Die Herz-Trilogie (3in1)

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MEIN WILDES HERZ
Leif Draugr ist die Zirkusattraktion in London. Wie eine wilde Bestie wird er im Käfig vorgeführt. Die junge Krista ist schockiert! Wie kann man einem Menschen so etwas antun! Aber sie verspürt auch eine animalische Anziehung beim Anblick von Leifs muskulösem, halbnacktem Körper. Spontan kauft sie ihn frei und bittet ihren Vater, ihn aufzunehmen. Während Leif sich nach und nach in einen "ordentlichen" Gentleman verwandelt, entflammt ihr Herz immer mehr für ihn. Doch dann will Leif zurück in seine ferne Heimat - mit Krista!


MEIN FEURIGES HERZ
Coralee stürzt in einen gefährlichen Strudel der Leidenschaft, als sie Grayson Forsythe, Earl of Tremaine, kennenlernt. Denn der verführerische Frauenheld ist ihr Hauptverdächtiger auf der Suche nach dem Mörder ihrer Schwester. Um ihn heimlich auszuspionieren, schleust Coralee sich als angebliche Verwandte auf seinem herrschaftlichen Landsitz ein. Dabei kommt sie ihm so nah, dass sie ohne es zu wollen bald selbst seinem sinnlichen Charme erliegt. Und statt ihre Ermittlungen weiterzuverfolgen, ersehnt sie plötzlich nur noch eins: Er soll sie so feurig küssen, wie seine herausfordernd heißen Blicke es versprechen …


MEIN MUTIGES HERZ
Eine junge Dame, allein in Opiumhöhlen und Bordellen? Couragiert ist die Reporterin Lindsey zu allem bereit! Sie muss den wahren Mörder von Covent Garden finden, um den entsetzlichen Verdacht von ihrem Bruder abzuwenden. Doch Thor Draugr, Schwager ihrer Verlegerin, sieht das anders: Als Ehrenmann kommt es für ihn nicht in Frage, dass Lindsey sich in Gefahr begibt. Auch wenn sie sein sonst so kühles nordisches Blut zum Sieden bringt - keinen Tag weicht er von ihrer Seite! Und auch keine Nacht, wenn Lindsey voller Verlangen seine Männlichkeit herausfordert ... Aber wo ist ihr norwegischer Geliebter, als Lindsey unvermittelt dem Mörder gegenübersteht?
  • Erscheinungstag 20.04.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783749950355
  • Seitenanzahl 960
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Kat Martin

Die Herz-Trilogie (3in1)

1. KAPITEL

England, 1842

Leif zitterte unter der dünnen Decke, die alles war, womit er seinen fast nackten Körper gegen die Kälte schützen konnte. Der Frühling ließ auf sich warten, und die Landstraßen waren aufgeweicht vom Schneematsch oder teilweise noch gefroren. Ab und zu tauchte eine fahle Sonne hinter den Wolken auf. Dann erhellten kurz ein paar Sonnenstrahlen die Straße.

Ein scharfer Wind zerrte an der Decke, und Leif zog sie enger um sich. Er wusste nicht, wo er sich befand, sondern erinnerte sich nur, dass er auf holprigen, von niedrigen Steinmauern eingefassten Wegen durch eine endlose Landschaft gezogen war, in der manchmal Dörfer auftauchten. Seit mehr als vier Monden war er jetzt schon in diesem Land, und langsam verlor er jedes Zeitgefühl. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sein kleines Schiff irgendwo nördlich von hier an einer felsigen Küste zerschellt war und seine neun Kameraden mit sich ins nasse Grab genommen hatte. Er allein war mit gebrochenen Knochen zurückgeblieben.

Ein Schäfer hatte ihn in der eisigen Brandung gefunden, mit nach Hause genommen und während des brennenden Fiebers gepflegt. Leif war mehr tot als lebendig gewesen, als Händler gekommen waren, den Schäfer mit Silbermünzen bezahlt und Leif mit sich geschleppt hatten.

Sie wollten ihn, weil er so anders aussah, anders als alle Männer in diesem fremden Land. Er konnte ihre Sprache nicht sprechen und auch kein Wort von dem verstehen, was sie sagten. Das schien sie jedoch zu amüsieren und seinen Wert sogar noch zu steigern. Er war mindestens fünf Zoll größer als die meisten Männer, und sein Körper war viel muskulöser. Und wenn einige auch blond waren wie er, so trugen nur wenige Bärte und keiner einen so langen und zottigen Bart wie Leif. Außerdem waren ihre Haare kurz geschnitten, während seine ihm bis über die Schultern fielen.

Als man ihn in einen Wagen gehievt und ihn von der Schäferhütte weggebracht hatte, war Leif zu schwach gewesen, um sich zu wehren. Doch nachdem seine Kräfte langsam zurückgekehrt waren, fürchteten ihn die Leute, die ihn mitgenommen hatten, und fesselten ihn an Armen und Beinen mit schweren Eisenbändern. Er war in einen Käfig gesteckt worden, in dem kaum genug Platz war für einen Mann seiner Größe. Dort musste er sich auf den mit Stroh bedeckten Boden kauern wie ein Tier.

