Cora Collection Band 42

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

INSELN IM MEER DER LIEBE
„DIE BLAUE LAGUNE“ – REVISITED
Zwei Menschen auf einer einsamen Insel: Das kann sehr anstrengend, aber auch sehr schön sein – vor allem, wenn die Liebe ins Spiel kommt!

MIT DIR AUF DER INSEL DES GLÜCKS von ALISON ROBERTS
Zu zweit im Paradies: Nach einem Orkan strandet Ellie mit einem Fremden auf einer Insel. Jake hat etwas an sich, das sie gleich Vertrauen fassen lässt. Doch kaum beginnt sie, in seinen Armen den Glauben an die Liebe wiederzufinden, werden sie gerettet – und er lässt sie allein …

WIE VERFÜHRT MAN CASANOVA? von LORI WILDE
Mit einem sinnlichen Verführer auf einer Laguneninsel: Wovon viele Frauen träumen, wird für die hübsche Jorgie wahr, als sie mit dem Sicherheitsexperten Quint Mason auf einer einsamen Insel strandet. Doch für Casanova Quint ist die Liebe nur ein Spiel, was Jorgie vollkommen anders sieht …

DER UNVERGESSLICHE KUSS DES MILLIARDÄRS von JULES BENNETT
Zimmermädchen Catalina kann den attraktiven Will Rowling nicht vergessen, seit er sie geküsst hat! Doch ein Happy End mit dem Magnaten scheint unmöglich. Bis ein Sturm beide auf eine einsame Insel verschlägt. In Wills starken Armen fühlt Catalina sich so geborgen, als gehöre sie genau dorthin …


  • Erscheinungstag 30.07.2021
  • Bandnummer 42
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502191
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alison Roberts, Lori Wilde, Jules Bennett

CORA COLLECTION BAND 42

1. KAPITEL

Nein. Diesmal nicht.

Jacob Logan wollte auf keinen Fall, dass sein älterer Bruder die Verantwortung für die katastrophale Lage übernahm, in der sie sich befanden. Schließlich hatte dieser immer noch mit den Narben vom letzten Mal zu kämpfen. Ben war nur zwanzig Minuten älter als er, und ihre Eltern waren schon lange tot. Warum war es nur so unglaublich schwer, sich von den Ansichten zu befreien, die diese ihnen früher eingetrichtert hatten?

Diesmal musste er die Kontrolle übernehmen. Und wieder einmal hatte er sie beide in dieses Schlamassel reingeritten. Es war viel schlimmer als der Zorn ihres Vaters, wenn sie als Kinder etwas ausgeheckt hatten. Schlimmer als in Afghanistan, nachdem sie beide die Flucht ergriffen und sich bei der Army verpflichtet hatten. Diesmal ging es um Leben und Tod, und es sah nicht gut aus.

Schon am Vortag hatte es Sturmwarnungen gegeben, aber mit einem derartigen Unwetter hatten sie nicht gerechnet. Der Zyklon Lila hatte unerwartet die Richtung geändert, und bereits im Morgengrauen hatten sie mit tückischen Winden, hohen Wellen und peitschendem Regen, der ihnen die Sicht genommen hatte, gekämpft. Hinzu kamen starke Strömungen, und so waren alle Teilnehmer der Weltumseglung im Osten von Neuseelands Nordinsel auf offener See den Elementen ausgesetzt.

Sie hatten noch einige Berichte im Radio gehört, bevor die Jacht gekentert war und sie sich vor orkanartigen Winden und bis zu fünfzehn Meter hohen Wellen in die Rettungsinsel flüchten mussten.

Viele Teilnehmer hatten versucht, den nächsten Hafen anzusteuern, es allerdings nicht mehr geschafft. Unzählige Boote waren gekentert, Masten wie Streichhölzer gebrochen. Man hatte Notrufe abgesetzt, weil Männer über Bord gegangen waren, und ein Ertrunkener war schon geborgen worden. Man suchte bereits mit Flugzeugen und Hubschraubern nach Überlebenden, doch das Einzige, was die Brüder Logan außer dem Tosen des Sturms und der Wellen gehört hatten, war das Geräusch eines Propellerflugzeugs der Air Force gewesen, allerdings in weiter Ferne.

Der Südliche Ozean war unendlich weit, wenn man in Schwierigkeiten steckte. Stundenlang waren sie umhergetrieben, wobei die Rettungsinsel wie ein Korken auf den Wellen tanzte. Doch wie durch ein Wunder hatte man sie schließlich entdeckt. Ein Hubschrauber schwebte jetzt über ihnen, und ein Mann an einem Seil wurde herabgelassen. Jake sah den zweiten Gurt hin und her schwingen.

Es konnte jedoch nur eine Person hochgezogen werden, und er würde nicht als Erster gehen. Das Unwetter wurde von Minute zu Minute schlimmer. Was wäre, wenn der Hubschrauber nicht zurückkehren konnte?

„Du zuerst“, schrie Jake.

„Den Teufel werde ich tun. Du gehst!“

„Auf keinen Fall. Du bist verletzt.“

Der Mann am Seil war gerade hinter dem Kamm einer Welle verschwunden. Völlig durchnässt, schwang er plötzlich in ihre Richtung. Er riskierte sein Leben, um sie zu retten.

„Das Ganze war meine dämliche Idee. Deswegen entscheide ich, wer zuerst dran ist.“

Er hätte es gar nicht aussprechen müssen. Es war seine Schuld. Wie immer.

Aus Verzweiflung hatte Jake so laut geschrien, dass der Mann am Seil ihn offenbar gehört hatte. Er war jetzt nahe genug bei ihnen, um ihm den Gurt in die Hand zu drücken. Sofort versuchte Jake, ihn Ben anzulegen, doch dieser wehrte sich und versuchte wiederum, ihn seinem Bruder anzulegen.

„Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen“, brüllte er.

„Mir wird schon nichts passieren.“

„Das hier ist die Realität, Jake, kein Film, in dem du den Helden spielen kannst.“

„Glaubst du etwa, das wüsste ich nicht?“

„Das tust du nicht. Du bist völlig realitätsfern, genau wie Mum.“

Nun begann auch die Person am Seil zu schreien, und entsetzt stellte Jake fest, dass es sich um eine Frau handelte.

Noch immer leistete er Widerstand. „Was, zum Teufel, soll das heißen?“

„Sie konnte sich nicht den Tatsachen stellen. Was glaubst du denn, warum sie sich umgebracht hat?“

Bens Worte schockierten Jake so sehr, dass er sich nicht mehr sträubte, und Ben gelang es mit Hilfe der Unbekannten, seinem Bruder den Gurt anzulegen.

„Der Hubschrauber ist voll“, rief die Fremde Ben noch zu. „Wir kommen, so schnell wir können, zurück.“

Nachdem sie ihn mit Karabinerhaken gesichert hatte, tauchten sie in das eiskalte Wasser ein und wurden dann hochgezogen. Jake sah, wie die orangefarbene Rettungsinsel immer kleiner wurde und sein Zwillingsbruder ihm nachblickte. In seinen Schock mischte sich Verzweiflung.

Ben …

Würde er seinen Bruder je wiedersehen?

2. KAPITEL

Diese Welle gab ihr den Rest, und Eleanor Sutton glaubte für einen Moment, sie würde ertrinken.

In den letzten Stunden hatte sie einen Adrenalinschub nach dem anderen verspürt. Zusammen mit der Hubschraubercrew versuchte sie, die Schiffbrüchigen aus der tosenden See zu bergen. Sie hatten zwei Menschen aus einer Rettungsinsel und einen Mann gerettet, der dank seiner Schwimmweste auf den Wellen trieb.

Außerdem hatten sie einen Segler von einer Jacht geborgen, der durch einen gebrochenen Mast schwere Kopfverletzungen erlitten hatte. Der Hubschrauber war total überladen, mit der Folge, dass Ellie immer noch am Seil hing.

Da sie sich ganz dicht über der Wasseroberfläche befand, hatte sie die beiden zuerst entdeckt. Auf dem dunklen Meer war die orangefarbene Rettungsinsel sehr gut auszumachen gewesen, und mittels ihres Mikrofons konnte Ellie sich trotz des Getöses um sie her gut mit dem Piloten Dave und ihrem Kollegen, dem Rettungssanitäter Mike, verständigen.

„Rettungsinsel mit zwei Personen auf neun Uhr.“

„Wir können niemanden mehr aufnehmen“, erwiderte Dave. „Wir sind schon überladen, und der Sturm nimmt noch zu.“

Obwohl er das ruhig sagte, bemerkte sie sehr wohl den warnenden Unterton in seiner Stimme. Dave war ein brillanter Pilot und betrachtete es immer als Herausforderung, unter Bedingungen wie diesen zu fliegen. Doch er ging kein unnötiges Risiko ein.

Trotzdem konnten sie die beiden Männer nicht ihrem Schicksal überlassen. Der Zyklon würde zwar erst in einigen Stunden seine volle Stärke erreichen, aber sie hätten schon jetzt nicht mehr in der Luft sein dürfen. Vermutlich würden sie ohnehin als Letzte landen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass diese Rettungsinsel von anderen Schiffen entdeckt werden würde, und selbst dann könnte man die Insassen vermutlich nicht retten.

Wenn sie nichts unternahmen, bedeutete es das Todesurteil für zwei weitere Menschen, und bei diesem Jacht-Racing war ohnehin schon zu viel passiert. Ein Mensch war ums Leben gekommen, zahlreiche Segler waren schwer verletzt, und viele wurden noch vermisst.

„Wir könnten wenigstens einen aufnehmen“, schrie Ellie verzweifelt. „Er kann mit mir am Seil hängen. Dann setzen wir ihn ab und kehren zurück, um den anderen zu holen.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann meldete Mike sich zu Wort. „Willst du das wirklich machen, Ellie?“

Wollte sie das? Trotz des Neoprenanzugs, den sie unter ihrem Fliegeroverall trug, war sie bereits unterkühlt und konnte die Finger kaum noch bewegen. Werde ich überhaupt die Karabiner öffnen und wieder einhaken können? überlegte sie. Außerdem war sie völlig erschöpft, und ihre alte Rückenverletzung machte sich bemerkbar. Womöglich geriet der Geborgene in Panik und schlug um sich, und dann wäre eine sichere Landung unmöglich.

Doch sie wussten alle, dass sie keine andere Wahl hatten.

„Wir können es wenigstens versuchen, oder?“, meinte Ellie.

Dave fiel es allerdings schwer, den Hubschrauber ruhig in der Luft zu halten, und kurz bevor sie die Rettungsinsel erreichten, schlug eine Welle über Ellie zusammen, und sie befand sich plötzlich unter Wasser und wurde wie ein Fisch an der Angelschnur durch das eisige Meer gezogen.

