Der Chirurg, der mich verführte

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Warum ist er einerseits so charmant – und gibt sich dann wieder so abweisend und kühl? Dr. Nate Townsend reizt Erins Neugier: Die Ärztin will herausfinden, was der attraktive Chirurg verbirgt. Sie ahnt nicht, dass er sie schon bald nach allen Regeln der Kunst verführen wird …


  • Erscheinungstag 30.06.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507332
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Warum lehnt jemand, der neu in der Abteilung ist, sämtliche Einladungen zum gemeinsamen Ausgehen mit den Kollegen ab, fragte sich Erin. Eigentlich sollte man doch alle kennenlernen wollen, um sich möglichst schnell ins Team einzufinden, anstatt auf Abstand zu bleiben!

Nate Townsend war ihr ein Rätsel.

Als Kollege war er sehr angenehm. Sie hatte schon mehrere Stationsvisiten mit ihm gemacht. Nate hörte allen Patienten aufmerksam zu, versuchte sie zu beruhigen und erklärte ihnen alles ganz geduldig. Das OP-Team war begeistert von dem neuen Chirurgen, weil er sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger nach jeder Operation beim gesamten OP-Personal bedankte. Doch auf Kontakt schien er nicht aus zu sein. Wann immer ihn jemand aus dem Team einlud, bei gemeinsamen Abenden dabei zu sein, lächelte er nur entschuldigend und sagte: „Tut mir leid, ich kann nicht.“ Egal, ob es um ein Feierabendbier, ein gemeinsames Abendessen, Bowling oder den neuesten Film ging.

Nicht einmal ein Kaffee oder Mittagessen mit seinen Kollegen aus der Abteilung für Wirbelsäulenchirurgie kam für ihn infrage. Stattdessen aß er ein Sandwich am Schreibtisch und schrieb seine Notizen ins Reine, damit er nach seiner Schicht sofort nach Hause gehen konnte.

Erin wusste, dass manche Menschen einfach lieber für sich blieben. Aber sie arbeitete schon seit ihrem ersten Jahr als Ärztin im Praktikum am Londoner Victoria Hospital, und sie freute sich über ihre Kollegen, die mit ihrer Freundlichkeit auch den schlimmsten Tag erträglicher machten. Warum ließ Nate nur alle abblitzen? War die Lage bei ihm zu Hause so kompliziert, dass er einfach keine Energie hatte, sich mit seinen Kollegen anzufreunden?

Das geht dich nichts an, ermahnte sie sich innerlich – und merkte plötzlich, dass Nick mit ihr sprach, der Leiter der Abteilung.

Erin war gerade bei der monatlichen Mitarbeiterbesprechung und sollte eigentlich zuhören, statt sich den Kopf über den neuen Kollegen zu zerbrechen.

Und eigentlich interessierte Nate sie ja auch gar nicht, selbst wenn er Single sein sollte. Denn Erin war absolut auf ihren Beruf fokussiert. Vor einigen Jahren war ihr Leben wegen einer Beziehung gründlich aus den Fugen geraten, und sie würde nicht zulassen, dass dies noch einmal geschah. Für sie kamen nur noch Freundschaften infrage.

„Entschuldigen Sie bitte, Nick, könnten Sie das wiederholen?“, fragte sie und lächelte ein wenig schuldbewusst.

„Natürlich. Ich habe Sie gebeten, uns im Hinblick auf den Sinnesgarten auf den neuesten Stand zu bringen.“

Der Garten war Erins Lieblingsprojekt. Mit ihm wollte sie das Leben ihrer Patienten bereichern. Gut gelaunt öffnete sie ihre Mappe.

„Wir sind fast so weit, dass wir loslegen können“, berichtete sie. „Das Krankenhaus hat uns die Genehmigung erteilt, auf dem gewünschten Teil des Geländes den Garten anzulegen. Der Freundeskreis des Krankenhauses erarbeitet gerade einen Dienstplan für die freiwilligen Helfer, und unser Gartenplaner Ed hat das Konzept fertiggestellt, das der Ausschuss jetzt noch genehmigen muss. Da aber der Entwurf gut ankam, ist das nur eine Formsache. Wir werden also wahrscheinlich nächste Woche loslegen können.“

„Moment mal“, sagte Nate. „Was hat es mit diesem Garten auf sich?“

„Wir werden auf dem Gelände des Krankenhauses einen Sinnesgarten anlegen und ihn den Patienten zugänglich machen“, erklärte Erin.