Leif galt als eine Abnormität, die man vor den Bewohnern der Gegend zur Schau stellte. Was für eine grausame Art der Unterhaltung. Er wusste, dass man bezahlte, um ihn sehen zu dürfen. Der fette Mann mit der Narbe auf der Stirn, der ihm immer das Essen brachte, sammelte Geld ein bei den Leuten, die sich um seinen Käfig scharten. Dieser Mann – sie nannten ihn Snively – schlug und provozierte Leif, um ihn in Raserei zu versetzen. Denn das schien der Menge, die bezahlt hatte, um ihn sehen zu dürfen, zu gefallen.

Leif hasste den Mann. Er hasste sie alle.

Dort, wo er zuvor gelebt hatte, war er ein freier Mensch gewesen, ein Mann, der unter seinen Landsleuten einen hohen Rang innehatte. Sein Vater hatte ihn gebeten, die sichere Heimat nicht zu verlassen, aber das Verlangen, die Welt jenseits seiner Insel kennenzulernen, ließ Leif keine Ruhe.

Seitdem hatte er allerdings nur wenig von der Welt außerhalb seines Käfigs gesehen. Der Hass und die Wut nagten an ihm wie ein wildes Tier. Täglich flehte er die Götter um eine Gelegenheit zur Flucht an, um die Kraft, auszuharren, bis seine Zeit kommen würde. Es war alles, was ihn noch am Leben hielt.

Doch als die Tage vergingen und sich keine Gelegenheit zur Flucht ergab, wuchs die Verzweiflung in ihm. Ihm war, als verwandle er sich langsam in das Tier, zu dem sie ihn machen wollten. Nur im Tod würde er noch Frieden finden.

Trotzdem kämpfte Leif gegen die dunkle Verzweiflung an und klammerte sich an die schwache Hoffnung, eines Tages wieder frei zu sein.

2. KAPITEL

London, 1842

Mädchen, ich sage dir, es ist an der Zeit, dass du deine Pflicht tust!“ Heftig schlug der Earl of Hampton mit der knotigen Hand, auf der die Adern dick hervortraten, auf den Tisch.

Der dumpfe Knall ließ Krista Hart auffahren. „Meine Pflicht? Es ist wohl kaum meine Pflicht, einen Mann zu heiraten, den ich nicht ausstehen kann!“ Sie befanden sich auf einem Ball im Stadtpalais des Duke of Mansfield. Durch die Wände der Bibliothek konnte man das achtköpfige Orchester hören, das oben in dem verschwenderisch mit Spiegeln ausgestatteten Ballsaal spielte.

„Was stimmt denn nicht mit Lord Albert?“ Ihr Großvater – ein leicht gebeugter, großer, silberhaariger Mann – sah sie mit seinen hellen blauen Augen an. „Er ist jung und sieht nicht schlecht aus und ist der zweite Sohn des Marquess of Lindorf, Mitglied einer der bekanntesten Familien Englands.“

„Lord Albert ist nichts anderes als ein Speichellecker. Der Mann ist eitel, zimperlich und überaus selbstgefällig. Er ist eingebildet, nicht sehr intelligent, und ich habe nicht das geringste Interesse daran, ihn zu heiraten.“

Das faltige Gesicht ihres Großvaters lief rot an. „Gibt es eigentlich in ganz London einen Mann, der dir gefällt, Krista? Du bist verpflichtet, mir einen Enkel zu schenken – und allmählich läuft dir die Zeit davon!“

„Ich kenne meine Pflicht, Großvater. Man hat sie mir gegenüber ja oft genug erwähnt.“ Durch eine besondere Verfügung des letzten Königs konnte der Titel der Hamptons, wenn kein männlicher Erbe vorhanden war, auch durch ein weibliches Familienmitglied auf den ersten männlichen Nachkommen übertragen werden. „Ich bin einer Heirat nicht abgeneigt, es ist nur …“

„Dass du zu sehr mit deiner verflixten Zeitung beschäftigt bist. Dein Vater tolerierte den törichten Wunsch deiner Mutter, wie eine Bürgerliche zu arbeiten. Und dir gegenüber zeigt er jetzt die gleiche Nachsicht. Mein Gott, keine anständige Frau unseres Standes hat einen Beruf oder macht sich mit den unteren Ständen gemein, wie du es tust, indem du dein lächerliches Blatt herausgibst.“

Heart to Heart ist kein lächerliches Blatt. Unsere Artikel sind nicht nur informativ, sie haben auch eine erzieherische Wirkung, sind offen und ehrlich, wie der Name schon sagt, und ich bin äußerst stolz auf die Arbeit, die wir leisten.“

Ihr Großvater schnaubte verächtlich. „Lassen wir einmal deine dumme Zeitung beiseite. Du bist meine einzige Enkelin. Es ist an der Zeit, dass du an deine Zukunft denkst und mir endlich den Erben schenkst, den ich brauche.“

Als Krista zu ihm ging, raschelten die Unterröcke unter ihrem pflaumenfarbenen Kleid. Diese Unterhaltung hatte schon so oft stattgefunden und immer mit dem gleichen Ergebnis geendet. Aber Krista liebte ihren Großvater und wollte ihm nicht missfallen.