Obwohl es nicht lange dauerte, schien die Zeit stillzustehen, und unzählige Gedanken jagten ihr durch den Kopf und gipfelten schließlich in einer klaren Erkenntnis.

Sie, Eleanor Sutton, war zweiunddreißig, hatte Rückenprobleme, und ihr Leben verlief ganz anders, als sie es vor drei Jahren geplant hatte. Sie hätte eigentlich glücklich verheiratet sein und ein Baby haben wollen. Dann hätte sie Teilzeit gearbeitet und eines der Fächer unterrichtet, in denen sie so gut war: Luftrettung oder Katastrophenschutz vielleicht.

Adrenalinschübe wie diese hatten ihr über die letzten drei Jahre geholfen, nachdem ihr Lebensplan hoffnungslos gescheitert war. Sie hatte ihre persönlichen Ziele für die ultimative Herausforderung zurückgestellt, nämlich die, ihr Leben für andere Menschen zu riskieren.

Doch nun funktionierte es nicht mehr. Als Ellie durch das Wasser gezogen wurde und dann über der Rettungsinsel hing, wurde es ihr klar. Sie würde das hier zum letzten Mal tun.

In ihrem in den Helm integrierten Kopfhörer knackte es so laut, dass Ellie zusammenzuckte.

„Hörst du mich noch?“, erklang Daves Stimme.

„Ja.“ Sie streckte die Hand aus, damit die Rettungsinsel nicht gegen sie prallte. Eben noch hatte sie geglaubt, das Eintauchen hätte ihr den Rest gegeben, aber nun reichte es ihr wirklich. Sie riskierte hier alles, und dass die beiden Männer in dieser Situation miteinander stritten, machte alles umso gefährlicher. Plötzlich wurde sie wütend.

Wütend auf sich selbst, weil sie alle Hubschrauberinsassen in Gefahr brachte. Wütend auf diese beiden Männer, die nicht sich, sondern den jeweils anderen in Sicherheit bringen wollten. Wütend, weil sie wusste, dass sie jetzt nicht mehr vor der Realität flüchten konnte.

Wieder knisterte es laut in ihrem Kopfhörer. „Was ist da los?“, fragte Dave.

„Bleib in der Leitung“, erwiderte Ellie scharf. Sie war immer noch zornig. Doch nun stellte sie fest, dass der Mann, dem sie den Gurt hatte anlegen wollen, erstarrt war. Sie nutzte die Gelegenheit und schaffte es trotz ihrer klammen Finger, die Karabiner einzuhaken und sich zu vergewissern, dass er sicher am Drahtseil hing.

„Legen Sie die Arme um mich, und halten Sie sich an mir fest“, befahl sie Jake grimmig und wies Dave dann an: „Zieh uns hoch und lass uns von hier verschwinden.“

„Ben …“, schrie Jacob Logan verzweifelt, als er nach oben gezogen wurde und dabei heftig hin und her schwang, doch das Tosen des Sturms übertönte es.

Da es zu schmerzhaft war, die Augen offen zu halten, kniff Jake sie zusammen und klammerte sich an seine Retterin. So seltsam es sich auch anfühlte, er hatte keine andere Wahl, als diesem Menschen zu vertrauen.

Doch er hatte Angst. Schreckliche Angst, vor allem als er merkte, wie der Hubschrauber sich vorwärtsbewegte und sie dabei infolge der heftigen Turbulenzen hin und her schlingerten.

Und er war wütend. Nicht nur, weil er sich nicht gegen Ben durchgesetzt hatte, sondern einfach auf alles. Auf den- oder diejenigen, die die dämliche Idee gehabt hatten, andere für die Aussicht auf einen prestigeträchtigen Preis mit ihren teuren Luxusjachten in gefährliche Gewässer zu schicken. Auf das Universum, weil es genau zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort einen Zyklon entfesselte. Auf das Schicksal, weil es ihn brutal von seinem Zwillingsbruder, seiner anderen Hälfte, getrennt hatte.

Aber vielleicht war er auch wütend auf Ben. Warum hatte dieser derart schreckliche Dinge über ihre Mutter gesagt? Etwas so Unfassbares, dass es eine Kluft zwischen sie zu treiben drohte. Falls Ben die Wahrheit gesagt hatte, könnte es das Band zertrennen, das seit ihrer Geburt zwischen ihnen bestand.

Würde das Leben, so, wie er es kannte, enden, egal, ob er diesen furchtbaren Tag überlebte oder nicht?

Und da war noch etwas, das ihn an seine Kindheit erinnerte und das er verdrängen musste. Inzwischen ging er ganz selbstverständlich damit um, dank seines Talents, das ihn zu einem internationalen Star gemacht hatte. Dank der Fähigkeit nämlich, sich vorstellen zu können, wie ein anderer mit der Situation umgehen würde, sodass schließlich alles gut werden würde. Dank der Fähigkeit, sich in diesen Menschen zu verwandeln, solange es nötig war.

Also stellte Jake sich vor, er würde einen Film drehen. Er hatte nicht Schiffbruch erlitten, sondern war ein Fallschirmjäger. Nicht er wurde gerettet, sondern eine Frau. Eine sehr schöne Frau.

Es war ihm immer leichtgefallen, sich etwas vorzugaukeln und so der Realität zu entfliehen. Diesmal fiel es ihm allerdings schwer, aber er strengte sich an. Falls es ihm gelang, war es dann nicht auch eine Art Realität?

Er sollte die Welt retten. Der Hubschrauber würde irgendwo landen und er, Jake, die Frau aus ihrem Gurt befreien. Natürlich wollte er dann bei ihr bleiben, weil er in sie verliebt war, doch er musste sich wieder in das Unwetter wagen und sein Leben riskieren, um … nicht um seinen Zwillingsbruder zu retten, das wäre zu abgedroschen, sondern vielleicht seinen Feind, weil er, Jake, der Held schlechthin war.

Doch plötzlich funktionierte das Ganze nicht mehr, obwohl er sich in solche Vorstellungen geflüchtet hatte, seit Jake sich erinnern konnte.

Vielleicht war Ben jetzt der Feind.

Und auch wenn sie nicht erfolgreich war, half diese Taktik Jake dabei, sich abzulenken. Dieser albtraumhafte Flug konnte nicht länger als einige Minuten gedauert haben, doch es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

Er hörte, wie seine Retterin sich mit dem Piloten zu verständigen versuchte. Da der Wind immer noch heulte, musste sie schreien, und selbst aus der Nähe konnte er nicht alles verstehen.

Sie sagte etwas von einem Licht. Einem Mond.

Ging seine Fantasie jetzt mit ihm durch?

„Der Leuchtturm“, rief Ellie. „Auf fünf Uhr. Das ist Half Moon Island.“

„Roger.“ Daves Stimme klang gequält. „Wir fliegen nach Südwesten.“

„Nein. Zum Strand …“

„Zu welchem Strand?“

„Zu dem gegenüber von Half Moon Island, am Ende der Landzunge. Setz uns dort ab.“

„Was? Mitten im Nirgendwo.“

„Ich weiß. Da ist ein Haus …“

Es war schwer, sich bei der Lautstärke des Sturms und dem Knistern im Funkgerät zu verständigen. Ellie kannte diese Gegend aus ihrer Kindheit. Ihr Großvater war der letzte Leuchtturmwärter auf Half Moon Island gewesen, und von dem Strandhaus ihrer Familie, das an einem abgelegenen Abschnitt an der Küste gegenüber lag, hatte man einen herrlichen Blick auf die halbmondförmige Insel, die sie alle so geliebt hatten.

Doch die Erinnerungen waren jetzt unwichtig. Wenn Dave sie hier absetzte, konnten sie dort Schutz suchen, während er zurückflog und den anderen Schiffbrüchigen holte.

Der Mann hielt sie immer noch so fest umklammert, dass Ellie kaum Luft bekam.

Sein Haar, das für ihren Geschmack zu lang war, klebte ihm am Kopf und schien dunkel zu sein. Seine Gesichtszüge waren schwer auszumachen, weil er einen Vollbart trug und die Augen zusammengekniffen hatte.

Außerdem war er so groß, dass sie sich mit ihren eins achtundsiebzig geradezu klein vorkam. Sie hatte grazilere Frauen immer um ihre Weiblichkeit beneidet, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie stark sein musste. Da hatte sie endlich das kämpferische Erbe ihrer Vorfahren zu schätzen gelernt.

Nie wieder würde ein Mann bewirken, dass Eleanor Sutton sich klein und unbedeutend fühlte.

Ellie presste die Lippen so dicht an das Ohr des Mannes, dass sie seine eisige Haut spürte. „Der Pilot setzt uns gleich am Strand ab. Ziehen Sie die Beine an, und überlassen Sie alles mir.“

Dave bemühte sich, sie langsam hinunterzulassen, und Ellie versuchte, die Entfernung zum Boden einzuschätzen, was jedoch noch nie so schwierig gewesen war. Die hohen Wellen erschwerten die Sicht, und der Sturm blies den Sand in alle Richtungen.

„Fünfzehn Meter … zehn …“ Es war verrückt, sie würden sich beide alle Knochen brechen. „Langsamer, Dave!“

Obwohl der Pilot sein Bestes gegeben haben musste, landeten sie hart, und der stechende Schmerz in ihrem Knöchel sagte Ellie, dass sie sich diesen trotz ihrer schweren Stiefel verstaucht hatte. Sie kam mit dem Rücken auf, der Fremde auf ihr, und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie groß und muskulös er war.

Im nächsten Moment wurden sie allerdings umgedreht und ein kurzes Stück im Sand mitgeschleift. Ellie spürte ihn schmerzhaft im Gesicht und Mund, als ihr Mikrofon weggerissen wurde. Der Kopfhörer in ihrem Helm funktionierte noch, doch auch ohne Daves Anweisungen wusste sie, dass sie sofort die Karabiner lösen musste, um nicht zu den Bäumen, die den Strand säumten, mitgeschleift zu werden. Das wäre das Todesurteil für sie und den Fremden, und im schlimmsten Fall würde sich das Seil in den Ästen verheddern und den Hubschrauber abstürzen lassen.

Irgendwie schaffte sie es, sich und den Fremden von dem Seil loszumachen, und sofort gewann der Hubschrauber wieder an Höhe. Sobald sie ihren Gurt von dem des Mannes getrennt hatte, konnte Dave das Seil wieder zu ihr herunterlassen.

Es dauerte jedoch zu lange. Ihre Hände waren eiskalt, und sie zitterte vor Kälte.

