Cora Collection Band 55

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WIE FEUER AUF EIS von KIM LAWRENCE
Rose wird von einem attraktiven Mann vor dem Ertrinken gerettet. Doch plötzlich küsst Mathieu Demetrios sie, dann verlangt er, dass sie sich als seine Verlobte ausgibt! Im Privatjet fliegt er mit ihr auf seine griechische Insel, und nach einer lustvollen Nacht erkennt Rose: Rettungslos hat sie ihr Herz an den raffinierten Verführer verloren …

FÜR IMMER NUR DU von JANETTE KENNY
Eine romantische Liebesnacht auf einer Insel in der Karibik: Glücklich genießt Kira die Zärtlichkeiten des vermögenden Hoteliers André Gauthier. Bis sie wenig später entdecken muss, dass sie sein Kind unter dem Herzen trägt. Plötzlich unterstellt André ihr, dass sie ihn betrogen hat …

SINNLICHE KÜSSE VOR DEM STURM von MAUREEN CHILD
Als Debbie von der Urlaubsinsel abreisen will, wird sie verhaftet – man hält sie für eine Juwelendiebin! Jetzt erst erfährt sie: Die Insel gehört ihrer Jugendliebe Gabe Vaughn. Scheinbar großzügig bietet er Debbie an, sie aus dem Gefängnis zu lassen. Aber ihr dämmert, was er plant: In heißen Nächten will Gabe ihr beweisen, dass sie seinen Heiratsantrag damals hätte annehmen sollen!


  • Erscheinungstag 05.08.2022
  • Bandnummer 55
  • ISBN / Artikelnummer 0815220055
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Kim Lawrence, Janette Kenny, Maureen Child

CORA COLLECTION BAND 55

1. KAPITEL

Andreos Demetrios stieg aus dem Helikopter und sah sich um. Dabei glitt sein Blick demonstrativ über das Empfangskomitee hinweg. Seinen Sohn beachtete er nicht.

Es handelte sich um eine bewusste Provokation, die Mathieu Demetrios allerdings mit äußerer Gelassenheit hinnahm. Seine einzige Reaktion bestand in einem leichten amüsierten Lächeln.

Normalerweise übersah man Mathieu nicht. Das lag nicht nur an seiner Größe und dem klassisch geschnittenen Gesicht, sondern vor allem an seiner geradezu magnetischen Ausstrahlung.

Wenn er sprach, hörte man ihm zu. Wenn er einen Raum betrat, drehten sich die Köpfe nach ihm um.

Nur sein eigener Vater missachtete ihn. Statt seinen Sohn zu begrüßen, gab Andreos nun einem kleinen Mann mit Brille Anweisungen.

Mathieus Gesichtsausdruck verriet nichts über seine Gedanken. Lediglich die silbergrauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er den Austausch der beiden Männer verfolgte.

Der Mann mit der Brille nickte respektvoll, während er Andreos zuhörte. Er war der einzige der drei Anwesenden, dem ins Gesicht geschrieben stand, wie sehr ihn die offenkundige Feindseligkeit zwischen Vater und Sohn verstörte.

Zwar hielt er den Blick auf seinen Arbeitgeber gerichtet, und doch riskierte er dessen Zorn, als er Mathieu kurz zulächelte, bevor er sich davonmachte. Schwer zu sagen, ob dieser die kleine Geste registrierte. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte Mathieu Gauthier – oder Demetrios, wie man ihn nun nannte – gelernt, sich nicht in die Karten sehen zu lassen. Und ganz sicher neigte er nicht zu den unkontrollierten Wutausbrüchen, für die Andreos so berühmt war.

Erst nachdem der Mann mit der Brille verschwunden war, wandte der griechische Finanzier die Aufmerksamkeit dem Sohn zu. Während sein Blick verächtlich zu Mathieu wanderte, zuckte ein Muskel in seiner Wange.

Mathieu stand für alles, was Andreos an sich selbst verachtete. Für seine Schwäche. Und sein Versagen.

Nur ein einziges Mal in seiner gesamten Ehe war Andreos seiner geliebten Frau untreu gewesen – ein Umstand, den er bis heute bitter bereute und für den er sich schämte.

Als einige Jahre später der Beweis dieser Untreue in Gestalt eines mürrischen Teenagers dann auch noch vor ihm stand, geriet die Sache zu einem einzigen Albtraum. Dass der Junge auch noch viel schlauer als sein Halbbruder war, hatte das Ganze nicht besser gemacht.

Ironischerweise war es die betrogene Ehefrau und nicht Andreos gewesen, die den mutterlosen Jungen mit echter Wärme aufnahm.

Der Lärm des Hubschraubermotors erlosch im selben Moment, in dem Vater und Sohn sich in die Augen sahen.

Der ältere Mann senkte als Erster den Blick. Zornesröte lag auf seinen Wangen, als er seinen Sohn ansprach. Er hielt sich nicht mit Vorgeplänkel auf.

„Du wirst deine kleine Reise absagen. Wohin auch immer sie gehen sollte …“

In dem knappen Befehl lag nicht ein Hauch von Wärme oder Zuneigung. Doch das hatte Mathieu auch gar nicht erwartet. Sein Vater hatte aus seinem Herzen nie eine Mördergrube gemacht, zeigte aber erst seit Alex’ Tod seine Feindseligkeit derart offen.

Ja, Alex’ Tod hat einiges verändert, dachte Mathieu düster.

„Nach Schottland.“

„Nun, du wirst deine Pläne ändern.“

Auch bei diesem Satz handelte es sich keinesfalls um einen Vorschlag. Jemand wie Andreos, der an der Spitze von Demetrios Enterprises stand, einem riesigen IT und Telekommunikationskonzern, bot anderen nichts an.

Er schnippte mit den Fingern, und die Leute sprangen.

Doch Mathieu machte keinerlei Anstalten zu springen – im Gegenteil. Er reagierte völlig still und unbeweglich, was für einen ehemaligen Formel-1-Rennfahrer schon bemerkenswert war.

Nicht, dass Andreos an der Antwort seines Sohnes interessiert gewesen wäre. Nachdem er seinen Befehl verkündet hatte, ging er mit strammen Schritten auf die Villa in den Felsen am Ufer der Ägäis zu.

Er hatte gerade den sattgrünen Rasen vor der Villa erreicht, als Mathieu zu ihm aufschloss. „Ich werde nach Schottland zu einem Freund reisen. Der Besuch lässt sich nicht verschieben.“

Was leider sogar stimmte – Jamie hatte ihn um Hilfe gebeten. Die Banken wurden allmählich ungemütlich, weshalb das Schicksal des Familienschlosses, das sein Freund in den schottischen Highlands geerbt hatte, an einem seidenen Faden hing.

Wenn ich ihnen nicht einen verdammt guten Businessplan liefere, werden sie mir die Kredite kündigen, Mathieu. Das hieße, dass ich nicht nur der MacGregor bin, der es als Formel-1-Fahrer nicht geschafft hat, sondern auch der MacGregor, der den Familienbesitz verliert, den wir seit über fünfhundert Jahren unser Eigen nennen.

Andreos drehte sich um. „Das kommt nicht infrage. Sasha und ihre Mutter besuchen uns morgen.“

Mathieu unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen, während er insgeheim dachte, dass er damit hätte rechnen müssen. „Du hast vergessen, mir von ihrem Besuch zu erzählen.“

Sein Vater lächelte dünn. „Es wäre eine Beleidigung, wenn du nicht hier bist. Schon seit Generationen gibt es enge Bindungen zwischen unserer und der Constantine-Familie. Mein Vater und …“

„Und“, unterbrach Mathieu die Geschichtslektion, „da sie in meiner Generation keinen Sohn haben, der den Besitz erbt, erträgst du den Gedanken einfach nicht, dass dir das Constantine-Vermögen durch die gierigen Finger gleiten könnte.“

Zornig sah Andreos ihn an. „Dich reizt die Aussicht also gar nicht, ja?“

„Ich würde jedenfalls kein neunzehnjähriges Mädchen heiraten, um es zu bekommen.“

Ein Mädchen, das zufälligerweise mit seinem jüngeren Bruder verlobt gewesen war. Als Mathieu von der Verbindung erfahren hatte, war er nicht überrascht gewesen. Weniger eine Ehe als eine geschäftliche Verbindung, dachte er zynisch.

Doch seine Meinung änderte sich, als er die beiden jungen Leute zusammen erlebte. Ganz eindeutig waren sie wirklich ineinander verliebt.

„Sasha ist sehr reif für ihr Alter. Du könntest es wesentlich schlechter treffen. Diese Schauspielerin zum Beispiel, die sich bei der Filmpremiere derart an dich geklammert hat. Wie war noch ihr Name?“

Mathieu wollte seinem Vater nicht erklären, dass es sich dabei nur um eine Show gehandelt hatte, um Publicity für einen Low-Budget-Film zu bekommen. Also zuckte er mit den Schultern und gab zu: „Ich habe keine Ahnung.“

Die Frau war eine absolut Fremde gewesen, auch wenn sie ihm angeboten hatte, ihre Dankbarkeit in jeder nur erdenklichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Was Mathieu angewidert abgelehnt hatte.

Ein solches Verhalten gefiel ihm ganz und gar nicht. Im Formel-1-Zirkus hatte er es zur Genüge kennengelernt – von Frauen, die seiner Ansicht nach all das verkörperten, was in der heutigen oberflächlichen und medienversessenen Gesellschaft schlecht war.

„Ich habe gelesen, dass die Hochzeitspläne schon weit fortgeschritten seien“, entgegnete Andreos sarkastisch.

Mathieu hob lediglich eine Augenbraue und erwiderte: „Du solltest die Auswahl deiner Zeitungen überdenken.“

„Du bist nicht ich.“

„Nein, nicht mal eine blassere Version.“ Mathieu wusste, dass er seiner französischen Mutter ähnelte. Manchmal fragte er sich, ob er seinen Vater an die junge Frau erinnerte, die er benutzt und dann zur Seite geschoben hatte.

„Also gibt es niemanden – du bist nicht verliebt?“

Nein, Mathieu war nicht verliebt, und er wollte es auch gar nicht sein. Im Gegenteil. Was sollte überhaupt dieses ganze Gerede von Liebe? Dabei handelte es sich doch nur um eine temporäre Unzurechnungsfähigkeit, die einen vom Lächeln eines anderen Menschen abhängig machte. Darin sah er keinen Reiz.

Außerdem tendierten die Menschen, die er liebte, dazu zu sterben.

