Sie werden Ihre Schlachten wählen müssen. Es stehen Ihnen noch so viele andere bevor.“ Sie schloss die Augen, atmete tief ein und langsam wieder aus. „So viele, viele andere.“

Sprach die Frau mit den zerzausten Haaren, der fleckigen Kleidung, dem verschmierten Lippenstift und grünem Matcha am Kinn. Ohne nachzudenken, hob er die Hand und strich so sanft wie möglich über den Spritzer. Sofort riss sie die Augen auf, zuckte mit dem Kopf zurück und brachte Abstand zwischen sie beide. Sie tastete mit der Hand nach der Stelle und wirkte völlig entgeistert.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich sofort.

Er war selbst mindestens genauso überrascht. Es war sonst nicht seine Art, eine Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte, zu betatschen. Im Gegenteil, einige seiner Ex-Freundinnen hatten sich beklagt, dass er seine Hände eher zu sehr bei sich behielt. Was an Poppy brachte ihn dazu, sich so untypisch zu verhalten?

Vermutlich war gerade alles etwas schräg, weil er unverhofft in einer völlig schrägen Situation gelandet war. Doch wenn er sie so anschaute … Da war irgendwas, das weit über schräg hinausging. Etwas, das er noch nie vorher empfunden hatte und das rein gar nicht mit der Situation, sondern allein mit ihr zusammenhing. Und ihm. Und ihnen beiden.

„Tut mir leid“, wiederholte er. „Ich wollte nur … ich meine, Sie haben da nur …“ Er hob die Hand und deutete an seinem Kinn auf die Stelle, wo bei ihr der grüne Spritzer klebte. „Sie haben da was am Kinn. Ich wollte nur helfen.“

Ohne den Blick von ihm abzuwenden oder die Hand von ihrem Kinn sinken zu lassen, ging sie langsam rückwärts zu der Aktentasche, die sie neben einen Stuhl gestellt hatte. Sie tastete darin herum, bis sie einen kleinen Handspiegel gefunden hatte. Als sie ihr Spiegelbild sah, weiteten sich ihre Augen entsetzt.

Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche und rieb wie wild über den grünen Spritzer, dann über den verschmierten Lippenstift. Danach versuchte sie ihre Haare glatt zu streichen. Doch alles war nur von mäßigem Erfolg gekrönt.

Hinter ihm begannen die Kinder zu kichern. Es erinnerte Chance an einen Horrorfilm, den er als Teenager gesehen hatte. Danach hatte er nächtelang nur bei Licht geschlafen. Sollte er es wagen, sich umzudrehen?

Er wollte gerade Poppy fragen, ob er ihr helfen könne, als sie unvermittelt ihre Bemühungen unterbrach und Spiegel und Taschentuch in ihre Jacketttasche stecke.

„Ich muss ins Hotel zurück“, verkündete sie. „Wir müssen mittags ausgecheckt haben, und sie haben deutlich gemacht, dass wir uns ja nicht verspäten sollen, weil es offenbar irgendeine Veranstaltung in der Stadt gibt, für die alle Zimmer gebraucht werden.“

„Willkommen-zurück-Bob“, erklärte er.

Verständnislos blickte sie ihn an. „Wie bitte?“

Er lachte. „Die große Veranstaltung. Das ‚Willkommen-zurück-Komet-Bob-Festival‘. Wir feiern die Rückkehr von Komet Bob.“

Sie nickte. „Ach ja. Dieser Komet aus den Schlagzeilen?“

„Genau der.“

„Mir war nicht klar, dass deshalb Festivals veranstaltet werden“, gab sie zu. „Aber ich lese auch nicht viele Wissenschaftsnews. Ich bin eher Typ Bloomberg Business und Wall Street Journal.“

„Ach, na ja, ich bin auch mehr Holzbootbau als Scientific American“, gab er zurück. „Aber hier in Endicott ist man sozusagen dazu verpflichtet, sich für den Kometen zu interessieren. Zumindest alles fünfzehn Jahre, wenn er wieder vorbeifliegt. Es ist ein Wunder, dass Sie überhaupt ein Zimmer bekommen haben, ehrlich gesagt.“

„Es war wohl das letzte und auch nur für eine Nacht frei. Deshalb muss ich auch pünktlich auschecken. Die meisten Menschen kommen wohl heute an?“

„Ja, das ist die große Woche, in der Bob der Erde am nächsten ist. Donnerstagabend steht er direkt über uns. Und je näher er kommt, desto wilder wird die Party. Vermutlich besser, dass Sie heute Abend abreisen.“

Obwohl er sich wirklich wünschte, sie würde noch ein paar Tage bleiben. Oder bis die Kinder die Schule abgeschlossen hatten.