Ihr Begleiter versuchte, ihr zu helfen.

„Nein!“, schrie sie und spuckte dabei Sand aus. „Überlassen Sie das mir. Sie machen es mir noch schwerer.“

Daraufhin ballte er die Hände zu Fäusten. „Sie fliegen doch zurück, oder? Um Ben zu holen?“

„Ja.“ Endlich konnte sie den letzten Karabiner öffnen, sodass sie voneinander getrennt waren. Als sie den verletzten Knöchel zu belasten versuchte, verlor sie beinah das Gleichgewicht. Humpelnd entfernte sie sich ein wenig von dem Mann, um Dave zuzuwinken. Obwohl sie das Mikrofon verloren hatte, bedeutete sie ihm, dass er das Seil hinunterlassen sollte.

„Es tut mir leid, El. Das geht nicht“, schrie er. „Der Wind nimmt weiter zu, und wir haben einen Schwerverletzten an Bord, der beatmet werden muss.“

Dann gewann der Hubschrauber zunehmend an Höhe.

„Nein!“, protestierte Ellie, verzweifelt winkend. „Neiiiiiin!“

Der Fremde hatte sich inzwischen aufgerichtet und stand jetzt neben ihr. „Was ist los? Wohin will er denn jetzt?“ Er umfasste ihre Schultern, und sie spürte, dass es ihm schwerfiel, sie nicht zu schütteln. „Sie müssen zurückfliegen und Ben holen“, rief er verstört.

„Das dürfen wir nicht. Es ist zu gefährlich.“

Nun ließ er sie los, um selbst verzweifelt zu winken. Doch der hellrote Hubschrauber verschwand schnell aus ihrem Sichtfeld. Noch immer vernahm Ellie die Stimme des Piloten.

„Wir haben eure GPS-Koordinaten und kommen zurück, sobald das Wetter aufklart. Sucht irgendwo Zuflucht. Dein anderes Funkgerät müsste immer noch funktionieren. Wir melden uns.“ Sie hörte ihm an, dass er sie nur ungern zurückließ. „Passt auf euch auf, Ellie.“

Eine Ewigkeit, wie es ihr schien, standen sie und der Fremde am Strand und blickten starr zum bedrohlich dunklen Himmel empor, der das Meer schwarz erscheinen ließ. Die weißen Kämme auf den sich brechenden Wellen nahmen sich dagegen geradezu unheimlich aus.

Der Mann machte einige Schritte darauf zu. Dann blieb er stehen und stieß einen derart verzweifelten Schrei aus, dass sie schauderte. Er ahnte offenbar, dass er seinen Freund verloren hatte. Die Kehle schnürte sich ihr zu.

„Ich wäre zurückgeflogen“, rief Ellie ihm zu. „wenn sie mich gelassen hätten.“

Nun kam er wieder näher. „Und ich wäre in der Rettungsinsel geblieben“, antwortete er.

Ist er etwa wütend auf mich, weil ich ihm das Leben gerettet habe? schoss es ihr durch den Kopf.

Ellie nahm ihren Helm ab.

„Wer hat Ihnen das Recht gegeben, zu entscheiden, wer zuerst gerettet wird?“, schrie er sie an.

Sie spuckte noch mehr Sand aus. „Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie noch am Leben sind“, erwiderte sie aufgebracht. „Und wenn wir nicht bald irgendwo Schutz suchen, werden wir wahrscheinlich beide an Unterkühlung sterben, und das Ganze wäre umsonst gewesen. Wer hat Ihnen denn das Recht gegeben, mein Leben in Gefahr zu bringen?“

Ellie wartete seine Reaktion nicht ab, sondern drehte sich um und versuchte, irgendeinen markanten Punkt auszumachen, um herauszufinden, in welche Richtung sie gehen sollte. Der Leuchtturm befand sich zu ihrer Linken, sie mussten also nach Norden gehen. Das Strandhaus befand sich auf direktem Weg dorthin.

Nun etwas zuversichtlicher, begann sie, den Strand entlangzugehen. Sie drehte sich nicht um, um zu sehen, ob der Mann ihr folgte. Wenn er hier bleiben und sterben wollte, dann war das seine Entscheidung. Sie wollte auf jeden Fall überleben.

Doch schon nach wenigen Schritten sank sie mit einem gequälten Aufschrei zu Boden.

Im nächsten Moment hockte der Fremde sich neben sie. „Was ist los?“

„Mein Knöchel … Er ist möglicherweise gebrochen.“

Dann spürte Ellie, wie sie hochgehoben wurde.

„Wo soll es lang gehen?“, fragte er grimmig.

„Nach Norden.“ Sie zeigte in die entsprechende Richtung. „Etwa anderthalb Kilometer.“

Eine heftige Sturmbö erinnerte sie kurz darauf daran, dass dies nur die Vorboten des Zyklons waren. Es würde also noch viel schlimmer werden.

Der Schmerz in ihrem Knöchel, der ins ganze Bein ausstrahlte, verursachte ihr Übelkeit. Das Wissen um ihre Lage und ihre Erschöpfung riefen in Ellie Schwindel hervor. Aber sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren. Wie sollte der Fremde sonst das Strandhaus finden, das wahrscheinlich ihre einzige Überlebenschance war?

„An der Mündung des kleinen Flusses müssen Sie landeinwärts gehen.“

Sie spürte, wie er seinen Griff verstärkte. Es musste unglaublich hart sein, eine so große Frau wie sie in diesem Unwetter zu tragen, zumal vor ihnen noch ein langer Weg lag. Würde der Fremde das schaffen? Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Stöhnend schloss sie die Lider und barg das Gesicht an seiner Brust, während er durch den Sand stapfte.

Es war lange her, dass sie das letzte Mal die Arme eines Mannes gespürt hatte. Wenigstens werde ich nicht allein sterben, dachte sie.

3. KAPITEL

Sie ist wirklich kein Leichtgewicht, ging es Jake durch den Kopf.

Während er sich im Sturm und Regen vorankämpfte, fiel ihm jeder Schritt in dem weichen Sand schwer. Jake presste verbissen die Lippen zusammen. Die Frau hatte recht gehabt. Auch wenn er wünschte, man hätte Ben statt ihn gerettet, konnte er sich glücklich schätzen, dass er noch am Leben war. Deswegen musste er dafür sorgen, dass der heldenhafte Einsatz seiner Retter nicht umsonst gewesen war.

Eine Flussmündung, hatte sie gesagt. Er kannte nicht einmal ihren Namen, dabei hatte sie ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt, und er war so undankbar gewesen, ihr zu sagen, dass er lieber in der Rettungsinsel geblieben wäre.

In seinem linken Bein machte sich jetzt zunehmend ein ihm nur zu vertrauter Schmerz bemerkbar. Gleichzeitig krampfte sein Herz sich zusammen, und seine Gedanken schweiften zu Ben, der immer noch in der lächerlich kleinen Rettungsinsel den Elementen ausgeliefert war.

Das schmerzende Glied und die Sorge um seinen Bruder weckten sofort Erinnerungen an Afghanistan. Ben und er waren erst neunzehn gewesen, als sie zur Army gingen. Obwohl es inzwischen sechzehn Jahre zurücklag, waren die Erinnerungen noch genauso frisch wie eh und je. War es nicht ursprünglich seine Idee gewesen, dass es die ideale Möglichkeit war, vor ihrem Vater zu fliehen?

Wie Gewehrfeuer hallte Charles Logans Stimme in Jakes Kopf wider. Einmal hatte ihr Vater sie beide als dumm bezeichnet und behauptet, sie hätten all ihre negativen Eigenschaften von ihrer Mutter geerbt.

Sie hatten beide die brutale Realität gebraucht, um herauszufinden, wie das wirkliche Leben war, denn sie waren privilegiert aufgewachsen. Sie hatten herausfinden wollen, wer sie wirklich waren.

Aber er, Jake, war viel enthusiastischer gewesen, oder nicht? Im Film waren Soldaten Helden, und letztendlich ging immer alles gut. Sie wurden nicht mit einem verletzten Bein nach Hause geschickt, weil sie zufällig in der Nähe gewesen waren, als eine Bombe explodierte.

Die letzten Worte seines Bruders klangen Jake noch in den Ohren. „Was glaubst du denn, warum sie sich umgebracht hat?“

Es war sein vierzehnjähriger Bruder gewesen, der sie damals gefunden hatte. Wusste er etwas, das er ihm nie erzählt hatte? Hatte er Beweise dafür gefunden, dass sie die Überdosis Schlaftabletten nicht versehentlich genommen hatte?

Nein. Es konnte nicht wahr sein. Ihre Mutter hätte sie beide nicht im Stich gelassen. Sie hatte sie geliebt, auch wenn sie es ihnen nicht hatte zeigen können und oft weg gewesen war.

Gequält schrie Jake auf. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Mutter freiwillig aus dem Leben geschieden war. Genauso wenig wie er die jetzigen Ereignisse wahrhaben wollte.

War sein Bruder womöglich schon ertrunken? Nein. Er hätte es gespürt, wenn ihm seine andere Hälfte für immer entrissen worden wäre.

Der Schmerzensschrei ließ Ellie aus ihrem tranceartigen Zustand erwachen. Es war herrlich gewesen, sich an den Fremden zu klammern und sich vorzustellen, dass er sie in Sicherheit brachte. Doch Eleanor Sutton war keine Romanheldin aus dem achtzehnten Jahrhundert, die bei der kleinsten Aufregung in Ohnmacht fiel. Sie konnte auf sich selbst aufpassen.

„Setzen Sie mich ab“, wies sie ihn an.

Doch er kämpfte sich unbeirrt weiter durch den Sturm und den Regen, der ihnen entgegenpeitschte.

„Nein. Wir sind noch nicht am Fluss.“

Daraufhin wandte sie sich um und blickte aufs Meer hinaus. Den Helm abzunehmen war wahrscheinlich keine so gute Idee gewesen, denn nun wehten ihr Strähnen ihres langen Haars ins Gesicht, und sie musste sie sich immer wieder hinters Ohr streichen.

„Ich kann es nicht sehen. Die Wellen sind zu hoch.“

„Was können Sie nicht sehen?“

„Das Licht vom Leuchtturm. Wenn man vor der Flussmündung steht, befindet sich das Ferienhaus mit dem Licht des Leuchtturms auf einer Linie.“

„Welches Ferienhaus?“

Endlich war sie in der Lage, seinen Akzent einzuordnen. „Sind Sie Amerikaner?“

„Ja. Woher wissen Sie, dass dort eins ist?“

„Weil es mir gehört. Es ist das einzige weit und breit.“ Vielleicht war es noch nicht dunkel genug, denn das Licht schaltete sich automatisch an, aber hatte sie es nicht aus der Luft gesehen?

