Bianca Gold Band 77

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150 TAGE BIS ZUM GLÜCK von DAWN TEMPLE
Was hat ihr Großvater sich nur dabei gedacht? Im Testament hat er verfügt, dass Lindy die geliebte Farm nur dann erbt, wenn sie es schafft, dort 150 Tage gemeinsam mit ihrem Ehemann zu verleben. Dabei war sie erst vor einem Jahr vor Travis und seiner Gefühlskälte geflohen!

NIE WIEDER EINSAM? von BRENDA HARLEN
Nach einem tiefen Blick in ihre Augen weiß Nick, dass er in all den Jahren der Trennung nur auf Jessica gewartet hat. Und dieses Mal erfüllen sich alle seine heißen Träume mit ihr. Aber nach sieben Tagen kehrt Jessica in ihre Heimatstadt zurück. Wird er für immer einsam bleiben?

IM TAL DER WILDEN BLUMEN von REBECCA WINTERS
Jeder hält Geena für eine Kriminelle – keiner gibt ihr einen Job! Doch Colt Brannigan stellt sie als Haushälterin auf seiner Ranch ein. Rettungslos verliebt sich Geena in den schweigsamen und unnahbaren Rancher, der viel zu selten lächelt. Was muss sie tun, damit er ihr sein Herz öffnet?


  • Erscheinungstag 16.09.2023
  • Bandnummer 77
  • ISBN / Artikelnummer 8092230077
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Dawn Temple, Brenda Harlen, Rebecca Winters

BIANCA GOLD BAND 77

1. KAPITEL

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages tauchten den Himmel in Purpur und lockten Lindy Lewis Monroe aus der Scheune. Hoffnung erfüllte sie.

Ein schöner Tag für eine Beerdigung, nicht wahr, Pops?

Vor der Beisetzung am Nachmittag gab es noch viel für sie zu tun. Dennoch ließ sie sich Zeit, den Sonnenaufgang zu bewundern und an den Menschen zu denken, der immer für sie da gewesen war.

„Goodbye, Pops. Ich liebe dich.“ Ihre Stimme klang rau von den Tränen, die sie während der letzten Tage geweint hatte.

Eine frische Morgenbrise wehte über den Hof. Lindy zitterte und spürte, wie ihr unter den feucht-klammen Kleidern langsam eine Gänsehaut über die Arme kroch.

Steh nicht herum wie ein Holzklotz, Lindy-Mädchen.

Pops’ Ermahnung war ihr noch vollkommen gegenwärtig. Sie eilte zum Haus. Mitte April lagen die nächtlichen Temperaturen noch nahe dem Nullpunkt. Sie fror in ihren Jeans, die sich mit jedem Schritt kälter und steifer anfühlten.

Die Fliegentür quietschte, als sie die Garderobe betrat, die zugleich als Waschraum diente. Rasch zog sie die schmutzigen Stiefel und Jeans aus. Auch Pops’ altes rot-schwarz gemustertes Arbeitshemd legte sie hier ab. Ein Hauch von seinem Old-Spice-Aftershave hing noch darin, und der Gedanke, den vertrauten Geruch einfach auszuwaschen, machte sie traurig.

Lindy wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und ließ das Hemd auf den Boden fallen. Zitternd spürte sie die kühle Luft auf ihren nackten Armen. In dem T-Shirt, das sie auf der nackten Haut trug, war ihr erst recht kalt.

In der Küche blieb sie einen Moment stehen. Hier war es warm, und sie genoss das Gefühl der Wärme und Geborgenheit. So ging es ihr jedes Mal, wenn sie dieses Haus betrat, denn hier war sie aufgewachsen. Seitdem träumte sie von einem solchen Heim mit einer eigenen Familie.

Nicht alle Träume werden wahr. Sie hatte ihren Teil von „auf immer und ewig“ gehabt, und sie hatte alles verloren: den Ehemann, das Baby, ihr Herz. In Zukunft würde sie ihre Träume mit niemandem mehr teilen.

Lass die Vergangenheit ruhen. Konzentrier dich auf das Heute.

Der Duft ihres Lieblingskaffees begrüßte sie.

Hab ich mir doch gedacht, dass Alice heute Morgen hier war, dachte sie dankbar.

Mit Alice Robertson, Nachbarin und Haushälterin der Familie Lewis, war sie seit vielen Jahren befreundet. Heute war Lindy besonders froh, dass die gute Seele bei ihr war. Der Kaffee stand auf dem Küchentresen bereit.

Wie lieb von ihr. Zum ersten Mal, seit Lindy das Krankenhaus vor drei Tagen verlassen hatte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie wunderte sich nur, warum Alice nicht zum Kaffee geblieben war. Als sie sich umdrehte, erstarrte sie. Auf einmal stand sie der Vergangenheit gegenüber, die sie gerade vergessen wollte.

Travis Monroe.

Ihr stockte der Atem. Sie schloss die Augen, wartete einen Moment und öffnete sie langsam wieder. Er war noch da.

Der Mann, den sie beinahe ein Jahr nicht gesehen hatte, lehnte im Türrahmen, einen dampfenden Kaffeebecher in der Hand. Sein schwarzes Haar war zerzaust, ein Dreitagebart ließ das markante Kinn dunkel erscheinen, und der elegante Anzug war zerdrückt. Travis sah abgespannt aus, aber dennoch – einfach umwerfend.

Seine grün-gold schimmernden Augen waren auf ihr dünnes Shirt gerichtet. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es über ihren Brüsten spannte.

Wahnsinn. Travis taucht hier aus heiterem Himmel auf, und ich spaziere in meiner Unterwäsche in der Küche herum, dachte sie verärgert.

Trotzig weigerte sie sich zu bedecken, was Travis ohnehin kannte. „Was tust du denn hier?“

Der betont kühle Klang ihrer Stimme schien ihn aus seiner Benommenheit zu wecken. Er sah sie an. Verlangen und Zorn spiegelten sich in seinen Augen wider und ließen Lindy einen Schritt zurücktreten.

„Wo ist denn dein legendärer Charme geblieben?“

Sie schob das Kinn vor. „Höflichkeit ist für Freunde und Gäste bestimmt. Du gehörst nicht dazu.“

„Nein, ich bin nur dein Ehemann.“ Travis trat auf sie zu, die Lippen aufeinandergepresst. Lindy erinnerte sich, wie warm und weich sie sich anfühlten, wenn er sie küsste …

Hör auf! ermahnte sie sich.

„Wie bist du ins Haus gekommen?“ Alice hätte ihn bestimmt nicht einfach hereingelassen, ohne sie wenigstens zu warnen.

„Die Haustür war nicht abgeschlossen.“

Verblüfft runzelte Lindy die Stirn. Sie stemmte die Hände in die Hüften, wobei sie so tat, als trüge sie ihren Lieblingsoverall aus dichtem Jeansstoff statt des durchsichtigen Shirts. „Bei uns in Lands’ Cross wird nur das Hühnerhaus abgeschlossen. Denn eigentlich tauchen nur dort gelegentlich unliebsame Gestalten auf.“

Lindy sah, wie Travis den Kaffeebecher fester umschloss, bis die Fingerknöchel weiß schimmerten. Als ihr bewusst wurde, dass sie Travis gerade mit einem Fuchs oder Marder verglichen hatte, stieg ihr Hitze in die Wangen. Wie kam es nur, dass sie bei Travis immer ihre normale Freundlichkeit vergaß?

Die Antwort kannte sie. Er hatte sie so tief verletzt wie niemand zuvor.

„Deine spitze Zunge hast du jedenfalls nicht verloren.“ Travis nahm einen Schluck Kaffee. Ihre Blicke trafen sich. „Obwohl ich mich gut daran erinnern kann, dass deine Stimme auch auf andere Art und Weise leidenschaftlich klingen kann.“

Das hatte auch sie nicht vergessen. Viel zu oft dachte sie daran. Aber das behielt sie für sich. Travis brauchte nicht zu wissen, wie oft er bei Tag wie bei Nacht in ihrer Erinnerung eine Rolle spielte.

„Es tut mir leid, wenn du den ganzen Weg umsonst auf dich genommen hast, aber ich habe viel zu tun, Travis. Und wir wissen doch beide, wie beschäftigt du bist. Ich rufe später deine Sekretärin an. Mit Marge kläre ich dann alles, während du deinen ach so wichtigen Aufgaben nachgehst.“

Travis trat einen Schritt auf sie zu. „Glaubst du, ich bin freiwillig hier?“

„Etwa nicht? Ich habe dich nicht darum gebeten.“

„Sicher nicht“, sagte er bitter. „Du hast mir klar und deutlich gesagt, wem du dich verpflichtet fühlst.“

„Wem ich mich verpflichtet fühle?“ Ihre Hände begannen zu zittern. Warum habe ich bloß Pops’ Hemd nicht anbehalten? Auf einmal fühlte sie sich auch äußerlich verletzbar.