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie.

„Nun ja, um den Kometen ranken sich eine Menge Legenden. Einige glauben sogar, dass Bob Wünsche wahr werden lässt. Solche Sachen.“

Poppy lächelte. „Sie scheinen aber nicht daran zu glauben.“

Obwohl der Wunsch, den er vor fünfzehn Jahren an Bob geschickt hatte, dieses Jahr in Erfüllung ging, sagte Chance: „Nicht wirklich. Das meiste sind selbsterfüllende Prophezeiungen, denke ich.“

Hinter ihnen ertönte ein leises Geräusch und beide drehten sich um. Die Kinder lauschten ihrem Gespräch offenbar sehr genau.

„Man kann sich bei dem Kometen was wünschen?“, fragte Quinn.

„Und er erfüllt die Wünsche?“, fügte Finn hinzu.

„Na ja, sie gehen nur in Erfüllung, wenn du in Endicott geboren bist, und das auch nur in einem Jahr, in dem der Komet vorbeiflog. Dann geht dein Wunsch in Erfüllung, wenn er das nächste Mal kommt“, erklärte Chance.

Als die Kinder ihn enttäuscht anblickten, fügte er schnell hinzu: „Das sagen zumindest die Leute. Wer weiß, ob das wirklich stimmt? Vielleicht erfüllt Bob allen Menschen ihre Wünsche, wenn er vorbeifliegt.“

Die Kinder wechselten aufgeregte Blicke, dann schauten sie wieder Chance an.

„Wann bist du geboren?“, fragte Finn.

„Als der Komet vor dreißig Jahren vorbeiflog“, sagte er und stellte fest, dass er klang, als glaube er an Kometenlegenden und sei noch stolz darauf. Aber was sollte er machen? Außerdem war es nett, dass die Kinder sich ausnahmsweise mal wie normale Kinder für etwas interessierten.

„Hast du dir was gewünscht, als er letztes Mal vorbeiflog?“, fragte Quinn.

„Habe ich.“

„Und ist dein Wunsch in Erfüllung gegangen?“

Darauf gab es keine gute Antwort. Im Prinzip war die Million, die er sich vor fünfzehn Jahren gewünscht hatte, im Jahr von Bobs Wiederkehr aufgetaucht, doch es waren Bedingungen daran geknüpft und er musste noch weitere fünfzehn Jahre warten, bis er über das Geld frei verfügen konnte. Und es gab keine Beweise dafür, dass es am Kometen lag. Es konnte auch Zufall sein. Ganz abgesehen davon war es makaber, dass für die Erfüllung des Wunsches jemand hatte sterben müssen. Das war ein gruseliger Gedanke. Also hielt er sich an Zufall.

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete er den Kindern.

„Wie lautete denn der Wunsch?“

Überraschenderweise kam diese Frage nicht von den Kindern, sondern von Poppy. Und sie wirkte verträumt, als sie es sagte, als wäre sie von dem Gespräch über den magischen Kometen genauso hingerissen wie die Kinder.

Chance lächelte. „Das verrate ich nicht.“

Alle drei protestierten enttäuscht.

„Ach, komm schon, Onkel Chance!“, rief Finn.

„Ja, genau“, unterstützte ihn Quinn.

„Keine Chance“, beharrte Chance, den es riesig freute, dass er von Onkel Blödföhn zu Onkel Chance aufgestiegen war – jedenfalls im Moment. „Wenn ich es verrate, geht er vielleicht nicht in Erfüllung.“

Und es stimmte – obwohl sein Wunsch zum größten Teil tatsächlich real geworden war, hatte er das Gefühl, als fehle etwas – als hinge irgendetwas noch im Äther fest und Bob habe seine ganze Macht noch nicht gezeigt.

Poppy riss sich aus ihren Tagträumen los und blickte auf die Uhr. „Ich muss jetzt wirklich los“, sagte sie. „Eigentlich wollte ich mit dem Shuttle zum Flughafen fahren. Aber da ich jetzt den ganzen Tag in Endicott bleibe, klappt das vermutlich nicht.“

„Wann geht denn Ihr Flug?“

„Um halb neun.“

„Ich fahre Sie“, bot er an. „Also ich und die Kinder. Okay, Kinder?“

Ihr Interesse an Bob schien verflogen und sie wirkten nicht sehr begeistert. Hin und zurück war das eine Stunde Fahrt. Aber die würde ihnen allen auch die Gelegenheit geben, sich besser kennenzulernen – ob sie wollten oder nicht.