Nein, sich zu verlieben, stand nicht auf seinem Programm. Die einzige Person, auf die er sich verließ, war er selbst, und so sollte es auch bleiben.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Außerdem kann ich mir kaum etwas weniger Reizvolles vorstellen als mit einem Teenager verheiratet zu sein – egal wie reif.“

Wieder verdunkelte sich das Gesicht seines Vaters vor Zorn. „Ich sage doch gar nicht, dass du das Mädchen heiraten sollst!“

„Aber du fändest es auch nicht schlecht, wenn ich es täte, und deshalb bringst du uns so oft wie nur möglich zusammen. Mein Gott, das ist so durchschaubar!“

„Das Mädchen ist Vasilis’ einziges Kind, seine Erbin. Ihr Ehemann würde …“

Mathieu hob eine Hand, um den Redefluss zu stoppen. „Du musst es nicht auch noch laut aussprechen. Ich weiß, dass du ein Imperium aufbauen willst.“ Sein Mund verzog sich verächtlich. „Darf das Mädchen eigentlich auch irgendetwas dazu sagen?“

„Tu nicht so überheblich“, blaffte sein Vater. „Und behaupte ja nicht, sie würde sich nicht in dich verlieben, wenn du es darauf anlegen würdest. Ich habe gesehen, wie Frauen auf dich reagieren.“

„Sie ist keine Frau, sondern ein Kind.“

„Für deinen Bruder war sie gut genug.“

„Die beiden waren ineinander verliebt.“

„Du hast alles andere von ihm genommen – warum nicht auch seine Frau?“

Die Worte standen zwischen ihnen, und die Spannung wuchs beinahe ins Unerträgliche, bis Mathieu schließlich sagte: „Ich wollte nie etwas von Alex.“

Außer einem Anteil an der Liebe ihres Vaters, doch dieser Wunsch starb an Mathieus sechzehntem Geburtstag. Seit einem Jahr lebte er damals in Griechenland, als er ein Gespräch mithörte, das ihm deutlich machte, dass er die Liebe seines Vaters niemals gewinnen würde.

Mathieus Gedanken wanderten zurück zu der fraglichen Szene. Er war an einer halb geöffneten Tür vorbeigekommen und hatte seinen Namen gehört. In der Stimme seiner sonst so sanften Stiefmutter hatte so viel Frustration und Zorn gelegen, dass er unwillkürlich innehielt …

„Der Junge gibt sich solche Mühe. Er tut alles, was du von ihm verlangst, und noch mehr. Kannst du ihn denn nicht wenigstens hin und wieder einmal ermutigen? Oder fällt es dir so schwer, ihn anzulächeln, Andreos? Mathieu sehnt sich verzweifelt nach deiner Anerkennung. Das sehe ich jedes Mal in seinen Augen, wenn er dich anschaut. Es bricht mir das Herz.“

„Was du in seinen Augen siehst, ist blanker Ehrgeiz, Mia. Wieso verstehst du das nicht? Der Junge ist hart, streitsüchtig …“

„Wie oft hast du mir schon gesagt, du wünschst dir, dass Alex dir mal widersprechen würde?“

„Das ist nicht dasselbe. Mathieu braucht weder Liebe noch Küsse, er braucht eine starke Hand.“

„Nicht eine, die im Zorn gegen ihn erhoben wird, das habe ich dir bereits gesagt. Wenn du noch einmal …“

„Nein, natürlich nicht. Ich habe dir schon gesagt, dass es mir leidtut. Du weißt, dass ich nie die Hand gegen Alex erhoben habe. Es ist nur passiert, weil Mathieu gelogen hat. Und als er dabei erwischt wurde, hat er sich auch noch geweigert, sich zu entschuldigen.“

„Um Himmels willen, Andreos, bist du blind? Alex hat deine kostbare Statue zerbrochen. Aber er hatte zu viel Angst, dir unter die Augen zu treten, deshalb hat Mathieu die Schuld auf sich genommen.“

„Nein, nein, du täuschst dich! Ich weiß nicht, was für eine Geschichte er dir aufgetischt hat, aber …“

„Mathieu hat kein Wort gesagt. Alex hat mir von der Statue und den Schlägen erzählt.“

„Oh, verdammt, der Junge! Er hat mich so weit getrieben … die Sache ist die, Mia, wenn er mich ansieht, dann denke ich immer, er hätte nie geboren werden dürfen.“

An dieser Stelle reichte es Mathieu, und er war weitergegangen. Damals hatte die Wahrheit wehgetan, aber es war immer noch besser, sich einer bitteren Realität zu stellen als falsche Hoffnungen zu nähren.

„Du wirst mich entschuldigen müssen. Ich werde in Schottland erwartet.“

Vor einem Jahr war Mathieu nur auf Wunsch seiner Stiefmutter zurückgekehrt. „Versuch es wenigstens ein Jahr lang, Mathieu“, hatte sie ihn angefleht. „Dein Vater braucht dich, auch wenn er das niemals zugeben wird.“

Mathieu wollte ihr nicht die Illusionen rauben. Deshalb sagte er ihr nicht, wie wenig es ihn kümmerte, was sein Vater brauchte. Außerdem fügte sie noch hinzu: „Und wenn ich nicht mehr da bin, braucht er dich noch mehr. Die Firma und die Familie“, wisperte sie heiser, „beide brauchen an der Spitze eine starke Hand. Er wollte deinen Bruder auf diese Rolle vorbereiten …“

In diesem Moment erinnerte sich Mathieu daran, wie Alexander seine kleinen Finger vor Jahren um seine geschlossen und ganz ernst gesagt hatte: „Wenn ich älter bin, will ich genauso sein wie du, Mathieu, selbst wenn Vater mich dann nicht mag.“

„Alex hätte es hervorragend gemacht“, log Mathieu.

Mia lächelte wehmütig und schüttelte den Kopf. „Ich schätze deine Loyalität, aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Alex hat das Geschäft gehasst. Natürlich hat er versucht, es deinem Vater recht zu machen, aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Eines Tages hätte Andreos akzeptieren müssen, dass Alex niemals seinen Platz einnehmen würde, doch leider ist dieser Tag nie gekommen.“

Als Mathieu sie daraufhin in den Arm nahm – schockiert darüber, wie zerbrechlich und schwach sie sich anfühlte –, da umklammerte sie seine Hand und flüsterte: „Versprich mir, ihm zu helfen, selbst wenn er deine Hilfe nicht will.“

Also versprach Mathieu es, und auch nachdem er sein Versprechen erfüllt hatte, blieb er – nicht aus Pflichterfüllung, sondern weil ihm die Arbeit tatsächlich Spaß machte.

„Du undankbarer Kerl, du wirst genau das tun, was ich sage, oder … oder …“ Andreos ballte die Hände zur Faust und starrte seinen Sohn böse an.

Mathieu, dessen Ruhe sich durch nichts erschüttern ließ – schon gar nicht durch den Zorn seines Vaters –, hob nur eine Augenbraue. „Oder du wirst mich enterben?“

„Glaub ja nicht, ich würde es nicht tun!“

„Das ist deine Entscheidung.“

„Ich soll glauben, dass dir das egal ist?“ Der Ältere lachte laut und schüttelte den Kopf. „Dass es dir nichts ausmacht, ein milliardenschweres Imperium zu verlieren?“

„Mir ist völlig egal, was du denkst“, versetzte Mathieu gelassen. „Du kannst dein Imperium wem auch immer hinterlassen. Ich weiß, dass du es Alex geben wolltest.“

„Wage es ja nicht, seinen Namen in den Mund zu nehmen. Er war zehnmal so viel wert wie du!“

Mathieu fuhr ungerührt fort, als hätte er die Unterbrechung gar nicht gehört. „Aber das geht nicht mehr. Alex ist tot.“ Ein Bild seines lächelnden Bruders stieg in ihm auf, und für einen Moment überwältigte ihn ein fürchterlicher Schmerz, sodass er nicht weitersprechen konnte.

„Ich bin der einzige Sohn, der dir geblieben ist“, sagte er schließlich. „Und nun möchtest du mich in jemanden verwandeln, von dem du glaubst, dass er deine Linie fortsetzen wird.“ Mathieus Lächeln zeigte deutlich, wie wenig ihm an dem illustren Namen lag, den er als Teenager geerbt hatte. Als er seine Karriere im Formel-1-Sport begann, benutzte er ganz bewusst den Namen seiner Mutter, um sich abzugrenzen.

„Ich denke, wir schulden einander Ehrlichkeit. Ich bin weder an deinem Namen noch an deiner Linie oder deinem … Imperium interessiert. Ich habe einen eigenen Namen, und ich bin kein kleines, formbares Kind, Vater. Schon vor langer Zeit wurde ich zu dem, der ich bin, ob das nun gut oder schlecht ist.“

Die Zornesröte seines Vaters vertiefte sich zu einem beängstigenden Purpurton. „Es ist nicht meine Schuld, dass ich von deiner Existenz nichts wusste. Deine Mutter … nach ihrem Tod habe ich dich in mein Haus gebracht.“

Wie ein Messer durchschnitt Mathieus Stimme den wütenden Protest seines Vaters. „Sie hieß Felicite, und du wirst nicht noch einmal von ihr sprechen. Dieses Recht hast du vor Jahren verloren.“

Andreos starrte ihn mit offenem Mund an. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm Befehle erteilte. Genauso wenig wie daran, so viel Leidenschaft in den Augen seines Sohnes funkeln zu sehen.

„Ich habe dir alles gegeben.“

Außer Liebe, dachte Mathieu. Laut jedoch sagte er: „Ich bin nicht der Sohn, den du willst, und du nicht der Vater, den ich mir ausgesucht hätte. Aber Fakt ist, dass ich der einzige Sohn bin, der dir geblieben ist. Vermutlich müssen wir beide lernen, damit zu leben.“

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“

Mathieu wusste aus bitterer Erfahrung, dass es dem Gegner einen Vorteil verschaffte, wenn man seine Emotionen zeigte. Doch in dieser Situation entglitt ihm seine eiserne Kontrolle. „Du meinst, weil ich nicht wie eine Marionette nach deiner Pfeife tanze?“

Andreos zuckte regelrecht zurück, so groß war der Zorn, der sich im Gesicht seines Sohnes abzeichnete. „Ich habe dir alles gegeben.“

„Nur aus einem widerwilligen Pflichtgefühl heraus. Du tolerierst mich nur, um Mias letzten Wunsch zu respektieren. Ist dir eigentlich nie in den Sinn gekommen, Vater, dass ich auch nur deshalb hier bin?“

Die Miene des älteren Mannes machte deutlich, dass er tatsächlich noch nie auf diese Idee gekommen war.

„Sie hat mich immer freundlich und liebevoll behandelt, obwohl allein meine Existenz ihr Schmerz bereitet haben muss.“ Mathieu holte tief Luft und rang um Kontrolle. „Nur aus Respekt vor ihrem letzten Wunsch bin ich nach ihrem Tod nicht gegangen.“

Beide Männer schwiegen, während sie sich an die letzten Monate in Mias Leben erinnerten, die sie mit einer Würde ertragen hatte, die diejenigen an ihrer Seite beschämte.