Nate runzelte die Stirn. „So etwas kostet ja ziemlich viel. Sollte man das Geld nicht besser in neue Ausstattung investieren, die den Patienten zugutekommt?“

Nate nahm zum ersten Mal an der monatlichen Besprechung teil und konnte nicht wissen, dass sie schon seit fast einem Jahr in ihrer Freizeit an diesem Projekt arbeitete.

Er meint es bestimmt nicht böse, dachte Erin und beschloss, nicht so streng mit ihm zu sein. „Ich weiß, dass Sinnesgärten den Ruf haben, Unsummen zu verschlingen. Aber dieser hier wird bei Weitem nicht so teuer, wie Sie vielleicht befürchten“, erwiderte sie. „Das Grundstück wurde uns ja zur Verfügung gestellt, und der Gartenplaner berechnet uns auch nichts.“

„Nichts?“ Nate wirkte skeptisch.

„Für ihn ist das Projekt gute Werbung, deshalb müssen wir ihm für das Konzept nichts bezahlen.“

Wie Erin hatte auch Ed ein persönliches Interesse an dem Projekt. Er wollte sich dem Krankenhaus gegenüber erkenntlich zeigen, in dessen Wirbelsäulenzentrum sein jüngerer Bruder nach einem Motorradunfall behandelt worden war.

„Und um ehrlich zu sein, hoffe ich, dass seine Großzügigkeit Ed jede Menge neue Kunden beschert“, fügte Erin hinzu.

„Hm.“ Nates blaue Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Und jetzt strahlten sie erhebliche Skepsis aus.

„Auch die Arbeitskräfte kosten uns nichts“, fuhr Erin fort. „Ayesha – die Vorsitzende vom Freundeskreis des Krankenhauses – stellt ein Team aus Freiwilligen zusammen: von Studenten, die in ihrem Lebenslauf praktische Arbeitserfahrung angeben wollen, bis hin zu Menschen, die einfach gerne gärtnern“, erklärte sie. „Es wird ein Gemeinschaftsgarten, von dem alle etwas haben werden. Und es wird nicht nur für das Anlegen des Gartens einen Dienstplan geben, sondern auch für seine spätere Pflege.“

„Und was ist mit den Kosten für die Pflanzen und anderes Material, das notwendig ist?“, wollte Nate wissen.

„Einiges wurde von Firmen vor Ort gespendet. Und die Krankenhausmitarbeiter, unsere Patienten und ihre Familien sammeln seit einem Jahr Spenden. Wir haben jetzt schon genug zusammen, um die ganze erste Projektphase zu bestreiten.“

„Und Sie meinen wirklich, dass ein Sinnesgarten die beste Investition für das Geld ist?“, fragte er.

Für wen hält der Kerl sich eigentlich, dachte Erin empört. Nate war seit einem knappen Monat hier, hielt sich seit seiner Ankunft konsequent vom Rest des Teams fern, und jetzt kritisierte er an einem Projekt herum, das seit Langem geplant wurde – anstatt etwas Positives beizutragen?

Statt, was natürlich klüger gewesen wäre, die Angelegenheit ihrem Chef zu überlassen, schenkte sie Nate Townsend ein äußerst kühles Lächeln. Er wollte Antworten? Sehr schön, die sollte er bekommen.

