Der Zauber dieser Weihnacht

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Es könnte ihr letztes Weihnachten sein - und das will Emma nicht alleine feiern. Bei dem Witwer Adam McAllister und seinen Kindern findet sie Geborgenheit und Frieden. Sie genießt das Fest im Zeichen der Liebe. Und weiß doch, dass sie Adam bald für immer verlassen muss …


  • Erscheinungstag 02.12.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504829
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Was Emma Sinclair brauchte, war ein Zauberstab!

Ein Zauberstab, mit dem sie den Dezember einfach wegzaubern konnte.

Damit es endlich Januar wurde, und ein neues Jahr begann. Vielleicht sogar ein neues Leben.

Oder nicht?

Vielleicht sollte sie lieber die Zeit anhalten. Damit von nun an immer Anfang Dezember wäre und sie sich so gesund fühlte, als wären die letzten Monate nur ein schlimmer Traum gewesen.

In ihrer kleinen Wohnung in London war es ein wenig stickig geworden. Emma schob das Fenster einen Spalt weit auf, um frische Luft hereinzulassen. Kalte Luft. Der Himmel war dunkelgrau und wolkenverhangen. Aber aus den Wolken würden keine hübschen Schneeflocken herunterrieseln. Eher Hagelkörner. Oder sie würden frostigen Nebel bringen, der sich über die ganze Stadt legte.

Zu dieser Jahreszeit war London oft furchtbar grau.

Der Nachmittag war gerade angebrochen, aber schon jetzt brannten auf der Straße und in den Fenstern des Hauses gegenüber die Lichter. Allerdings waren es keine gewöhnlichen Lichter. Einige Leute hatten ihren Weihnachtsbaum bereits aufgestellt, und in den Schaufenstern der Geschäfte blinkten bunte Lichterketten.

Ein Weihnachtsmann stand auf der Straße und hielt den Passanten Flyer hin, auf denen vermutlich Weihnachtsprodukte angeboten wurden.

Etliche Menschen liefen umher, eingepackt in dicke Mäntel, Schals und Mützen. Regenschirme wurden aufgespannt, weil die Wolken nun doch beschlossen hatten, ihre Feuchtigkeit in Form von dicken Tropfen abzugeben. Mütter überprüften, ob die Kinderwagen auch abgedeckt waren und versuchten, kleine Kinder und Pakete so anzuordnen, dass alles und jeder trocken blieb.

So viele Leute.

Familien.

Warum nur fühlte man sich noch einsamer, wenn man von Menschen umgeben war?

Das Telefon riss Emma aus ihren trüben Gedanken.

„Sharon …“, rief sie in den Hörer. „Wie ist das Wetter im sonnigen Kalifornien?“

„Fantastisch. Es fühlt sich gar nicht wie Dezember an. Aber ich habe auch das Gefühl, als wäre meine Sommerhochzeit im guten alten England erst gestern gewesen. Ist es bei euch kalt und grau?“

„Natürlich.“ Sie musste nach dem Telefonat unbedingt daran denken, das Fenster zu schließen. Fröstelnd trat sie an den kleinen Gaskamin heran, der eine wohlige Wärme verbreitete.

„Was machst du so?“, wollte Sharon wissen.

„Im Moment? Ich stehe vor dem Kamin und schaue mir euer Hochzeitsfoto an. Du warst die schönste Barut der Welt und siehst auf dem Bild wahnsinnig glücklich aus.“

„Ach … ich hatte die beste Brautjungfer der Welt. Da ist es mir leicht gefallen.“

Emma lachte. „Es lag wohl eher daran, dass du die Liebe deines Lebens geheiratet hast. Wie geht’s Andy?“

„Super. Erst gestern haben wir von dir geredet, und er meinte, ich soll dich anrufen und über Weihnachten zu uns einladen.“