„Nein“, erklärte Finn mit mehr Nachdruck, als für einen Sechsjährigen gut war.

„Wie bitte?“, fragte Chance automatisch.

„Nein“, wiederholte Finn noch kategorischer. „Wir wollen Poopy nicht mit dir zum Flughafen bringen.“

„Genau, Onkel Blödföhn“, ließ sich Quinn vernehmen. „Wir wollen Pfannkuchen zum Abendessen.“

Das war angesichts der Dino Buddies im Kühlschrank ein Problem.

Also fragte er: „Hey, hattet ihr beiden schon mal Modjeskas?“

Die Kinder blickten ihn neugierig an, sagten aber nichts.

„Na, kommt schon. Ich wette, die Antwort ist nein.“

Die Kinder wechselten einen Blick.

„Was sind …?“, setzte Finn an.

„Modjeskas?“, half Chance aus. „Die sind einfach großartig, glaubt mir. Aber der einzige Ort, wo man welche bekommt, ist Louisville.“

Nun ja, es gab sie auch im Internet, aber das zählte nicht.

„Wenn wir Poppy heute zum Flughafen bringen, können wir auf dem Rückweg anhalten und euch eine ganze Tüte Modjeskas kaufen.“

Die Kinder wirkten interessiert. „Aber was ist das denn?“, fragte Quinn.

Chance machte ein Pokerface. „Sie sind großartig“, wiederholte er. „Das habe ich doch gerade schon gesagt.“

Finn und Quinn blickten ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Sie wirkten nicht begeistert, dass sie in die Falle getappt waren. Eins zu null für Onkel Blödföhn.

„Aber …“

Chance war nicht bereit, seinen Vorteil aufzugeben. „Hey, lasst uns Poppy ins Hotel zurückbringen, okay? Und dann unternehmen wir was in der Stadt. Heute ist eine Menge los, da finden wir schon was Schönes.“

Chance hatte nicht zu viel versprochen, stellte Poppy bald darauf fest. Nicht nur, dass er die Kinder bändigte, was ihr zum ersten Mal seit einer Woche eine Atempause verschaffte. Sie konnte sich sogar in Ruhe umziehen, bevor sie auscheckte – ohne, dass vier kleine Fäuste an die Badtür trommelten und sie hinterher Scherben vorfand. Um zwei vor zwölf stand sie an der Rezeption, und sie musste nicht mal irgendwelche Versicherungsschäden melden. Quinn und Finn waren nach dem Flug gestern Abend tatsächlich zu müde gewesen, um Schaden anzurichten.

Chance und die Kinder warteten in der Lobby auf sie. Er sah genauso fertig aus wie sie noch vor Kurzem – gestresst und zerzaust, mit wirrem Haar und einem Blick, der sagte: Lass das nur ein Albtraum sein, bitte.

„Ich dachte, es wäre eine gute Idee, mit den Kindern bei Bud’s einen Burger zu essen“, sagte er, als sie ihn erreichte. „Aber da habe ich mich wohl getäuscht.“

Sie stellte ihren Trolley ab. „An der Rezeption habe ich gerade gehört, dass es im Park einen Feuerball-Jahrmarkt für Kinder gibt. Vielleicht könnten sie sich da etwas austoben“, sagte sie.

„Bin dabei“, sagte Chance. Er blickte die Kinder an. „Und wie sieht’s bei euch aus? Wollt ihr zum Feuerball-Jahrmarkt?“

„Gibt’s da einen echten Feuerball?“, fragte Quinn mit einem Unterton, den Poppy etwas besorgniserregend fand.

„Aber ja“, log sie, bevor Chance antworten konnte. Die Aussicht auf Brandstiftung würde die Kinder davon überzeugen, dass der Jahrmarkt das perfekte Ausflugsziel war. Nahm sie zumindest an.

Chance blickte sie streng an, doch Poppy lächelte nur.

„Vertrauen Sie mir“, sagte sie.