„Ja, das meine ich allerdings, und zwar nicht nur ich“, entgegnete sie. „Wie Sie ja wissen, müssen die meisten unserer Patienten mit einer tief greifenden Veränderung in ihrem Leben fertig werden. Sich auf die neuen Umstände einzustellen fordert ihnen einiges an Kraft ab. Viele liegen monatelang im Krankenhaus und starren immer dieselben Wände an. Mit dem Garten wird ihnen ein ruhiger, erholsamer Ort zur Verfügung stehen, an dem sie Zeit mit Angehörigen und Freunden verbringen, sich mit anderen Patienten unterhalten oder einfach in Ruhe lesen können. So können sie sich besser an ihr neues Leben gewöhnen und müssen nicht das Gefühl haben, immer in denselben kahlen vier Wänden eingesperrt zu sein. Außerdem ist ein Sinnesgarten eine grüne Oase, in der man Düfte und Farben erleben kann, wo der Tastsinn und sogar der Geschmackssinn angesprochen werden. Das fördert die Sinne unserer Patienten und ihre Genesung.“

„Und wie wollen Sie mitten in London, wo ständig viel Verkehr ist, so einen ruhigen, erholsamen Ort schaffen?“, fragte Nate.

„Ja, das ist ein guter Einwand“, stimmte sie zu. „Aber es werden Hecken als Lärmschutz angepflanzt. Ich kann Ihnen gerne die Pläne kopieren.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Konstruktive Anmerkungen von Menschen, die entsprechende Erfahrungen haben, sind mir übrigens immer willkommen.“

Einen Moment lang wurden Nates Augen groß. Offensichtlich verstand er, dass er ihrer Meinung nach nicht konstruktiv war und auch nicht über einschlägige Erfahrungen verfügte. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, weitere Fragen zu stellen.

„Und was ist mit den Patienten, die ihre Temperatur nicht regulieren können und denen in einem Garten zu warm oder zu kalt sein kann?“

„In der zweiten Phase des Projekts wird ein überdachter Bereich für diese Patienten entstehen“, erklärte Erin. „Aber wir fangen jetzt mit der ersten Phase an, damit unsere Patienten und ihre Familien den Garten so bald wie möglich nutzen können und nicht warten müssen, bis wir das Geld für die zweite Phase zusammenhaben. Und bevor Sie ansprechen, dass unsere Patienten meistens im Rollstuhl sitzen – wir stellen sicher, dass die Wege eben sind und auch von Rollstuhlfahrern benutzt werden können. Ed, der Gartenplaner, hat sich sogar mehrere Stunden lang im Rollstuhl über das Grundstück fahren lassen, um selbst zu erleben, was für Probleme sich ergeben könnten.“

„Aha“, sagte Nate, wirkte aber noch immer nicht überzeugt.

Erin seufzte. „Ich habe wirklich sehr viel recherchiert, bevor ich das Projekt vorgeschlagen habe. Und ich habe mir Sinnesgärten in England und Skandinavien angesehen.“ Als seine Augen funkelten, fügte sie schnell hinzu: „Auf eigene Kosten und während meines Jahresurlaubs.“

„Sie sind ja wirklich sehr sozial eingestellt.“

Wie bitte? So langsam wurde Nate ihr richtig unsympathisch. Allerdings war an seiner ironischen Bemerkung durchaus etwas Wahres dran. Denn sie hatte sich vor allem mit Leib und Seele diesem Projekt gewidmet, weil sie erlebt hatte, wie sehr ein Sinnesgarten ihrem Bruder geholfen hatte. Und wenn sie nun dazu beitrug, dass ihren Patienten genauso geholfen werden konnte, dann hätte sie vielleicht nicht mehr ein ganz so schlechtes Gewissen wegen dem, was Mikey zugestoßen war. Vielleicht.

Ihr Bruder hatte ihr zwar schon vor langer Zeit verziehen, aber Erin konnte sich selbst einfach nicht verzeihen.

„Der Garten ist wichtig“, sagte sie leise. „Auch aus medizinischer Sicht, denn in der Natur zu sein hilft dabei, mit Schmerzen umzugehen. Es ist gut gegen Stress und fördert die Entspannung.“

Nate zuckte die Schultern. „Das klingt etwas esoterisch, finde ich.“

„Die Geschichte der Gartentherapie reicht bis in die Antike zurück“, erläuterte Erin. „Und man kann ihre Wirkung sogar belegen, indem man Herzschlag und Blutdruck von Patienten misst. Außerdem wirkt sich ein Tapetenwechsel auch auf die Psyche aus. Für Menschen wie Sie und mich mag das nur eine Kleinigkeit sein, aber wenn ein Patient sich seit vielen Wochen drinnen aufhält, ist es für ihn eine große Verbesserung, nach draußen zu können.“