Vielleicht hatte sie nur den Leuchtturm ausgemacht und sich das Licht lediglich eingebildet. Sie hatte immer danach Ausschau gehalten, seit sie zum ersten Mal mit ihrem Großvater auf der Insel gewesen war. Als kleines Mädchen hatte sie es als tröstlich empfunden und sich auf der winzigen Insel sicher gefühlt.

„Vom Fluss aus kann ich den Weg finden“, fügte Ellie hinzu.

Als sie endlich die Flussmündung erreichten, stellte Ellie fest, dass sie noch nie in ihrem Leben so gefroren hatte. Sobald sie landeinwärts gingen, ließ der Wind nach, doch im Busch lauerten zahlreiche Gefahren. Die riesigen Pohutukawabäume waren Hunderte von Jahren alt, und überall lagen tote und auch gesunde Äste herum, und weitere drohten auf sie herabzustürzen.

Ellie musste sich auf ihren Instinkt verlassen, denn der Pfad war nicht mehr auszumachen. Ihre Angst wuchs. War es ein Fehler gewesen, Dave zu sagen, dass sie hier Zuflucht suchen würden? Die Holzhütte, die ihr Großvater und ihr Vater gebaut hatten, hatte immer so solide gewirkt, als wäre sie für die Ewigkeit errichtet worden.

Doch wie viele Stürme hatten in den vergangenen Jahren hier getobt? War das kleine Haus nun vielleicht doch zusammengestürzt – wie vieles in ihrem Leben?

Offenbar nicht. Aber fast wären sie daran vorbeigelaufen, als sie das Stückchen Land überquerten, das ihr gehörte. Doch dann entdeckte Ellie die kleine Hütte, die an den knorrigen Stamm eines der großen Pohutukawabäume gebaut war.

„Wir sind da“, rief sie erleichtert.

Skeptisch betrachtete der Mann die Hütte. „Machen Sie Witze? Das soll Ihr Ferienhaus sein?“

Ellie lachte laut. „Nein, das ist das dunny.“

„Das was?“

„Das Bad. Die Toilette.“

Der Pfad von dort zum Ferienhaus war überwuchert, aber sie wusste genau, wo sie sich nun befand. Nur wenige Meter weiter konnten sie die hintere Veranda des Strandhauses sehen, auf der das Feuerholz ordentlich gestapelt war. Ellie war so erleichtert, dass sich ihr die Kehle zuschnürte.

Bei der Haustür angelangt, versuchte ihr Begleiter, diese zu öffnen – jedoch vergeblich.

„Sie ist abgeschlossen!“

Kein Wunder, dass er schockiert klang! Da man nur mit dem Boot hierherkam, hatten sich wohl kaum Fremde an diesen Ort verirrt.

Eine andere Kindheitserinnerung fiel Ellie ein. Die Tür vom Flohmarkt, die auf dem Deck der Jacht vertäut gewesen war, genauso wie eine alte Couch und ein kleiner Holzofen.

„Die Tür hat sogar ein Schloss, und es gibt dafür einen Schlüssel“, hatte ihr Vater lachend gesagt. „Das hält die Opossums fern.“

Für ihre Familie hatte diese eine symbolische Bedeutung bekommen. Wenn sie sie aufschlossen, hatten sie ihr ganz eigenes kleines Paradies betreten. Wenn sie sie zugesperrt hatten, waren sie in die Wirklichkeit zurückgekehrt.

„Ich weiß, wo der Schlüssel ist. Setzen Sie mich ab.“

Diesmal befolgte er ihre Aufforderung, und erst da wurde ihr bewusst, wie sehr sie seine Körperwärme genossen hatte. Sie schwankte ein wenig, als sie ihren Fuß belastete, stellte dann aber fest, dass ihr Knöchel nicht mehr so stark schmerzte. Vielleicht war er doch nicht gebrochen, sondern nur verstaucht.

„Können Sie gehen?“

„Ich muss nur zum Fliegenschrank gelangen. Darin befindet sich der Schlüssel.“

Die Wände des kleinen Kastens aus Fliegendraht waren beschädigt, vermutlich durch Opossums, und er baumelte nur noch an einer Halterung in der Luft, aber der große schmiedeeiserne Schlüssel hing immer noch an dem rostigen Nagel. Mit ihren klammen Fingern fiel es ihr sehr schwer, ihn ins Schloss zu stecken und umzudrehen.

„Lassen Sie mich es versuchen.“ Der Mann schob ihre Hand weg, und obwohl sie immer noch ihre Sicherheitshandschuhe trug, war es, als hätte er ihre Haut berührt.

Wie sie zitterte er am ganzen Körper, doch dann hörte sie, wie die Tür aufging, und im nächsten Moment befanden sie sich im Innern der Hütte.

Völlig durchgefroren und mitten im Nirgendwo, hatten sie einen Zufluchtsort gefunden. Er war in Sicherheit, und das hatte er dieser Frau und ihrem außergewöhnlichen Mut zu verdanken. Sie hatte nicht nur ihr Leben für ihn riskiert, sondern auch den Elementen getrotzt, um ihn hierher zu bringen.

Für einen Moment standen sie beide nur da und blickten sich schweigend an. Obwohl es noch nicht Nacht sein konnte, war es so dunkel, dass man kaum etwas erkennen konnte. Die Frau war, wie Jake jetzt auffiel, groß, aber immer noch kleiner als er mit seinen knapp einen Meter neunzig. Ihre Augen waren dunkel und wirkten in dem schummrigen Licht beinah schwarz, ihre vollen Lippen erschreckend blass. Eine Strähne ihres langen Haars fiel ihr über die Schulter und reichte ihr fast bis zur Taille.

„Wie heißen Sie?“, fragte er schließlich.

„Eleanor Sutton. Ellie.“

„Ich bin Jacob Logan. Jake.“

„Hallo, Jake.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, begann dann allerdings, unkontrolliert zu zittern. „F… freut m… mich, Jake.“

Er nickte. „Mich auch, Ellie.“

Offenbar sagte sein Name ihr nichts, und es war ein seltsames Gefühl, nicht auf Anhieb erkannt zu werden. Allerdings sah er sich auch nicht mehr ähnlich. Mit dem Bart und dem langen Haar, die er für seine letzte Rolle hatte wachsen lassen müssen, hätte seine Mutter ihn wahrscheinlich auch nicht erkannt. Doch von einem Megastar zu einem … Nobody abzusteigen, war eigenartig.

Und doch war es seltsam tröstlich. Es versetzte ihn in eine Zeit zurück, als er lediglich „einer der wilden Logan-Jungs“ – und Ben näher – gewesen war.

War es unehrlich, wenn er Ellie seine wahre Identität verschwieg? Würde Ben es auch als schauspielern betrachten?

Nein, er würde nur der Mensch sein, der er früher gewesen war. Vielleicht war dies das einzige Mal in seinem Leben, dass eine fremde Person ihm ganz unbefangen begegnete. Er war neugierig, und das lenkte ihn beinah von seiner Angst um seinen Bruder ab.

„Wir müssen unbedingt sehen, dass uns wieder warm wird.“ Ellie sah ihn jetzt nicht einmal an. „Draußen müsste ausreichend Feuerholz sein, und auf den Betten liegen genug Decken. Außerdem haben wir Lampen, falls das Kerosin nicht verdunstet ist. Ich bin nämlich seit einigen Jahren nicht mehr hier gewesen, und hoffe, dass die Opossums nicht ins Haus eingedrungen sind.“

Jake blickte sich um. Die quadratische Hütte war aus rohen, inzwischen silbrig-grau gewordenen Holzbrettern erbaut. Von der Decke hing eine antike Lampe aus Glas und Metall, und zahlreiche Dekogegenstände schufen eine behagliche Atmosphäre – ein Wandbrett mit schillernden Muscheln und Schnecken und ein Poster mit einem Leuchtturm bei Unwetter. In einer Ecke befand sich eine Küchenzeile mit einer Sitzgruppe, bestehend aus einem kleinen Holztisch, einer Bank und Stühlen sowie einem kleinen Ofen und einer Spüle.

Die andere Hälfte des Raums wurde von einer ziemlich alt wirkenden Couch und einem Sessel vor einem offenen Kamin eingenommen. Links und rechts davon gingen zwei türlose Räume ab. Die Schlafzimmer?

„Stehen Sie nicht einfach so herum“, sagte Ellie plötzlich in einem so autoritären Tonfall, dass Jake sich sofort in seine Schulzeit zurückversetzt fühlte, beziehungsweise in seine Kindheit, in der er und sein Bruder immer in der Obhut von irgendwelchen Kindermädchen gewesen waren, die sie terrorisiert hatten.

Was spielte es schon für eine Rolle, ob Ellie wusste, wer er war, oder was sie von ihm hielt? Nichts würde je wieder wichtig sein, wenn er Ben verlor.

Nun öffnete sie einen Schrank und nahm eine Dose heraus. „Machen Sie sich nützlich, und holen Sie Holz von der Veranda.“ Dann nahm sie den Deckel ab. „Wir haben sogar Streichhölzer!“

Der Gedanke an ein wärmendes Feuer riss ihn aus seiner Erstarrung, und Jake ging nach draußen. In seine Sorge um Ben mischte sich immer noch Wut, weil niemand seinen Bruder zu retten versuchte. Als er jedoch die Scheite vom Stapel nahm und überlegte, ob es in Neuseeland auch giftige Spinnen oder Schlangen wie in Australien gab, lenkte es ihn ein wenig ab.

Als er wieder das Haus betrat, hockte Ellie in einer Wasserlache vor dem Kamin und versuchte mit zittrigen Fingern, ein Feuer zu entfachen. Mit dem dritten Streichholz schaffte sie es schließlich, zusammengeknülltes Papier in Brand zu setzen. Dann wandte sie sich zu ihm um, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

„Sie humpeln ja“, stellte sie vorwurfsvoll fest. „Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie verletzt sind?“

„Ich bin nicht verletzt.“ Er legte das Holz neben ihr auf den Boden. „Es ist etwas Altes.“

„Oh.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Eine alte Kriegsverletzung?“, zog sie ihn auf.

Jake funkelte sie an. „Es ist das erste Mal, dass jemand es komisch findet.“

Einen Moment lang herrschte peinliches Schweigen, während sie sich wieder zum Kamin umwandte.

„Anscheinend gibt es hier Mäuse oder Ratten, denn das Papier war angefressen“, fuhr sie in unverfänglichem Tonfall fort. „Die Betten sollten wir lieber nicht benutzen, aber die Decken dürften in Ordnung sein.“

Nun erhellte der Schein der Flammen ihr Gesicht. Noch immer tropfte Wasser aus ihren Haaren und ihrer Kleidung. Rauch quoll jetzt aus dem Kamin, sodass sie husten musste.