Sehr überzeugt wirkte er nicht, aber das war Poppy egal. Sie hatte nur noch zwei Posten auf ihrer heutigen To-do-Liste: die Foley-Kinder davon abzuhalten, die Welt zu zerstören, und ihren Flug nach Boston bekommen. Wenn sie Chance bei Punkt zwei vertraute, konnte er ihr auch bei Punkt eins vertrauen. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, dass der Wirbelsturm, in den sie unverhofft geraten war, etwas nachließ. Wenn sie die nächsten sechs Stunden überstanden hatte, wurde alles wieder gut.

Morgen um diese Zeit saß sie wieder an ihrem Schreibtisch.

Aber heute … Nun ja, der heutige Tag war bisher nicht gerade reibungslos verlaufen, aber immerhin konnte sie ein paar Stunden mit etwas anderem verbringen als Exceldateien, Bilanzen und behördlichen Bestimmungen. Wenn Chance und sie die Kinder bändigten, würde sie vielleicht sogar ein wenig Spaß haben. Und hey, sie hatte schon länger keinen Spaß mehr gehabt.

Darüber musste sie kurz nachdenken. War das letzte Mal wirklich im Februar gewesen, beim jährlichen Brunch für die Kanzleipartner? Das war ganz nett gewesen, auch, wenn sie da trotzdem ein Kostüm getragen hatte und es ihre Aufgabe gewesen war, die Klienten bei Laune zu halten.

Und davor, im letzten Herbst, hatte sie ein Date gehabt. Mit diesem Thomas aus dem Patentrecht. Der wirklich faszinierend über Höhere Gewalt gesprochen hatte. Drei Stunden lang. Ja, das war spaßig gewesen.

„Also, auf zum Feuerball?“, fragte sie Chance und die Kinder.

Chance wirkte nicht ganz so begeistert wie Finn und Quinn, aber er nickte.

„Okay, auf zum Feuerball. Bestimmt gibt es auch gebrannte Mandeln. Gebrannte Mandeln machen einfach alles besser.“

4. KAPITEL

Okay, gebrannte Mandeln machten vielleicht nicht alles besser, aber sie bescherten Chance süße Erinnerungen an Momente seiner Kindheit, in denen noch alles gut gewesen war. Dank der gebrannten Mandeln fand Chance den Nachmittag gar nicht so übel.

Leider halfen sie rein gar nichts gegen den Stau auf dem Autobahnzubringer.

Chance blickte zu Poppy hinüber, die auf dem Beifahrersitz seines neuen Jeep saß. Sie blickte immer wieder auf ihre Armbanduhr, dann nervös auf die lange Autoschlange vor ihnen, von der Chance nicht wusste, was sie verursachte. Selbst während des Kometenfestivals gab es hier sonst nie Stau.

„Ich werde meinen Flug verpassen“, sagte Poppy zum wiederholten Male.

„Das schaffen wir“, versicherte Chance. Zum wiederholten Male.

„Die sind bestimmt schon beim Boarding.“

Vermutlich. Trotzdem erwiderte er: „Wenn wir über die Brücke sind, wird es besser. Wir sind gleich auf der Autobahn und da holen wir die Zeit schnell wieder auf. Es wird knapp, aber wir schaffen es.“

„Und das ist der einzige Flug nach Boston heute Abend“, bemerkte sie, auch nicht zum ersten Mal.

„Aber Sie haben doch schon online eingecheckt. Ihr Gate ist A1, direkt hinter der Sicherheitskontrolle. Es ist kein großer Flughafen. Das klappt schon.“

„Wenn wir jetzt bis zum Flughafen freie Fahrt haben.“ Sie blickte auf den Stau vor ihnen. „Aber wir bewegen uns keinen Meter. Ich werde den Flug verpassen.“

Sie hatte recht. Wenn sein neuer Wagen keine versteckten Rotorblätter hatte, kamen sie hier nicht weg.

„Wann sind wir da?“, fragte Quinn vom Rücksitz. Zum wiederholten Male.

„Bald“, sagte Chance. Was bei der derzeitigen Verkehrslage auch innerhalb der nächsten 48 Stunden sein konnte. Oder Jahre.

„Ich habe Hunger“, quäkte Finn. „Wann bekommen wir diese Majestiks?“

„Modjeskas“, korrigerte Chance. „Bald.“

Im Nachhinein war es vielleicht nicht so schlau gewesen, die Kinder mit Süßigkeiten nach Louisville zu locken. Sie hatten schon auf dem Jahrmarkt mehr als genug davon gehabt, und jedes Gramm schien neue Energiereserven in ihnen hervorzulocken.

„Ich muss mal“, verkündete Quinn.