Sie küsste ihn auf die Wange. „Ich wünsche mir das fast so sehr wie Sie, Großvater. Doch ich weigere mich, einen Mann wie Lord Albert zu heiraten. Ich glaube, ich werde noch rechtzeitig den richtigen Mann treffen.“

Vielleicht hatte sie ihn schon getroffen. Letzte Woche hatte sie einen Freund ihres Vaters namens Matthew Carlton kennengelernt. Matthew war außerordentlicher Professor, zweiter Sohn des Earl of Lisemore und genau die Art von Mann, wie ihn sich ihre Familie als Gatten für Krista wünschte. Matthew schien zudem an einer Fortführung ihrer Bekanntschaft interessiert zu sein.

Trotzdem wagte Krista es nicht, ihrem Großvater von ihm zu erzählen. Vielleicht würde er sie und auch Matthew dann unter Druck setzen.

Der Earl sah ihr in die Augen. „Ich will ja nicht, dass du unglücklich wirst. Das weißt du doch, nicht wahr?“

„Natürlich. Mit der Zeit wird sich sicher alles richten.“ Zumindest hoffte sie es. Aber sie war anders als die Frauen ihres Standes: größer, als es dem Schönheitsideal entsprach, kräftiger – und unabhängiger. Die Verehrer standen nicht Schlange, und ihr Großvater wusste das.

„Zeit“, schimpfte er, „ist etwas, das ein alter Mann wie ich nicht mehr hat.“

Sie ergriff seine schmale Hand. „Das stimmt nicht. Sie sind immer noch sehr rüstig.“ Doch als sie ihn jetzt betrachtete, sah sie, dass er zweifellos gealtert war. Wenn sie nicht bald heiratete, konnte der Titel, wie der Earl es befürchtete, auf irgendeinen entfernten Cousin übergehen.

Der alte Mann seufzte. „Du strapazierst meine Geduld, Mädchen“, grollte er.

„Es tut mir leid, Großvater. Ich werde mein Bestes tun.“

Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und schritt durch die Tür in Richtung des fröhlichen Lärms, der aus dem Ballsaal drang. Aber sie war nicht länger in der Stimmung zu tanzen und so zu tun, als würde sie sich gut unterhalten.

Während sie auf der Suche nach ihrem Vater und ihrer besten Freundin Coralee Whitmore durch das Haus ging, dachte sie über Matthew Carlton und die Möglichkeiten nach, die er ihr bot.

Leif lehnte sich an die Stäbe seines Käfigs. Aus der Entfernung drangen die seltsamen, gefühlvollen Töne der Musikmaschine zu ihm herüber, die immer dann spielte, wenn die fahrende Truppe in einem Dorf einzog. Die Sonne war herausgekommen, doch sie wärmte ihn nur wenig, da man seinen Käfig an einem schattigen Platz abgestellt hatte. Ein eisiger Wind fuhr darüber und verursachte ihm eine Gänsehaut. Das einzige Kleidungsstück, das er am Leib trug, war ein getüpfeltes Fell, gerade groß genug, um seine Scham zu bedecken.

Gedankenverloren zupfte er einen Strohhalm aus dem feuchten Mist, der den Käfigboden bedeckte. Er hatte die Welt jenseits seiner Heimat sehen wollen. Und er hatte seltsame Dinge in diesem fremden Land entdeckt: Tiere, die keinem Tier ähnlich sahen, das ihm je zu Augen gekommen war; Häuser, die größer waren als sein ganzes Heimatdorf. Es gab Menschen verschiedener Hautfarben, Menschen verschiedenster Gestalten und Größen. Hätte man ihn nicht in diesen Käfig gesperrt, er wäre von all den Sehenswürdigkeiten und all den Orten dieser neuen, fremden Welt fasziniert gewesen. Doch so blieb er ein Gefangener, eingesperrt und gehalten wie ein Tier.

Seit er verkauft worden war, war er verlacht und verhöhnt, mit Steinen beworfen und geschlagen worden. Die Leute glaubten, er wäre verrückt, und an manchen Tagen glaubte er es selbst. Schlimmer noch waren aber diejenigen, die Mitleid mit ihm hatten. Er hatte Frauen gesehen, die wegen der Gräuel, die man ihm antat, in Tränen ausgebrochen waren. Leif jedoch wollte ihr Mitleid nicht. Aber vielleicht waren nicht alle Menschen in diesem Land wie jene, die ihm seine Freiheit gestohlen hatten. Vielleicht würde er eines Tages jemanden finden, der bereit war, ihm zu helfen. Wenn er sich den Leuten doch nur verständlich machen könnte.

Wie jeden Tag sprach er ein stilles Gebet zu den Göttern und bat sie, ihm beizustehen.

Vielleicht würden sie ihm ja eines Tages helfen. Vielleicht schon heute.

Er klammerte sich an diesen Gedanken, während die Menge sich langsam um seinen Käfig versammelte.