„Wahrscheinlich sind Vogelnester im Kamin, aber die verbrennen sicher schnell. Sobald der Ofen richtig warm ist, können wir Fleisch darauf garen“, erklärte sie.

Dass sie über seine alte Verletzung gewitzelt hatte, musste er ihr verzeihen. Schließlich kannte sie die Wahrheit nicht. Außerdem bewunderte er sie, denn sie war wirklich tough. Während er größere Holzscheite nachlegte, humpelte sie in die Küche, um den Ofen zu heizen. Während seine Hände langsam warm wurden, blickte er auf und sah, wie Ellie ihre Hände schüttelte und dabei gequält das Gesicht verzog.

„Es tut ziemlich weh, oder?“

„Ja, aber das ist ein gutes Zeichen, weil das Blut wieder zirkuliert. Ich sehe mal nach, ob ich trockene Sachen finde. Mein Dad hatte immer eine Truhe unter dem Bett, da dürften die Ratten oder Mäuse nicht reingekommen sein.“

„Gibt es hier auch Schlangen?“

„In Neuseeland nicht. Sind Sie noch nie hier gewesen?“

„Nein.“

„War bei dem Jacht-Racing denn ein Zwischenstopp in Auckland geplant?“

„Ja. Da wollte ich aussteigen. Ich bin beruflich hier. Deswegen hatte ich Ben überredet, mich auf seinem Boot mitzunehmen.“

„Ben? Ist das Ihr Freund, der mit Ihnen in der Rettungsinsel war?“

„Er ist mein Bruder. Mein Zwillingsbruder.“

„Oh … Das … tut mir leid, Jake.“

„Ja. Mir auch.“

„Es gibt immer noch Hoffnung, dass er es schafft.“

Jake ertappte sich dabei, wie er Ellie starr anblickte, als würde er sie beschwören, dass sie recht hatte. Eigentlich musste sie wissen, wovon sie sprach.

„Wir waren nicht das einzige Rettungsteam da draußen“, fuhr sie leise fort. „Außerdem ist die Küstenwache unterwegs, aber auch andere Schiffe und sogar Containerriesen sind vor Ort …“

Ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache verrieten Mitgefühl. Ellie streckte eine Hand aus. Hätte sie dicht vor ihm gestanden, hätte sie ihn jetzt berührt.

Jake wünschte, es wäre so.

„Außerdem gibt es an diesem Küstenabschnitt Hunderte von Inseln. Wenn ihn die Strömung an einen Strand schwemmt, kann er irgendwo Schutz suchen, bis der Zyklon abzieht.“

Vielleicht lag es an ihrem Mitgefühl oder an ihren tröstenden Worten. Jedenfalls sprach sie etwas aus, was er sich in diesem Moment mehr als alles andere ersehnte. Sie wirkte so vertrauenswürdig, aber so waren sie alle, oder? Vor allem Frauen.

Er traute niemandem.

„Ja …“ Jake zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden, und begann, mit einem dünnen Holzscheit, das Feuer zu schüren. Er wollte nicht über Ben reden. Er wollte dieser Fremden nicht zeigen, was er wirklich empfand. Wie groß seine Angst war. Wer wusste schon, was sie für Kontakte hatte? Womöglich würde er es dann in irgendeinem Klatschblatt lesen.

Obwohl das Feuer sie wärmte, nahm Ellies innere Kälte zu. Kein Wunder, dass die beiden Männer sich darüber gestritten hatten, wer als Erster gerettet werden sollte. Oder dass Jake gesagt hatte, er wäre in der Rettungsinsel geblieben, wenn er die Wahl gehabt hätte. Sie hatte keine Geschwister, während diese Männer Zwillingsbrüder waren. Ellie meinte nachvollziehen zu können, wie nahe die beiden sich standen. Von einer solchen Nähe zu einem anderen Menschen hatte sie auch immer geträumt. So sehr zu lieben – und geliebt zu werden –, dass die eigene Sicherheit nicht an erster Stelle stand.

Letztendlich würde Jake ihr nicht dafür danken, dass sie ihn gerettet hatte. Offenbar wollte er nicht über seinen Bruder reden. Mit grimmiger Miene hockte er vor dem Kamin und ließ sie nicht an dem teilhaben, was in ihm vorging.

Nun fuhr er sich mit dem Handrücken über die Augen. Offensichtlich hatte er Rauch hineinbekommen. Sie wusste, dass er abweisend reagieren würde, wenn sie ihn weiter zu beruhigen versuchte. Wahrscheinlich würde sie auch ins Fettnäpfchen treten, genauso wie eben, als sie darüber gescherzt hatte, dass er humpelte.

Auf dieselbe Weise hatte ihr Großvater ihre Sorgen immer abgetan. „Es ist nichts, Kleines. Das ist nur meine alte Kriegsverletzung, die sich wieder bemerkbar macht.“

Aber Jake war Amerikaner, und sie fragte sich, ob er in einem Krisengebiet verwundet worden war. Sie hatte sich nicht für ihre Bemerkung entschuldigt, weil sie nicht unaufrichtig klingen wollte oder gar neugierig. Dieser Mann machte auf sie den Eindruck, als wäre ihm seine Privatsphäre ungemein wichtig.

„Ich sehe jetzt nach, ob ich trockene Sachen finde“, sagte Ellie deshalb nur.

Als Ellie mit einem Stapel Kleidungsstücke auf dem Arm in den Wohnbereich zurückkehrte, war es dort schon viel wärmer. Trotzdem zitterte Jake immer noch am ganzen Körper.

„Die Hosen sind schrecklich, aber ich habe viele Outdoor-Hemden gefunden.“ Sie legte alles auf das Sofa und nahm ein rot-schwarz kariertes Hemd heraus, das sie ihm hinhielt. „Es ist aus Wolle und bestimmt sehr warm. Es müsste Ihnen passen.“

Da sowohl ihr Grandpa wie auch ihr Vater groß gewesen waren, reichte ihr das Hemd, das sie für sich gewählt hatte, fast bis zu den Knien. Darunter trug sie eine Jogginghose, die zum Glück so weit war, dass sie sie über die nassen Stiefel hatte ziehen können. Sie hatte die Schnürsenkel immer noch nicht aufbekommen, aber vielleicht war es auch besser so, weil ihr Knöchel so stabilisiert wurde.

Jake nahm das Hemd entgegen und nickte. „Danke.“

Ellie beobachtete, wie er sich abmühte, den Reißverschluss seines Anoraks zu öffnen. Nachdem er es einige Male vergeblich versucht hatte, fluchte er leise und gab es auf. Daraufhin ließ sie den Blick von seinen Fingern zu seinem Gesicht schweifen, und eine Weile sahen sie sich nur an.

Das Feuer knisterte inzwischen und erhellte den Raum so weit, dass sie Jake betrachten konnte. Er war groß, breitschultrig und sah mit dem langen Haar und dem Bart ziemlich verwegen aus. Seine markante Nase und sein durchdringender Blick unterstrichen den Eindruck noch.

Schnell wandte sie den Blick ab. „Ich helfe Ihnen.“

Dann half sie Jake beim Ausziehen. Unter dem Anorak trug er einen völlig durchweichten Wollpullover und darunter Thermounterwäsche.

Und dann sah sie nackte Haut. Viel nackte Haut und harte Muskeln. Seine Brust war fast unbehaart, was angesichts seines langen Haars und des Barts erstaunlich war. Außerdem hatte er einige Tattoos, wie Ellie nervös feststellte. Auf der Unterseite seines linken Unterarms entdeckte sie ein chinesisches Symbol. Außerdem verlief eine Reihe chinesischer Schriftzeichen von seiner Achsel zum Bund seiner Jeans.

Was diese bedeuteten, wagte sie nicht zu fragen, und zum Glück zog er schnell das dicke Wollhemd an. Es gelang ihm jedoch nicht, den Reißverschluss seiner Jeans zu öffnen.

Während ihrer beruflichen Laufbahn hatte sie unzählige Gerettete ausgezogen oder deren Kleidung zerschnitten und diese nackt gesehen, ohne auch nur im Geringsten darauf zu reagieren. Warum fühlte sie sich nun so unbehaglich, dass sie schlucken und für einige Sekunden die Augen schließen musste?

Vielleicht war es auch ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht länger für diesen Job eignete. Bei der Vorstellung wurde ihr so mulmig zumute, dass sie zornig wurde.

„Ich helfe Ihnen“, verkündete sie scharf. „Den Rest müssten Sie allein schaffen.“

Zu ihrem Leidwesen hakte der Reißverschluss, sodass sie ihn noch einmal hoch- und dann wieder hinunterziehen musste. Dabei stieg ihr das Blut ins Gesicht. Nachdem sie es geschafft hatte, wandte sie sich schnell ab, bevor Jake die Jeans abstreifte.

Sie hatte genug gesehen.

Seit seinem zweiten Lebensjahr hatte ihn niemand mehr ausgezogen. Außer natürlich nach seiner Verletzung in Afghanistan und danach im Militärkrankenhaus in den USA. Damals hatte er mit den Krankenschwestern geflirtet und darüber gewitzelt, wie erniedrigend es war, so hilflos zu sein.

Mit Ellie hätte er in dieser Situation niemals flirten können. Er hatte sie betrachtet und festgestellt, dass ihr langes Haar zu trocknen begann und ihre Züge weicher erscheinen ließ, obwohl sie ein grimmiges Gesicht machte.

Sie hatte ihn nur angefasst, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte. Auch das war eine seltsame Erfahrung für einen Mann wie ihn, den es beinah langweilte, dass die Frauen sich ihm normalerweise an den Hals warfen, und es weckte Gefühle in ihm, die Jake nicht ergründen konnte. Auf jeden Fall beunruhigte es ihn sehr.

Die einzige Hose, die ihm passte, war leider eine Jogginghose, die ihm nicht einmal bis zu den Knöcheln reichte. Wenigstens schienen die Socken ziemlich groß zu sein, und er war froh, dass keine Paparazzi in der Nähe waren.

„Was machen wir mit den nassen Sachen?“

Ellie hatte die Lampe vom Haken an der Decke genommen und goss gerade etwas in den unteren Teil.