„Für mich gab es immer nur einen einzigen Punkt, der für dich sprach – dass eine Frau wie sie dich geliebt hat“, erklärte Mathieu kalt. „Sie muss irgendetwas in dir gesehen haben, was ich nicht sehe. Morgen reise ich nach Schottland. Tu du, was du willst, Vater.“

2. KAPITEL

Die Meinung ihrer Familie und ihrer Freunde war einhellig – Rose hatte den Verstand verloren. Nur eine vollkommen Verrückte, so argumentierten sie, würde ein bequemes Leben in der Hauptstadt aufgeben, um sich irgendwo in der Einöde zu vergraben. Meilenweit entfernt von jeglicher Zivilisation und einem halbwegs anständigen Kaffee.

Ihre Zwillingsschwester protestierte besonders lautstark. Anfangs hatte Rebecca nicht einmal geglaubt, dass Rose es ernst meinte. Doch als sie das Kündigungsschreiben ihrer Schwester sah, traf sie das wie eine kalte Dusche.

„Du reagierst massiv über, Rose. Du bist in deinen Chef verliebt. Na und, wem ist das noch nicht passiert?“

Allein bei der Erwähnung von Steven Latimer zuckte Rose zusammen. „Becky!“, protestierte sie, als ihre Schwester kurzerhand die Kündigung in tausend Teile zerriss.

Seit ihrer Kindheit galt die extravagante Rebecca als der dominante Zwilling. Wahrscheinlich durchschaute lediglich Rebeccas Ehemann Nick den wahren Charakter ihrer Beziehung.

„Sicher, Rose gibt Becky nach, aber ist euch schon aufgefallen, dass sie das nur bei unwesentlichen Dingen tut?“, hatte der clevere New Yorker einmal bemerkt. „Wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht, etwas, das ihr am Herzen liegt, könnte Rose einem Esel Lektionen in Sturheit erteilen – auch wenn man das nicht erkennt, weil sie ihre Abfuhren mit so einem süßen Lächeln erteilt.“ Er schenkte seiner Schwägerin ein verschmitztes Grinsen und zwinkerte ihr zu.

Rose hob die Papierfetzen vom Boden. „Alles, was ich tun muss, ist eine neue Kopie auszudrucken, Becky.“

„Ist es wegen Latimer, Rosie?“, fragte Nick. „Gehst du, weil er dich unter Druck setzt? Das musst du dir nicht gefallen lassen, Honey. Heutzutage liegt die Toleranzgrenze bei sexueller Belästigung äußerst niedrig.“

Ein energisches Kopfschütteln war die Antwort. „Nein, so etwas tut Steven nicht, Nick. Er ist ein sehr ehrenhafter Mann.“

„Ich frage mich, ob dein Steven sich immer noch so ehrenhaft verhielte, wenn seine Frau nicht zufälligerweise die Tochter des Chefs wäre“, warf Rebecca ein.

„Becky, das ist nicht fair!“

„War es denn fair von ihm, dir zu sagen, dass er sich unsterblich in dich verliebt hat?“

„Solche Dinge laufen eben nicht nach Plan.“

„Meiner Ansicht nach plant Steven Latimer absolut alles. Der Mann hat keinen Funken Spontaneität in sich – was zugegebenermaßen nicht schlecht sein muss. Aber er ist der berechnendste Mensch, den ich kenne – und dabei sind mir schon einige von der Sorte über den Weg gelaufen. Wach endlich auf, Rose, der Mann, in den du dich verliebt hast, existiert nur in deinem Kopf“, erklärte Rebecca. „Steven ist ein egoistischer Mistkerl, und du bist so eine hoffnungslose Romantikerin. Manchmal glaube ich, dass du seine unerwiderte Liebe vorziehst, weil sie sicherer ist.“

Wieder schüttelte Rose den Kopf. Mochte die Entscheidung auch ihre Familie und Freunde verwundern, sie wusste, dass sie richtig war, egal wie sehr ihre Schwester die Dinge verdrehte.

„Ich wollte schon immer in die schottischen Highlands reisen“, wandte sie ein.

Reisen, nicht dort leben“, explodierte Rebecca und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Ich kann nicht glauben, dass du das tatsächlich ernst meinst.“

„Ich brauche einfach mal eine Pause. Dieser Mann will seinen Buchbestand katalogisieren. Und du weißt, dass ich nur zufällig zu diesem Marketing-Job gekommen bin. Eigentlich bin ich Bibliothekarin …“

Rebecca schnaubte verächtlich. „Jetzt tu bloß nicht so, als ginge es hier um verstaubte alte Bücher. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Du läufst davon, und das ist ein großer Fehler. Um Himmels willen, es ist doch nicht so, als wäre irgendetwas passiert.“ Sie verstummte abrupt und warf ihrer Schwester einen misstrauischen Blick zu. „Oder?“

„Er ist verheiratet.“

Roses Protest schien ihre Schwester nur zu amüsieren. „Es ist allgemein bekannt, dass viele verheiratete Menschen Affären haben, Rose“, neckte sie. „Du weißt hoffentlich, dass du selbst eine Art Rarität im einundzwanzigsten Jahrhundert bist, oder?“

Der liebevolle Spott ihrer Schwester ärgerte Rose. „Nur weil ich nicht mit verheirateten Männern schlafe?“

„Nein, das macht dich nicht einzigartig – selbst ich mit meiner schillernden Vergangenheit hätte da Skrupel.“

Trotz Rebeccas lässigem Tonfall spürte Rose, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Ihre Schwester konnte ziemlich empfindlich reagieren, was den sogenannten „Sommer zum Vergessen“ betraf. Daher mieden sie beide das Thema.

„Die schottischen Highlands!“, stöhnte Rebecca. „Ich fasse es nicht. Du bist absolut verrückt!“

Rose hatte ihren mentalen Gesundheitszustand weiterhin nach allen Kräften verteidigt. Doch in dieser Sekunde, als sie ein splitterndes Geräusch unter ihren Füßen hörte und den Riss im Eis sah, musste sie zugeben, dass Rebecca vielleicht doch recht gehabt hatte.

Mathieu war früh aufgestanden, lange vor allen anderen im Haus. Er genoss die Einsamkeit, denn sie gab ihm genügend Zeit, um Kraft zu tanken und seine Gedanken zu ordnen, ohne Faxe, Telefonate oder E-Mails entgegennehmen zu müssen. Momente wie dieser waren in den vergangenen Monaten zunehmend seltener geworden.

Er verlagerte den Rucksack von einer Schulter auf die andere und drehte den Kopf, um die Verspannung zu lösen. Der Stuhl in Jamies Arbeitszimmer verursachte ihm Höllenqualen. Zumal er bis spät in die Nacht gearbeitet und alle Papiere durchgesehen hatte – einen riesigen unsortierten Haufen.

Zuerst hatte er geglaubt, Jamie hätte die Brisanz der Lage maßlos übertrieben. Doch inzwischen musste er ihm leider zustimmen: Sein Freund stand tatsächlich kurz davor, das Familienerbe zu verlieren.

Als Mathieu zu dem Morgenspaziergang aufgebrochen war, dämmerte es gerade erst. Als er jetzt auf die Uhr sah, stellte er fest, dass er es gerade rechtzeitig zum Frühstück zurück schaffen würde. Vielleicht konnte er vorher sogar noch ein paar Anrufe erledigen.

Etwa eine halbe Meile von der Stelle entfernt, wo er den Land Rover geparkt hatte, bemerkte er am Rande seines Blickfelds eine Gestalt mit roter Mütze. Da gibt es offensichtlich noch jemanden, der die frühe Morgenstunde genießt, dachte Mathieu und ging weiter. Als er den Felsabhang direkt über dem See erreichte, veranlasste ihn sein Instinkt, stehen zu bleiben und nach der weit entfernten Gestalt zu sehen.

„Niemand ist so dumm …“ Unwillkürlich hielt er den Atem an, während er ungläubig beobachtete, wie die Person das viel zu dünne Eis betrat.

Im nächsten Moment rannte Mathieu auch schon los. Er versuchte gar nicht erst zu schreien, denn die Person würde ihn ohnehin nicht hören – nicht so, wie der Wind pfiff.

Dann durchbrach ein lautes Krachen die Stille, gefolgt vom Schrei einer Frau. Ein mächtiger Sprint brachte Mathieu innerhalb von Sekunden an den Rand des Eises.

Er handelte weder hektisch noch überstürzt. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und wägte alle Faktoren ab. Diese Fähigkeit, zusammen mit blitzschnellen Reflexen und stahlharten Nerven, hatte ihn zu einem erfolgreichen Rennfahrer gemacht.

Tief Luft holend, steckte er seinen Eispickel in den Gürtel und legte sich flach aufs Eis. Dabei achtete er darauf, sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen. Dann kroch er so schnell es ging zu der Stelle, an der ein gähnendes Loch klaffte und silbriges Wasser glänzte.

Er sah die rote Mütze auftauchen, hörte einen unterdrückten Schrei und bewegte sich noch schneller, obwohl sich mehrere gefährliche Risse unter ihm auftaten. Als er den Rand des Lochs erreichte, sah er gerade noch, wie eine weiße Hand im Wasser versank.

Rasch schob er seinen Eispickel ins Wasser und stellte erleichtert fest, dass er sich irgendwo verhakte. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck und angespannten Muskeln begann Mathieu zu ziehen.

Selbst als sie den Mund öffnete, um nach Hilfe zu schreien, wusste Rose, wie gering die Chance war, dass jemand sie hörte. Nie zuvor hatte sie eine solche Kälte erlebt. Sie drang in jede Pore ihres Körpers. Nach dem ersten Schock begann sie, heftig zu strampeln und um sich zu treten, um wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Rose war eine gute Schwimmerin, aber das eiskalte Wasser raubte ihr innerhalb weniger Minuten die Kraft.

„Hilfe“, schrie sie verzweifelt, während sie bereits wieder nach unten sank.

Ich werde nicht ertrinken.

Doch genau das tat sie.

Dennoch weigerte sich Rose, die Realität zu akzeptieren. Sie klammerte sich an den letzten Funken Hoffnung und strampelte schwach in Richtung Oberfläche, auch wenn sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde.

Aber sie täuschte sich. Gerade als ihre Lunge kurz vor dem Bersten stand, spürte sie, wie etwas sich in ihrem Mantel verhakte und sie nach oben zog.

Mathieu konzentrierte sich darauf, den Kopf der Frau über Wasser zu halten. Nur vage verstand er ihre gemurmelten Worte – die Jungfer in Not fragte doch tatsächlich, was passiert war. Er machte sich gar nicht erst die Mühe zu antworten. Wenn es sich nicht um einen Selbstmordversuch handelte, war sie die dümmste Frau, die er je getroffen hatte.

„Es ist wichtig, dass Sie ruhig bleiben und nicht strampeln“, hörte Rose eine tiefe Stimme über sich.