Der Himmel war klar in dieser Nacht, und der Vollmond erhellte Londons Straßen. An die Samtpolster der Kutsche gelehnt, lauschte Krista dem Klappern der eisenbeschlagenen Pferdehufe und war dankbar, dass der Abend endlich zu Ende ging.

„Lieber Gott, wie ich diese Gesellschaften hasse.“ Seit dem Streit mit ihrem Großvater in der Bibliothek des Duke of Mansfield war Krista pflichtbewusst auf jeder Soiree und jeder Party erschienen, zu der man sie einlud. Im Augenblick kehrte sie von einer musikalischen Soiree bei der Marquess of Camden zurück.

Sie musste an Matthew Carlton denken. Ihre Bemühungen schienen Erfolg zu haben.

Ein verträumter Seufzer erscholl in der Kutsche. „Ich finde, diese Party war wundervoll.“ Auf dem Platz neben Krista kuschelte sich Coralee Whitmore in die tiefen Samtpolster, ihre beste Freundin seit der gemeinsamen Zeit auf der Briarhill Academy. „Wenn wir morgen nicht so viel zu tun hätten, dann hätte ich bis zum Morgengrauen durchgetanzt.“

Im Gegensatz zu Krista, die sehr groß und blond war, war Coralee zierlich, mit Haaren von der Farbe dunklen Kupfers, grünen Augen und einem schmalen, feinen Gesicht. Sie liebte Bälle und Gesellschaften und schien ihrer nie müde zu werden. Doch die Wochenzeitung, die Krista und ihr Vater herausgaben, kam für die beiden jungen Frauen an erster Stelle, auch wenn es bedeutete, dass sie einen der beliebtesten Bälle bereits kurz nach Mitternacht verlassen mussten.

Obwohl es viel länger zurückzuliegen schien, hatte Kristas Mutter doch erst vor sechs Jahren die Zeitung gegründet, gegen den Willen ihrer Familie und gegen die ungeschriebenen Gesetze, welche den Platz einer Frau in der Gesellschaft bestimmten. Drei Jahre später war sie krank geworden und gestorben. Ihr langes, qualvolles Siechtum hatte Krista erschüttert und traurig zurückgelassen. Ihr Vater hatte unter dem Verlust noch mehr gelitten.

Genau an dem Tag, an dem sie auf dem Friedhof neben ihrem leise weinenden Vater am Grab ihrer Mutter stand, war Krista achtzehn Jahre alt geworden. Und da sie wusste, wie wichtig ihrer Mutter die Gazette gewesen war, hatte sie beschlossen, die Zeitung weiterzuführen. Bald merkte sie, dass die Arbeit ihr half, den Schmerz zu überwinden, und sie war entschlossen, Heart to Heart zum Erfolg zu führen.

Vom Sitz gegenüber war ein Geräusch zu hören, und Krista musste beim leisen Schnarchen ihres Vaters lächeln. Sir Paxton Hart war emeritierter Professor für Geschichte und von der Königin für seine Verdienste um die Entschlüsselung alter Sprachen zum Ritter geschlagen worden. Sein Spezialgebiet war die alte nordische Sprache der frühen skandinavischen Siedler, wobei sein besonderes Interesse den Überlieferungen der Wikinger galt. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sich völlig in seine Arbeit vergraben.

„Da siehst du, wie sehr er den Abend genossen hat“, sagte Krista zu Corrie und betrachtete ihren Vater, der auf dem Sitz zusammengesunken dasaß, während sein Kopf in einer etwas unbequemen Haltung auf dem Polster ruhte. Er war ein großer, dünner Mann mit einer geraden, etwas zu langen Nase und braunen Haaren, die langsam grau wurden.

„Die Sprachstudien machen deinem Vater auf jeden Fall mehr Spaß.“

Krista setzte sich bequemer zurecht und versuchte, die Korsettstäbe unter ihrem Ballkleid aus blassgrünem Taft zu ignorieren, die sich ihr in die Taille bohrten. „Wenn er und Großvater nicht wild entschlossen wären, einen Ehemann für mich zu finden, wäre er erst gar nicht mit auf den Ball gegangen.“

„Ich nehme an, der aktuelle Kandidat heißt Matthew Carlton“, neckte Corrie ihre Freundin. „Du hast heute Abend mindestens dreimal mit ihm getanzt. Vermutlich hat er deinen Vater um Erlaubnis gebeten, dir den Hof machen zu dürfen.“

Matthew, der inzwischen noch mehr Interesse an ihr zeigte, hatte letzte Woche mit ihrem Vater gesprochen. Er gefiel Krista, und sein Interesse schmeichelte ihr. Doch sie brauchte Zeit, um ihn kennenzulernen.

„Es hätte schlimmer für dich kommen können“, meinte Corrie, während sie durch die Dunkelheit rollten und die Laternen die Kutsche innen in ein weiches gelbes Licht tauchten. „Immerhin sieht der Mann gut aus, ist intelligent und …“

„Groß?“, warf Krista ein und hob die goldblonden Brauen.