„Wir hängen sie über die Stühle. Vielleicht trocknen sie, bis wir gerettet werden.“

„Und wann wird das Ihrer Meinung nach sein?“

Nun hatte sie den Glasbehälter abgenommen und zündete den Docht an. „Den Wetterwarnungen zufolge soll der Zyklon diese Gegend erst morgen mit voller Wucht treffen. Danach müsste er innerhalb von zwölf Stunden abziehen.“

Als sie aufsah und Jakes Blick begegnete, lächelte sie schwach. „Das Schlimmste steht uns also noch bevor.“

Sein Mund war plötzlich ganz trocken, denn ihre Züge wirkten im Schein der Lampe plötzlich so lebendig. Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau, und irgendetwas Merkwürdiges passierte mit ihm.

Lass das, ermahnte Jake sich. Auch wenn sie nicht weiß, wer du bist, ist es das Risiko nicht wert. Vergiss nicht, was beim letzten Mal passiert ist.

Als Ellie sich dann streckte, um die Lampe wieder an den Haken zu hängen, glitt der Ärmel hoch und entblößte ihren schlanken, gebräunten Arm. Fasziniert betrachtete er ihn.

Ja, das Schlimmste stand ihm vermutlich noch bevor. Doch er konnte damit umgehen. Er musste es.

4. KAPITEL

Das Licht der Kerosinlampe und die Flammen des Feuers erhellten den Raum, während es draußen Nacht wurde. Inzwischen war es so warm geworden, dass die nassen Sachen auf den Stühlen zu trocknen begannen.

Ellie hatte die Taschen ihres Fliegeranzugs geleert und auf den kleinen Tisch gelegt – einen Schlüsselbund, Stifte und ein Mobiltelefon, die nicht mehr zu gebrauchen waren, außerdem ein Funkgerät, das sich allerdings in einer wasserdichten Hülle befand.

Vergeblich hatte sie versucht, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Es hatte in dem Apparat geknistert und gepiept, aber niemand hatte geantwortet. Nach einigen weiteren Versuchen hatte sie es aufgegeben.

„Vielleicht sind wir außer Reichweite, oder die Verbindung ist gestört. Ich versuche es morgen früh noch mal.“

Jake war frustriert, aber wenigstens waren sie in Sicherheit und froren endlich nicht mehr. Außerdem hatte sie in einem Schrank einen Vorrat an Konservendosen entdeckt.

„Gebackene Bohnen, Ravioli, Eintopf, Erbsen oder Tomaten. Was möchten Sie?“

„Das klingt alles gut. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so hungrig gewesen.“

Als sie nun im Schneidersitz vor dem Kamin saßen und die warmen Ravioli aßen, dachte Ellie, dass sie diese Mahlzeit wohl niemals vergessen würde.

„Es gibt noch mehr, wenn Sie möchten“, informierte sie Jake.

„Vielleicht sollten wir das für morgen aufheben.“

„Es sind doch noch viele Dosen da. Anscheinend hat meine Mutter vor ihrer letzten Reise hierher einen Großeinkauf gemacht.“

„Wann war das?“

„Vor sechs Jahren. Ich bin damals nicht mitgefahren, weil ich da gerade meine Hubschrauberausbildung gemacht habe.“ Starr blickte Ellie ins Feuer. „Das hat mir das Leben gerettet.“

„Wieso?“

„Auf dem Rückweg ist die Jacht meiner Eltern in Seenot geraten, und beide sind ertrunken.“

„Oh … Das tut mir leid.“ Unvermittelt stellte Jake seinen Teller weg, als wäre ihm plötzlich der Appetit vergangen.

„Nein, mir tut es leid. Ich wollte Sie nicht …“ Sie verstummte. Er wollte nicht über Ben reden, und es ging sie ohnehin nichts an.

Einen Moment später hörte sie jedoch, wie Jake tief einatmete. Dann schüttelte er den Kopf und stand auf, wobei er sich das Haar hinter die Ohren strich.

„Sie haben nicht zufällig ein Gummiband? Mein Haar macht mich wahnsinnig.“

Ellie blinzelte. „Ich sehe mal nach.“ Nun musste sie ihn doch etwas Persönliches fragen. „Warum tragen Sie es dann so lang?“

„Es ist nur vorübergehend … sozusagen beruflich bedingt.“

„Oh … Sind Sie Model?“

Er schnaufte. „So ähnlich.“

Das konnte sie sich gut vorstellen. Schließlich hatte sie seinen Körper gesehen. Viele Frauen standen außerdem auf Männer mit langem Haar. Aber der Bart? Nein, der war nicht ihr Fall.

Fast änderte Ellie ihre Meinung, als Jake sich jetzt das Haar aus der Stirn strich. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihm abzuwenden.

„Habe ich noch Tortellini im Gesicht?“, fragte er.

„Nein … Aber Sie sehen so … anders aus.“

Anders und doch seltsam vertraut. Oder war das nur ein Warnsignal dafür, dass sie unbewusst auf seine starke Anziehungskraft reagierte? Schnell sah sie weg.

„Hier, nehmen Sie das …“ Sie zog das Gummiband aus ihrem Zopf. „Wenn ich mein Haar nicht offen trage, dauert es die ganze Nacht, bis es trocknet.“

Während Jake sein Haar in einem Pferdeschwanz zusammenfasste, löste Ellie ihren Zopf auf, woraufhin ihr Haar bis zum Boden reichte. Sie hatte sich umgedreht und meinte Jakes Blick im Rücken zu spüren. War es das Zischen der Lampe, das Knistern des Feuers, oder knisterte es zwischen ihnen?

Schließlich räusperte Jake sich. „Es muss schwer gewesen sein, Ihre Eltern so zu verlieren. Haben Sie Geschwister?“

„Nein.“

„Einen Mann? Freund? Sonst jemanden, der Ihnen nahesteht?“

„Nein.“ Ellie wurde ärgerlich. Es ging ihn nichts an. Außerdem erzählte er ihr auch nichts über sich.

„Entschuldigung, ich wollte nicht neugierig sein“, sagte er dann ausdruckslos. „Ich dachte nur … es wird eine lange Nacht, und es wäre nett, sich kennenzulernen.“

Hieß das, wenn sie bereit war, etwas von sich zu erzählen, wäre er es vielleicht auch? Würde ich dann sogar etwas über die Bedeutung jenes faszinierenden Tattoos erfahren? überlegte sie.

„In Ordnung.“ Sie stand auf. „Aber erst suche ich Decken und Kissen und setze Wasser auf. Vielleicht finde ich irgendwo eine Dose mit Kakao. Wir müssen unbedingt etwas trinken.“

Es dauerte etwas, bis sie sich vergewissert hatte, dass sie alles hatten, was sie brauchten. Das Feuer brannte, sie hatten beide eine Decke und Kissen. Ellie überließ Jake die Couch, während sie sich in den Sessel kuschelte.

Ihre Erschöpfung machte sich bemerkbar. Alles tat ihr weh, und ihr verletzter Knöchel pochte schmerzhaft, obwohl sie ihn provisorisch bandagiert hatte. Es war einer der längsten Tage ihres Lebens gewesen, und die körperliche Anstrengung war extrem gewesen, ganz zu schweigen von dem psychischen Stress.

Möglicherweise lag es unter anderem auch daran, dass der Kummer um den Verlust ihrer Familie wieder hochkam. Kein Wunder, denn sie war an den Ort zurückgekehrt, den sie genau aus diesem Grund so lange gemieden hatte. Vielleicht war sie deswegen bereit, über Dinge zu reden, über die sie bisher mit niemandem hatte sprechen können.

„Ich bin seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr hier gewesen“, begann Ellie. „Es war schlimm genug, als wir alle nach Grandpas Tod hierherkamen, und ich wollte nicht daran erinnert werden, dass ich keine Familie mehr habe.“ Sie seufzte leise. „Außerdem habe ich kein Boot, und ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch mal aufs Meer hinausfahren möchte.“

„Das lässt sich wohl schlecht vermeiden, wenn man auf einer Insel lebt.“

„Na ja, es ist eine große Insel, aber Sie haben recht. Ich bin in Devonport in Auckland aufgewachsen, und das liegt direkt am Strand. Ich wohne immer noch dort. Ich schätze, im Blut meiner Familie fließt Salzwasser. Deswegen hat Grandpa damals auch den Job als Leuchtturmwärter auf Half Moon Island angenommen. Als Kind habe ich viel Zeit dort verbracht. Dahinten hängt übrigens ein Foto von dem Leuchtturm.“

„Ich dachte, die meisten Leuchttürme wären mittlerweile automatisch betrieben.“

„Das war auch auf Half Moon so. Es wurde schon lange vor meiner Geburt umgestellt, aber Grandpa ist nicht damit klargekommen. Deswegen hat er dieses Stück Land gekauft und hier gelebt. Ich habe alle Ferien hier verbracht – bis zu seinem Tod, da war ich siebzehn. Danach sind Mum, Dad und ich ein paarmal im Jahr hierhergekommen. Wir konnten immer noch zum Leuchtturm übersetzen und die Gegend erkunden. Man kann dort prima Vögel beobachten.“

Sie war jetzt so müde, dass ihr fast die Augen zufielen. Nun hatte sie genug von sich erzählt, oder? Anscheinend nicht.

„Ich verstehe es einfach nicht“, sagte Jake.

„Was?“

„Warum jemand wie Sie ganz allein ist.“

„Jemand wie ich?“ Mühsam öffnete Ellie die Lider und wandte den Kopf gerade so weit, um zu sehen, dass Jake sie wieder starr anblickte.

„Ja … Jemand, der so begabt ist, so unglaublich mutig … umwerfend …“

Plötzlich verspürte sie ein Prickeln, und sie fühlte sich unwohl. „Ich bin eben ein gebranntes Kind. Sie wissen schon …“

„Oh ja, das kenne ich“, erwiderte er mit einem bitteren Unterton. „Was ist passiert?“

„Die alte Geschichte. Ich habe mich verliebt und bin betrogen worden. Ich will Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber es wäre ein guter Stoff für eine Seifenoper.“

Jake stieß einen verächtlichen und zugleich mitfühlenden Laut aus. „Das ist eine gute Sichtweise.“

„Inwiefern?“

„Es so zu betrachten, als wäre es ein Film, den Sie auf der großen Leinwand sehen könnten.“

Ellie lachte. „Und was würde die gedemütigte Heldin mit dem gebrochenen Herzen in diesem Streifen tun?“

„So ziemlich das, was Sie machen“, erwiderte er sanft. „Weitermachen und zu einer echten Heldin werden.“

„Das Leben ist kein Film“, meinte sie leise.