„Ohhh …“ In Emmas Stimme schwang eine Mischung aus Verzweiflung und Bedauern mit. „Daraus wird leider nichts. Ende Dezember ist die Kontrolluntersuchung fällig, die ich alle drei Monate machen muss. Sobald sie ein freies Bett haben, ruft mich das Krankenhaus an. Jack hat mir geraten, keine allzu weiten Reisen zu unternehmen.“

„Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich dir nicht beistehen kann. Du solltest die schreckliche Untersuchung nicht allein durchmachen müssen.“

„Ich schaffe das schon.“

„Ich wäre so gern für dich da. Damit ich dich hinterher nach Hause bringen kann und dafür sorge, dass du die Schmerzmittel nimmst.“

„Das weiß ich doch, Sharon. Aber ich schaffe es wirklich allein.“

„Du könntest den Termin auf Januar oder Februar verschieben. Ich bin mir sicher, unser wunderbarer Dr. Jack wird sich für dich einsetzen.“

Emma schloss die Augen und holte tief Luft. „Das Warten ist auch so schon schlimm genug. Ich glaube, noch länger würde ich die Spannung nicht aushalten.“

„Verstehe … Der Zeitpunkt ist natürlich denkbar ungünstig, aber je schneller du es hinter dir hast, umso besser. Du rufst mich doch an, sobald es was Neues gibt?“

„Klar. Du erfährst es als Erste.“

„Es werden ganz bestimmt gute Nachrichten sein, das weiß ich.“

Gut reicht aber nicht.“ Emma schluckte schwer. „Entweder es sind die Besten oder die Schlimmsten. Dazwischen gibt es nichts. Wenn die Behandlung nicht angeschlagen hat, dann war’s das. Dann können sie nichts mehr für mich tun, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis …“

Emmas Stimme zitterte. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie von ihrer schlimmsten Befürchtung gesprochen hatte. Vielleicht waren die anderen Fotos auf dem Kaminsims der Auslöser gewesen, dass sie für einen Moment Schwäche gezeigt hatte. Das Foto von ihrem Vater, den sie vor vielen Jahren verloren hatte. Und das von ihrer Mutter, die vor gut einem Jahr gestorben war.

„Du brauchst Ablenkung“, erklärte Sharon. „Wenn du den ganzen Tag allein zu Hause rumsitzt, fällt dir irgendwann die Decke auf den Kopf.“

„Du hast recht. Ich habe schon dran gedacht, mir einen Job zu suchen.“

„Wirklich? Geht es dir gesundheitlich denn so gut?“

„Ja. Und in dieser Jahreszeit gibt es ja jede Menge Aushilfsjobs. Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich mal eine Elfe gespielt habe?“

„Ja, du hast dem Weihnachtsmann beim Geschenkeverteilen geholfen.“ Sharon kicherte. „Irgendwo muss ich noch ein Foto von dir im Elfenkostüm haben. Andy zeige ich das lieber nicht, sonst denkt er am Ende noch, er hätte die Falsche geheiratet.“

„Ach, was …“ Emma grinste. „Ich könnte auch Straßenmusik machen.“ Ihr Blick wanderte zu einer Ecke des Zimmers. „Meine arme Gitarre setzt nämlich schon Staub an.“

„Auf der Straße ist es doch viel zu kalt. Als Elfe hättest du bestimmt mehr Spaß.“

„Stimmt …“ Auch im Zimmer wurde es allmählich kalt. Sie musste unbedingt das Fenster zumachen. „Weißt du was? Ich gehe gleich mal zum Kiosk an der Ecke und besorge ein paar Zeitungen. Vielleicht stoße ich auf eine interessante Stellenanzeige.“

„Gute Idee! Und halte mich auf dem Laufenden, ja?“

„Klar.“

„Du fehlst mir.“

„Du mir auch.“

Nach dem Auflegen hörte Emma nur noch das leise Knistern des Kaminfeuers und die Regentropfen, die gegen die Scheibe prasselten. Die Stille war unangenehm.

Fast schon bedrohlich.