Strampeln. Machte er Witze? Im Moment kostete es sie ihre ganze Kraft zu atmen, und jeder Atemzug tat furchtbar weh.

„Wenn ich Sie herausziehe …“

Na, das klang nach einer verdammt guten Idee. Vor allem, weil er nicht vorschlug, dass sie sich selbst herauszog. Ihre Beine gehorchten ihr nämlich nicht mehr. Genau genommen spürte sie sie nicht einmal mehr.

„Ich werde jetzt …“

„Warten Sie!“, rief Rose panisch, als sie für einen kurzen Moment die relative Sicherheit des Eises vermisste. „N-nein … nicht.“

Ihr Protest verhallte unbeachtet.

„Ich lege nur ein Seil um Sie. Alles wird gut, bewegen Sie sich nicht.“

Rose spürte, wie sich das Seil unter ihren Armen festzog.

„Sehr gut. Jetzt sind Sie sicher.“ Mathieu sagte das mit einer Zuversicht, die er keineswegs fühlte.

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter zum sicheren Ufer. Auf seinem mühsamen Weg hierher wäre das Eis an einigen Stellen beinahe gebrochen.

Als er sich zu ihr vorbeugte, spürte Rose seinen warmen Atem auf ihrer eiskalten Wange. Sie nahm den männlichen Duft wahr, überlagert von einer leichten Zitrusnote. Und merkwürdigerweise fühlte sie sich verpflichtet, ihn zu warnen, dass es vielleicht nicht so einfach werden würde.

„S… s… sieben bis zehn Pf… Pfund …“ Sei still, Rose, du klingst wie eine Idiotin.

„Sieben …?“

„Spielt keine Rolle.“ Was für eine Ironie, wenn genau das Übergewicht, das sie laut Frauenzeitschrift im Vergleich zu den dünnen Models hatte, jetzt zu ihrem Untergang führen sollte.

Mathieu, der nicht ahnte, worum es ging, schätzte die Situation besser ein, als anfangs gedacht – immerhin waren keine neuen Risse im Eis zu sehen. Dennoch würde nur ein unverbesserlicher Optimist glauben, dass sich das nicht jederzeit ändern könnte. Es blieb nicht viel Zeit für ihrer beider Rettung.

Deshalb holte er tief Luft und konzentrierte sich ganz auf die vor ihm liegende Aufgabe. Vorsichtig schob er seine Knie auf das dünne Eis neben der Frau. „Los geht’s!“, keuchte er.

Was geht los, fragte sich Rose.

„Sind Sie bereit?“

Die Frage war doch wirklich zu dumm.

„Nein, ich bin nicht bereit!“ Doch dann begann ihre bereits blaue Unterlippe zu zittern, und ihre Empörung verschwand. „Ich will nicht sterben“, wisperte Rose und sah ihrem Retter in die Augen.

Sie waren hellgrau, beinahe silberfarben – die schönsten Augen, die sie je gesehen hatte.

Es entstand eine ganz kurze Pause, bevor er ruhig antwortete. Im ersten Moment glaubte sie sogar, etwas in seinem Blick aufflackern zu sehen – ein Erkennen vielleicht? Unmöglich, denn wenn sie diesem Mann schon einmal begegnet wäre, hätte sie ihn sicher nicht vergessen!

„Hier wird niemand sterben. Ich werde Sie aus dem Wasser ziehen.“

Bei ihm klang es so einfach. Sie nickte und dachte wieder an die sieben bis zehn Pfund.

„Was soll ich tun …? Oh!“ Sie keuchte kurz auf und landete mit dem Gesicht auf dem Eis. Während sie dalag, strömten ihr Tränen über die Wangen. „Ich werde nicht ertrinken.“

„Nicht, wenn Sie genau das tun, was ich Ihnen sage“, kam die nicht gerade beruhigende Antwort. „Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?“

Rose hob den Kopf. Das rettende Ufer schien noch furchtbar weit weg. Sie schüttelte den Kopf. „Mir ist nur schrecklich kalt, und ich bin so erschöpft. Wenn ich mich vielleicht für eine Minute ausruhen könnte …“

Eine Hand riss ihren Kopf hoch. „Öffnen Sie die Augen. Sofort!“

Sie gehorchte und blinzelte rasch. Schließlich ging es ihr nicht darum, Mitleid zu erregen.

Nachdem sich ihr verschwommener Blick geklärt hatte, bemerkte sie weitere Details an ihrem Retter. Sein Haar war dunkel, die Gesichtszüge markant, der Mund sinnlich. Er war mit Sicherheit der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte.

„Sie werden nicht einschlafen“, herrschte er sie an.

Rose hätte ihn am liebsten gefragt, ob er sie wirklich für so dumm hielt. Aber dafür fehlte ihr die Kraft, und außerdem hätte er vermutlich mit Ja geantwortet. Stattdessen nickte sie und fragte: „Was kann ich tun?“

„Bleiben Sie flach liegen und bewegen Sie sich langsam.“

„Ich versuche es.“

„Das reicht nicht, wenn Sie uns nicht beide umbringen wollen. Ich liege direkt hinter Ihnen. Es ist extrem wichtig, dass wir unser Gewicht ausgewogen verteilen. Machen Sie sich ganz flach …“ Er führte eine horizontale Handbewegung aus, um ihr zu zeigen, wie sie sich bewegen sollte. „Haben Sie das verstanden?“

Sie nickte. „Aber das Seil … ist das eine gute Idee? Wenn irgendetwas schiefgeht, sind wir aneinander gekettet.“ Keinesfalls wollte sie daran schuld sein, ihren guten Samariter mit in den Tod zu ziehen.

„Dann müssen wir eben sicherstellen, dass nichts schiefgeht, nicht wahr?“, gab er ungeduldig zurück, ganz so wie jemand, der es nicht gewohnt war, dass man seine Anweisungen infrage stellte. „Sind Sie bereit?“

Noch einmal nickte Rose, auch wenn sie insgeheim dachte, dass es Dinge im Leben gab, für die man niemals bereit war.

Unendlich langsam kamen sie voran, obwohl sie wusste, dass es gar nicht so lange gedauert haben konnte, wie es sich anfühlte. Und jedes Mal, wenn sie das Gefühl hatte, nicht weiter zu können, weil sie ihre Beine nicht mehr spürte, trieb ihr Retter sie an, durchzuhalten.

3. KAPITEL

Als sie endlich sicheren Boden unter sich spürte, blieb Rose ein paar Sekunden einfach liegen. Sie war so euphorisch, dass sie im ersten Moment gar nicht bemerkte, wie der Wind die Kälte immer tiefer in ihre Knochen blies. Doch dann setzte sie sich auf und zog die zitternden Knie an die Brust, während sie gleichzeitig die Arme um sich schlang.

Ihr Retter kniete direkt neben ihr.

„Vielen, vielen Dank. Sie haben mir das Leben gerettet“, keuchte sie.

Sie fand es ein wenig beunruhigend, dass sie in seinen kühlen grauen Augen keinerlei Regung entdeckte.

„Mein Name ist übrigens Rose, Mr …?“

Mathieu sah in ihre unglaublichen Bernsteinaugen, in denen Dankbarkeit schimmerte und die so unschuldig wie die eines kleinen Kätzchens wirkten. Was für ein Gegensatz zu der sexuellen Provokation bei ihrer ersten Begegnung. Wenn sie so tun wollte, als würden sie sich nicht kennen, sollte ihm das recht sein. Und vielleicht erinnerte sie sich tatsächlich nicht. Immerhin war sie in jener Nacht sehr betrunken gewesen.

Der Gewinn der Weltmeisterschaft im vierten Jahr in Folge allein reichte aus, um den Galaempfang in der Botschaft in Erinnerung zu behalten. Doch noch mehr trug dazu die Tatsache bei, dass er in jener Nacht eine nackte Frau in seinem Hotelbett vorgefunden hatte.

Eine Frau mit seidig glatter Haut, honigblondem Haar und goldenen Augen.

Denselben goldenen Augen, die ihn in diesem Moment anblickten.

„Können Sie laufen?“, fragte er.

Die barsche Frage überraschte Rose und ließ ihr Lächeln gefrieren. Gut, er hatte sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt, was möglicherweise erklärte, dass er nicht allzu gut auf sie zu sprechen war. Doch seine ganze Körperhaltung drückte Verachtung aus. Er betrachtete sie wie ein besonders widerwärtiges Insekt.

Mühsam versuchte sie aufzustehen. „Natürlich.“

Mathieu, der erkannte, dass sie ihre Beine vermutlich nicht einmal spürte, ignorierte ihre Aussage und hob sie kurzerhand hoch. Anfangs fühlte er Weichheit und Wärme, und dann – noch ehe er sich über die Hitze wundern konnte, die plötzlich in seinem Inneren glühte – eisige Kälte.

Ein schneller Blick reichte aus, um festzustellen, dass ihre Haut ganz blau aussah. Kein Wunder nach dem, was sie gerade durchgemacht hatte. Er kannte die Gefahren von Unterkühlung und wusste, dass sie sich so schnell wie möglich aufwärmen musste.

„Ich … was tun Sie da?“, stammelte Rose, als er sie sich einfach über die Schulter warf.

„Ich verhindere, dass Sie eine Unterkühlung bekommen. Der Land Rover steht da oben auf der Anhöhe“, erklärte er und überlegte, wie lange er brauchen würde, um sie dorthin zu bringen.

Bis sie das Fahrzeug erreichten, sprach er kein einziges Wort mehr, was sie nicht überraschte. Welcher Mann war schon in der Lage zu sprechen, wenn er eine übergewichtige Blondine über der Schulter trug? Was sie viel mehr überraschte, war die Tatsache, dass er beinahe rannte und dabei nicht mal außer Atem geriet.

Mathieu riss die Tür auf und setzte sein zitterndes Bündel auf die Rückbank. Dann kletterte er auf den Fahrersitz, schaltete den Motor ein und drehte die Heizung voll auf.

„Ziehen Sie die nassen Sachen aus.“ Während er wieder aus dem Wagen stieg, blickte er kaum in ihre Richtung.

Im nächsten Moment holte er eine Decke und einen schweren Wollpullover aus dem Kofferraum und legte sie neben ihr auf den Sitz. Dabei betrachtete er sie missmutig.

„Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Ziehen Sie die nassen Sachen aus!“, forderte er sie erneut auf, nachdem er wieder auf den Fahrersitz geklettert war.