Zu ihrer Erleichterung meldete sich Nick nun endlich zu Wort: „Da das Projekt ja schon genehmigt wurde, sollten wir uns wohl darauf einigen, dass wir in Bezug auf die Verwendung von Geldern und so weiter nicht ganz übereinstimmen.“

„Sicher“, stimmte Nate bereitwillig zu. „Als Neuzugang sollte ich natürlich auch nicht gleich Ärger machen. Aber laut meiner Schwester, die stellvertretende Schulleiterin ist, freut sie sich immer über neue Mitglieder im Team, weil man dadurch einen kritischen Freund gewinnt – jemanden, der alles unvoreingenommen von außen betrachtet und Fragen stellt. Genau das wollte ich wahrscheinlich auch machen.“

„Sie können gerne Kopien der Pläne und des Konzepts bekommen“, bot Erin nochmals an. „Falls Sie meine Kalkulation überprüfen möchten.“

„Darauf werde ich zurückkommen“, antwortete er.

Erin kochte innerlich vor Wut. Ein kritischer Freund? Von wegen! Was war denn bitte an Nate Townsend freundlich? Zugegeben, er sah ziemlich gut aus mit seinem dunklen Haar und den blauen Augen. Und gleich am ersten Tag hatten mehrere ihrer Kolleginnen ihn zum sexiesten Mann erklärt, dem sie je begegnet waren. Aber ihr war der Charakter wichtiger als das Aussehen. Und die Seite, von der sie Nate heute kennengelernt hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Zu allem Übel musste sie nach der Besprechung mit ihm zusammen die Visite machen.

„Möchten Sie die Visite heute Vormittag auf eine bestimmte Art und Weise durchführen?“, fragte sie ein wenig schnippisch.

„Nein, ich halte mich gerne an die normalen Abläufe“, erwiderte er ungerührt.

„Tatsächlich? Den Eindruck hatte ich eben bei der Besprechung aber nicht“, hörte Erin sich sagen.

„Wenn ich Sie vor den Kopf gestoßen habe, tut es mir leid“, antwortete Nate. „Warum ist Ihnen der Garten eigentlich so wichtig?“

Glaubte er im Ernst, das würde sie ihm verraten, damit er ebenso streng über sie urteilte wie sie über sich selbst? Auf gar keinen Fall.

Also antwortete sie stattdessen: „Ich beschäftige mich seit einem Jahr mit diesem Projekt und habe mehrfach erlebt, was Sinnesgärten bei Patienten bewirken können. In der ersten Projektphase wird der Garten entstehen, in der zweiten der überdachte Bereich, und in der dritten können wir dann vielleicht noch Hochbeete anlagen und ein Gewächshaus bauen, damit die Patienten selbst etwas anpflanzen können. Wenn sie dadurch erleben, dass sie noch immer selbst etwas tun und beitragen können, statt ständig gepflegt werden zu müssen und das Gefühl zu haben, anderen zur Last zu fallen, dann wird ihnen das helfen, sich an ihr neues Leben und an die Aussicht zu gewöhnen, dass sie sich vielleicht einen anderen Beruf suchen müssen.“

„Nick hatte wohl recht“, sagte Nate mit ausdrucksloser Miene. „Wir sollten uns darauf einigen, dass wir uns nicht einig sind.“

„Wie Sie möchten. Allerdings würde mich schon interessieren, warum Sie das Projekt so ablehnen.“

„Weil ich bereits mehrfach erlebt habe, wie Gelder gesammelt wurden, mit denen angeblich Patienten geholfen werden sollte, die dann stattdessen für persönliche Lieblingsprojekte vergeudet wurden.“

Tief durchatmen, ermahnte sich Erin innerlich. Auch wenn es stimmte, dass der Sinnesgarten ihr persönliches Lieblingsprojekt war – mit dem Rest lag Nate total daneben.