Wenn sie noch länger in der Wohnung blieb, würde sie noch in Selbstmitleid zerfließen. Emma schloss das Fenster, streifte den Mantel über und wickelte sich einen Schal um. Sie nahm ihre Tasche und einen Schirm und öffnete die Haustür. Sie würde nicht zum Kiosk an der Ecke gehen, sondern sich auf den Weg zum Einkaufszentrum machen. Etwas Bewegung konnte ihrem Körper nicht schaden.

„Aua … Daddy, das tut weh.“

„Verzeihung, Spatz.“

Adam McAllister unterdrückte ein verzweifeltes Stöhnen. Die feinen blonden Haare seiner Tochter wollten nicht so, wie er es sich vorstellte. Wie konnte es sein, dass seine Hände geschickt genug waren, eine Wunde so zuzunähen, dass fast keine Narbe zurückblieb, aber völlig versagten, wenn er einem kleinen Mädchen Zöpfe flechten sollte?

„Wollen wir dir nicht lieber einen Pferdeschwanz machen?“

„Nein.“ Das energische Kopfschütteln sorgte dafür, dass sich der fast fertige Zopf in Nullkommanichts wieder auflöste. „Jeannie hat immer Zöpfe, und ich will genauso aussehen wie sie.“

„Dad? Wo ist mein Schuh?“

„Bestimmt da, wo du ihn hingestellt hast, Ollie.“ Adam griff noch einmal zur Bürste. Dabei fiel sein Blick auf die Armbanduhr. „Die Zeit reicht nur noch für einen Pferdeschwanz, Poppy. Sonst kommst du zu spät in die Schule, und ich kriege in der Praxis Ärger mit Eileen. Im Wartezimmer sitzen dann nämlich lauter wütende Leute, die wissen wollen, wo der Doktor steckt.“

Poppys Augen füllten sich mit Tränen.

Aus dem Wohnzimmer kam ein dumpfes Geräusch, dann fing ihr Zwillingsbruder Oliver an zu schreien. „Das war nicht meine Schuld. Es ist einfach so umgefallen, und jetzt ist es kaputt …“

Die Haustür fiel mit lautem Knall ins Schloss. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Die Straßen sind spiegelglatt, und der alte Jock hat die Straße mal wieder mit seinem Traktor versperrt, weil er jemandem helfen wollte, dessen Auto im Graben gelandet ist. Ich …“ Die ältere Frau sprach nicht weiter, sondern schaute auf das Chaos in der Küche.

„Ist sie schon weg?“

„Ja …“ Adam drückte seiner Mutter die Bürste dankbar in die Hand. „Die Pausenbrote sind fast fertig. Ich sehe lieber mal nach, was Ollie diesmal kaputtgemacht hat.“

„Nein, dieses Kindermädchen.“ Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Wie kann man nur Hals über Kopf davonlaufen.“

„Sie ist neunzehn. Verliebt. Als sie schwanger wurde, hat sie sich eben schnell entscheiden müssen.“

„Was ist schwanger?“ Poppys Tränen waren versiegt, und sie stand ganz still da, während ihre Großmutter ihr das Haar zu Zöpfen flocht.

„Es bedeutet, man bekommt ein Baby.“

„Tante Marion bekommt ein Baby.“

„Das stimmt. Und Kylie bekommt auch eins.“

„Aber Kylie muss doch auf uns aufpassen. Sie kommt doch wieder, oder?“

„Nein. Sie zieht nach Australien – ihr Freund kommt von dort.“

„Was ist Australien?“

„Das ist ein Land, das ganz weit weg liegt.“ Adam war bei der Wohnzimmertür angelangt und stellte fest, dass die Stehlampe umgefallen war und ein Foto vom Kaminsims mitgerissen hatte. Nicht weiter schlimm, also. Er konnte sich später darum kümmern, sobald er eine Minute Zeit hatte. Er ging in die Knie und hob einen einsamen Schuh auf.