„Sprich mir nicht von Verpflichtungen.“ Wütend sah sie ihn an. Wie oft hatte er sie alleingelassen, wenn er eigentlich für sie hätte da sein sollen!

„Du bist diejenige, die gegangen ist!“ Travis’ Stimme klang eisig. „Ich habe dich nie für einen Feigling gehalten, bis ich die Nachricht fand, die du mir vor einem Jahr hinterlassen hast. Dabei warst du immer so stolz, eine ‚echte Lewis‘ zu sein.“

Eine echte Lewis. Das war Pops’ Lebensmotto.

„Wage ja nicht, meinen Großvater zu zitieren.“ Lindy spürte einen Knoten im Magen. „Du verbringst zu viel Zeit mit deinem Bruder. Von ihm hätte ich eher eine so gemeine Bemerkung erwartet.“

Lindy wusste, dass sie ihm wehtat, aber sie wollte sich nicht von sanfteren Gefühlen leiten lassen. „Wenn du gekommen bist, um mich zu ärgern, ist dir das gelungen. Du kannst jetzt gehen.“

„Ist das deine Antwort? Die Sachen packen, wenn’s schwierig wird, und abhauen?“

„Hatte ich damals eine Wahl? Warum hätte ich bleiben sollen?“ Lindy merkte, dass sie laut wurde, aber es kümmerte sie nicht. „Jeden Tag hast du zwanzig Stunden gearbeitet, die ganze Woche hindurch. Und wenn du für ein paar Stunden nach Hause gekommen bist, was selten genug der Fall war, hast du im Gästezimmer geschlafen. Hast du eine Vorstellung, wie demütigend das für mich war?“

Sie atmete tief durch. Selbst nach einem Jahr verkrampfte sich ihr Herz, wenn sie daran dachte, dass sie für Travis nichts als eine Verpflichtung gewesen war.

„Ich wollte dich nie verletzen, Lindy. Ich wusste nicht, was für dich wichtig war, was du brauchtest.“

„Du hättest fragen können.“ Sie hatte sich verzweifelt nach seinem Zuspruch gesehnt, aber er hatte geschwiegen. Und er war nie da gewesen.

„Ich habe geglaubt, ich könnte noch warten, bis du dich nach dem Unfall wieder ganz erholt hast. Außerdem hatte ich Hemmungen, ein so schwieriges Thema anzusprechen.“ Er ließ die Schultern sinken. „Unsere Beziehung war schon problematisch genug.“

„Das bisschen, das von unserer Beziehung übrig war, ist jedenfalls in der Unfallnacht gestorben.“ Die Stimme versagte ihr, wie jedes Mal, wenn sie an den Autounfall dachte, der ihrer aller Leben zerstört hatte. Unwillkürlich legte sie die Hände auf den Bauch. Hätte ihre Ehe überlebt, wenn ihr Sohn nicht umgekommen wäre?

In Travis’ Augen flackerte der Schmerz auf. Lindy hatte niemals an seiner Trauer gezweifelt. Leider waren das die einzigen Gefühle, die sie miteinander teilten.

„Was würde ich dafür geben, wenn ich den Unfall ungeschehen machen könnte“, flüsterte Travis. Die Wärme, die in seiner Stimme mitschwang, tat Lindys empfindsamen Nerven wohl, schwächte aber gleichzeitig ihre Abwehr.

Um sich zu schützen, flüchtete sie sich in Unhöflichkeit. „Auch du kannst die Vergangenheit nicht ändern.“ Verzweifelt wandte sie sich zum Gehen, bevor er noch die Tränen sah, die in ihren Augen brannten. „Ich muss mich heute um eine Beerdigung kümmern.“

Aber Travis hielt sie am Arm zurück und ließ seinen Daumen zärtlich über ihre Haut gleiten. „Es hat mir so leidgetan, von deinem Verlust zu hören. Ich weiß doch, wie lieb du Lionel hattest.“

Sie hörte kaum seine Worte, spürte nur seine Berührung. Ob Travis ihren beschleunigten Pulsschlag fühlte? Mit aller Kraft versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, und sah ihn missbilligend an.

Aber Travis ließ sich nicht täuschen. Was für Probleme sie auch immer hatten, die erotische Chemie zwischen ihnen hatte immer gestimmt.

Seufzend entzog Lindy ihm den Arm. „Tu uns beiden den Gefallen, Travis. Fahr zurück nach Atlanta, wo du hingehörst.“

Travis stand im Schatten einer Eiche auf dem ländlichen Friedhof und beobachtete Lindy. Gerade aufgerichtet und stark wie ein Soldat stand sie da. Nur die Hände, die ein Taschentuch umklammert hielten, zitterten.

Wenn sie nicht bald etwas Druck ablässt, bricht sie zusammen, dachte er mitfühlend.

Trotz der Anspannung sah Lindy hinreißend aus. Sie hatte ihre blonden Locken zu einem kleinen Knoten im Nacken geschlungen. Der schwarze Hosenanzug betonte ihre weiblichen Rundungen. Sie trug keine Sonnenbrille, sondern stellte sich den Strahlen der Sonne und den Blicken der Anwesenden.

Zum dritten Mal während der letzten halben Stunde spürte er das Vibrieren seines Handys an seinem Körper. Er stellte es ab. Monroe Enterprises, oder besser: sein Bruder und sein Vater, mussten ein paar Tage ohne ihn auskommen.

Ich fahre nirgendwohin, dachte er, bevor ich nicht weiß, warum ich zu Lionel Lewis’ Beerdigung gebeten worden bin. Travis hatte den alten Mann respektiert, hatte Pops’ Lebensart und seine Bemühungen bewundert, immer das Glück der Familie – Lindys Glück – ganz obenan zu stellen.

Sein Blick wanderte zu dem vierschrötigen Mann an Lindys Seite. Er kannte ihn, hatte einmal beobachtet, wie Lindy ihre Arme um diesen groben Hinterwäldler geschlungen hatte.

Nachdem Travis vor einem Jahr Lindys Abschiedsbrief gelesen hatte, war er nach Tennessee gerast, um noch einmal mit ihr zu reden. Und das Ergebnis? Er hatte Lindy beim Tanzen mit irgend so einem Bauernjungen angetroffen und auf schnellstem Weg die Stadt wieder verlassen.

Den Namen dieses Mannes erfuhr er von der Besitzerin der Pension, in der er damals übernachtet hatte.

„Was für ein Glück, dass es Danny Robertson gibt“, hatte die alte Dame gelobt. „Lindy braucht einen starken Mann zum Anlehnen in dieser schweren Zeit. Danny ist so ein netter Junge.“ Seine Gastgeberin ließ kein Detail über Lindys langjährige Freundschaft mit dem Geschäftsführer des örtlichen Ladens für Landwirtschaftsbedarf aus.

Wie halten es die Menschen bloß in diesem gottverlassenen Nest aus?

Während Travis die Beerdigung verfolgte, ohne Lindy aus den Augen zu lassen, kam ihm ein Gedanke. Vielleicht wusste sie ja gar nicht, dass ihr Anwalt ihn angerufen und über den Ablauf der Bestattungsfeier und das geplante Treffen am Nachmittag informiert hatte.

Sie schien am Morgen über sein Kommen total überrascht gewesen zu sein. Und das nicht nur, weil er sie fast nackt erwischt hatte. Sie hatte ja praktisch nicht mehr getragen als zwei Streifen Baumwolle! Wann hatte er das letzte Mal so viel von ihrer weiß schimmernden Haut gesehen?

Einen Augenblick lang war er von seinen Gedanken so abgelenkt, dass er zuerst nicht bemerkte, wie Robertson Lindy seine riesige Pranke auf die Schulter legte. Würde sie die Hand abschütteln, sich die Annäherung verbitten?

Nein. Sie berührte Robertsons Finger, neigte den Kopf und lächelte den großen Mann an. Travis sah genau, wie der daraufhin stolz den Brustkorb vorschob. Travis’ Magen verkrampfte sich, und er trat mit geballter Faust einen Schritt vor.

Glücklicherweise siegte die Vernunft. An Lionels Beerdigung durfte er schließlich keine Prügelei beginnen.

Lindy kam es vor, als wäre die gesamte Bevölkerung von Land’s Cross anwesend und wollte ihr zum Verlust ihres Großvaters ihre Anteilnahme bezeugen. Die meisten Trauergäste kannte sie schon ein Leben lang, und trotzdem drehten sich ihre Gedanken den ganzen Nachmittag nur um eine Person – Travis.

Warum war er hier? Zu gern hätte sie das gewusst. Wollte er sie trösten? Ihr schließlich doch noch beistehen in dieser schweren Zeit? Nein, ihr Stolz weigerte sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen.

Würde die unangebrachte Hoffnung in ihrem Herzen niemals die Wahrheit akzeptieren? Travis hatte während ihrer kurzen Ehe wieder und wieder gezeigt, dass sie für ihn nicht an erster Stelle stand. Auch als zukünftige Mutter seines Kindes gebührte ihr noch nicht einmal der zweite Platz. Zuerst kamen seine Familie und sein heiß geliebtes Unternehmen Monroe Enterprises.