„Ich kann Ihnen versichern, dass keine Gelder verschwendet werden. Und wie gesagt, es geht ja nicht nur um die Patienten, denn es wird ein echter Gemeinschaftsgarten, an dem sich viele Freiwillige beteiligen werden: ältere Menschen, die vielleicht gerade in eine Wohnung umgezogen sind und denen ihr Garten fehlt, oder auch junge Mütter, die sich ein paar Stunden in der Woche mit etwas beschäftigen möchten, das nicht mit ihrem Baby zu tun hat. Auch die örtliche Oberstufe beteiligt sich an dem Projekt. Die Schüler können auf die Mitarbeit verweisen, wenn sie sich um einen Studienplatz bewerben. Das Projekt bringt also ganz unterschiedliche Menschen zusammen, und alle Beteiligten profitieren davon“, schloss sie. „Wenn so ein Garten für Sie Geldverschwendung ist, dann tut mir das leid. Wir sehen das anders.“

Das Projekt scheint Erin wirklich am Herzen zu liegen, dachte Nate. Ihr Gesicht hatte vor Begeisterung gestrahlt, als sie vom Garten und davon erzählt hatte, was dieser ihrer Meinung nach für die Patienten bewirken konnte.

Sofort rief sich Nate stumm zur Ordnung. Ja, mit ihrem lockigen, hellbraunen Haar, das sie im Nacken zusammengefasst hatte, den klaren grauen Augen und den winzigen Sommersprossen auf der Nase war Erin Leyton wirklich hübsch. Aber selbst wenn er eine Beziehung auch nur in Erwägung ziehen könnte, was eindeutig nicht der Fall war, wäre es angesichts ihrer gegensätzlichen Ansichten viel zu kompliziert.

Vielleicht verhielt er sich ihr gegenüber aber auch nur so negativ, weil er gerade in einer schwierigen Situation steckte, und das war nicht fair. Schließlich war Erin nicht schuld daran, dass seine Exfrau, ausgerechnet eine Woche bevor er die neue Stelle angetreten hatte, so eine Bombe hatte platzen lassen. Seitdem rannte er herum wie ein aufgescheuchtes Huhn und versuchte, alles in den Griff zu bekommen. Und Erin war erst recht nicht daran schuld, dass er sich selbst vorwarf, so versagt zu haben.

„Es tut mir leid“, sagte er deshalb. „Sie haben recht: Ich benehme mich wie der neue Mitschüler, der überall dagegen ist, nur um sich wichtig zu machen.“

„Das habe ich doch gar nicht gesagt“, protestierte Erin.

„Nein, aber gedacht.“

Sie lächelte reumütig. „Können Sie mir das zum Vorwurf machen?“

„Nein. Und eigentlich geht es auch gar nicht um den Garten. Ich möchte mich entschuldigen. Ich sollte wirklich meine privaten Probleme nicht mit zur Arbeit nehmen.“

Die Feindseligkeit in ihren grauen Augen schmolz dahin. „Ich nehme Ihre Entschuldigung an.“ Leise fügte sie hinzu: „Manchmal hilft es ja, mit jemandem zu reden. Mit einem Außenstehenden, der völlig unbeteiligt ist und einen weder verurteilt noch tratscht.“

Sie bot ihm an, dass er sich bei ihr ausweinen konnte, obwohl er bei der Teambesprechung gerade an ihrem persönlichen Lieblingsprojekt herumkritisiert hatte?

Das war ziemlich großmütig von ihr – aber so überraschend nun auch wieder nicht. Nate war schon aufgefallen, dass Erins Name auf all den internen Mitteilungen zu finden war, bei denen es um gemeinsame Kollegenabende ging oder darum, Geld für Geburtstagsgeschenke oder für die Babyparty einer Kollegin zu sammeln. Erin Leyton war ganz offensichtlich ein Mensch, die sich gern um jeden kümmerte und alles in Ordnung brachte.

In seinem Leben bestand derzeit allerdings nicht die Aussicht, dass die Dinge bald in Ordnung kommen würden – falls das überhaupt jemals wieder der Fall sein würde. „Danke für das Angebot, aber ich kenne Sie ja kaum“, sagte er.