„Ollie? Wo steckst du? Zeit für die Schule.“

Ein kleiner verwuschelter Kopf tauchte langsam hinter dem Sofa auf.

„Nun, komm schon und sag Granny guten Morgen. Sie muss dir noch die Haare kämmen.“

„Australien ist noch weiter weg als Kanada.“ Seine Mutter wickelte ein paar bunte Bänder um Poppys Zöpfe. „Dort wohnt Tante Marion.“

Sie schaute auf, als Adam mit Oliver im Schlepptau in die Küche trat. Im nächsten Moment fiel ihr Blick auf einen Stapel Schulbücher, der auf dem Küchentisch lag. Ein milchverschmierter Löffel, der vorher wohl in einer Müslischüssel gesteckt hatte, lag obenauf. Sie wandte den Kopf, schaute auf das schmutzige Geschirr, das sich neben der Spüle stapelte, und schnalzte mit der Zunge.

„Ich bring’s nicht fertig“, sagte Catherine McAllister. „Unter gar keinen Umständen fliege ich nach Kanada und lasse dich hier mit allem allein.“

„Aber Marion braucht dich. Das Baby kommt nächste Woche.“

„Sie wird es schon verstehen.“

„Wir reden hier von meiner Schwester.“ Adam lächelte schief. „Sie wird nie wieder ein Wort mit mir reden. Und sie wird sagen, du hättest mir schon seit Jahren geholfen, und ich gönne ihr deine Hilfe nicht mal für ein paar Wochen. Es ist nicht ihre Schuld, dass mein Kindermädchen nach Australien durchgebrannt ist.“

Catherine schaute zur Küchenuhr. „Du musst los, oder Eileen Stewart wird dich umbringen. Ich bringe die kleinen Mäuse schon in die Schule.“

„Danke, Mum.“ Adam streifte den Mantel über, der es gestern Abend nicht mehr vom Küchenstuhl an die Garderobe geschafft hatte. „Und denk nicht mal daran, die Reise abzusagen. Ich habe in allen Zeitungen inseriert, dass ich ein Kindermädchen suche. Ich finde schon jemand für die Zeit, in der du weg bist. Danach können wir uns Gedanken machen, wo wir langfristig jemand Zuverlässigen herbekommen.“

„Warten wir’s ab.“ Catherine klang alles andere als überzeugt. „Ich fliege erst am Dienstag. Und wenn du bis dahin niemand gefunden hast, bleibe ich hier. Fertig, aus.“

Der Zug aus London traf pünktlich in Edinburgh ein. Der Anschlusszug, den Emma nehmen musste, um ins schottische Niemandsland zu gelangen, war weniger zuverlässig. Der eisige Wind, der in den Wartesaal drang, kroch ihr in die Knochen. Emma kauerte sich zwischen ihren Rucksack und den Gitarrenkoffer.

War die Idee vielleicht doch zu verrückt?

Aber dieser Dr. McAllister hatte gestern am Telefon so begeistert geklungen. Er hatte ihr versprochen, die Reisekosten zu übernehmen, wenn sie zum Vorstellungsgespräch käme, und hatte ihr gesagt, sie sei bestimmt die Richtige für den Job und solle doch gleich mitbringen, was sie für ein paar Wochen in Schottland brauche. Dann könne sie gleich dableiben und müsse nicht erst wieder nach London zurück.

Und tatsächlich klang alles perfekt. Emma konnte das hübsche schottische Dorf schon fast vor sich sehen. Die alten Häuser waren von einer pudrigen Schneeschicht bedeckt, dazu ertönten Weihnachtslieder, die von rotbäckigen Dorfkindern gesungen wurden. Gab es einen besseren Ort, um die schreckliche Wartezeit zu verbringen? Außerdem würde man ihr nicht die Verantwortung für einen Säugling übertragen. Sie sollte sich um sechsjährige Zwillinge kümmern – das konnte doch nicht so schwer sein, oder?