Chance legte den Kopf aufs Lenkrad. „Okay, Sie werden Ihren Flug verpassen“, gab er seufzend zu. „Und es tut mir sehr leid. Normalerweise ist die Straße hier sonntags wie leer gefegt. Offenbar hat es weiter vorn einen Unfall gegeben.“

Auch Poppy seufzte, doch es klang eher resigniert als verärgert. Was Chance überraschte. Sie hatte das Recht, sauer auf ihn zu sein. Schließlich war er sorglos gewesen und sie hatte den Schaden davon.

„Schon gut“, sagte sie müde und zog ihr Handy aus der Tasche. „Ich schaue einfach, ob ich noch eine Nacht im Hotel bleiben kann und dann eben morgen fliege.“

„Ich bringe Sie zum Flughafen“, bot er an.

„Nein, nein“, wehrte sie ab. „Lionel macht das bestimmt gern.“

„Wirklich, es ist …“

„Nein, danke.“

„Aber …“

Sie hielt sich das Handy ans Ohr und brachte Chance damit zum Schweigen. Was er ihr nicht verübeln konnte. Er hätte sich auch keinen zweiten Versuch gegeben.

Die nächsten zehn Minuten verbrachte Poppy mit vergeblichen Versuchen, ein freies Zimmer in der Stadt zu bekommen. Immerhin hatten sie inzwischen im Schneckentempo die Brücke überquert und näherten sich einem geschotterten Parkplatz, den viele andere Autos vor ihnen zum Wenden nutzten.

Chance zögerte nicht lang und ergriff die Gelegenheit. Denn Quinns und Finns Quengeln wurde immer lauter und Poppy war den Tränen nah. Verdammt, das war sein erster Tag als Vater und schon versagte er auf der ganzen Linie.

Wie sollte er zehn Jahre hiervon überstehen? Würde sein ganzes Leben sich nur noch um Kinder drehen, die Hunger hatten oder mal mussten? Würde er nie wieder einen Moment Ruhe haben?

Nachdem er gewendet hatte, gab er Gas und bog mit quietschenden Reifen auf die Auffahrt der nächsten Tankstelle ein. Quinn eilte mit Poppy zur Toilette, Chance mit Finn in den Laden, wo der Junge sich die kleinen Arme voll Chipstüten lud.

„Eine Tüte“, sagte Chance. „Du kannst eine Tüte mitnehmen, aber es gibt nachher noch Abendessen.“

Finn sah aus, als wolle er widersprechen, legte aber überraschenderweise alle Tüten bis auf eine zurück.

Als Poppy und Quinn zurückkamen, fragte Chance Poppy, ob sie auch etwas wolle.

Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Das Einzige, was Poppy wollte, war, in einem Flugzeug zu sitzen und nach Boston zu fliegen. Seine Schuldgefühle wuchsen.

Statt einer Antwort ging sie zum Gang mit den Süßigkeiten und nahm sich eine Schachtel mit Erdnussbutterpralinen. Nicht die Snackschachtel mit zwei Stück, nein, die Familienpackung.

„Das reicht mir“, sagte sie.

Chance bezahlte für alles und brachte seine kleine Schar zum Auto zurück. Poppy machte sich sofort über ihre Pralinen her und die Kinder knusperten hinten Chips. Es schien lächerlich, jetzt noch einmal das Abendessen anzusprechen. Vermutlich sollte er einfach nach Hause fahren. Wenn noch jemand Hunger bekam, würde sich schon etwas finden.

Die restliche Fahrt über herrschte Schweigen. Chance schaltete das Radio ein – und gleich wied...

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
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Melissa Senate
<p>Melissa Senate schreibt auch unter dem Pseudonym Meg Maxwell, und ihre Romane wurden bereits in mehr als 25 Ländern veröffentlicht. Melissa lebt mit ihrem Teenager-Sohn, ihrem süßen Schäfermischling Flash und der spitzbübischen Schmusekatze Cleo an der Küste von Maine im Norden der USA. Besuchen Sie ihre Webseite MelissaSenate.com.</p>
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Nancy Robards Thompson
<p>Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
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Catherine Mann
<p>Bestsellerautorin Catherine Mann schreibt zeitgenössische Liebesromane, die im militärischen Milieu spielen. Ihr Mann, der bei der US Air Force arbeitet, versorgt sie mit allen nötigen Informationen, sodass sie keine Recherche betreiben muss. In der Zeit vor ihren Romanveröffentlichungen machte sie ihren Bachelor in Bildender Kunst auf dem College von Charleston...
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