Corrie lachte. „Das wollte ich nicht sagen.“

Doch tatsächlich hatten die meisten Männer keine Lust, eine Frau zu heiraten, die größer war als sie. Das tat man einfach nicht. „Ich wollte sagen, dass er auch noch der Sohn eines Earls ist.“

Aber der gesellschaftliche Rang spielte für Krista keine Rolle. Es war Corrie, die im Gesellschaftsleben aufblühte. Sie war von Kopf bis Fuß eine Dame, die Tochter eines Viscounts und inmitten von Reichtum und Adel aufgewachsen. Coralee liebte schöne Kleider, Bälle und zeigte sich gern in der Oper und im Theater.

Das Einzige, was Corrie noch mehr mochte, war das Schreiben. Und deshalb hatte Krista, nachdem sie die Zeitung übernommen hatte, ihre Freundin dazu überredet, über all die Dinge zu schreiben, die sie liebte. Corrie hatte ihrer Familie getrotzt und die Stellung angenommen. Im Moment war sie für die Frauensparte der Zeitung zuständig, die einen großen Teil des Wochenmagazins ausmachte.

Die Kutsche bog in eine kiesbestreute Einfahrt ein und kam vor dem überdachten Eingang von Corries Zuhause zum Stehen, einem eleganten, dreistöckigen steinernen Gebäude am Grosvenor Square.

„Ich sehe dich dann morgen in der Redaktion“, sagte sie, während ein Diener ihr über das eiserne Trittbrett half. „Und vergiss nicht, dass du mir versprochen hast, am Sonntag mit mir den Zirkus zu besuchen.“

„Ich werde es nicht vergessen.“ Corrie wollte einen Artikel über den Zirkus Leopold schreiben und hatte Krista gebeten, sie zu der Vorstellung zu begleiten. Da Krista seit ihrer Kindheit keinen Zirkus mehr besucht hatte, würde es bestimmt ein großer Spaß werden.

Corrie winkte ihr zum Abschied, und der Diener geleitete sie die breite Steintreppe zu dem schweren Eingangsportal des herrschaftlichen Anwesens hinauf. Dann kehrte er auf seinen Kutschsitz zurück. Als die Kutsche weiterfuhr, regte sich Kristas Vater und streckte die langen Beine aus.

„Sind wir schon zu Hause?“

„Bald, Vater. Wir müssen nur noch um die Ecke.“ Wie Coralee entstammte auch Krista einer reichen Familie, zumindest mütterlicherseits. Margaret Chapmann Hart war die Tochter eines Earls gewesen. Obwohl sie Paxton Hart geheiratet hatte, einen Gelehrten, der damals fast keinen Penny besaß, ermöglichte ihre Stellung als Mitglied der Aristokratie Krista den Zugang zu den höchsten Rängen der Gesellschaft.

Was Krista selbst betraf, so empfand sie das eher als eine Bürde denn als einen Gewinn.

Einige Minuten später erreichten sie ihr Stadthaus. Milton Giles, der Butler, öffnete die Tür, und als sie eingetreten waren, half er ihrem Vater aus seinem seidengefütterten Umhang und Krista aus ihrem Kaschmircape mit Kapuze.

„Es war ein langer Abend“, sagte sie. „Ich gehe zu Bett.“ Sie raffte ihre weiten Röcke und begann, die gewundene Treppe hinaufzusteigen. Dann wandte sie sich noch einmal um. „Kommst du nicht, Vater?“

„Gleich. Da ist doch dieser altnordische Text, an dem ich gerade arbeite. Es gibt dort einen Abschnitt, den ich mir noch einmal anschauen möchte, bevor ich mich zur Ruhe begebe. Es dauert nur einen Moment.“

Krista wusste, wie lange die „Momente“ ihres Vaters dauern konnten. Sie erinnerte ihn daran, dass er seinen Schlaf brauche, wusste jedoch, dass es zwecklos war. Genauso leidenschaftlich, wie sie sich ihrer Zeitung widmete, widmete sich ihr Vater seinen Studien.

Sie dachte an den Artikel, den sie am nächsten Morgen noch beenden musste, bevor das Blatt in Druck ging, und stieg die Treppe hinauf.

Das dreistöckige Backsteinhaus, das Heart to Heart, die wöchentliche Gazette für die Dame beherbergte, befand sich in einer schmalen Straße ganz in der Nähe des Picadilly. Die Seele der Zeitung, die schwere Stanhope-Druckpresse, eine der modernsten Pressen der Zeit, stand neben einer Kiste, in der Metalllettern lagerten, Buchstaben, Nummern und Zeichen, die zum Drucken gebraucht wurden.

Krista ging zu der Holzkiste hinüber. Sie hatte den Artikel für diese Wochenausgabe beendet, und abgesehen von einer winzigen Änderung konnte sie am nächsten Morgen in Druck gehen.

Außer Krista, ihrem Vater und Corrie gehörten zur Belegschaft noch Bessie Briggs, die sich hauptsächlich um den Drucksatz kümmerte, ein Drucker namens Gerald Bronner, sein junger Lehrling Freddie Wilkes und einige Teilzeitkräfte, die all das erledigten, was notwendig war, damit die Zeitung die Abonnenten erreichte.