Als die meisten Trauergäste bereits auf dem Weg zur Farm waren, konnte Lindy endlich das gezwungene Lächeln aufgeben. Sie biss die Zähne zusammen, als sie Travis entschlossen über den Rasen auf sie zukommen sah. Seine Augen waren nur auf sie gerichtet und jagten ihr einen Schauer über den Rücken.

„Du hältst doch durch?“, flüsterte ihr Danny zu.

Seit ihrer Kindheit waren sie und Danny Freunde. Lindy wusste, was Danny meinte: Sag mir, wenn dir nach Weinen ist. Ich bringe dich hier weg, ehe irgendjemand auch nur eine Träne sieht. Danny war eben ein richtiges Goldstück.

Sie brachte ein stummes Nicken zustande, aber ihr Blick suchte Travis, der langsam, wie im Zeitlupentempo, immer näher kam. Gute zehn Meter trennten sie noch voneinander, und doch fühlte sie sich durch seine starke körperliche Ausstrahlung wie abgeschirmt von den anderen.

Ein wunderbares Gefühl. Das war mehr als Chemie …

In diesem Augenblick trat Chester Warfield auf sie zu, Pops’ langjähriger Anwalt und bester Freund. Tränen traten in ihre Augen, als der stämmige Mann sie umarmte. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und gab sich einen Moment der Hoffnung hin, dass alles gut werden würde.

Aber dann hörte sie plötzlich, wie Travis sich räusperte.

Sie brauchte sich nichts vorzumachen. In ihrem Leben war gar nichts gut.

Der Anwalt tätschelte ihr freundlich den Rücken und wandte sich Travis zu. „Sie müssen Mr Monroe sein. Ich bin Chester Warfield. Wir haben gestern miteinander telefoniert.“

Travis nickte und schüttelte dem älteren Mann die Hand.

„Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Mr Monroe, auch wenn die Umstände so traurig sind.“

Lindy musterte die beiden, Travis mit seiner undurchschaubaren Miene und Chester mit seinem komischen Lächeln. „Sie kennen sich?“

„Nicht direkt.“ Chester räusperte sich. „Als Ihr Anwalt war es meine gesetzliche Pflicht, mit ihm Kontakt aufzunehmen.“

„Gesetzliche Pflicht? Was meinen Sie damit?“ Einen Moment fühlte Lindy sich wie vor den Kopf geschlagen.

Danny berührte ihren Ellenbogen. „Wolltest du nicht gehen, Lindy?“

Sie schaute zu ihm auf. Ihn hatte sie ganz vergessen. „Nein“, entgegnete sie und blickte dann zu Chester. „Erzählen Sie. Was bedeutet das?“

Einen Moment fühlte sie Panik aufkommen, als sie sah, wie Röte in Chesters Wangen stieg. Ihre inneren Alarmglocken begannen zu läuten, und ihr Blick flog zu Travis. Seine Miene blieb undurchdringlich.

„Spucken Sie es aus.“

Chesters sah bedeutungsvoll zu Danny. „Hier geht es um eine Familienangelegenheit.“

„Danny, würdest du uns bitte entschuldigen?“, forderte Lindy ihren Freund auf.

„Na klar. Ich warte am Truck auf dich und bring dich nach Hause, wenn du fertig bist.“

„Das wird nicht nötig sein“, mischte sich Travis jetzt zum ersten Mal ein. „Wenn die Familienangelegenheit geregelt ist, bringe ich meine Frau nach Hause.“

Travis und Danny standen sich gefährlich nahe gegenüber und starrten sich wütend an.

Wütend packte Lindy die Männer am Arm. „Ihr beide steht da wie zwei aufgeblasene Muskelprotze. Reißt euch zusammen.“ Sie atmete tief durch und zählte bis zehn. Dann bis zwanzig. „Ich ruf dich morgen an, Danny. In Ordnung?“ Ein Kuss auf die Wange zum Abschied, ein letzter wütender Blick in Travis’ Richtung, dann marschierte Danny ab zu seinem Truck.

Gespannt wandte Lindy sich Chester zu. „Vermutlich hat das, was Sie mir sagen wollen, mit ihm zu tun.“ Sie deutete mit dem Daumen auf Travis.

Chester nickte. „Gestern habe ich mit Mr Monroe telefoniert und ihn in meiner Aufgabe als Testamentsvollstrecker des Lewis-Vermögens über den Tod von Mr Lewis und über seine Anwesenheitspflicht beim Verlesen des Testaments informiert.“

„Warum?“ Lindys Alarmglocken schrillten nun erst recht.

„Ihr Großvater hat sein gesamtes Vermögen Mr und Mrs Travis Monroe hinterlassen.“

Lindys Mut sank. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Körper und schloss einen Moment die Augen. Sie glaubte, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen.

Mr und Mrs Travis Monroe. Plötzlich war ihr, als schwanke der Boden unter ihren Füßen. Travis legte ihr einen Arm um die Schultern und brachte damit ihre Welt wieder ins Gleichgewicht.

„Nein“, flüsterte sie. Travis’ Gesicht war ihrem ganz nahe. „Rühr mich nicht an. Zumindest weiß ich jetzt, warum du hier bist. Du bist wegen Pops’ Testament nach Land’s Cross gekommen.“

„So ist es wohl.“

Sie hatte es gewusst. Seine Anwesenheit hatte nichts mit ihr zu tun. Aber die Wahrheit aus seinem Munde zu hören, tat dennoch weh. Siehst du, Pops, er will mich nicht, dachte sie bitter.

Woher willst du das wissen, Lindy-Mädchen? Hast du ihn gefragt? Hast du ihm jemals gesagt, was du wolltest? Lindy erinnerte sich an Pops’ Worte. Ihr altmodischer Großvater hatte immer wieder versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie ihrer Ehe eine zweite Chance geben sollte.

„Kommen Sie, Lindy. Geben Sie ihm eine Chance.“ Chesters Stimme holte sie aus ihren Gedanken zurück. „Er tut nur, was Lionel wollte.“

„Warum fragt mich niemand, was ich will?“ Sie wünschte sich, Pops wäre noch am Leben. Als Travis etwas entgegnen wollte, unterbrach sie ihn. „Mach dir keine Mühe, Travis. Du kannst mir nicht geben, was ich will.“

Sie wollte, dass Pops noch lebte. Und sie wollte eine Lehrfarm für Schulkinder. Country Daze sollte Wirklichkeit werden.

Außerdem wünschte sie sich, Frau und Mutter zu sein.

„Ich will nach Hause.“

Travis sah Lindy hinter der großen Eiche in der Mitte des Friedhofs verschwinden – ein perfekter Ort, um sich auszuweinen.

Du kannst mir nicht geben, was ich will.

Das war nichts Neues für ihn. Er hatte seiner Frau gegenüber versagt, in jeder Hinsicht.

Schneller als erwartet kam sie wieder hinter dem Baum zum Vorschein. Ihr Gesicht zeigte Entschlossenheit. Verschwunden war der Haarknoten, die blonden Locken fielen ihr über die Schultern. In der rechten Hand trug sie die schwarzen Pumps, in der linken die schwarzen Strümpfe.

Was zum Teufel hat sie vor?

Eine leichte Brise zauste ihr Haar, eine Haarsträhne streichelte Mund und Wange. Travis schluckte. Heißes Verlangen brannte in seinem Inneren.

Neben ihm räusperte sich Warfield.

„Lindy, was hast du vor?“, rief Travis ihr zu.

„Ich sagte doch, ich gehe nach Hause.“

Kopfschüttelnd folgte er ihr und holte sie ein. Er hielt sie am Arm zurück. „Warte. Du kannst mit mir fahren, Lindy. Mein Wagen steht dort drüben.“ Er deutete in die Richtung, die Warfield eingeschlagen hatte.

Lindy wollte weiterlaufen, aber Travis ließ sie nicht los. „Verdammt, Lindy. Hier ist doch sonst niemand mehr, der dich nach Hause fahren kann.“

Einen Moment wirkte sie eher ängstlich als zornig. „Ich will nicht, dass du mich nach Hause bringst.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich gehe zu Fuß.“

Verblüfft sah er, wie sie einfach quer über den Rasen stapfte. Aber dann hörte er hinter sich das Knattern eines Dieselmotors. Warfields Truck hielt neben ihm.

„Ich sagte doch, dass sie eigensinnig ist, mein Junge“, erklärte Warfield. „Wenn sie sich entschlossen hat, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen, können Sie darauf wetten, dass sie das auch tut. Auf keinen Fall lässt sie sich von einem Gegner nach Hause bringen.“

„Gegner?“

„Ja, Sie und ich, mein Junge. Sie glaubt, dass wir beide unter einer Decke stecken und versuchen, ihr die Farm wegzunehmen. An Ihrer Stelle würde ich mich ein bisschen zurückhalten, bis sie erkennt, dass sie sich getäuscht hat. Außerdem steigt Lindy niemals in Ihren tollen Wagen.“

„Wieso nicht?“

„Natürlich wegen dieser Panikattacken. Sie erträgt höchstens einen Pick-up. Ein normaler Wagen kommt überhaupt nicht infrage. Ich rufe Danny Robertson an. Der fährt einen großen Dodge und wird sich um sie kümmern. Keine Sorge.“

Panikattacken? Wie angewurzelt blieb Travis stehen. Seine Augen folgten den tanzenden blonden Locken, bis Lindy hinter einem Hügel verschwunden war.