Erin zuckte nur die Schultern, doch einen Moment lang wirkte sie verletzt. „In Ordnung. Vergessen Sie einfach, dass ich es vorgeschlagen habe.“

Nun kam sich Nate gemein vor, aber im Moment konnte er einfach niemandem eine Freundschaft anbieten. Nicht, bis er die Sache mit Caitlin geregelt und eine bessere Beziehung zu ihr aufgebaut hatte. Und er hatte keine Ahnung, wie lange das dauern würde. Manchmal hatte er das Gefühl, es würde nie passieren.

„Fangen wir mit der Visite an“, schlug er vor. „Zuerst kommt Kevin Bishop. Er ist fünfundvierzig Jahre alt, aber er hat die Wirbelsäule eines Sechzigjährigen: eine schwere Spinalkanalstenose.“

„Handelt es sich um normale Abnutzungserscheinungen, oder hat es mit seinem Beruf zu tun?“, fragte Erin nach.

„Vermutlich beides. Er ist Bauarbeiter. Zwei seiner Bandscheiben weisen starken Verschleiß auf, und er hat eine Verengung des Wirbelkanals im Bereich der Lendenwirbelsäule“, erklärte Nate.

„Dadurch entsteht natürlich Druck auf die Rückenmarksnerven. Der arme Kerl hat also wahrscheinlich starke Schmerzen“, stellte Erin mitfühlend fest.

„Er nimmt entzündungshemmende Medikamente, aber die wirken nicht mehr gegen die Schmerzen.“

„Es steht also ein größerer chirurgischer Eingriff bevor, gefolgt von Rehabilitation über mehrere Wochen?“, fragte Erin. „Dann wäre Mr. Bishop vielleicht ein Kandidat für den Garten.“

„Nein, nein und nein“, antwortete Nate. „Er wird nicht lange hier sein. Statt eine Laminektomie durchzuführen, werde ich heute Nachmittag einen interspinösen Spreizer einsetzen.“

„Von dieser Methode habe ich gelesen“, erwiderte Erin. „Besteht dabei nicht ein größeres Risiko, dass der Patient später noch einmal operiert werden muss, als wenn man in dem Bereich, in dem der Druck auf seine Wirbelsäule entsteht, einen Teil des Knochens entfernt?“

„Das stimmt. Dafür ist aber das Risiko von Komplikationen viel geringer, als wenn man den Knochenteil abträgt, der reibt und den Schmerz verursacht. Außerdem ist bei diesem Eingriff nur ein sehr kleiner Schnitt notwendig, sodass der Patient schon nach wenigen Tagen wieder entlassen werden kann. Normalerweise wende ich diese Methode bei älteren Patienten beziehungsweise solchen mit erhöhtem Operationsrisiko an“, erläuterte Nate. „Kevin Bishop ist zwar noch jung, aber aufgrund seines Übergewichts und des hohen Blutdrucks halte ich auch bei ihm das Risiko für erhöht.“

„Das kann ich nachvollziehen. Und wie funktioniert der Spreizer genau?“

Es war offensichtlich, dass Erin aus beruflichem Interesse nachfragte und nicht seine Kompetenz infrage stellen wollte. Sie war keine Chirurgin, sondern Neurologin.

„Wir werden ihn bei Kevin Bishop in die untere Wirbelsäule einsetzen. Dort wirkt er wie eine stützende Sprungfeder und mindert den Druck auf den Nerv. So lässt sich der Schmerz deutlich wirksamer lindern als durch epidurale Steroid-Injektionen. Außerdem werden die Rückenmarksnerven nicht bloßgelegt, sodass das Risiko der Narbenbildung erheblich geringer ist.“

Er schwieg kurz und überlegte. Vielleicht ließe sich so die Anspannung zwischen ihnen lösen, die bei der Besprechung entstanden war?

„Wenn Mr. Bishop einverstanden ist, können Sie bei der OP zusehen.“

„Meinen Sie das ernst?“, fragte Erin verblüfft.

„Ja.“ Ob sie sein Friedensangebot annehmen würde?

„Das fände ich wirklich toll, vielen Dank!“, sagte sie lächelnd.