Da die Heizung auf Hochtouren lief, war es bereits ziemlich warm, doch Rose zitterte wie Espenlaub. „Ent-schuldigung, m-meine Finger“, stotterte sie und hob entschuldigend die Hände. „Ich k-kann sie n-nicht fühlen.“

Sein düsterer Blick glitt von den zitternden Fingern zu ihrem Gesicht. Es entstand ein kurzes Schweigen, bevor er entnervt seufzte. „Dann muss ich es wohl für Sie tun.“

„Was tun?“

Als Antwort spürte sie nur einen kalten Luftzug und gleich darauf einen weiteren, als er die Tür zum Rücksitz öffnete und sich so dicht neben sie setzte, dass sie seinen Oberschenkel an ihrem spürte.

Rose warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Sie roch seinen männlichen Duft, und seine Nähe stieg ihr zu Kopf. Mühsam schluckte sie.

Als er so rutschte, dass sie einander gegenübersaßen, beschloss sie, nüchtern zu reagieren.

Aber stattdessen lachte sie plötzlich.

Er hob eine Augenbraue. „Was ist so lustig?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Dies war wohl kaum der richtige Moment, um ihm zu sagen, dass sie zum ersten Mal mit einem Mann auf dem Rücksitz eines Autos saß.

Zumal ihr Retter hier vermutlich schon unzählige Frauen vernascht hatte. Auch wenn er so aussah, als hätte er die Phase der heimlichen Küsse in Autos längst hinter sich. Unwillkürlich starrte sie auf seinen sündhaft sinnlichen Mund. Einmal im Leben würde sie gern wissen, wie es sich anfühlte, eine Frau zu sein, die ein unbezähmbares Verlangen in einem Mann auslöste, sodass er die Kontrolle verlor.

Natürlich könnte sie Rebecca fragen, die eine solche Frau war. Oder zehn Pfund abnehmen? Sein knapper Befehl durchbrach ihre Gedanken.

„Heben Sie die Arme hoch!“

Rose hätte den Blickkontakt zu ihm abgebrochen, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Doch aus irgendeinem Grund zogen diese silbergrauen Augen sie magnetisch an.

„Hören Sie, das ist wirklich nicht nötig.“ Zu ihrer Bestürzung war ihre Stimme nicht mehr als ein atemloses Wispern, trotz aller Bemühungen um Festigkeit. „Ich ziehe mich um, wenn ich nach Hause komme.“

Merkwürdigerweise reagierte er mit einem zynischen Lächeln.

„Keine Sorge, agape mou. Ich will dir deine angebliche Sittsamkeit mal abkaufen.“

Sowohl das Lächeln als auch der wütende Unterton in seiner Stimme wunderten Rose. Der Kosename erklärte allerdings den leichten Akzent.

„Sind Sie Grieche?“

„Halb Grieche, halb Franzose. Haben Sie meine Vita nicht gelesen?“

„Ihre Vita?“, echote sie und verstand rein gar nichts.

„Die meisten tun es“, entgegnete er trocken.

„Tut mir leid, ich lese nicht so viel, wie ich gern würde. Wenn Sie mich einfach zu Hause absetzen könnten …“

Flüche klangen in jeder Sprache gleich. Die, die ihr Retter nun von sich gab, hätten einen weniger unbeherrschten Griechen wahrscheinlich zum Erröten gebracht. Müde schloss Rose die Augen.

Mathieu fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, während er ihr erschöpftes Gesicht betrachtete. „Schlafen Sie bloß nicht ein!“

„Nein … natürlich nicht.“ Mühsam öffnete sie die Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Wissen Sie, ich bin Ihnen wirklich dankbar“, sagte sie und legte die Hände unter die Beine. Allmählich kehrte die Blutzirkulation in ihre Finger zurück, was ziemlich schmerzte. „Ich glaube, Sie haben mir das Leben gerettet“, fügte sie hinzu, während sie sich nach vorn beugte, um das Kribbeln in den Fingern zu verringern.

„Was Sie getan haben, war unglaublich dumm.“

Rose biss sich auf die Lippe. Unter den gegebenen Umständen besaß er vermutlich das Recht, sie anzufahren als wäre sie ein nicht allzu intelligentes Kind.

„Ich würde Sie ja fragen, was Sie sich dabei gedacht haben, aber offensichtlich haben Sie überhaupt nicht nachgedacht.“

„Da war ein Fuchs.“ Vermutlich war er davongelaufen, als das Eis brach, und vielleicht war er auch gar nicht gefangen gewesen.

„Ich habe keinen Fuchs gesehen.“ Seine wegwerfende Handbewegung sagte alles. Da er keinen Fuchs gesehen hatte, gab es auch keinen – der Mann litt vermutlich nie unter Selbstzweifeln.

„Was nicht bedeutet, dass er nicht da gewesen ist“, versetzte sie aufmüpfig.

„Ich habe kein Tier gesehen.“ Nur eine Frau, die entschlossen schien, ihr Leben zu beenden. Mathieu durchlebte noch einmal den Moment, als sie ins Eis eingebrochen war. Sofort kehrte sein Zorn zurück. „Und wer würde sich schon auf hauchdünnes Eis wagen, um einen Fuchs zu retten?“

Dieselbe Frau, die jedes Mal das Programm wechselte, wenn sie im Fernsehen ein leidendes Tier sah.

„Wenn das eine Aktion war, um erneut meine Aufmerksamkeit zu wecken … dann hat sie funktioniert.“

„Aktion?“, wiederholte Rose und blinzelte ihn verständnislos an. „Erneut?“, fügte sie noch hinzu.

„Ich nehme an, es hängt damit zusammen, dass ich Ihren Stolz verletzt habe?“

„Stolz?“ Ihre Verwirrung war so groß, dass sie nur einzelne Wörter wiederholen konnte, während sie seinem messerscharfen Blick begegnete. Der Mann besaß wirklich Augen, die aussahen, als könnten sie bis auf den Grund ihrer Seele schauen und ihre Gedanken lesen. Was sie ziemlich verstörend fand, zumal sie ihre momentanen Gedanken ganz bestimmt nicht mit ihm teilen wollte.

„Als ich Sie hinausgeworfen habe“, half Mathieu ihrem Gedächtnis nach. Zu schade, dass sie damals nicht ein wenig von diesem Stolz gezeigt hatte.

„Mich hinausgeworfen …?“

„Aus meinem Hotelzimmer, meinem Bett …“

Vor Verblüffung blieb ihr der Mund offen stehen. „Was sollte ich in Ihrem Hotelzimmer oder …“, sie schluckte schwer, „… in Ihrem Bett? Ich kenne Sie doch gar nicht.“

„Passen Sie auf, von mir aus spiele ich Ihr Spielchen mit und tue so, als wären wir uns noch nie begegnet, okay? Aber ich habe nicht vor, Sie an Unterkühlung sterben zu lassen. Nicht nachdem ich mir solche Mühe gegeben habe, Sie aus diesem See zu fischen.“

Rose schluckte. „Ich glaube, Sie verwechseln mich mit irgendjemandem.“ Nur mit Mühe schaffte sie es, ihre Besorgnis zu verbergen.

Saß sie etwa im Auto eines Verrückten? Allmählich kam ihr das gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor.

„Also schön“, zischte er verärgert. „Wenn Sie wollen, tun wir so, als hätten Sie den Portier nicht bestochen, um in mein Hotelzimmer zu gelangen. Ich gebe ja auch gern zu, dass Sie das Unschuldslamm ziemlich überzeugend spielen“, fügte er verächtlich hinzu. „Vielleicht hätte es mehr Erfolg bei einem Mann, der Sie noch nicht nackt gesehen hat.“

„Wie bitte? Nackt?“ Automatisch verschränkte sie die Hände in einer schützenden Geste über der Brust. „Sie haben mich nie nackt gesehen.“ Ganz gleich, wie knapp sie dem Tod gerade entronnen war – das hätte sie sicher nicht vergessen!

„Nun seien Sie doch nicht so pedantisch – ich habe den Slip nicht mitgezählt“, versetzte er sarkastisch. „Außerdem vergesse ich weder ein Gesicht noch einen Körper“, fügte er hinzu, und sein Blick senkte sich auf Roses volle Brüste. „Ihr Körper ist … gereift“, gab er zu. „Und das Erröten offenbar ein neuer Trick in Ihrem Repertoire. Es macht sich sehr gut.“

„Ich verfüge über kein Repertoire.“ Die unverhüllte sexuelle Provokation in seinem Blick löste eine Kettenreaktion in ihrem Körper aus. Sie begann tief im Bauch und erfasste innerhalb von Sekunden jede Faser ihres Körpers.

„Die Pfunde stehen Ihnen.“ Die Frau in seinem Hotelbett war unglaublich dünn, eher androgyn gewesen – wie so viele Models. Damals hatte er gedacht, dass sie angezogen zweifellos besser aussah als nackt.

Das galt heute nicht mehr.

„Also gut, Sie hatten Ihren Spaß, aber genug ist genug“, schleuderte sie ihm entgegen, auch wenn sein Gesichtsausdruck deutlich machte, dass er nicht scherzte. „Wir sind uns noch nie begegnet, das versichere ich Ihnen.“

„Mir sind viele Groupies über den Weg gelaufen, aber Sie stachen aus der Menge heraus.“

Groupie … Am besten behandelte sie das Ganze als Scherz. Kooperiere, stell ihn zufrieden, umso schneller bist du wieder in Dornie House. Danach musst du ihn nie wiedersehen, dachte Rose.

Da sie mit Leugnen nicht weiterkam, probierte sie eine andere Taktik. „Klar, Männer wie Sie vernasche ich zum Frühstück.“ Ihr spöttisches Lächeln geriet ins Wanken, als sich gleich darauf eine erotische Fantasie einstellte. Rasch rief sie sich zur Ordnung. „Aber es wird Sie freuen zu hören, dass das Eiswasser meine Lust abgekühlt hat.“

Mathieu riss sich vom Anblick ihrer Brüste los und schluckte. Schade, dass er dasselbe nicht von sich behaupten konnte. Vermutlich lag es an dem Adrenalin, das noch immer durch sein Blut jagte. Obwohl Adrenalin eher Flucht- oder Kampfinstinkte auslöste, und er verspürte momentan weder das eine noch das andere.

„Für heute verspüre ich keinen Appetit mehr nach unwilligen Männern. Sie sind also sicher vor mir.“

Er lächelte triumphierend. „Dann geben Sie also zu, dass Sie diese Frau sind.“

Wütend presste sie die Lippen aufeinander. „Nein, das tue ich ganz bestimmt nicht!“

„Sie müssen nicht so schreien. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher. Entspannen Sie sich.“

Ganz sicher war dieser Mann verrückt! „Würden Sie sich entspannen, wenn jemand behauptete, Sie wären sein zurückgewiesener One-Night-Stand?“

„Was monieren Sie eigentlich – den One-Night-Stand oder die Zurückweisung? Und nur fürs Protokoll: Ich habe keine One-Night-Stands!“

Kaum zu glauben, dass er tatsächlich beleidigt war. „Genau das sage ich ja: Ich habe nämlich auch keine One-Night-Stands. Ich habe überhaupt keinen …“ Hier verstummte Rose abrupt, weil er sich plötzlich nach vorn beugte und den Reißverschluss ihrer Jacke aufzog.