Wie immer, bevor die Gazette in Druck ging, arbeitete die Belegschaft noch bis spät in die Nacht. Draußen war es schon lange dunkel. Kaum jemand war noch auf den Straßen, und von der Themse blies ein scharfer Aprilwind herüber. Krista stand bei der Druckerpresse und setzte eine Reihe Lettern ein. Als draußen auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Fenster der Druckerei Schritte zu hören waren, drehte sie sich um. Glas splitterte, und eine der Frauen schrie auf, als ein schwerer Ziegelstein in den Raum flog und dabei Kristas Kopf nur um ein paar Zoll verfehlte.

„Gütiger Himmel!“, keuchte Corrie.

Der Ziegel krachte auf den Boden und schlitterte noch ein Stück weit, während Krista zum Fenster lief.

„Kannst du ihn sehen?“ Corrie eilte zu ihr. „Erkennst du, wer es war?“

Das Licht einer Laterne etwas weiter unten an der Straße beschien einen Burschen in Kniehosen aus grobem Stoff, der blitzschnell davonrannte. Einen Augenblick später war er um die nächste Ecke verschwunden.

„Es war nur ein Junge“, sagte Krista und wandte sich vom Fenster ab, wobei sie sich mit einem Lumpen die Druckerfarbe von den Händen wischte. „Er ist schon fort.“

„Schau, da ist eine Botschaft!“ Vorsichtig kniete Corrie sich zwischen den Glasscherben auf den Boden und löste ein Stück Papier von dem Ziegel, das mit einem Stück Schnur daran festgebunden war.

„Was steht darauf?“ Krista trat neben sie.

Corrie strich das zerknitterte Papier glatt. „Halte dich aus Männergeschäften raus. Wenn nicht, wirst du dafür bezahlen.“

Krista seufzte. „Jemand muss den Jungen dafür bezahlt haben.“ Es war nicht die erste Warnung, die Heart to Heart erhielt, seitdem Krista den Schwerpunkt der Zeitung etwas verändert hatte. Es gab jetzt auch Leitartikel und Berichte über Erziehung und soziale Themen.

Zusammen mit den üblichen Artikeln über Mode und häusliche Themen hatte es letzte Woche auch einen Artikel gegeben, der Mr. Edwin Chadwicks Bericht über die Hygienebedingungen lobte. In diesem Bericht forderte Chadwick Verbesserungen des Londoner Abwassersystems und sauberes Wasser aus allen Wasserleitungen. Er glaubte, dass solche Veränderungen bei der Verhütung von Krankheiten eine Rolle spielen würden.

Der Kosten verursachende Vorschlag war bei den Wassergesellschaften, den lokalen Obrigkeiten und den Steuerzahlern äußerst unpopulär, und sie hielten dagegen, dass sie das Geld für solche Verbesserungen nicht aufbringen könnten.

„Es wird immer jemanden geben, der nicht unserer Meinung ist“, sagte Krista zu Corrie und nahm ihrer Freundin das Papier aus der Hand.

„Du wirst diese Botschaft doch deinem Vater zeigen, nicht wahr?“ Corrie warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie wusste, wie selbstständig Krista handelte und wie sehr sie es hasste, den Professor mit Problemen zu belästigen, die die Zeitung betrafen. „Krista …?“

„Schon gut, ich werde sie ihm zeigen.“ Sie sah zu dem Loch in der Fensterscheibe, durch das die kalte Aprilluft hereindrang. „Jemand soll ein Brett davornageln und das Glas zusammenfegen.“ Die Botschaft in der Hand, eilte sie zur Treppe. „In einer Minute bin ich zurück.“

In den Nächten, in denen Krista noch spät arbeitete, bestand ihr Vater darauf, sie nach Hause zu begleiten. So auch an diesem Abend. Er war einige Stunden zuvor gekommen und arbeitete jetzt oben in seinem provisorischen Studierzimmer. Es gab auch noch einen Raum für Geschäftsbesprechungen und einen mit einer schmalen Liege, wo man ein Nickerchen machen konnte, wenn es gar zu spät wurde.

Sie klopfte an seine Tür, wartete und klopfte erneut. Endlich gab sie es auf, öffnete die Tür und betrat den hohen Raum, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren.

„Es tut mir leid, Sie zu stören, Vater, aber …“

„Mir war, als hörte ich jemanden.“ Er nahm die Brille ab und sah von den Büchern auf, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lagen. Er war dürr und außerordentlich groß. Krista hatte ihre überdurchschnittliche Größe von den Eltern geerbt. Doch das blonde Haar, die grünen Augen und die üppige, vollbusige Figur war das Erbe ihrer hellhaarigen Mutter.