„Es hilft aber, wenn man es manchmal so betrachtet.“

Seine Worte ärgerten sie. „Wie soll es einem helfen, wenn man vor der Realität flieht?“

„Weil man es wie ein Außenstehender anschaut. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie sich dabei beobachten, wie Sie aufgeben? Sie hätten keine Lust mehr, länger zuzusehen, stimmt’s? Ist es nicht besser, wenn man sich anspornt, während man sich den Hindernissen stellt und sie überwindet?“

„Tun Sie das denn?“

„Gewissermaßen schon.“ Jake schien sich ihr nun zu öffnen. „Es hilft einem durch schwere Zeiten.“

„Durch Schein zum Sein, meinen Sie?“

„Nein, es ist kein Schein. Man tut nicht so, als wäre man jemand anders. Man holt das Beste aus sich heraus, auch wenn man sich selbst noch fremd ist.“

Hatte sie ihn jetzt verärgert? Sein Schweigen deutete darauf hin.

„Dann sind Sie offenbar auch nicht verheiratet?“, erkundigte Ellie sich betont lässig.

„Nicht mehr.“

Warum klopfte ihr Herz plötzlich schneller? „Dann wurden Sie also auch benutzt und dann fallen gelassen?“

„Sie sagen es.“

Sein anschließendes Schweigen bewies ihr, dass Jake wieder eine Barriere um sich errichtet hatte.

„Wie wird dann mein Happy End aussehen?“, lenkte sie das Gespräch wieder auf sich. „Werde ich meiner großen Liebe begegnen? Einem wundervollen Mann, dem ich bedingungslos vertrauen kann?“

„Ja, natürlich“, erwiderte er.

„Genau deswegen sehe ich mir auch keine Filme an. Was hat es für einen Sinn, sich in irgendwelche Fantasiewelten zu flüchten?“

„Wenn wir nicht auf etwas Besseres hoffen könnten, wäre das Leben für viele manchmal eine ziemlich üble Sache.“

„Das stimmt wohl.“ Ellie ließ den Kopf auf das Kissen sinken und kuschelte sich tiefer in ihre Decke. „Aber bei mir sehe ich das nicht.“

Seine Worte schufen eine Verbindung zwischen ihnen, und möglicherweise hatte seine Aussage etwas für sich. Sie konnte auch mal versuchen, es so zu betrachten.

„Ich bin zufrieden mit meiner Wirklichkeit“, erklärte sie dann. „Warum sollte ich sie aufs Spiel setzen, indem ich sie von jemand anders abhängig mache? Letztendlich kann man doch nur sich selbst vertrauen. Es sei denn …“ Vor Müdigkeit konnte sie kaum noch sprechen. „Es sei denn, man hat einen Zwilling. Dann gibt es einen sozusagen zweimal.“

Jake schwieg, und sie nickte allmählich ein, froh darüber, dass sie eine Gemeinsamkeit gefunden hatten. Öffnete das vielleicht die Tür zu einer platonischen Freundschaft?

Nein. Kurz bevor sie einschlief, erinnerte Ellie sich daran, wie es gewesen war, Jakes nackter Haut so nahe zu sein. Ihn zu berühren. Allein bei der Erinnerung daran verspürte sie wieder ein Prickeln.

Eine platonische Freundschaft zwischen ihnen war undenkbar.

Ein kalter Luftzug riss Jake aus seinem unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf. Als er sich aufsetzte, sah er, dass Ellie die Tür nach draußen zu öffnen versuchte.

„Was ist passiert?“

„Nichts.“ Sie trug eine Öljacke und einen Hut. „Ich muss nur zur Toilette.“

„Sind Sie verrückt?“ Nun hellwach, bemerkte er, dass der Sturm sich verschlimmert hatte. Das Heulen des Windes war genauso unheimlich wie das schummrige Licht des neuen Tages. Regen prasselte auf das Blechdach, und ein unheilvolles Knarren ließ erahnen, dass es dem Unwetter nicht standhalten würde.

Obwohl ihm alles wehtat, stand Jake auf und ging zum Fenster. Dabei sah er gerade noch, wie der Fliegenschrank in die Bäume gewirbelt wurde.

„Es ist zu gefährlich“, sagte er unwirsch.

„Es sind doch nur ein paar Schritte“, erwiderte Ellie ruhig. „Schließlich laufe ich nicht Gefahr, von einer Klippe geweht zu werden.“

„Sie könnten einen Ast auf den Kopf bekommen“, konterte er, verärgert, weil sie so leichtsinnig war. Oder weil er den plötzlichen Drang verspürte, diese Frau zu beschützen?

„Man kann auch beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst werden.“

Sie hörte einfach nicht auf ihn. Kein Wunder, denn diese Frau verdiente ihren Lebensunterhalt damit, am Drahtseil an einem Hubschrauber zu hängen.

„Ich habe Wasser aufgesetzt“, fuhr Ellie fort. „Sie können uns in der Zwischenzeit Kakao machen.“

Ja, das sollte er, statt am Fenster zu stehen und zu beobachten, wie sie sich vorwärtskämpfte. Nur mit Mühe schaffte sie es, die Tür zum Toilettenhäuschen aufzustemmen. Er rieb sich die Augen, als er sich wieder zum Ofen umwandte, noch ganz unter dem Eindruck seiner Albträume.

Ellie, mit fliegendem Haar, wie eine Kriegerin anmutend, die mit dem Finger auf ihn zeigte und schrie: „Schein … Schein … Schein …“

Und Ben hatte neben ihr gestanden und genauso vorwurfsvoll gewirkt.

„Du bist völlig realitätsfern … genau wie Mum …“

Während Jake die Kakaodose öffnete, dachte er an Ellies letzte Worte vor dem Einschlafen. Damit hatte sie völlig danebengelegen. Natürlich waren er und Ben immer eine Einheit gewesen und hatten zusammengehalten, doch sie waren bei Weitem nicht ein und dieselbe Person. Sie waren auch nicht zwei Hälften eines Ganzen. Eher wie Yin und Yang. Völlig gegensätzlich, aber perfekt zusammenpassend. Ohne Ben würde er nie wieder derselbe sein.

Mit ihrer Frage, wie es einem helfen sollte, wenn man vor der Realität floh, hatte sie allerdings nicht so danebengelegen. Genauso wenig wie Ben in den letzten Minuten in der Rettungsinsel. Hatte nicht alles genau so angefangen, obwohl er damals viel zu jung gewesen war, um zu wissen, was er tat?

Das Wasser kochte jetzt, und Ellie musste jeden Moment zurückkommen. Jake brühte das Kakaopulver in den Bechern auf, froh darüber, dass der Duft der Schokolade ihn ablenkte. Er konnte einen weiteren Tag überleben und die letzten Albträume verdrängen. Vor allem den, in dem er in der Rettungsinsel zurückgeblieben und hinausgeschleudert worden war. Immer tiefer war er in dem eisigen Wasser versunken. Ertrunken …

Ein lautes Krachen brachte ihn unvermittelt in die Gegenwart zurück, und das Blut wich ihm aus dem Gesicht. Das ganze Haus schien zu beben, und der Lärm um ihn her wurde immer schlimmer. Einer der Becher fiel hinunter, und die heiße Flüssigkeit ergoss sich über den Fußboden, doch Jake nahm es kaum wahr. Plötzlich wurde es dunkler. Wenige Sekunden gab es eine Erschütterung von der Stärke eines Erdstoßes. Der zweite Becher zersplitterte auf dem Boden. Ein Stuhl kippte um. Die Kerosinlampe schwang so heftig hin und her, dass die Flamme erlosch.

Und dann herrschte plötzlich eine unheimliche Stille.

Jake war schon an der Tür und riss sie auf. Noch nie in seinem Leben hatte er so laut gebrüllt.

„Ellie …“

5. KAPITEL

Als Ellie die Tür des Toilettenhäuschens wieder zu öffnen versuchte, hörte sie das laute Krachen, das nur eins bedeuten konnte: Ein Baum stürzte um, und zwar ein sehr großer. Würde sie darunter begraben werden?

Die Erschütterung, die dann folgte, war noch schrecklicher als ihr unfreiwilliges Bad im Meer am Vortag. Dann merkte sie, wie das kleine Häuschen mit ihr hochgehoben und durch die Luft gewirbelt wurde, und sie wähnte sich dem Tode nahe.

Rief da jemand ihren Namen, oder bildete sie es sich nur ein? Sekundenlang verspürte sie eine überwältigende Sehnsucht. Sie wollte im Strandhaus sein. In Jakes Armen. Sicher und geborgen.

Als das Haus im nächsten Moment aufschlug, zerbarsten die Bretter um sie her. Doch statt Tageslicht sah sie nur Zweige und die Blätter eines Pohutukawabaums. Wie durch ein Wunder schien sie unverletzt zu sein. Sie rappelte sich auf und schob die Zweige vor ihrem Gesicht weg.

„Ellie …“

Sie hatte es sich also nicht eingebildet.

„Ich bin hier, Jake.“

„Ich kann Sie nicht sehen.“

„Hier, unter den Zweigen. Ich … Ah …“ Ellie stöhnte, weil sie es nicht schaffte, einen dickeren Ast zu fassen zu bekommen.

„Oh nein! Sind Sie verletzt?“

Sein besorgter Tonfall schnürte ihr die Kehle zu. Da gab es tatsächlich jemanden, dem es nicht egal zu sein schien, ob es ihr gut ging oder nicht.

„Ich glaube nicht. Ich stecke nur fest.“

„Ich hole Sie da raus. Rufen Sie weiter, damit ich Sie finde.“

Und genau das tat sie. Unterdessen versuchte sie, sich selbst zu befreien, indem sie sich vorwärtsschob. Sie hörte, wie Äste brachen, als Jake sich zu ihr vorarbeitete. Während sie sich vorankämpfte, zog sie sich zahlreiche Kratzer und Schrammen zu, und ihr Haar blieb ständig in irgendwelchen Zweigen hängen, sodass sie sich unter Schmerzen immer wieder befreien musste.

Plötzlich verfing sie sich ausgerechnet mit ihrem verletzten Knöchel. Als sie ihn loszubekommen versuchte, stöhnte sie vor Frust und Schmerzen.

„Und, ist es schlimm?“, fragte Jake, als er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich vor ihr auftauchte.

„Es ist nur mein verletzter Knöchel. Er ist eingeklemmt …“

Daraufhin kroch er weiter und umfasste ihren Fuß. „Es könnte etwas wehtun.“ Nachdem er ihr den Schuh ausgezogen hatte, war ihr Bein endlich frei. Dann zeigte er ihr den Weg hinaus.

„Wir kriechen an den Wurzeln entlang.“

Er hatte den Arm um sie gelegt, sodass sie ihr Gewicht auf ihn verlagern konnte. Als sie schließlich dem Gewirr von Ästen entkommen waren, schrie Ellie auf. Sie standen am Rand eines großen Lochs.

„Sehen Sie …“, schrie sie.