Ein Gefühl tiefer Schuld überwältigte ihn. Kein Wunder, dass Lindy ihn hasste. Sie hatte seinetwegen so viel verloren. Der Gedanke, dass sie beim Autofahren Panikattacken haben könnte, war ihm nie gekommen.

Verstehen konnte er es aber. Schließlich hatte sie zweimal einen Autounfall überlebt. Er würde nie die Angst in ihren Augen vergessen, den Schmerz in ihrer Stimme, als sie ihm von dem Unfall erzählte, bei dem ihre Eltern umkamen und sie stundenlang mit ihnen im Wagen eingeklemmt gewesen war.

Und dann das Unglück vor einem Jahr, an einem regnerischen Abend, als sie beide gemeinsam von einer Geschäftsparty nach Hause fuhren. Sie hatten wieder einmal gestritten. Als er versuchte, einem entgegenkommenden Mini-Van auszuweichen, geriet sein Lexus ins Schleudern und krachte mit der Beifahrerseite gegen einen Begrenzungspfahl. Lindy erlitt einen Armbruch, und sein ungeborener Sohn kam ums Leben. Ihre Ehe war zerstört.

Er musste einen Weg finden, das wiedergutzumachen. Das war er Lindy schuldig.

2. KAPITEL

Es war schon zwölf Uhr siebenunddreißig, als Travis am nächsten Morgen in dem Zimmer erwachte, das er in einer Pension gemietet hatte. Er war spät dran.

Am Tag zuvor war er nach der Beerdigung ziellos in der Gegend herumgefahren und hatte versucht, seine Gedanken zu ordnen. In der Pension hatte er dann geduscht und an die Zimmerdecke gestarrt, bis die Erschöpfung ihn gegen Morgengrauen einschlafen ließ.

In einer Stunde sollte das Treffen mit seiner misstrauischen Ehefrau und dem einfallsreichen Anwalt stattfinden.

Missmutig sah er sich um. Statt in diesem lumpigen Pensionszimmer wäre er lieber an der Seite seiner Frau, wollte sie trösten und lieben. Aber Lindy wollte nicht in seiner Nähe sein, und nach allem, was er ihr angetan hatte, konnte er ihr das auch nicht verübeln.

Travis drängte die Erinnerungen beiseite, duschte und rasierte sich. Zugegeben, dass er in Lionel Lewis Testament genannt worden war, hatte seine Neugier geweckt. Was hatte der alte Mann im Sinn?

Er würde es bald genug herausfinden.

Sein Handy klingelte. Es war sein Bruder, und vermutlich steckte er in Schwierigkeiten. Wieder einmal.

„Ich habe jetzt keine Zeit. Um was geht es, Grant?“

„Ich musste Dad versprechen, heute Abend mit der Tochter eines Kollegen – einer alten Jungfer – zum Frühlingstanz in den Country Club zu gehen.“

„Welcher Kollege?“

„Burt Tanner.“

Hatte Winston Monroe den Verstand verloren? Ein „Blind Date“ zwischen Grant und der einzigen Tochter seines Bankers?

„Was geht mich dein Privatleben an?“

„Du musst dieses Mauerblümchen ausführen. Ich habe eine Verabredung mit deiner alten Flamme.“

Grant und Julia Wellborne? „War deine Verabredung mit Julia vor der Verabredung mit Tanners Tochter vereinbart?“

„Wen interessiert das?“

„Also nicht. Das zeigt wieder einmal, was für ein egoistischer Kerl du bist.“

Grant wollte sich verteidigen, aber Travis ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Du hast keine Wahl, Grant. Monroe Enterprises braucht die finanzielle Unterstützung von Tanner, um das Renovierungsprojekt in der Stadt durchzuführen.“

„Ich brauche keine Predigten“, antwortete Grant gereizt.

„Du musst lernen, die Konsequenzen für deine Handlungen selbst zu tragen. Wenn du diese Verabredung platzen lässt, gefährdest du damit ein Zehn-Millionen-Dollar-Geschäft. Einen so hohen Verlust kann Monroe Enterprises nicht verkraften.“

„Ich hätte mir denken können, dass du wieder den ‚Heiligen Travis‘ spielst.“ Grants Worte klangen jetzt weniger feindselig – eher resignierend, und Travis hoffte, dass sein Bruder Susan Tanner nun doch nicht im Stich lassen würde.

„Tu einmal in deinem Leben das Richtige“, schloss er.

Am Sterbebett seiner Mutter hatte Travis versprochen, sich um seinen Vater und seinen charakterlich schwachen Bruder zu kümmern. Die Mutter zu verlieren – den einzigen Menschen, der immer zu Travis gehalten hatte –, war ein großer Verlust gewesen. Jahrelang hatte er versucht, die Leere seines Herzens mit Arbeit auszufüllen, indem er Monroe Enterprises zu einem internationalen Unternehmen machte. Dennoch, die Leere blieb. Bis er Lindy begegnete …

„Verflixt.“ Er ergriff den Zimmerschlüssel und lief zu seinem Wagen. Glücklicherweise war Land’s Cross ein kleinerer Ort. Zehn Minuten sollten für die Fahrt bis zu ihrer Farm genügen.

Er verspätet sich, sagte sich Lindy. Travis war wieder in ihr Leben hineingeplatzt und weckte unzulässige Wünsche. Und nun zeigte er nicht einmal den Anstand, pünktlich zu erscheinen.

Verärgert ging sie bis zur hinteren Ecke der Veranda, die das Haus zu drei Vierteln umfasste. Vor ihr erstreckten sich neunhundertsechzig Hektar Getreideland, auf dem die jungen Halme mit ihrem frischen Grün aus dem Boden schauten. Sie atmete tief durch, seufzte und ging langsam wieder zurück. Lächelnd lehnte sie sich an das Geländer.

Eigentlich wirkte diese Landschaft immer beruhigend auf sie, aber beim Anblick der Felder begann ihr Herz schneller zu schlagen. Das letzte Jahr hatte sie diese sechzehn Hektar Land in ein Gelände umgewandelt, auf dem sich einer ihrer Kindheitsträume erfüllen sollte …

Die alte Scheune stand noch genauso da, wie Lindys Großvater sie vor einem halben Jahrhundert erbaut hatte. Aber der Anbau an der Nordseite war ihr Werk. Es sollte das Herz der Country Daze Farm werden, wo sie täglich Dutzende von Schulkindern betreuen und sie lehren wollte, wie man einen Viehbestand versorgte. Die Kinder würden hier Eier sammeln, Baumwolle pflücken und die Mutigen sogar Kühe melken. Hinter der Scheune sollte ein Bereich für „Kuscheltiere“ geschaffen werden.

Als Lindy aus den Augenwinkeln einen silbernen Sedan die lange Auffahrt herauffahren sah, kehrte sie aus ihren Zukunftsträumen in die unsichere Wirklichkeit zurück. Das musste Travis sein.

Sie richtete sich auf. Travis Anwesenheit brachte alles in Gefahr: ihre Träume, ihr Heim, ihren Frieden.

Er stieg aus und schaute in ihre Richtung. Der Farm schien er keinen Blick zu schenken.

Sie kreuzte die Arme vor der Brust, versteckte die zitternden Hände in den Hosentaschen, und während sie langsam wieder bis zur Mitte der Veranda ging, wurde sie mit jedem Schritt ärgerlicher.

Arroganter Kerl. Glaubte er, Pops hätte ihm etwas Wertvolles hinterlassen? Wahrscheinlich überlegte er bereits, wie sich aus dem Getreideland eine Einkaufsstraße machen ließ. Sie würde niemals zulassen, dass er etwas von ihrem Land in die Hände bekam.

Zornige Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie drehte dem elegant gekleideten Mann den Rücken zu und rannte zur Haustür.

Aber Travis war schneller. Er erreichte die Haustür als Erster, umfasste den Türknauf und legte Lindy die andere Hand auf die Schulter. Trotz der leichten Berührung hatte sie sogleich das Gefühl, von seiner Wärme eingehüllt zu sein. Sein Duft nach Zedern und frischer Meeresbrise weckte Erinnerungen …

Sie schüttelte seine Hand ab, aber Travis hielt die Tür noch geschlossen, sodass sie zwischen ihm und der Tür gefangen war.