Ein schriller Pfiff und quietschende Bremsen kündigten die Ankunft des Zugs an. Emma langte mit der einen Hand nach den Trageriemen ihres Rucksacks, mit der anderen nach dem Griff ihres Gitarrenkoffers. Im nächsten Moment stellte sie den Koffer wieder ab und fischte in ihrer Manteltasche nach dem Zettel, auf dem sie die Wegbeschreibung notiert hatte.

Um vier Uhr nachmittags sollte sie in der Arztpraxis von Braeburn sein. Offenbar waren es vom Bahnhof aus nur ein paar Minuten zu Fuß. Sie musste den kleinen Platz am Ende der Einkaufsstraße überqueren und dann in eine schmale Straße einbiegen. Eigentlich konnte sie die Praxis nicht verfehlen, aber falls sie doch irgendwann vor dem Gemeindehaus stand, musste sie wieder umkehren. Sie würde nicht nur den sympathischen Arzt kennenlernen, sondern auch die beiden Kinder und die Großmutter.

Emma nahm ihren ganzen Mut zusammen, stieg in den Zug und verstaute Rucksack und Gitarrenkoffer in einem gespenstisch leeren Abteil. Offenbar zählte Braeburn nicht zu den beliebtesten Reisezielen. Aber immerhin wurde Emma durch keine lautstarke Unterhaltung gestört und konnte in Gedanken schon einmal durchspielen, was sie in Braeburn erwarten würde.

Dass die Großmutter bei dem Vorstellungsgespräch dabei sein sollte, bereitete ihr ein wenig Unbehagen. In Gedanken sah sie eine grimmige, ältere Schottin vor sich. Klein und drahtig, mit einem Haarnetz, das die grauen Locken bändigte. Dazu ein missbilligender Blick, dem nicht der kleinste Fehler einer Bewerberin entgehen würde.

Diese Frau musste Emma überzeugen.

Sie ließ den Hinterkopf auf die verblichene Kopfstütze sinken und schaute aus dem Fenster. Hügel und Wiesen zogen vorbei. Gelegentlich überquerte der Zug einen kleinen Fluss. Ein hübscher Flecken Erde. Und weit, weit weg von London und dem sechsgeschossigen Krankenhaus und der Angst vor dem, was sie im neuen Jahr erwartete.

Sie musste diesen Job unbedingt bekommen, sonst würde sie wieder ins einsame London zurückkehren müssen. Sie brauchte eine Atempause von der Angst. Wäre es nicht schön, im Kreis einer Familie Weihnachten zu feiern?

Sie strich sich übers Haar. Die wilden Locken waren einigermaßen gebändigt. Und wie froh sie sein konnte, dass ihr Haar nach der Chemotherapie so üppig nachgewachsen war. Dennoch hätte sie sich vor der Reise eigentlich etwas zum Anziehen kaufen müssen. Die Jeans und der Wollpullover schlotterten um ihren Körper, weil sie in den letzten Monaten so viel abgenommen hatte. In diesem Aufzug würde sie keinen besonders guten Eindruck machen, aber ging es nicht in erster Linie um ihre Persönlichkeit?

Dieser Dr. McAllister mit der tiefen Stimme und dem starken schottischen Akzent hatte richtig sympathisch geklungen. Vielleicht war er ein bisschen kurz angebunden gewesen. Je länger sie an das Telefongespräch dachte, desto mehr hatte sie das Gefühl, er hätte angespannt geklungen.

Fast schon … verzweifelt?

Vielleicht waren die Kinder kleine Monster, die ihre Kindermädchen zum Frühstück verspeisten, und die Oma würde den ganzen Tag in einer Ecke sitzen und jeden ihrer Schritte kritisieren. Vielleicht würde der Arzt auch nur einen Blick auf Emma werfen und sie fragen, was sie sich einbildete – ob sie wirklich meinte, sich um seine geliebten Kinder kümmern zu dürfen, wo sie doch offensichtlich schwer krank war?

Nein. Emma riss sich selbst aus ihren Gedanken.