„Ich war so sehr in diese Übersetzung vertieft“, erklärte der Professor. „Sind wir fertig? Ist es Zeit, nach Hause zu gehen?“

„Wir sind noch nicht ganz fertig, aber bald.“ Sie durchquerte den Raum und gab ihm die Nachricht. „Ich dachte, es ist besser, wenn ich Ihnen das hier zeige. Jemand hat diese Botschaft an einen Ziegelstein gebunden und ihn durch das Fenster geworfen. Vermutlich hat diesen Leuten mein Artikel über Mr. Chadwicks Bericht nicht gefallen.“

„Allem Anschein nach nicht.“ Der Professor sah sie an. „Weißt du, was du da tust, Liebes? Deine Mutter hatte zu einigen Themen ihre unumstößlichen Ansichten, doch sie ließ sie nur selten drucken.“

„Das ist wahr, aber sie hätte es gerne öfter getan. Und die Zeiten haben sich in den vergangenen paar Jahren geändert. Seitdem wir ein neues Format haben, wächst unsere Leserschaft ständig.“

„Ich glaube, der Kampf für einen guten Zweck ist ein kleines Risiko wert. Sei nur vorsichtig und treibe es nicht zu weit.“

„Das werde ich nicht. Nur noch einen Artikel, in dem ich auf die Notwendigkeit von innerstädtischen Wasserleitungen und einer Verbesserung der Abfallbeseitigung hinweise, dann kehre ich zu unserer Kampagne für bessere Arbeitsbedingungen in den Minen und Fabriken zurück.“

Amüsiert verzog der Professor das Gesicht. „Wenn ich mich recht erinnere, hast du mit diesen Artikeln ebenfalls in ein Wespennest gestochen.“

Krista verkniff sich ein Lächeln. Sie wusste, dass er recht hatte. „Und wenn auch, ich glaube, unsere Anstrengungen bewirken etwas.“ Sie ging um den Tisch herum und sah ihm über die Schulter. „Woran arbeiten Sie?“

„An einigen isländischen Tabellen aus dem zehnten Jahrhundert, mit deren Hilfe man für jede Woche des Jahres die Höhe der Sonne am Mittag berechnen kann. Sie sind bemerkenswert exakt. Zuvor hatte ich mir noch einmal eine Übersetzung des Heimskringla-Textes angesehen.“

Der Text war, wie Krista sah, in Altnordisch geschrieben, einer Sprache, die ungefähr von dem Jahr achthundert bis ins frühe fünfzehnte Jahrhundert, der Zeit, in der die letzten bekannten Wikinger aus Grönland verschwanden, in den skandinavischen Siedlungen gesprochen worden war. Ihr Vater beherrschte diese schon lange tote Sprache.

Krista dachte an all die Stunden, die sie als Kind im Studierzimmer ihres Vaters verbrachte, wie sie seinen Erzählungen über die Wikinger gelauscht und sogar ein wenig deren Sprache gelernt hatte. Sie und ihr Vater hatten zusammen geübt, und weil sie ihm eine Freude machen wollte, hatte Krista sich sehr bemüht, ihre Sprachkenntnis zu verbessern. Überhaupt hatte sie eine weit bessere Erziehung genossen als die meisten Frauen. Neben ihren sozialen Ideen waren es das Leben und die Kultur der Nordländer, die auf sie wie auf ihren Vater eine große Faszination ausübten.

„Du hast eine gute Portion Wikingerblut in deinen Adern“, sagte er immer, wenn sie sich über ihre Größe beklagte und die Tatsache, dass alle Männer in ihrem Bekanntenkreis kleiner waren als sie. „Deine Mutter konnte ihre Ahnenreihe bis zu den Dänen zurückverfolgen. Du solltest stolz auf dein Erbe sein.“

Aber Krista wünschte sich eigentlich nur, dass ihr Aussehen sich nicht gar zu sehr von dem anderer Frauen unterscheiden würde.

Ihr Vater schob einige der Papiere zusammen, die auf seinem Schreibtisch herumlagen, schloss das Buch, in dem er gelesen hatte, und sah auf. „Wie ich höre, gehst du mit Coralee am Sonntag in den Zirkus?“

„Möchten Sie gerne mit uns kommen?“, fragte sie, erstaunt über sein Interesse.

Ihr Vater lachte in sich hinein. „Tatsächlich habe ich ernsthaft daran gedacht. Ich denke, du hast schon von der Hauptattraktion gehört, dem Mann, den sie ‚den letzten Barbaren‘ nennen.“

Krista lachte. „Ja, wahrscheinlich ist er Teil des Begleitprogramms.“ Jetzt verstand sie. „Man hält ihn für einen Wikinger.“ Alles, was mit Wikingern zu tun hatte, weckte das Interesse ihres Vaters. „Man sagt, er sei über sieben Fuß groß und von Kopf bis Fuß mit blonden Haaren bedeckt.“

Lachend schüttelte der Professor den Kopf. „Natürlich ist das alles Unsinn, den man nur verbreitet, um noch mehr Zuschauer anzulocken. Trotzdem könnte es interessant werden. Er soll ein entsetzliches Untier sein, und schon ein Blick auf ihn in seiner ungeheuren Wut sei das Eintrittsgeld wert. Ich wette, es ist irgendeine bedauernswerte Kreatur, die aus Bedlam ausgebrochen ist, sicher ein armer Verrückter.“

„Wahrscheinlich. Doch da er Sie zu interessieren scheint, verspreche ich, ihm einen Besuch abzustatten. Er könnte gut in Corries Artikel passen.“

Ihr Vater nickte. „In der Zwischenzeit versuche bitte nicht, die ganze Londoner Männerwelt in Aufruhr zu versetzen.“

Krista lächelte. „Ich vermute, meine Artikel haben genauso viele Befürworter wie Gegner, Vater. Vielleicht sogar mehr.“

„Vielleicht. Doch die meisten der Befürworter sind in einer weit weniger einflussreichen Position.“

Das stimmte leider. Es waren die Männer und Frauen der armen Arbeiterklasse, welche sich die Verbesserungen wünschten, nicht die reichen Fabrikbesitzer, die sie würden bezahlen müssen.