„Lindy, ich bin nicht dein Feind.“

„Du solltest gar nicht hier sein.“

„Aber ich bin es nun mal.“

„Ich finde das aber nicht gut.“

„Glaub mir, das ist nicht zu übersehen. Aber bevor wir nicht wissen, was dein Großvater vorhatte, gehe ich nirgendwohin. Mach es uns nicht schwerer als nötig, und behandle mich nicht wie den bösen Buben.“

Seiner ruhigen Stimme konnte sie sich kaum entziehen. Wie viel einfacher wäre es doch, alle Probleme bei ihm abzuladen und ihm die schweren Entscheidungen zu überlassen …

„Wenn du nicht noch alles komplizierter machen willst, fahr nach Hause. Du hast sicher dringende Familiengeschäfte in Atlanta zu erledigen.“ Wieder eine Spitze. Er verstand es wirklich, sie herauszufordern.

Travis schloss die Augen und sog die Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. Lindy kannte diese Geste. Er versuchte, sich zu beherrschen.

„Ob es dir nun gefällt oder nicht, ich habe dringende Familiengeschäfte in Land’s Cross zu erledigen.“

Er sah ihr in die Augen. Lindy sah den fragenden Blick, erinnerte sich an die Wärme, die Leidenschaft, die sich so oft darin widergespiegelt hatten. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie dumm genug gewesen, sich vorzustellen, dass es Liebe war …

Das knirschende Geräusch von Autoreifen auf ihrer Auffahrt beendete ihre stumme Zwiesprache. Travis trat zur Seite.

Chester stieg aus dem Truck. Auch beim Näherkommen war seine Miene nicht zu durchschauen. Lindys Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

„Was geht hier vor, Chester?“, drängte sie.

„Gehen wir doch erst einmal hinein“, beruhigte sie der Anwalt. „Bevor wir in die Einzelheiten gehen, muss das Testament formgerecht vorgelesen werden.“

Ohne nach links und rechts zu schauen, durchquerte Lindy das Wohnzimmer und eilte in Pops’ Arbeitszimmer. Steif setzte sie sich auf die Kante eines Sessels und bemühte sich, keine Nervosität zu zeigen.

Nachdem sich auch Travis gesetzt und Chester hinter dem großen Schreibtisch aus Eichenholz Platz genommen hatte, begann der Anwalt zu lesen: „Ich, Lionel Charles Lewis, gesund an Leib und Seele …“

Lindy kehrte in die Gegenwart zurück. Pops war nicht mehr unter ihnen. Sie war allein. Chesters Stimme dröhnte in ihren Ohren, aber wie schon bei der Ansprache des Pfarrers konnte Lindy sich nicht auf den Text konzentrieren.

Wie sollte sie ohne Pops’ Liebe und Stärke überleben? Sie spürte auf einmal, wie ihr die Knie zitterten. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren, ermahnte sie sich. Gefühlsduselei würde Pops nicht gefallen. Entschlossen wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Chester zu.

„… ein langes und glückliches Leben. Ich habe manches getan, worauf ich nicht gerade stolz bin. Aber jeden Tag dankte ich Gott für meine gute Ehefrau. Du bist deiner Großmutter sehr ähnlich, Lindy-Mädchen. Du hast ihr gutes Herz geerbt. Ich kann nur hoffen, dass du so verständnisvoll bist und bereit zu verzeihen wie meine Muriel.“

Eine nachträgliche Bitte um Verzeihung? Lindy konnte einen Schluchzer nicht unterdrücken. Ihre Haut begann zu brennen, als Travis ihre Hand nahm. Sie versuchte, sie zu entziehen, aber als er seine Finger mit ihren verflocht, fühlte sie sich ein wenig getröstet und einen Moment lang weniger allein.

„Lindy-Mädchen“, hörte sie Chester fortfahren. „Ich wollte immer nur dein Glück. Ich hoffe, du erinnerst dich in den nächsten Monaten daran.

Ich, Lionel Charles Lewis hinterlasse mein gesamtes Vermögen meiner Enkelin, Lindy Lewis Monroe, und ihrem Ehemann, Travis Monroe. Unter einer Bedingung: Sie müssen als Eheleute einhundertvierundfünfzig Tage zusammen auf der Lewis Farm wohnen. Sollte sich eine der beiden Parteien weigern, die Auflagen zu erfüllen, wird meine Farm in ein Refugium für Neuseeländische Sumpffrösche umgewandelt.“

Nein, Pops. Unsere Ehe ist vorbei. Er hat mich nie gewollt.

Travis’ Griff schmerzte, aber er verhinderte, dass der Schock sie umwarf.

Als sie sich ihm zuwandte, sah sie, dass er Chester ungläubig anstarrte. Seine Kiefermuskeln spielten, er bebte vor Zorn.

Aber was war sein Zorn im Vergleich zu ihrem? Für sie stand alles auf dem Spiel. „Wie konnte Pops es wagen?“ Mit einen Ruck entzog sie Travis die Hand und sprang auf. „Wie konnten Sie sich auf so einen Blödsinn einlassen, Chester?“

„Glauben Sie mir, meine Liebe, ich habe alles getan, um Lionel das auszureden. Aber Sie wissen ja, wie eigensinnig er war.“ Chester zog die Stirn kraus.

Aufgeregt lief Lindy zwischen den Stühlen hin und her. Einhundertvierundfünfzig Tage mit Travis eingesperrt sein! Da würde sie womöglich den Verstand verlieren.

Und was zum Teufel waren Neuseeländische Sumpffrösche?

Travis saß noch immer wie angewurzelt auf seinem Stuhl.

„Warum, Chester?“, fragte Lindy. „Warum so lange? Wieso gerade einhundertvierundfünfzig Tage?“

„Lionel meinte, Sie hätten zu früh aufgegeben. Eine Ehe benötige mehr Zeit, und man müsse sich stärker engagieren, besonders, wenn es Probleme gibt.“ Der Anwalt lehnte sich zurück. „Ach ja, einhundertvierundfünfzig Tage hatten Sie und ihr Mann als Eheleute zusammengelebt.“

Wie betäubt ließ sich Lindy wieder auf ihren Stuhl fallen.

Chesters Sessel quietschte, als er sich vorbeugte. „Lionel war überzeugt, mit ein bisschen Druck würden Sie schon einen Weg finden zusammenzubleiben. Er wollte verhindern, dass Sie aus Stolz warten, bis es zu spät ist. Er glaubte, er könnte Sie nur dazu bringen, etwas zu unternehmen, wenn er das Erbe mit diesen Auflagen verknüpfte.“

Chester musterte Travis. „Lionel sprach sehr anerkennend von Ihnen, junger Mann. Er war sicher, Sie würden Ihrer Frau zur Seite stehen, wenn ihre Träume in Gefahr sind. Die Tatsache, dass Sie den Raum noch nicht verlassen haben, beweist vielleicht, dass der alte Mann in manchem recht hatte – auch wenn seine Methoden ein bisschen merkwürdig erscheinen.“

„Ein bisschen merkwürdig!“ Lindy sprang wieder auf. „Er kontrolliert unser Leben. Hat er denn wirklich geglaubt, wir würden sagen: ‚Ja toll. Der alte Mann wird schon seine Gründe haben‘?“

Travis legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Beruhige dich, Lindy. Ich glaube, das war einfach seine Art, für dich zu sorgen. Er scheint gemerkt zu haben, dass es ihm schlecht ging, ihm blieb keine Zeit. Deshalb mischte er sich ungefragt in unser Leben.“

„Warum sieht niemand ein, dass ich selbst für mich sorgen kann?“

Travis drehte sie so schnell zu sich herum, dass sie beinahe die Balance verloren hätte. Ihre Blicke trafen sich, seine Augen funkelten vor Zorn. „Das war schon immer dein größtes Problem“, stieß er hervor. Seine Brust hob und senkte sich schnell, während er einen Schritt zurücktrat. „Du bist zwar fähig, dich um alles selbst zu kümmern, aber das heißt nicht, dass es falsch wäre, auch mal einem anderen Aufgaben zu übertragen. Oder vielleicht sogar Sorgen mit ihm zu teilen. Du glaubst, wenn du Ängste zeigst, bedeutet das gleich Schwäche.“

Er ging zum Fenster. „Stark sein heißt nicht, alles selbst machen zu müssen“, erklärte er ihr über die Schulter gewandt. „Manchmal brauchst du mehr Kraft dazu, jemandem zu vertrauen, als dich allein abzuplagen.“

Tränen brannten in Lindys Augen. „Aber es tut sehr weh, wenn du jemandem vertraust und er dich hängen lässt.“

„Ja, ich weiß.“ Travis suchte ihren Blick. „Diese Lektion hab ich von dir gelernt.“

Travis starrte aus dem Fenster. Was sollte er tun? Er durfte nicht zulassen, dass Lindy ihr Heim, ihre Träume verlor. Andererseits zweifelte er mächtig, der Auflage gewachsen zu sein, einhundertvierundfünfzig Tage mit einer Frau zu verbringen, die ihn so offensichtlich ablehnte.