Er hob den Kopf und begegnete ihrem Blick. Wortlos streifte er ihr die Jacke von den Schultern.

„Heben Sie die Arme hoch!“

Ohne weiter nachzudenken, gehorchte sie, woraufhin er ihr rasch den Pullover über den Kopf zog. Das T-Shirt, das sie darunter trug, zog er ihr gleich mit aus, sodass sie im nächsten Moment nur noch in ihrem Spitzen-BH vor ihm saß. Als sich sein Blick senkte, errötete sie flammend.

Mathieus Blick wanderte von unten nach oben. Als er bei ihren Brüsten ankam, die sich durch den Spitzen-BH deutlich abzeichneten, sodass er sogar die dunklen Knospen erkannte, begann das Blut in seinen Schläfen zu pochen.

„Ich dachte, Sie hätten das alles schon gesehen“, fauchte Rose, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte.

Mit einem Ruck schaute er zu ihr auf. Sie registrierte die Röte auf seinen Wangen. Dann sahen sie einander in die Augen.

Sein glühender Blick ließ sie am ganzen Körper zittern. Das musste an dem lebensgefährlichen Einbruch ins Eis hängen, denn sie reagierte sonst nicht so auf Männer. Nicht einmal auf Steven, mit dem sie immerhin tagtäglich eng zusammengearbeitet hatte.

„Es muss Ihnen nicht peinlich sein. Die zusätzlichen Pölsterchen sitzen genau an den richtigen Stellen.“

Pölsterchen! Rose biss die Zähne zusammen. Sie hatte kein Problem mit ihrem Gewicht. Sie würde nie in Größe vierunddreißig passen wie Rebecca, weil sie es nicht einsah, zu hungern und jeden Tag ins Fitnessstudio zu gehen. Aber es gab eine Grenze. Und die hatte er gerade überschritten.

„Sie sind wirklich zu freundlich“, fauchte sie.

„Nein, das bin ich nicht. Ich bin überhaupt nicht freundlich.“

Als sie in die stahlgrauen Augen sah, glaubte sie ihm aufs Wort. Zitternd senkte sie den Blick.

4. KAPITEL

Rose ignorierte Mathieu, so gut sie konnte, und zog sich den Wollpullover über den Kopf. Er reichte ihr bis zu den Knien, sodass sie keine weiteren Peinlichkeiten über sich ergehen lassen musste, als sie die Jeans abstreifte.

Ohnehin verließ ihr Retter bereits wieder den Rücksitz und stieg vorn ein. Er startete den Motor und forderte sie auf, sich anzuschnallen.

Nach einigen Minuten Fahrt fiel ihr ein, dass er gar nicht wissen konnte, wo sie lebte.

„Ich wohne zurzeit im Dornie House, das ist die letzte Kreuzung hinter …“

Ungeduldig unterbrach er sie. „Da bringe ich Sie nicht hin. Sie müssen sich untersuchen lassen. Es gibt ein kleines Krankenhaus in Muir.“

„Ich brauche keinen Arzt.“

„Ob Sie ihn brauchen oder nicht: Sie werden in jedem Fall einen aufsuchen“, entgegnete er unerbittlich.

Da sie schlecht aus dem fahrenden Wagen springen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als nachzugeben. Der Mann war offensichtlich kontrollsüchtig.

„Neben Ihnen liegt eine Decke, falls Ihnen ein paar Hundehaare nichts ausmachen. In fünf Minuten sollten wir da sein.“

Rose hielt es jedoch nur drei Minuten aus. Sie wusste zwar, dass sie nur ihren Atem verschwendete, konnte aber nicht zulassen, dass er sie weiterhin für eine andere hielt. Außerdem wollte sie von ihm hören, dass er sich getäuscht hatte.

„Ich habe nie mit Ihnen geschlafen, wissen Sie.“ Oder mit sonst einem Mann. Auch wenn Rebeccas Theorie nicht stimmte. Es lag nicht daran, dass sie eine hoffnungslose Romantikerin war, die mit echten Gefühlen nicht umgehen konnte. Genau darin lag ja das Problem. Sie wollte Gefühle und keinen seelenlosen Sex.

„Aber nur, weil ich Sie hinausgeworfen habe.“

„Warum eigentlich? Was stimmte denn nicht mit mir?“ Mein Gott, das klang nun wirklich nach einer abgewiesenen Liebhaberin.

„Ich schlafe nicht mit betrunkenen Groupies“, verkündete er.

Das Blut, das langsam in ihre Extremitäten zurückkehrte, rauschte mit einem Mal in ihren Kopf. „Hören Sie, Sie haben mir vermutlich das Leben gerettet, aber …“

„Vermutlich?“, unterbrach er sie.

„Also gut“, gestand sie widerwillig. „Sie haben mir das Leben gerettet, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, Geschichten zu erfinden und mich mehr oder weniger als Flittchen hinzustellen.“

„Das war nicht das Wort, das ich benutzt habe, doch wie würden Sie eine Frau bezeichnen, die sich berühmte Männer als Zielscheibe aussucht, um sie als neue Trophäe auf ihre Liste zu setzen? Eine Ikone des Feminismus?“

„Berühmt?“, wiederholte sie und wurde allmählich wirklich wütend. „Soll ich das etwa verstehen?“

Ungläubig hob er die Augenbrauen und warf ihr einen spöttisch-belustigten Blick im Rückspiegel zu. „Wollen Sie tatsächlich behaupten, Sie wissen nicht, wer ich bin?“

„Ich habe Sie heute zum ersten Mal in meinem Leben gesehen“, fauchte sie zornig.

„Also schön“, seufzte er gelangweilt. „Ich bin Mathieu Gauthier.“

Natürlich kannte sie den Namen, auch wenn sie die Formel 1 nicht verfolgte. Nun, das erklärte zumindest seine Arroganz. Wie diese Fahrer bewundert wurden, fand Rose einfach lächerlich. Wahrscheinlich glaubte er sogar, was die Presse über ihn schrieb.

„Sollte mir das etwas sagen?“

Der Blick, den er ihr über die Schulter zuwarf, machte deutlich, dass er ihr das Unwissen nicht abkaufte. Dennoch stellte er ihre Lüge nicht infrage. „Wenn Sie ein Formel-1-Fan sind, dann schon.“

„Ich dachte, Sie wären Grieche. Gauthier klingt nicht besonders griechisch.“

„Halbgrieche. Für meine Karriere habe ich den Namen meiner Mutter benutzt.“

„Dann heißen Sie in Wirklichkeit …?“

„Mathieu Demetrios. Hören Sie, das ist alles unnötig. Ich werde niemandem etwas erzählen, falls Sie sich darüber Gedanken machen. Vielleicht haben Sie sich verändert und schämen sich für Ihre Vergangenheit. Obwohl es meiner Ansicht nach besser wäre, Sie würden dem Mann in Ihrem Leben reinen Wein einschenken.“ Denn er zweifelte nicht einen Moment daran, dass es einen Mann in ihrem Leben gab. Für Frauen, die so aussahen wie sie, gab es immer jemanden.

„Vielen Dank für den guten Rat“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber ich schäme mich nicht. Es gibt überhaupt nichts in meiner Vergangenheit, dessen ich mich schämen müsste.“ Was mich zu einer der langweiligsten Sechsundzwanzigjährigen auf diesem Planeten macht. „Ich weiß nicht einmal, wo oder wann ich Sie … verführt haben soll.“

„In Monaco.“

„Sehen Sie, ich war nie in Mona …“ Sie verstummte abrupt. Rebecca war schon einmal in Monaco gewesen.

Himmel! Die Frau, von der er sprach, von der er so schlecht dachte und die versucht hatte, ihn zu verführen, war niemand anderes als ihre Zwillingsschwester.

Rebecca, die sprichwörtlich vor dem Altar sitzen gelassen worden war und danach eine schwere Zeit durchgemacht hatte. Es passte alles – der Zeitpunkt, der Ort, alles.

Simon und Rebecca kannten sich bereits aus dem Kindergarten. Mit sechzehn hatten sie ihr erstes Rendezvous, mit neunzehn verlobten sie sich.

Rose war eine von sechs Brautjungfern – in einem Kleid, in dem sie beinahe schlank aussah. Die Sonne schien, alle Gäste freuten sich auf das Fest, und Rebecca war eine wunderschöne Braut.

Eigentlich stimmte alles. Dummerweise fehlte der Bräutigam.

Nach einem verzweifelten Anruf setzte sich Rose in den Wagen des Pfarrers und fuhr zu Simons Haus, wo sie einen schockierten Trauzeugen in der Einfahrt vorfand.

„Ist er plötzlich nervös geworden?“, fragte sie ihn.

Der Trauzeuge schaute sie nur an, schüttelte den Kopf und bat um eine Zigarette. Rose erinnerte ihn daran, dass er nicht rauchte, und ging ins Haus. Doch nachdem sie aus Simon den Grund für sein Nichterscheinen herausgequetscht hatte, dachte sie selbst kurz darüber nach, mit dem Rauchen anzufangen.

„Du musst es ihr sagen, Rose. Ich kann das nicht. Sag ihr, dass es mir furchtbar leidtut und dass ich sie liebe, nur nicht auf diese Weise.“

„Oh, klar, da wird sie sich gleich besser fühlen. Ich soll ihr also sagen, dass ihr Verlobter bis zum Hochzeitstag gewartet hat, um zuzugeben, dass er schwul ist?“ In diesem Moment dachte Rose nur an ihre Schwester.

Sie nahm an, dass Rebecca zusammenbrechen oder völlig ausflippen würde, doch als sie ihr alles erzählte, reagierte ihre Schwester so ruhig, dass es beinahe surreal wirkte.

Erst vier Tage später realisierte Rebecca, was eigentlich geschehen war. Dann kamen die Tränen, die Wut und die Verzweiflung. Nach ein paar Wochen hatte sie erklärt, dass sie einen Teil des Geldes für die Hochzeitsreise und den Empfang zurückbekommen hätte und ihn nutzen würde, um einige Monate zu reisen.

Es sah ganz so aus, als hätten ihre Reisen sie an irgendeinem Punkt in Mathieu Gauthiers Hotelzimmer geführt.

„Es ist ja plötzlich so still da hinten. Kann es sein, dass Sie von Ihrer Amnesie geheilt sind?“, fragte er mit glatter Stimme. Rose hätte ihm am liebsten das selbstzufriedene Lächeln aus dem Gesicht gewischt.

„Zu Ihrer Information …“ Im letzten Moment hielt sie die Worte zurück, die ihr auf der Zunge lagen – nämlich dass das Flittchen in seinem Bett nicht sie, sondern ihre Zwillingsschwester gewesen war.