Jake folgte ihrem Blick. „Was ist das denn? Eine Ratte?“

„Das ist ein Kiwi.“ Er konnte ja nicht wissen, wie selten dieser Nationalvogel Neuseelands war. Ellie war den Tränen nahe.

„Leider können wir nichts mehr für ihn tun. Wir müssen sofort ins Haus, sonst sind wir die nächsten.“

Doch sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist da irgendwo ein Nest. Wir müssen nachsehen.“

Jake blickte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Sie bleiben hier“, sagte er schließlich. „Wonach soll ich Ausschau halten?“

„Nach einem Ei … oder einem Jungvogel …“

Er rutschte aus, als er in das Loch stieg, und während um sie her der Zyklon tobte, suchte er auf allen vieren nach einem kleinen Wesen, das sich möglicherweise in Gefahr befand. Und das tat er nur für sie.

Es schien ihr, als würde der Schutzpanzer um ihr Herz brechen. War sie bereit, es Jake zu schenken? Und dann kletterte er völlig verschmutzt und mit einer kleinen blutenden Wunde an der Stirn wieder heraus – mit einem großen cremefarbenen Ei in den Händen. Nachdem er es in ihren Stiefel getan hatte, reichte er ihn Ellie und führte sie, einen Arm um sie gelegt, ins Haus zurück.

„Ich sehe mir gleich Ihren Knöchel an“, sagte er dort.

„Erst muss ich mich um das Ei kümmern.“

Natürlich hatte er von den Kiwis gehört. So nannten die Neuseeländer sich ja auch selbst. Es war seltsam genug, dass sie sich derart stark mit einem flugunfähigen Vogel identifizierten.

Statt Ellie und sich sofort in Sicherheit zu bringen, war er ihrer Bitte gefolgt. Doch ihre Tränen hatten ihn schockiert, denn sie war die tapferste Frau, die er je kennengelernt hatte.

Während sie nun das Ei in Augenschein nahm, hob er den umgestürzten Stuhl auf und nahm die Lampe vom Haken, um sie wieder anzuzünden.

„Sehen Sie sich das an!“, rief Ellie, sobald es wieder hell im Raum wurde.

Das Ei hatte ein kleines Loch auf einer Seite.

„Anscheinend wurde es beschädigt, als der Baum umgestürzt ist. Schade.“ Wird sie jetzt weinen, und wenn ja, werde ich sie dann in den Arm nehmen? ging es ihm durch den Kopf.

Doch sie lächelte. „Das Küken schlüpft gerade.“ Dann hielt sie das Ei hoch und schnupperte an dem Loch.

„Was machen Sie da?“

„Manchmal erkennt man am Geruch, ob das Küken in Schwierigkeiten ist und schwitzt.“

„Woher, in aller Welt, wissen Sie das?“

„Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Hobbyornithologe. Wir haben oft zusammen Vögel beobachtet. Außerdem arbeite ich ehrenamtlich in einer Aufzuchtstation mit, die Jillian, eine sehr gute Freundin von mir, leitet. Wir kümmern uns um verlassene Gelege und Jungvögel und setzen sie dann irgendwann wieder aus.“

Eleanor Sutton war wirklich die außergewöhnlichste Frau, der er je begegnet war. Jake ertappte sich dabei, wie er sie fasziniert betrachtete.

Sie zuckte die Schultern. „Ich bin eben ein Naturkind. Ich habe genug Maoriblut in meinen Adern, um die Flora und Fauna zu würdigen. Und das taonga, unser kulturelles Erbe.“

Nun begriff er. Daher rührten also ihre wunderschöne gebräunte Haut, ihr fantastisches langes schwarzes Haar und ihr Kampfgeist. Es überraschte ihn nicht im Mindesten, dass das Blut der neuseeländischen Ureinwohner in Ellies Adern floss.

Jake zwang sich, das Ei zu betrachten. „Wie lange dauert es normalerweise, bis ein Küken schlüpft?“

„Das kann Tage dauern, aber wir wissen ja nicht, wie lange es schon … Oh, sehen Sie …“

Ein Teil der Schale brach weg, und dann sah Jake den Kopf des Vogels mit dem seltsam anmutenden spitzen Schnabel und ein winziges Auge zwischen flaumigen Federn.

Sie setzten sich beide auf die Stühle und beobachteten wie gebannt, wie das Küken sich aus dem Ei kämpfte. Da es eine Weile dauerte, blickten sie sich zwischendurch immer wieder an. Angesichts der Zerstörung draußen wirkte es wie ein kleines Wunder. Das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens auf das Blechdach, das gelegentlich von dem Poltern eines Astes durchbrochen wurde, traten für eine Weile in den Hintergrund.

Jake wusste, dass er den Anblick niemals vergessen würde: Ellie und das Kiwiküken, ein neues Leben. Es war ein bedeutender Moment.

Es war der seltsamste Jungvogel, den er je gesehen hatte – völlig unproportioniert mit einem kleinen Kopf und langem Schnabel, dickem Bauch und riesigen Füßen.

Aber Ellie war verzückt. „Herzlichen Glückwunsch, Dad.“

Jake funkelte sie an, und sie sah schnell weg.

„Es muss sich jetzt eine Weile ausruhen, und dann sollten wir es warm halten.“

„Erst untersuchen wir Ihren Knöchel, und Ihr Gesicht ist auch ziemlich lädiert.“

Scheinbar erstaunt berührte sie ihre Haut und betrachtete anschließend ihre blutigen Finger. „Das eilt nicht. Ich brauche jetzt …“ Ihr Blick fiel auf seinen Pullover, der immer noch über dem Stuhl hing. „Können Sie den entbehren?“

„Klar.“

Nachdem sie das Kleidungsstück so zusammengerollt hatte, dass es wie ein Nest aussah, hob sie das Vögelchen ganz vorsichtig hoch und setzte es in die Mitte der Mulde. Ganz sanft berührte sie mit dem Daumen seinen Schnabel und lächelte.

„Es braucht auch einen Namen.“

„Da dürfen Sie mich nicht fragen.“ Jake wandte sich ab. „Ich mache Wasser warm, damit Sie Ihre Verletzungen säubern können.“

„Pepe“, hörte er Ellie leise hinter sich sagen. „Das bedeutet in der Sprache der Maori Baby.“

Nachdem sie Pepe mitsamt seinem nestartigen Gebilde in eine Plastikschüssel gesetzt und diese in die Nähe des Kamins gestellt hatte, humpelte Ellie zur Couch, um ihren Knöchel zu untersuchen. Angesichts dieses kleinen Wunders hatte sie den Schmerzen kaum noch Beachtung geschenkt. Nun stellte sie fest, dass ihr Fuß sehr geschwollen war und sich der Knöchel dunkel verfärbt hatte.

Entsetzt hockte Jake sich neben sie und berührte ihn vorsichtig. „Tut es sehr weh?“

Ellie zuckte die Schultern, weil sie in diesem Moment nur seine sanfte Berührung wahrnahm.

„Können Sie die Zehen bewegen?“

Es ging.

„Können Sie die Sohle gegen meine Hand pressen?“

Nun musste sie lächeln. „Ja, Doktor … Au!“ Aber sie lächelte tapfer weiter. „Er ist sicher nur verstaucht. Ich werde ihn wieder bandagieren.“

„Das mache ich.“ Jake rollte die alte Bandage auf. „Haben Sie irgendwo eine neue?“

„Lassen Sie sie einfach am Feuer trocknen. Ich lege den Fuß solange hoch.“

„Ich hole jetzt das Wasser, damit Sie Ihre Wunden reinigen können.“

Ellie nickte, doch dann fiel ihr auf, wie zerkratzt sein Gesicht und vor allem seine Hände waren. Damit hatte sie ihn auch noch in das Loch geschickt! Wenn sie sich vorstellte, dass man jemandem wie Jake vertrauen konnte … Er war so stark und fürsorglich. Aber auch sanft … und unglaublich maskulin …

Ellie berührte seinen Arm, als er aufstand. „Ich … wäre da nie allein herausgekommen, sodass Pepe gestorben wäre. Danke …“

Jake wandte sich ab, als wollte er nicht berührt werden. Dann blickte er sie wieder an und lächelte schief. „Schätze, dann sind wir quitt“, meinte er schroff, „und gleichberechtigte Partner?“

„Ja …“ Sie war ganz fasziniert von seinem Lächeln und seinen ausdrucksvollen dunklen Augen. Ungeachtet seines Barts und seines langen Haars war Jake Logan ein außergewöhnlich attraktiver Mann.

Er wandte zuerst den Blick ab. „Vielleicht hören Sie ja das nächste Mal auf mich, wenn ich sage, es ist gefährlich.“

„Ja, vielleicht …“

Draußen tobte immer noch der Zyklon, doch sie fühlte sich wieder sicher und geborgen, umsorgt von einem Menschen, der genauso viel geben konnte wie sie. Er war eigentlich ein idealer Partner. Es gab nicht viele Männer, die genauso couragiert waren und sich so gut zu helfen wussten wie sie. Jake und sie hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie waren nicht nur abenteuerlustig und stark, sondern hatten beide schlechte Erfahrungen in der Liebe gemacht.

Das Gefühl der Nähe verstärkte sich im Lauf des Tages noch, nicht zuletzt weil sie sich um den Vogel kümmerten und sich daran erfreuten, dass es diesem so gut ging.

„Wann kann man ihn denn wieder aussetzen?“, erkundigte Jake sich irgendwann.

„Ich werde ihn mit in die Aufzuchtstation nehmen“, erwiderte Ellie. „Jillian wird ihn für ein paar Wochen in einen Wärmeraum setzen, und wenn er dann fit genug ist, muss er noch einige Wochen in Quarantäne verbringen. Sie werden ihn mit einem Transponder versehen, und hoffentlich kann ich ihn dann wieder hierher bringen oder sogar auf Half Moon Island aussetzen. Darüber wäre Grandpa begeistert gewesen.“

„Das würde ich gern miterleben – wenn ich dann immer noch in Neuseeland bin.“

Ellie war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Sollte sie Jake ihre Telefonnummer geben? Ihn um seine bitten? Ihr Herz pochte plötzlich schneller.

Autor

Lori Wilde

Lori Wilde wollte schon immer Autorin werden. Sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester und konnte in dieser Zeit auch nebenbei ihrer Leidenschaft zu schreiben nachgehen. Ihr erstes Buch hat sie 1994 veröffentlicht.

Sie arbeitete 20 Jahre als Krankenschwester, doch ihre große Liebe ist die Schriftstellerei. Lori Wilde liebt das Abenteuer....

Mehr erfahren
Jules Bennett
Mehr erfahren
Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
Sie fand eine Stelle...
Mehr erfahren