Er brauchte einen Plan. Als ersten Schritt musste er Brad Middleton, seinen Anwalt, befragen. Sie brauchten einen triftigen Grund, um die unmöglichen Auflagen dieses Testaments anzufechten …

„Sie denken zu viel, mein Junge“, weckte Warfield ihn aus seinen Gedanken. „Sagen Sie’s frei heraus.“

Travis sah seine Frau an. „Wäre es möglich, Lionel als geschäftsunmündig zu erklären?“

Aber damit wollte Lindy nichts hören. „Ich kann nicht glauben, dass du so etwas überhaupt vorschlägst“, entgegnete sie aufgebracht. „Ich werde auf gar keinen Fall Pops’ guten Namen beschmutzen.“

„Damit Lindy die Farm erbt, bin ich also gezwungen, für einhundertvierundfünfzig Tage hier einzuziehen. Sehe ich das richtig?“, hakte Travis noch einmal nach. Keiner der beiden Männer beachtete Lindys Gefühlsausbruch.

Warfield nickte. „Korrekt.“

Ungefähr fünf Monate. Reichte die Zeit, um Lindys Vertrauen zurückzugewinnen? Vielleicht …

„Müssen wir beide jede Nacht auf der Farm verbringen? Ich führe eine Firma, muss öfter verreisen.“

Warfield rieb sich das Kinn. Travis’ Dilemma schien ihn zu amüsieren. „Kurze Geschäftsreisen gehören in der heutigen Zeit zum Eheleben. Dennoch spricht aus dieser Auflage die Absicht, Sie zu zwingen, Zeit miteinander zu verbringen. Sie müssen sich auf höchstens drei Nächte pro Monat außer Haus beschränken.“

„Dummer Narr“, murmelte Lindy vor sich hin.

Travis war sich nicht sicher, auf wen sich ihre Worte bezogen. „Heißt ‚als Eheleute‘ etwas anderes als ‚unter einem Dach leben‘? Sollen wir uns also als Ehepaar in der Gesellschaft zeigen?“

„Nein. Die Formulierung wurde gewählt, um sicherzustellen, dass Sie beide allein auf der Farm zusammenleben.“

„Pops hat gewusst, dass er uns mit seinen Vorschriften nicht gerade einen Gefallen tut, sonst hätte er etwas davon erwähnt. Er wusste, ich wäre total sauer. Aber ihm war klar, dass ich mir die Sache überlegen würde, wenn ich nur auf diese Weise die Farm behalten kann.“

„Letzte Frage.“ Travis wandte sich wieder an den Anwalt. „Was geschieht nach den einhundertvierundfünfzig Tagen?“

„Das liegt ganz an Ihrer Frau und Ihnen, Mr Monroe.“

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen stand Lindy vor dem Kleiderschrank und überprüfte ihre Garderobe. Besaß sie wirklich zwei Dutzend Jeans? Fünf Arbeitsanzüge? Wo waren ihre Kleider abgeblieben?

Von ganz hinten zog sie schließlich ein grünblaues Kleid mit weitem Rock und dreiviertellangen Ärmeln hervor. Das sollte genügen.

Sie zog das Kleid über den Kopf, glättete es über den Hüften. Der leichte Stoff umschmiegte ihre sanften Rundungen und reichte ihr bis zu den Waden. Sie kämmte die Locken, besprühte sich ein wenig mit ihrem Lieblingsparfum und legte etwas Farbe auf die Lippen. Mehrmals überprüfte sie ihr Spiegelbild von allen Seiten.

Sie hatte sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt, bis ihr gegen Morgen eine verrückte Idee gekommen war. Nun musste sie nur noch den Mut finden, sie auszuführen.

Wenn sie sich gegen das Testament entscheiden würde, wäre sie ganz auf sich gestellt. Wollte sie Country Daze verwirklichen, ohne Travis in Pops’ abwegigen Plan einzubeziehen, brauchte sie Bargeld.

Der Weg zur Bank heute Morgen sollte der erste Schritt sein. Sie wollte nicht zulassen, dass sich ihre Träume erneut in nichts auflösten. Der Gedanke, Country Daze wahr werden zu lassen, hatte ihr das letzte Jahr geholfen zu überleben. Sie hatte Travis verloren, ihrer beider Kind und nun Pops.

Ganz unten auf dem Schrankboden fand sie unter Stiefeln und alten Tennisschuhen ein Paar bequeme Sandalen. Rasch schloss sie die Riemchen und eilte nach unten in die Küche, um die Schlüssel zu holen, als Alice Robertson zur Hintertür hereinkam.

Ihre Nachbarin stieß einen Pfiff aus. „Wow, du siehst ja richtig weiblich aus.“

„Das will ich hoffen. Auf weiblich stehen die meisten Männer.“

„Deswegen brauchst du dich nicht herauszuputzen, Lindy. Du wickelst doch auch in Arbeitskleidung jeden Mann in Holcombe County um den Finger.“

„Sicher ist sicher.“ Sie hauchte Alice einen Kuss auf die Wange. „Wünsch mir Glück.“

Lindy griff sich einen Blazer vom Garderobenhaken und eilte hinaus zu Pops’ altem Truck. Als sie hinter dem Steuer saß, zitterte sie am ganzen Leib. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Trotzig bemühte sie sich, alle Ängste beiseitezuschieben, stellte den Fuß aufs Gaspedal und umklammerte das Steuer ganz fest.

Als sie vor dem Bankgebäude hielt, blieb sie einen Moment im Wagen sitzen, um sich zu beruhigen, und atmete tief die frische Luft ein. Sie hasste diesen nervenaufreibenden Stress, den sie jedes Mal durchlebte, wenn sie selbst Auto fahren musste.

Nach einem letzten Seufzer setzte sie ein Lächeln auf und betrat die Eingangshalle. Die Bankangestellte, die seit zwanzig Jahren an der Rezeption arbeitete, begrüßte sie herzlich.

„Ist Mr Harper heute Morgen zu sprechen?“ Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Selbstverständlich, meine Liebe. Nehmen Sie Platz, ich sag ihm Bescheid, dass Sie hier sind.“

Lindy unterdrückte den Impuls hinauszulaufen und das Ganze zu vergessen und setzte sich in einen Sessel. Nach kaum zwei Minuten tauchte Mark Harper hinter einer Glaswand auf. Er war Lindys einzige Chance, der misslichen Lage zu entfliehen.

Mit einem gezwungenen Lächeln reichte sie ihm die Hand. „Vielen Dank, Mark, dass du Zeit für mich hast.“

„Kein Problem, Lindy. Komm herein.“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und führte sie in sein Büro.

Okay. Sie war im Begriff, etwas wirklich Abscheuliches zu tun. Aber Pops ließ ihr keine Wahl.

Eine Viertelstunde später stürmte Lindy aus der Bank. Sie war so wütend – sie hätte heulen können! Blind vor Tränen lief sie zum Truck.

Noch während sie laut vor sich hin schimpfte und nach den Autoschlüsseln suchte, nahm sie den vertrauten Duft von Zedern und Meeresbrise wahr. Sie hob den Kopf, sog schnuppernd die Luft ein und wandte sich in die Richtung, aus der der Duft kam. Im selben Moment griff Travis nach ihrem Ellenbogen.

Lindy zuckte zusammen. „Du liebe Güte, hast du mich erschreckt. Bist du mir hinterhergefahren?“

Travis lachte. Aber es klang nicht lustig. „Nein, Lindy. Ich bin dir nicht hinterhergefahren. Aber ich war auf dem Weg zu dir. Wenn wir die Auflagen des Testaments erfüllen wollen, müssen wir einen Plan machen.“

Nun, Lindy hatte schon Pläne gemacht, aber sie hatten sich in nichts aufgelöst. Sie war so sicher gewesen, über ihren alten Freund, Mark Harper, genügend Geld zu borgen, um die alte Roosevelt-Farm zu kaufen. Diese bot zwar weniger Platz als Pops’ Farm, aber für Country Daze wäre sie groß genug.

Aber dank Pops’ wahnwitziger Bestimmungen habe ich keine Sicherheiten, dachte sie und sog, ohne es zu wollen, noch einmal diesen verführerischen Duft ein, ehe sie sich zur Ordnung rief.

Irgendwie musste sie sich gegen diesen Mann wappnen. „Ich habe es satt, Pläne zu machen. Sie funktionieren ja doch nicht.“ Sie versuchte, seine Hand abzuschütteln. „Lass mich los, Travis. Ich muss hier weg. Sofort.“

Aber Travis legte sanft eine Hand auf ihre Wange und schaute sie offen an. Das Mitgefühl in seinen grüngoldenen Augen gefährdete ihre Selbstkontrolle. „Dann lass uns fahren.“ Er deutete auf ihren alten Truck. „Ich folge dir in meinem Wagen.“

Als Lindy die Tränen fortgewischt und ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, fuhr sie zurück zur Lewis Farm, ständig ein Auge im Rückspiegel auf den ihr folgenden Sedan gerichtet. Was nun?