Ganz gleich, wie sehr sie sich eine Entschuldigung von dem schrecklichen Kerl wünschte, die Loyalität gegenüber ihrer Schwester wog mehr. Das schuldete sie Rebecca.

„Ich war noch nie in Monaco“, sagte sie stattdessen.

„Dann müssen Sie irgendwo eine Zwillingsschwester haben.“

Ja, die habe ich, und ich könnte dir sogar ihre Adresse geben, nur glaube ich, dass ihr Ehemann nicht besonders glücklich darüber wäre.

„Wenn Sie meinen“, erwiderte sie und drehte den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. „Ich glaube ja nicht, dass dieses kleine Krankenhaus eine Notaufnahme hat.“

„Es ist ein Krankenhaus, also wird zumindest ein Arzt dort sein.“ Andernfalls müsste er sie bis nach Inverness bringen.

„Es geht mir gut, außerdem bin ich spät dran …“ Furchtsam umklammerte sie den Türgriff, denn er schien zu glauben, am Steuer eines Rennwagens zu sitzen und nicht in einem alten Land Rover.

„Das lassen wir doch einfach den Mann entscheiden, der sechs Jahre Ausbildung hinter sich hat, ja?“

Rose sagte kein Wort mehr. Warum auch? Er tat ja doch, was er wollte, ganz egal, was sie davon hielt.

Wie sich herausstellte, gab es einen Arzt in dem kleinen Gemeindekrankenhaus. Der Doktor, dem sie ihre Geschichte erzählte und bei dem sie sich tausend Mal dafür entschuldigte, seine Zeit zu verschwenden, erklärte, dass sie genau richtig gehandelt hätten.

Als Rose ein paar Minuten später in den Warteraum zurückkehrte, dachte sie zuerst, ihr Retter hätte sie verlassen. Gerade als ihre Anspannung nachließ, stieß er sich von der Wand ab.

„Oh, ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Sofort verspannte sie sich wieder.

„Ich habe doch gesagt, dass ich warte.“ Als sie zitterte, runzelte er die Stirn.

„Und ich sagte, dass es nicht nötig ist. Ich schaffe es auch allein zurück.“

Er hob eine Augenbraue. „In der Aufmachung?“

Da hatte er nicht ganz unrecht, wie sie mit einem Blick nach unten zugeben musste. Der Pullover bedeckte sie zwar wie ein Kleid, war aber dennoch ziemlich kurz und luftig. Und was die wollenen Wanderstrümpfe anging, die er im Kofferraum gefunden hatte, als sie sich weigerte, sich von ihm ins Krankenhaus tragen zu lassen – nun, die waren auch nicht gerade die ideale Fußbekleidung.

Außerdem hatte sie kein Geld dabei.

Rose hasste es, ihm noch mehr verpflichtet zu sein, doch welche Wahl blieb ihr? „Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache. Ich bin sicher, Sie haben wesentlich wichtigere Dinge zu tun.“

„Ja.“

„Es tut mir leid“, sagte sie noch einmal.

Um seine Mundwinkel zuckte es. Sie entschuldigte sich zwar, doch das wütende Funkeln in ihren Augen zeigte deutlich, dass sie ihn zur Hölle wünschte. Sein Blick glitt über ihre Beine hinunter zu Jamies alten Wandersocken. Sie hatte äußerst hübsche Beine – genau die Sorte, bei der sich ein Mann unwillkürlich wünschte, zwischen ihren seidenglatten Schenkeln zu liegen.

„Was hat der Arzt gesagt?“ In dieser merkwürdigen Aufmachung fand er sie attraktiver als in jener Nacht in seinem Hotelzimmer. Ob er allmählich den Verstand verlor?

„Er hat gesagt, was ich auch die ganze Zeit gesagt habe – dass ich in Ordnung bin. Und dass ich verdammtes Glück gehabt hätte.“ Sie holte tief Luft. Die Tatsache, dass sie diesen Mann nicht mochte, entschuldigte ihre schlechten Manieren keineswegs. Immerhin hatte er sein Leben für sie riskiert. „Und damit hat er recht – das verdanke ich Ihnen.“

Einen Moment lang betrachtete Mathieu die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Als Rose bereits glaubte, er würde sie ignorieren, ergriff er sie endlich.

Bei der Berührung entfuhr ihr ein leises Keuchen, das sie liebend gern unterdrückt hätte. Sie murmelte etwas Unverständliches und entriss ihm ihre Hand. Ob er den elektrischen Schauer auch gespürt hatte?

Schnell schob sie den Gedanken beiseite, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und richtete ihre nächsten Worte an die Wand links von seiner Schulter. „Ich muss wirklich zurück“, sagte sie nervös.

„Dornie House, sagten Sie?“ In Gedanken ging er die Strecke durch. Wenn es der Ort war, von dem er es glaubte, dann konnte er kurz bei Jamie vorbeifahren und ihm versichern, dass er nicht vom Erdboden verschluckt war.

„Ja, richtig.“

„An der Straße nach Inverness?“

„Ich glaube schon.“ Sie hob eine Hand an die Stirn.

Während Mathieu ihre erschöpfte Geste beobachtete, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sein Beschützerinstinkt erwachte. Deshalb rief er sich schleunigst ins Gedächtnis, wer und was diese Frau war. Doch es fiel ihm schwer, den männermordenden Vamp mit dieser bleichen Gestalt in Einklang zu bringen, die nur knapp dem Tod entgangen war und dabei nicht eine Träne vergossen hatte.

Was bewundernswert war. Immerhin besaß sie Mut, das musste er ihr zugestehen.

„Kommen Sie.“ Sie musste verdammt müde sein, denn sie protestierte nicht, als er eine Hand leicht um ihren Arm legte und sie hinausführte.

„Ihr Adrenalinspiegel sinkt“, bemerkte Mathieu, der Roses blasses Gesicht kritisch betrachtete. „Allmählich setzt der Schock ein“, erklärte er, während er darauf wartete, dass sie sich in den Land Rover setzte, damit er die Tür schließen konnte. „Sind Sie sicher, dass der Arzt wirklich einverstanden war, Sie gehen zu lassen?“, fragte er, als er auf den Fahrersitz glitt.

Man sollte wohl die Kompetenz eines Mannes infrage stellen, der eine Frau nach Hause schickte, die kurz vor einem Kollaps zu stehen schien.

Rose nickte, verschwieg aber die Tatsache, dass der Arzt sie nur unter der Voraussetzung entlassen hatte, dass es jemanden gab, der sich um sie kümmerte.

„Sind Sie frisch hierhergezogen, oder besuchen Sie jemanden?“

„Ich arbeite“, entgegnete sie müde. „Ich katalogisiere Mr. Smiths Büchersammlung.“

Sie katalogisieren Bücher?“ Es gab kaum eine Aussage, die ihn mehr erstaunt hätte.

„Ja, wenn ich nicht gerade Männer in ihrem Hotelzimmer verführe, arbeite ich als Bibliothekarin.“

„Bibliothekarin?“ Plötzlich lachte er laut, was Rose noch wütender machte.

„Was ist daran so lustig?“

Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Nun, Sie müssen zugeben, dass es nicht … na ja, wenn man Sie so ansieht, würde man nicht denken …“ Er drehte ihr den Kopf zu. Sein Blick wirkte sinnlich. Als er sich wieder der Straße zuwandte, lachte er wieder und schüttelte den Kopf. „Man würde sie nicht unbedingt für eine Bibliothekarin halten, ma petite.“

Warum musste Französisch so sexy klingen, selbst wenn es spöttisch gemeint war?

„Sie scheinen eine ziemlich stereotype Vorstellung von Bibliothekarinnen zu haben, Mr. Demetrios.“

Ob er auch in dieser Sprache liebte? Nun, das wirst du nicht herausfinden, Rose, ermahnte sie sich streng. Er hat Rebecca aus seinem Bett geworfen, und die ist sexy und trägt Größe vierunddreißig.

„Ich frage Sie lieber nicht, für was man mich halten würde“, sagte sie. Er hatte schließlich keinen Hehl daraus gemacht, wie er über sie dachte.

„Ich bemühe mich sehr, ein Buch nicht nur nach seinem Einband zu beurteilen. Aber über Bücher wissen Sie sicherlich mehr als ich, nicht wahr? Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich kurz bei Jamie vorbeifahre und ihm erkläre, was passiert ist?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, bog er scharf nach links ab. Das schmiedeeiserne Tor, durch das sie fuhren, sah beeindruckend aus, aber schon in der Einfahrt holperten sie durch viele Schlaglöcher.

Rose hielt sich bereits lange genug in Schottland auf, um den Gutsbesitz zu kennen. Der korrekte Name lautete Castle Clachan. Der Gutsherr war ein ziemlich wichtiger Mann in der Gegend. Dass Mathieu ihn gut genug kannte, um ihn beim Vornamen zu nennen, passte ins Bild, dachte Rose.

„Sie wohnen hier?“

Er nickte, während er ein besonders tiefes Schlagloch umfuhr. „Jamie ist eine Saison in der Formel 1 gefahren.“

„Hat er sich verletzt?“

„Nein, er brauchte nur … Jamie war ein brillanter Fahrer, aber ihm fehlte … er war nicht skrupellos genug, nehme ich an. Jamie ist viel netter als ich“, erklärte er.

„Völlig überflüssig, das zu erwähnen, glauben Sie mir.“

Ihre schlagfertige Antwort entlockte Mathieu ein herzliches Lachen. Und Rose konnte nicht umhin festzustellen, wie attraktiv dieses Lachen war.

Sie hielten auf dem Kiesweg vor dem Haus. Obwohl es nicht mehr viel Kies gab, aber dafür Unmengen von Unkraut. Das eigentliche Haus – ein viktorianischer Landsitz – wirkte allerdings äußerst beeindruckend.

Mathieu schien ihre Gedanken zu ahnen. „Das erste Gebäude stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ich glaube, es ist abgebrannt. Warten Sie hier, ich sage nur kurz Jamie Bescheid. Oh, da ist er ja!“

Als Rose den Kopf drehte, sah sie zwei Männer um die Ecke des Hauses biegen. Einen großen Blonden – vermutlich der Gutsherr – und ihren Arbeitgeber. Sie kämpfte mit dem Türgriff. Jetzt wusste sie auch, warum ihr das Auto, neben dem sie parkten, so bekannt vorkam.

Mathieu beugte sich zu ihr und packte ihren Arm. „Was tun Sie denn da?“

„Das ist Mr. Smith“, entgegnete sie panisch und sank wieder in den Sitz. „Ich katalogisiere seine Bücher.“ Jetzt bloß nicht hyperventilieren, Rose.

Mathieu drehte den Kopf. In seiner Fantasie hatte er sich Roses Arbeitgeber mindestens zwanzig Jahre älter vorgestellt als den Mann, der mit Jamie sprach.