Das Schicksal hatte sie hergeführt. Es war die erste Anzeige gewesen, die ihr in der Zeitung aufgefallen war, und nachdem sie die Nummer gewählt hatte, war der Arzt nach dem ersten Klingeln rangegangen. Und am Fahrkartenschalter hatte es noch nicht mal eine Schlange gegeben. Nein, das konnte alles kein Zufall sein.

Sie musste nur zuversichtlich bleiben und durfte die Hoffnung nicht verlieren.

Das Dorf war so hübsch, wie Emma es sich vorgestellt hatte, mit alten, windschiefen Häusern und Straßen mit Kopfsteinpflaster. Allerdings nahm Emma das nur flüchtig wahr, denn der Zug hatte Verspätung, und sie musste sich beeilen. Dass es hier etwas früher dunkler wurde und auch einige Grade kälter war als in London, störte sie nicht, denn die weihnachtlich geschmückten Schaufenster der Geschäfte waren hell erleuchtet und sorgten für eine heimelige Atmosphäre.

Als sie an einem Gasthof vorbeikam, lächelte Emma in sich hinein. An der Tür prangte ein handgeschriebenes Schild, das verkündete: „Drinnen ist für alle Platz.“ Vielleicht war der Wirt einer der Männer, die gerade auf dem Marktplatz damit beschäftigt waren, einen gigantisch großen Weihnachtsbaum hochzuziehen. Einer von ihnen rief mit breitestem schottischem Akzent Anweisungen, die Emma fast nicht verstand.

Ihr Mut sank, als sie die Arztpraxis betrat und von einer Frau, die so aussah, wie sie sich die Großmutter vorgestellt hatte, streng gemustert wurde.

„Haben Sie einen Termin? Der Doktor hat keine Zeit, außer es handelt sich um einen Notfall. Unsere Sprechstunde ist nämlich vorbei.“

Die Großmutter hatte den letzten Satz noch nicht beendet, da glitt die Tür hinter Emma auf und eine zweite Frau trat ein.

„Ist gut, Eileen. Wir haben schon auf Emma gewartet.“

Emma wirbelte herum und sah eine elegant gekleidete, ältere Frau, die ihr ein warmes Lächeln schenkte. „Ich nehme an, Sie sind Emma?“

„Äh … ja. Und Sie sind …?“

„Catherine McAllister. Adams Mutter.“ Sie blickte an Emma vorbei. „Ist Adam im Sprechzimmer, Eileen?“

„Ja. Und die Kleinen auch.“ Sie ließ ein verächtliches Schnauben hören. „Ich hab dem Doktor gesagt, es ist keine gute Idee, die Kinder herzubringen. Sie werden noch was kaputtmachen oder …“

„Warum machen Sie nicht mal früher Feierabend, Eileen?“ Catherine lächelte. „Sie haben in der Weihnachtszeit doch bestimmt viel um die Ohren. Ist heute Nachmittag nicht Chorprobe?“

„Nun, wie Sie meinen, Mrs. McAllister.“

„Ich finde es nur schade, dass ich in diesem Jahr die schönen alten Weihnachtslieder nicht hören werde.“

„Sie fliegen morgen, oder?“

„Mhm, das hoffe ich wenigstens.“ Catherine blickte zu Emma. „Adams Schwester bekommt ihr erstes Kind. In Kanada.“

„Oh … wie aufregend.“ Emma sah die Gefühle, die sich im Gesicht der anderen Frau abzeichneten. „Da wird sie sich aber freuen, dass Sie bei ihr sind. Ich … ich habe meine Mum letztes Jahr verloren und vermisse sie sehr. Aber in einem solchen Moment würde sie mir bestimmt noch viel mehr fehlen.“

Wenn sie ein Baby bekam? Falls sie überhaupt jemals eins bekam, wäre wohl treffender. Aber sie hatte schon viel zu viel über sich verraten. Das sagte ihr der prüfende Blick, den ihr die andere Frau zuwarf. Emma biss sich auf die Lippe, aber Catherine lächelte. Ihre Augen waren voller Mitgefühl, und sie legte eine Hand tröstend auf Emmas Arm.