Und wieder spürte Nate jene starke Anziehung, die sie aus irgendeinem Grund auf ihn ausübte und die absolut unangemessen war. Er wusste ja nicht einmal, ob sie vielleicht einen Partner hatte. Fragen würde er sie das auf keinen Fall, schließlich sollte sie nicht denken, dass er an ihr interessiert war. Er hatte gerade keine Energie dafür, sich für jemanden zu interessieren, sondern musste sich auf seine Tochter konzentrieren und lernen, ihr ein guter Vater zu sein.

„Gern geschehen“, sagte er etwas befangen. Dann ging er mit Erin zu seinem Patienten und stellte die beiden einander vor.

„Ich habe mir die CT-Scans von Ihrer Wirbelsäule genau angesehen, Mr. Bishop, und auch die Ergebnisse der Bluttests sind in Ordnung. Wir können Sie also heute operieren“, erklärte er. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Dr. Leyton ebenfalls bei der OP anwesend ist?“

„Nein, das ist in Ordnung.“ Mr. Bishop wirkte erleichtert. „Wie gut, dass ich heute operiert werde. Ich habe wirklich die Nase voll davon, mir nicht mal selbst die Schuhe zubinden zu können. Und ständig kribbeln mir die Beine, wenn ich stehe.“

„Oje, so schlimm?“, fragte Erin mitfühlend.

Der Mann nickte. „Ich habe schreckliche Schmerzen. Auch wenn ich mir Ruhe gönne, ändert das nichts, und die Tabletten scheinen auch nicht mehr zu helfen. Als mein Arzt mir sagte, dass ich operiert werden müsste, graute mir davor, wochenlang im Krankenhaus zu liegen. Aber Dr. Townsend hat mir ja eröffnet, dass es nur ein paar Tage dauern würde.“ Er lächelte müde. „Ich möchte einfach wieder arbeiten und mit meinen Kindern Fußball spielen.“

„Nach der Operation wird es Ihnen viel besser gehen“, versprach Nate. „Wir haben ja schon darüber geredet, aber ich würde trotzdem gerne noch einmal alles mit Ihnen durchsprechen, damit Sie wissen, was geplant ist, und zustimmen können.“

Mr. Bishop nickte.

„Die Nerven in Ihrer Wirbelsäule verlaufen durch den sogenannten Rückenmarkskanal. Da Ihre Wirbelsäule im Laufe der Zeit stark beansprucht wurde, hat sich der Rückenmarkskanal verengt, sodass beim Stehen und Gehen Druck auf die Nerven ausgeübt wird. Das verursacht starke Schmerzen“, erklärte Nate. „Ich werde einen interspinösen Spreizer zwischen zwei Ihrer Wirbel setzen, sodass der Druck gemindert und der Schmerz gelindert wird. Haben Sie seit gestern Abend etwas gegessen?“

„Nein, aber ich würde unheimlich gerne einen Tee trinken“, gab Mr. Bishop zu.

Nate lächelte. „Keine Sorge, den bekommen Sie heute Nachmittag. Ich werde die präoperativen Untersuchungen veranlassen und Sie dann um zwei Uhr operieren. Die OP findet unter örtlicher Betäubung statt, aber Sie bekommen auch ein Beruhigungsmittel, sodass Sie sich später an nichts mehr erinnern können. Während der OP liegen Sie auf dem Bauch, auf einer gewölbten Spezialmatratze. Dadurch verringert sich der Druck auf Brustkorb und Becken, und ich komme besser an Ihre Wirbelsäule heran.“

„Wie lange dauert die OP denn?“, wollte Mr. Bishop wissen.

„Ungefähr eine Stunde, je nachdem, was genau ich vorfinde. Aber nach dem CT zu urteilen, wird es ganz unkompliziert.“

„Super“, sagte der Patient erfreut. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich schon in ein paar Tagen nach Hause kann. Dabei dachte ich doch, ich würde hier wochenlang festsitzen!“

„Sie können aber in den ersten Wochen nach der OP nicht gleich wieder Auto fahren und arbeiten“, warnte Nate ihn. „Und Sie werden Physiotherapie und spezielle Übungen machen müssen. Damit sollten Sie etwa vier Wochen nach der Operation beginnen, und bis dahin sollten Sie auf einem harten Stuhl mit hoher Lehne sitzen und weiche Sitze mit niedriger Lehne meiden.“