Ihr brillanter Plan war geplatzt. Nun blieben zwei Möglichkeiten: Entweder gab sie Heim und Träume auf, oder sie überwand ihren Stolz und bat Travis um Hilfe.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie über all diesen sorgenvollen Gedanken ihre sonst übliche Nervosität beim Fahren vergessen hatte. Als sie wieder auf festem Boden stand, beobachtete sie Travis’ Wagen aus dem Augenwinkel, wie beim Aussteigen zuerst der eine, dann der andere kostspielige italienische Schuh zum Vorschein kam. Dann richtete Travis sich auf, schloss die Tür und stellte die Alarmanlage ein.

Er passt hier absolut nicht her, dachte sie.

All die Monate, in denen sie von Travis’ Rückkehr geträumt hatte – davon, dass er ihre Ehe über die egoistischen Forderungen seiner Familie stellen würde –, hatte sie nie überlegt, was geschehen würde, wenn er wirklich zurückkäme. Wenn sie ihn jetzt so in ihrem Hof in Anzug und Schlips stehen sah, wurde ihr klar, dass dieser Mann überhaupt nicht in ihr Leben passte.

„Du passt nicht hierher.“ Eine schlichte Tatsache, aber jetzt war es ihr doch peinlich, dass sie nicht den Mund halten konnte.

„Ich bin bereit, mir Mühe zu geben“, versprach Travis und folgte ihr ins Haus.

„Ich bin nicht sicher, ob ich das will.“ Lindy schlug die schwere Eingangstür zu und kickte automatisch die Sandalen von den Füßen.

Travis ergriff ihren Ellenbogen und wirbelte sie herum. Selbst im dunklen Eingang konnte Lindy erkennen, dass sich seine Augen zornig verengten. Aber er kam nicht dazu, seinem Ärger Luft zu machen.

„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr, Lindy“, rief Shayna Miller aus der Küche. Shayna war eine ehemalige Schulfreundin. Sie wohnte in der Nachbarschaft und half Lindy bei der Hausarbeit. „Sie sind gekommen!“, rief sie und kam mit schnellen Schritten auf die Veranda. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen.

„Wow, der sieht ja toll aus.“ Als ihr bewusst wurde, dass sie das gerade laut gesagt hatte, verdrehte sie die Augen. „Oh, Entschuldigung.“

Travis gab ihr die Hand. „Ich bin Travis. Guten Morgen.“

„Shayna Miller.“ Shayna errötete, als sie seine Hand schüttelte.

Arme Shayna. Niemand hatte sie auf Travis’ sexy Lächeln vorbereitet.

„Nett, Sie kennenzulernen, Shayna. Sie haben gute Neuigkeiten?“

Lindy hatte ganz vergessen, wie leicht es Travis fiel, Peinlichkeiten mit einem Lächeln und einem Händedruck aus der Welt zu schaffen. Das hatte sie wohl hundert Mal bei Cocktailpartys in Atlanta beobachten können.

„Shayna?“, fragte sie, als ihre Freundin schwieg.

„Ja?“

„Wer ist gekommen?“

„Die Picknicktische und Bänke. Sie sehen zwar ziemlich schäbig aus, aber wenn wir sie bearbeitet haben, sind sie bestimmt wunderschön.“

Die Picknickmöbel! Zehn Tische und zwanzig Bänke. Lindy hatte sie bei einer Online-Auktion erstanden. Mit diesem Kauf hatte sie ihre bereits schwer beanspruchte Kreditkarte bis ans Limit belastet.

Nach Jahren des Hoffens und Planens war ihr Traum nun zum Greifen nahe. Mit dem Verlust der Farm wäre alles verloren …

„Lindy, was ist los?“, fragte Shayna besorgt. „Du bist ganz blass geworden. Bist du krank?“

„Nein, ich bin nicht krank.“ Sie stützte das Kinn in die Hände. Dabei schaute sie Travis an. Er sah so stark und vertrauenswürdig aus. Konnte sie ihm vertrauen?

Ich hab ja keine Wahl.

„Warum machst du nicht Schluss für heute, Shayna? Ich habe mit Travis einiges zu regeln.“ Lindy lächelte ihre Freundin an.

„Bist du sicher?“

„Ja. Ganz sicher.“ Lindy freute sich, dass sie so überzeugend klang – eine Frau, die wusste, was sie wollte. Aber war sie das auch?

Travis lehnte noch immer im Türrahmen. Sie fühlte seinen eindringlichen Blick. Der Stolz der Familie Lewis half ihr, seinem Blick standzuhalten. Konnte sie die Situation meistern, ohne ihren Stolz zu opfern? Oder ihr Herz?

„Darf ich mich setzen?“ Seine Stimme klang ernst.

Auch ihm war offensichtlich nicht mehr nach Small Talk zumute. Das war gut, denn Lindy hatte beschlossen nachzugeben, die Bedingungen des Testaments zu akzeptieren und Travis in ihr Haus einzulassen. Dennoch hatte sie das bestimmte Gefühl, zuvor noch einen Moment für sich sein zu müssen.

„Machst du uns einen Kaffee?“, bat sie Travis daher. „Ich bin gleich wieder da.“

Travis starrte aus dem Fenster über dem Spülbecken und musterte die kleinen grünen Halme, die aus dem dunklen Erdboden hervorlugten. Was hatte Lindy angepflanzt? Machte sie damit Gewinn? War sie glücklich? Er wusste so wenig über das Leben auf der Farm, so wenig über seine Frau.

Hinter ihm summte die Kaffeemaschine. Er holte zwei Becher aus dem Bord und die Kaffeesahne aus dem Kühlschrank. Zwei Magnete an der Kühlschranktür in Form von Kühen hielten die Augustseite eines Kalenders. Ein Smiley-Gesicht hob den zweiten Montag hervor: „Eröffnung“ stand dort. Anschließend hatte Lindy für jeden Wochentag die Namen von mindestens einer Schule eingetragen und zusätzlich die Größe der Schülergruppe notiert.

Neugierig hob er das Kalenderblatt hoch und schaute sich den September an. Hier war beinahe jeder Schultag ausgebucht.

Leise Schritte ließen ihn aufhorchen. „Sieht so aus, als würdest du in diesem Herbst viel zu tun bekommen“, stellte er fest.

„Da solltest du mal den Zeitplan für den Frühling sehen.“ Lindy klang müde und traurig.

Travis füllte die Becher. Er hätte Lindy so gern in den Arm genommen, stattdessen trug er den Kaffee zum Tisch und setzte sich.

Lindy legte einen gelben Schreibblock neben ihren Becher, ließ sich auf einen Stuhl fallen und zog ein Bein unter sich.

Ihr entschlossener Blick verriet, sie war bereit, das Testament zu akzeptieren.

„Bevor wir in die Details gehen“, begann sie, „möchte ich wissen, warum du dies alles tust, Travis?“

Eine gefährliche Frage. Einen Moment überlegte er, ob er ihr die ganze Wahrheit sagen sollte.

Wie würde sie reagieren, wenn sie wüsste, dass er unzählige Male nachts schweißgebadet und von Schuldgefühlen geplagt aufwachte und ihr verzweifeltes Gesicht vor sich sah? Sollte er ihr sagen, dass auch ein Teil von ihm gestorben war, damals an jenem Abend, als sie über den Tod ihres Kindes trauerte? Sollte er ihr versichern, dass er alles tun würde, um die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte, wiedergutzumachen? Was würde sie tun, wenn er eingestand, wie leer sein Leben war, seit sie ihn verlassen hatte?

Sie würde ihn hinauswerfen, keine Frage. Es war ganz offensichtlich, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte.

Wahrscheinlich hatte er mit der halben Wahrheit am meisten Erfolg. „Weil ich nicht will, dass du, nach allem, was geschehen ist, noch mehr leiden musst“, erklärte er ruhig.

Erwartungsvoll schaute Lindy ihn an. Ihr schien das als Erklärung nicht zu genügen. So einfach kam er wohl nicht davon.

„Ich habe auch egoistische Gründe“, fuhr Travis daher fort. Oh, er liebte die Art, wie sie das Kinn hob und zeigte, dass er Blödsinn redete. „Ich versuche gerade, mich von Monroe Enterprises zu distanzieren.“

„Du willst fünf Monate auf deine Arbeit verzichten? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir das abnehme?“

„Das will ich auch gar nicht.“ Nervös fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Es war das erste Mal, dass er über seine Pläne mit jemand anderem sprach als mit seinem Anwalt und besten Freund, Brad Middleton.

„Es gibt ein riesiges Potenzial an renovierungsbedürftigen Gebäuden, die man in Apartments umbauen könnte. Ich habe beschlossen, meine eigene Firma zu gründen.“

Lindys skeptischer Blick zeigte, dass er gut daran getan hatte, seine persönlichen Motive nicht zu offenbaren.