„Kommen Sie. Wir wollen doch mal sehen, wo mein Sohn steckt.“

Ob sie ihr Gepäck wohl im Wartezimmer lassen konnte? Emma blickte kurz zu Eileen, die missbilligend die Nase rümpfte. Schnell nahm Emma ihren Rucksack und den Gitarrenkoffer und folgte Catherine durch eine Tür. Leider verfing sich der Koffer in der Tür, sodass Emma stolperte und beinahe ins Sprechzimmer gefallen wäre.

Der Mann, der halb auf der Schreibtischkante saß, drehte abrupt den Kopf in ihre Richtung. Die beiden Kinder, die auf dem Fußboden hockten und mit einem Stethoskop und Verbandszeug spielten, blickten hoch und erstarrten.

Unangenehme Stille setzte ein, und Emma spürte, dass sie dunkelrot anlief. Warum hatte sie das sperrige Gepäckstück bloß mitgenommen? Glaubte sie etwa, sie könnte auf dem Marktplatz von Braeburn Straßenmusik machen, falls es mit dem Job als Kindermädchen nicht klappte?

Was ihr Unbehagen noch verschlimmerte, war die Tatsache, dass der Arzt ganz anders aussah, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Adam McAllister war nicht etwa ein väterlicher Landarzt mit leichtem Bauchansatz, sondern ein großer, durchtrainierter Mann. Mehr als durchtrainiert. Mit dem tiefschwarzen Haar, dem olivefarbenen Teint und den scharf geschnittenen Gesichtszügen war er wohl der bestaussehende Mann, dem Emma jemals begegnet war.

Abgesehen davon, dass er die Stirn runzelte. Adam McAllister wirkte unnachgiebig. Grimmig. Vielleicht sogar wütend?

Auf sie?

„Es tut mir leid, dass ich zu spät bin“, stieß sie hervor. „Aber der Zug …“ Hilfe. Er sah sie an, als wüsste er über sie genau Bescheid. Hatte er sich etwa ihre Krankenakte schicken lassen?

„Der Zug hat immer Verspätung.“ Catherine bot ihr einen Stuhl an und schaute lächelnd zu den beiden Kindern. „Was ist denn da passiert? Hat sich Poppy schon wieder das Bein gebrochen, Ollie?“

„Ja. Und ich mache sie gesund.“ Aber jemand anderes fesselte jetzt die Aufmerksamkeit des kleinen Jungen. „Wer bist du?“, fragte er Emma. „Und was ist das?“

„Ich bin Emma. Und das ist mein Gitarrenkoffer.“

„Kann ich den anschauen?“

„Später, vielleicht“, erwiderte Adam McAllister vage. „Granny geht jetzt gleich mit euch zum Marktplatz. Da wird der Weihnachtsbaum aufgestellt. Danach geht’s ab nach Hause.“

„Aber erst wollen wir uns ordentlich vorstellen“, sagte Catherine bestimmt. „Emma – das sind Oliver und Poppy. Ollie und Poppy – das ist Emma … Sinclair?“

Miss Sinclair“, verbesserte Adam sie.

„Meinetwegen gerne Emma“, erklärte Emma. „Hallo Poppy, hallo Ollie. Ihr seid Zwillinge, stimmt’s?“

Die beiden Kinder starrten sie an. Sie hatten braune Augen wie ihr Vater, aber die Haarfarbe war wesentlich heller. Poppys langen Zöpfe waren goldblond. Und sie hielt etwas in der Hand.