„Und mich bücken und schwer heben darf ich auch nicht, stimmt’s?“

„Auf keinen Fall. Halten Sie sich auch unbedingt an die Anweisungen Ihrer Physiotherapeutin“, sagte Nate eindringlich. „Dieser Eingriff ist eine noch recht neue Methode, Mr. Bishop. Möglicherweise wandert der Spreizer oder muss irgendwann ersetzt werden. Das muss Ihnen klar sein.“

„Damit komme ich klar, solange nur die Schmerzen aufhören.“

Nachdem er seinem Patienten die wahrscheinlichsten Komplikationen und die möglichen Folgen der OP erläutert hatte, unterschrieb dieser die Einwilligungserklärung.

„Dann bis später“, verabschiedete sich Nate.

Als Erin ihm später bei der OP zusah, war sie wie gebannt. Nates Anweisungen an die OP-Mitarbeiter waren höflich, klar und präzise. Er erläuterte ihr jeden einzelnen Schritt des Eingriffs und beschrieb ganz genau, was dieser beim Patienten bewirkte.

Hier im OP ist er ein ganz anderer Mensch, dachte sie. Nicht der kühle, überkritische Fremde wie bei der Mitarbeiterbesprechung. Dieser Mann hatte geschickte Hände und kannte sich wirklich aus – und er behandelte alle anderen respektvoll. Nach der OP bedankte er sich beim gesamten Team.

Diesen Nate Townsend würde ich gerne näher kennenlernen, dachte Erin. Nun verstand sie auch, warum so viele ihrer Kolleginnen ihn zum attraktivsten Chirurgen des ganzen Krankenhauses erklärt hatten.

Von seinem Gesicht sah sie nur seine Augen: ein wunderschönes, sinnliches Dunkelblau. Die Kombination aus Intelligenz und geschickten Händen ließ sie sehnsüchtig erschauern.

Das war natürlich völlig unangemessen. Sie war schließlich hier, um die OP zu beobachten und nicht, um sich einem absurden erotischen Tagtraum hinzugeben.

„Danke, dass ich Ihnen beim Operieren zusehen durfte“, sagte sie später. „Das war sehr nützlich für mich. Nun kenne ich mich besser aus, wenn ich mit Patienten rede, die eine Spinalkanalstenose haben.“

„Gern geschehen. Und falls Sie später noch irgendetwas über diese Methode wissen möchten, dann fragen Sie mich bitte einfach.“

Er lächelte sie tatsächlich an, und Erin stockte der Atem. Wenn er so lächelte, nicht aus Höflichkeit, sondern aus einem echten Gefühl heraus, dann sah er einfach atemberaubend aus.

Und sehr wahrscheinlich hatte er eine Partnerin. Wahrscheinlich war sein Privatleben sehr kompliziert, und er blieb deshalb so auf Distanz zu allen. Und eigentlich ging sie das alles nicht das Geringste an.

„Dann bis morgen“, sagte sie ein wenig nervös.

„Bis morgen.“

Als Nate sich vergewissert hatte, dass Kevin Bishop und die anderen an diesem Tag operierten Patienten wieder auf der Station und keine Komplikationen aufgetreten waren, machte er seine Aufzeichnungen. Dann bereitete er sich innerlich auf die Fahrt zu seiner Mutter vor.

Sofort bekam er Schuldgefühle. Was war er bloß für ein Vater, wenn ihm davor graute, seine eigene Tochter abzuholen? Doch jetzt trug er die ständige Verantwortung für sie, anstatt sie wie früher als Teilzeit-Papa nur in den Ferien und gelegentlich am Wochenende zu sehen. Bevor Caitlin bei ihm eingezogen war, hatten sie nie so viel Zeit am Stück miteinander verbracht, dass ihnen die Gesprächsthemen hätten ausgehen können. Jetzt war es andersherum: Er konnte so viel Zeit mit ihr verbringen, wie er wollte – und hatte keine Ahnung, worüber er mit ihr reden sollte.

Wie schon erwartet, war Caitlin ohnehin nicht zum Plaudern aufgelegt.

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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