„Wohnen Sie bei ihm?“

Rose nickte und wunderte sich über den merkwürdigen Unterton in seiner Stimme. Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass Mathieu sich fragte, wie das Schlafarrangement wohl aussah. Wenn sie wüsste, woran er gerade dachte, hätte sie laut gelacht. Robert Smith war zwar noch jung und durchaus gut aussehend, aber er wirkte vollkommen asexuell und so humorlos wie ein toter Fisch.

„Bleiben Sie hier. Ich erkläre kurz, was passiert ist“, sagte er und stieg aus.

Jamie begrüßte ihn auf die übliche freundliche Art. Allerdings änderte sich sein Gesichtsausdruck schnell, als Mathieu erzählte, was passiert war.

„Ein Glück, dass du vor Ort warst, alter Freund.“

„Ja, was für ein Glück“, stimmte Robert Smith zu. „Aber Sie sagten, dass Miss Hall unverletzt ist – der Doktor hat ihr grünes Licht gegeben?“

„Natürlich steht sie unter Schock.“

„Ich bin sicher, dass sie den schnell überwindet, sobald sie wieder arbeitet.“

„Arbeitet?“

Unter Mathieus kaltem Blick errötete Smith. „Nun, ich dachte … ich habe einen Zeitplan einzuhalten und …“

„Sie muss sich erholen.“

„Oh, nun, wenn der Arzt das empfiehlt, werde ich natürlich dafür sorgen, dass sie …“

„Robert“, schaltete sich Jamie ein und klopfte dem anderen auf den Rücken. „Warum gehst du nicht schon einmal vor und siehst dir die Bücher an? Ich habe sie in der Eingangshalle auf den Tisch gelegt.“

Das ließ sich Smith nicht zweimal sagen.

„Ich gehe nur schnell noch zu Miss Hall und spreche mit ihr.“

„Ich glaube, du hast ihm Angst eingejagt“, bemerkte Jamie amüsiert, als Smith in Richtung Land Rover verschwand.

„Der Mann ist ein Idiot“, versetzte Mathieu zornig.

„Ja, deine Meinung hast du deutlich gezeigt“, erwiderte Jamie trocken. „Allerdings ist er sehr reich – er hat sich in London eine goldene Nase verdient und ist dann früh in den Ruhestand getreten. Ich hatte gehofft, ihm ein paar Bücher zu verkaufen. Er scheint verrückt nach ihnen zu sein. Also, was die Frau angeht … werde ich vorgestellt?“ Neugierig sah er zum Land Rover hinüber. „Warum bekomme ich eigentlich nie die Gelegenheit, den Retter in der Not zu spielen?“, beschwerte er sich lächelnd.

Mathieu folgte Jamies Blick. Rose war – vermutlich auf Smiths Vorschlag – aus dem Wagen gestiegen. Er runzelte die Stirn, als er sah, wie sie dem anderen Mann zunickte und dann auf sie zukam. „Sie hat sich ganz schön verändert … seit Monaco.“

Ihm war nicht einmal bewusst, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis Jamie ihn ansprach.

„Du kennst sie! Mein Gott, was für ein Zufall!“ Jamie, der bereits ganz große Augen machte, pfiff leise durch die Zähne, während Rose näher kam. „Stellst du mich vor, Matt?“, fragte er hoffnungsvoll.

Mathieu warf seinem Freund einen irritierten Blick zu. „Ich kenne sie kaum. Wir haben uns …“, begann er, stoppte aber, weil Rose mittlerweile in Hörweite war. Trotz ihrer merkwürdigen Aufmachung und der verwuschelten blonden Mähne sah sie wunderschön und würdevoll aus.

„Hallo.“ Rose nickte Jamie freundlich zu. Als sie danach jedoch zu Mathieu hinübersah, schwand ihr Lächeln. „Mr. Smith nimmt mich mit zurück. Ich wollte Ihnen nur noch einmal dafür danken … dass Sie mir das Leben gerettet haben“, erklärte sie steif. „Und es tut mir leid, Ihnen so viele Umstände bereitet zu haben.“

„Das Leben gerettet?“, unterbrach sie Jamie und trat einen Schritt vor. „Den Part hast du reichlich heruntergespielt, Matt.“ Er warf seinem Freund einen amüsierten Blick zu. „Andererseits ist das typisch für unseren Matt – immer der bescheidene Held.“

Fraglicher Held wirkte äußerst irritiert und verärgert, was Jamies Lächeln noch vertiefte. Er reichte Rose die Hand. „Wir sind uns noch nicht begegnet, obwohl das an einem Ort dieser Größe nur eine Frage der Zeit ist. Ich bin Jamie.“

„Ja, ich weiß – der Gutsherr.“

„Im Moment noch, ja, aber ich hoffe, dass Mathieu etwas einfällt, womit ich mir den Gerichtsvollzieher vom Hals halten kann.“

Rose wusste nicht, ob er scherzte oder nicht. Nicht verhehlen ließ sich jedoch sein fester Glaube daran, dass Mathieu es schon richten würde. Sie konnte sich dieser Hoffnung nur anschließen, denn es war beinahe unmöglich, den jungen Gutsherrn nicht zu mögen.

„Ich bin Rose. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …“ Sie sah demonstrativ auf ihre Kleider hinab, bevor sie die Arme um den Körper schlang. „Ich werde im Wagen warten. Da ist es wärmer.“ Sie lächelte noch einmal, ehe sie sich abwandte.

„Ich glaube, sie mag mich“, murmelte Jamie, während Rose zu dem geparkten Auto zurückging. „Was dich angeht, bin ich mir allerdings nicht so sicher.“

„Also, welche Bücher willst du verkaufen?“

Im ersten Moment sah es so aus, als würde der Themenwechsel funktionieren, doch mitten in der Beschreibung eines Buchs hielt Jamie plötzlich inne und warf Mathieu einen scharfen Blick zu. „Monaco …“

Dieser täuschte Unwissenheit vor.

„Du hast gesagt, du bist ihr in Monaco begegnet.“

„Es könnte sein.“

„Mein Gott, sie ist es, nicht wahr? Die Blondine, die sich in der Galanacht in dein Hotelzimmer geschlichen hat.“

Verzweifelt bemühte Mathieu sich um eine ausdruckslose Miene, während er beharrlich schwieg.

„Dieses Schweigen werte ich als Ja.“ Jamie pfiff laut und lachte herzlich. „Jemand, der für Smith arbeitet, wirkt gar nicht wie der Typ, der … Allerdings habe ich nicht allzu viel Erfahrung mit Frauen, die versuchen, einen Mann zu verführen, den sie gar nicht kennen“, gab er zu. „War sie wirklich völlig nackt?“

Für die Frage erntete er einen warnenden Blick.

Jamie hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut, kein Grund, in die Luft zu gehen. Bist du sicher, dass nichts passiert ist? Ich meine, war da wirklich ein Riss im Eis?“

„Du hast eine übertriebene Fantasie, Jamie“, entgegnete Mathieu kühl.

Diesmal beachtete sein Freund die Warnung. „Wenn du meinst …“, versetzte er leichthin. „Weißt du, Mathieu, du gehörst mit Sicherheit zu den ganz wenigen Männern, die sauer werden, wenn sie eine wunderschöne nackte Blondine in ihrem Bett finden. Warst du nicht mal ein kleines bisschen in Versuchung, das Angebot anzunehmen? Ich meine, diese zauberhafte Rose ist ziemlich heiß.“ Ein sehnsuchtsvoller Seufzer entrang sich seiner Kehle, begleitet von einem anzüglichen Blick.

Beides verursachte Mathieu ein riesiges Problem.

Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er holte tief Luft, um sich wenigstens etwas zu beruhigen.

„Haben die Leute hier nichts Besseres zu tun als zu tratschen?“, fragte er kalt.

„Nicht wirklich“, versetzte Jamie trocken. Offenbar fiel ihm gar nicht auf, dass sein Freund nur mit Mühe den Drang unterdrückte, gewalttätig zu werden. „Ich frage mich, ob sie Lust hätte, meine Bücher zu katalogisieren, wenn sie mit denen von Smith fertig ist.“ Der begehrliche Blick verschwand ganz schnell, als er den unverhüllten Zorn in Mathieus Augen sah.

In diesem Moment verkündete Robert Smith seine Anwesenheit, indem er sich räusperte.

Beide Männer drehten sich zu ihm um.

„Ich fürchte, James, die Bücher … nun, sie sind nicht ganz das, wonach ich suche.“

Jamie nahm es gelassen hin. „Na ja, das kann man nicht ändern.“

„Aber ich habe einen Freund, der vielleicht an ihnen interessiert sein könnte. Wenn du möchtest, spreche ich ihn darauf an“, sagte er. Als Jamie nickte, fügte er hinzu: „Gut, dann muss ich jetzt wirklich los.“

Mathieus Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Der Zeitplan?“, fragte er.

Der andere Mann zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Genau … und vielen Dank noch einmal, dass Sie Miss Hall geholfen haben.“

Mathieu beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie der Mann neben Rose in den Wagen stieg. „Ich mag den Kerl nicht.“

Jamie unterdrückte ein Lachen. „Das hast du aber wunderbar verborgen, Matt“, sagte er ironisch und schlug dem Freund anerkennend auf den Rücken. „Da du gerade in der Stimmung bist, Leute zu retten – was meine Finanzen angeht, ist es hoffnungslos?“

Als er die echte Besorgnis in der Stimme seines sonst so heiteren Freunds hörte, riss Mathieu seine Gedanken von der Bibliothekarin los und widmete sich wieder Jamies finanzieller Situation.

5. KAPITEL

„Ich fürchte, Miss Hall, dass ich Sie gehen lassen muss“, erklärte Robert Smith unmittelbar nach der Begrüßung, als sie am nächsten Morgen sein Arbeitszimmer betrat.

„Mich gehen lassen?“

„Ich glaube nicht, dass wir noch länger zusammenarbeiten können.“

„Sie entlassen mich?“ Rose war zu überrascht, um wütend zu sein. Das würde vermutlich später kommen – und so war es auch. „Das verstehe ich nicht. Die Arbeit ist erst zur Hälfte erledigt. Gibt es irgendetwas an meiner Arbeit auszusetzen? Liegt es daran, dass …“

„An Ihrer Arbeit habe ich nichts auszusetzen“, gab Smith steif zu. „Allerdings sind mir einige andere Dinge zu Gehör gekommen.“

Autor

Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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Solange Janette sich erinnern kann, prägten fiktive Geschichten und Charaktere ihre Welt. Die Liebe zur Literatur entdeckte sie bereits als kleines Mädchen, da ihre Eltern ihr rund um die Uhr vorlasen. Ermutigt durch ihre Mutter, begann Janette schon früh zu schreiben. Anfänglich begnügte sie sich damit, ihren Lieblingssendungen neue, nach...
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Ihre liebste...

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