„Ist das Barbie?“

Poppy nickte. „Sie hat ein Pony“, erklärte sie. „Zu Hause.“

„Da hat sie aber Glück. Ich liebe Ponys.“

„Ich hab auch ein Pony.“

„Jemima ist kein Pony“, sagte Oliver. „Sie ist ein Esel.“

Emma blinzelte. Catherine lachte. „Adam hat am Telefon vermutlich nicht viel erzählt“, sagte sie. „Aber es gibt ein paar Haustiere. Mögen Sie Tiere?“

„Ja. Ich hab sogar mal in einem Zoogeschäft gearbeitet. Dort gab es jede Menge Welpen und Kätzchen. Aber auch Mäuse und Ratten.“

Poppy riss die Augen auf. „Ich liebe Welpen. Und Kätzchen.“

„Ich liebe Ratten“, sagte Oliver. „Daddy, darf ich eine Ratte haben?“

„Wir haben auf dem Hof bestimmt schon eine.“

„Aber ich will eine für drinnen“

„Nein.“ Das Wort klang wie ein Stoßseufzer. „Du bekommst keine Ratte, Ollie.“

„Aber warum nicht?“ Ollie ließ eine Rolle Verband über den Boden kullern und sprang auf. „Du hast gesagt, ich darf mir was zu Weihnachten wünschen. Und ich will eine Ratte.“

„Die riechen gar nicht gut“, sagte Emma betroffen, weil der Streit ihre Schuld gewesen war. „Und sie haben lange Schwänze, die sind kahl und rosa und … total eklig.“

„Total eklig?“ Adam runzelte die Stirn.

„Eklig“, wiederholte Poppy und kicherte. „Eklig, eklig, eklig.“

Du bist eklig“, sagte Ollie zu ihr.

„Nein, du.“

„So, wir gehen jetzt“, entschied Catherine. „Ihr habt Emma kennengelernt, und sie euch. Jetzt unterhält sie sich noch ein bisschen mit Daddy allein.“

Sie drückte Emma kurz die Hand, bevor sie den Zwillingen in die Jacken, Mützen und Schals half.

„Ich hoffe, wir sehen uns später wieder“, sagte sie leise. „Ich würde Sie gern näher kennenlernen.“

Auch zu ihrem Sohn sagte sie noch einen leisen Satz, den Emma nicht verstehen konnte. Aber als sie auf den Stuhl sank, während Catherine die Kinder zur Tür hinausschob, sah sie den finsteren Ausdruck in Adams Gesicht.

Gelassenheit. Das war es, was Adam McAllister jetzt brauchte.

Diese Frau war die einzige, die sich auf die Anzeige gemeldet hatte. Er brauchte ab sofort ein Kindermädchen, damit seine Mutter nach Kanada fliegen konnte, aber … Er schloss die Augen und atmete tief durch. Aber diese Frau war nicht die Richtige.

Mit ihrem Rucksack und der Gitarre sah sie aus wie ein Hippie aus den 60er-Jahren. Sie war so blass, dass er jede Sommersprosse auf ihrer Nase einzeln zählen konnte. Dazu war sie furchtbar dünn, wodurch sie jünger wirkte, als sie vermutlich war. Und wieso trug sie diese viel zu weiten Klamotten? Er musste unweigerlich an Poppy denken, wie sie Verkleiden spielte und in den Schuhen ihrer Groß mutter durchs Haus lief, mit einem riesigen Kleid angetan, das sie hinter sich herschleppte.

Diese Frau war eindeutig nicht die Richtige. Er musste sich zusammenreißen, um sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Schließlich musste er wenigstens so tun, als würde er ein richtiges Bewerbungsgespräch mit ihr führen – und sei es nur, um genügend Einwände gegen sie zu sammeln, damit er sich in dem Streit, den er später unweigerlich mit seiner Mutter führen würde, zur Wehr setzen konnte. Seine Mutter hatte bereits eine Entscheidung gefällt und sie ihm soeben zugeflüstert.

Sie ist reizend. Gib ihr den Job, Adam.

Wie hatte diese Frau es nur geschafft, Catherine in so kurzer Zeit für sich zu gewinnen?

„Nun …“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Sie mögen also Tiere?“

Autor

Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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