„Wach auf, Travis. Niemand weiß besser als ich, wie sehr du an eurem Familienunternehmen hängst. Du würdest niemals einfach aussteigen.“

„Ich habe mir neue Ziele gesetzt. Ich verlasse Monroe Enterprises ja nicht ganz. Jedenfalls im Moment noch nicht. Ich kann mich von hier aus mit meinem Laptop, dem Internet und einem Faxgerät um die Belange unserer Firma kümmern.“ Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Außerdem bin ich deinem Großvater etwas schuldig.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ich habe ihm versprochen, für dich und unser Baby zu sorgen. Ich habe versagt.“

„Es war nicht dein Fehler, dass ich das Baby verloren habe.“

„Hätte ich auf die Straße geachtet, hätte uns der Wagen damals nicht angefahren.“

Plötzlich glitzerten Tränen in Lindys Augen, und sie musste um ihre Selbstbeherrschung kämpfen.

Auch Travis’ Magen verkrampfte sich. Was würde er nicht darum geben, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte? Wenn er den betrunkenen Fahrer des Lieferwagens etwas früher gesehen hätte, hätte er ihm vielleicht ausweichen können.

Entschlossen sah Lindy von dem Block auf, dessen erste Seite sie bekritzelt hatte, und schlug eine leeres Blatt auf. „Wenn wir Pops’ Bedingungen akzeptieren wollen, muss ich einige Grundregeln aufstellen.“ Sie schrieb „Grundregeln“ auf den Block und unterstrich das Wort dreimal.

Verflixt, das lässt nichts Gutes ahnen, dachte Travis. Plante sie, ihn in der Scheune schlafen zu lassen?

„Nummer eins: Auf dieser Farm wird gearbeitet. Bestimmte Arbeitszeiten müssen eingehalten werden. Kein Lärm nach neun Uhr abends. Licht aus um zehn.

Nummer zwei: Die beiden Schlafzimmer oben teilen sich ein Badezimmer. Das Bad muss sauber gehalten werden. Abschließen nicht vergessen. Alice Robertson kommt zweimal die Woche und hilft bei der Hausarbeit; Küchenarbeiten bleiben dir und mir überlassen.“

„Robertson?“ Oh Gott, lass das nicht die Frau von Wunderknabe Danny sein.

„Dannys Mutter.“

Verdammt.

„Nummer drei“, fuhr Lindy fort. „Ohne Pops schaffe ich die Arbeit nicht. Ich erwarte, dass du einspringst. Danny kennt sich auf der Farm aus, aber er hat eigene Verpflichtungen. Wir werden herausfinden, welche Aufgaben du übernehmen kannst. Die Arbeit ist schwer und schmutzig, aber du bist stark genug dafür.“

Das klang zwar nach einen Kompliment, aber Travis wusste genau, dass es nicht als solches gemeint war …

„Nummer vier: Ich akzeptiere kein Geld von dir. Verletze mich nicht, indem du hinter meinem Rücken meine Rechnungen bezahlst. Ich weiß selbst, dass ich knapp bei Kasse bin, aber ich will, dass das so bleibt.“ Trotzig schob Lindy das Kinn vor. Ihren Augen blitzten.

„Nummer fünf: kein Körperkontakt.“

Sie kreuzte die Arme vor der Brust. „Bist du einverstanden?“

Travis wusste, dass ihre Tapferkeit nur gespielt war. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, sie gestreichelt, bis sie ihn um Hilfe bat und seine Unterstützung akzeptierte. Aber so einfach war es nicht.

Stattdessen drehte er den Block um und schrieb eine große Sechs auf die nächste Seite.

Lindy hob eine Augenbraue. „Was noch?“

„Keine außerehelichen Beziehungen.“

Sie runzelte die Stirn, stimmte aber mit einem Nicken sofort zu.

„Bist du sicher, dass Robertson damit einverstanden ist?“, hakte er nach.

„Warum sollte er etwas dagegen haben? Danny weiß, was mir die Farm bedeutet. Er hilft mir, so viel er kann.“

Travis schob den Gedanken an Robertson erst einmal weg und schrieb eine Sieben auf die Seite. Eine Sache lag ihm noch am Herzen, und er hoffte, dass Lindy seiner Bedingung zustimmte: Er war schuld an ihren Panikattacken beim Autofahren, und er wollte einen Weg finden, sie davon zu befreien.

„Nummer sieben: Ich helfe dir, deine Angst vorm Autofahren zu verlieren.“

Lindy wurde blass. „Wie bitte? Warum?“

„Ich verstehe deine Angst. Ich hatte selbst Probleme, mich wieder hinter das Steuer zu setzen.“

„Ich weiß nicht …“

„Ich habe jede einzelne deiner Bedingungen akzeptiert.“

Ihr Kinn fuhr hoch. Er wusste, jetzt hatte er sie.

„Aber … ich brauche es nur zu versuchen?“

„Genau.“ Travis hatte Mühe, ein Lächeln zu verbergen.

„O…okay. Ich verspreche, es zu versuchen.“

„Ich glaube, dann gilt die Abmachung.“ Er reichte ihr die Hand.

Lindy schlug ein. „Ja. Die Abmachung gilt.“

4. KAPITEL

Langsam näherte sich Travis dem Haus seines Vaters. Bei dem Gedanken an das bevorstehende Gespräch war ihm ziemlich mulmig zumute. Nachdem er den Motor abgestellt hatte, blieb er noch eine Weile im Wagen sitzen. Was für ein monströses Gebäude. Jetzt fehlten nur noch Mauern und Fahnen, dann würde es einer alten Trutzburg gleichen.

Sein Vater hatte es ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Carry gekauft. Es war groß und beeindruckend, aber es ließ sich nicht mit dem gemütlichen Heim vergleichen, das seine Mutter geschaffen hatte.

Als Kind hatte sie miterlebt, wie ihre Eltern mit viel Arbeit und Engagement das kleine Familienrestaurant in eine erfolgreiche Restaurantkette verwandelten. Als Travis’ Mutter dann in eine der reichsten Familien Georgias einheiratete, hatte sie sich geschworen, ihre Wurzeln niemals zu verleugnen. Auch ihren Kindern hatte sie versucht zu vermitteln, was es heißt, sich selbst etwas zu erarbeiten. Bei Travis war es ihr gelungen, aber Grant war zu sehr seines Vaters Sohn, um den Reiz eigener Kreativität zu begreifen.

Travis fand es unerträglich, wie sich sein Vater nach dem Tod der Mutter wieder unter die versnobten oberen Zehntausend von Atlanta mischte. Deshalb verließ er mit achtzehn die Stadt und ging nach Boston, um Maschinenbau zu studieren.

Nach einem Semester musste er jedoch in dieses monströse Bauwerk zurückkehren, weil der Vater beinahe ständig betrunken war und der fünfzehnjährige Bruder in einem Jugendgefängnis saß. Er wechselte zur Technischen Universität von Georgia, holte seinen Bruder aus dem Gefängnis und sorgte dafür, dass sein Vater nicht mehr trank. Aber zehn Jahre später musste Travis einsehen, dass seine Mühen umsonst gewesen waren.

Nachdenklich rollte er die Schultern, um sich aus der wachsenden Anspannung zu lösen. Seinem Vater klarzumachen, dass er mehrere Monate in Tennessee bei Lindy verbringen wollte, ließ eine längere Diskussion erwarten. Und danach stand ihm noch der sechsstündige Rückweg nach Land’s Cross bevor.

Sie bringt mich um, wenn ich die erste Sperrstunde überschreite, dachte Travis halb amüsiert, halb sorgenvoll.

Brighton, der Butler seines Vaters, öffnete ihm die drei Meter hohe Eingangstür.

„Guten Tag, Brighton. Ist mein Vater zu Hause?“

Der Butler nickte, trat einen Schritt zurück und ließ Travis in das dunkle Foyer eintreten. „Warten Sie hier. Ich sehe nach, ob er zu sprechen ist.“

Travis schaute sich um. Trotz der kostbaren Malereien, die die marmornen Wände schmückten, wirkte der Raum leblos und leer. Das Bild von Lindys Heim tauchte in seinen Gedanken auf. Statt verstaubter Gemälde und eines modrigen Geruchs war jede Ecke ihres Hauses von Blumenduft und Sonnenstrahlen erfüllt. In ihrer Küche roch es nach Zimt …

Brighton kehrte zurück und führte Travis ins Arbeitszimmer, einen Raum, der Winston Monroes Charakter perfekt widerspiegelte: verknöchert, altmodisch und pompös.

„Dad.“ Travis nickte dem älteren Mann hinter dem großen Schreibtisch aus Mahagoni zu und ging direkt zu der Bar in der hinteren Ecke des Raums.

„Schön zu sehen, dass du den Weg in unsere Stadt gefunden hast“, brummte Winston. „Es sieht dir gar nicht ähnlich zu verschwinden, ohne jemandem Bescheid zu sagen.“

„Marge wusste, wo ich bin.“

„Deine Sekretärin ist verschlossener als eine Auster.“

Es belustigte Travis, sich vorzustellen, wie Winston vergeblich versuchte, Informationen aus Marge herauszulocken. „Ich bat s...

Autor

Dawn Temple
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Brenda Harlen
Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
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Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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