Krista verließ das Studierzimmer ihres Vaters und hatte ein schlechtes Gefühl, wenn sie an die Botschaft dachte. Wie weit Menschen wohl gehen würden, um eine Stimme zum Schweigen zu bringen, die sich für die Kanalisation und eine Verbesserung der entsetzlichen Bedingungen einsetzte, unter denen die Arbeiterklasse leiden musste?

Doch im Grunde war es ihr egal, denn sie würde ihren Weg gehen. Außerdem hatten die Artikel die Auflage der Zeitung um mehr als zwanzig Prozent in die Höhe getrieben.

Heart to Heart würde diesen Weg auch weiterhin beschreiten und daneben seinen Leserinnen natürlich auch den Fortsetzungsroman und die Nachrichten aus der feinen Gesellschaft bieten, die ebenfalls gern gelesen wurden.

Während Krista hinunterging, um die letzten Handgriffe für die Ausgabe dieser Woche zu erledigen, spürte sie, dass sie sich auf den Tag, den sie mit ihrer Freundin im Zirkus verbringen würde, freute.

3. KAPITEL

Am Sonntag stand Coralee Whitmore pünktlich zur verabredeten Zeit bei den Harts vor der Tür, um Krista zu ihrem Ausflug in den Zirkus abzuholen. Eine frische Frühlingsbrise wehte, und die noch schwache Sonne beschien den Fluss, an dem der Zirkus seine Wagen abgestellt und das Zelt aufgebaut hatte.

Krista trug einen kurzen Mantel über ihrem malvenfarbig und schwarz gestreiften seidenen Tageskleid, während Corrie in ein hellblaues, mit rosa Tressen besetztes Seidenkleid mit dazu passender rosa Seidenhaube gekleidet war.

„Es ist so aufregend“, sagte Corrie und schien wie immer voll unerschöpflicher Energie. „Ich war noch nie in einem Zirkus. Du etwa?“

„Als ich noch ein kleines Mädchen war, hat mein Vater mich einmal mitgenommen. Jetzt erscheint mir aber alles ganz anders.“

Vielleicht lag es auch an diesem Zirkus. Der Zirkus Leopold kam aus dem Norden, aus Newcastle-upon-Tyne. Durch kleine Städte und Dörfer war die Truppe zuerst Richtung Südwesten nach Manchester gezogen, dann in den Süden bis nach Bristol und hatte so schließlich London erreicht.

Krista und Corrie spazierten umher, bis es Zeit für die Nachmittagsvorstellung war. Sie genossen die Atmosphäre unter dem Zelt aus schwerem Segeltuch mit der einfachen Manege, in der hauptsächlich Tierdressuren gezeigt wurden. Es gab zwei Tanzbären, die rote Satinröckchen mit passenden Hüten trugen, und ein paar entzückende Affen, die schnatternd die Zeltstangen hinaufkletterten. Die jungen Frauen sahen Jongleuren, Akrobaten, einem Paar lustig gekleideter Clowns und drei Kunstreitern zu, die auf den Rücken galoppierender Pferde ihre Sprünge und Saltos zeigten.

Der Geruch nach Sägemehl erfüllte die Luft, und der Klang einer Zirkusorgel wehte über das offene Feld, zusammen mit den Rufen der Marktschreier, die vor dem Hauptzelt ihre Waren verkauften. Es war eine interessante Art, den Nachmittag zu verbringen, doch Krista verwunderte es ein wenig, wie heruntergekommen alles aussah.

Beim näheren Hinsehen waren die prächtigen Kostüme abgenutzt, der große Apfelschimmel alt und tattrig. Die Zirkusleute selbst schienen geschwächt zu sein und hatten allem Anschein nach schon bessere Tage gesehen.

Trotzdem war der Zirkus eine Neuheit in London, ein Ereignis, das den Frühling ankündigte.

„Ich würde gerne dem Besitzer ein paar Fragen stellen“, sagte Corrie, die entschlossen war, alles in einem positiven Licht zu zeigen. „Er heißt Nigel Leopold. Lass uns schauen, ob er in seinem Wagen ist.“

Sie gingen in die entsprechende Richtung. Corrie ließ den Blick schweifen und notierte sich im Geiste alles, was sie sah. Sie besaß ein erstaunliches Gedächtnis für Einzelheiten. Das war auch einer der Gründe, warum sie in ihrem Beruf so gut war.

„Mir haben die Bären wirklich gut gefallen“, sagte sie. „Sie schienen den ganzen Tanz über zu lächeln.“

Krista sagte nichts dazu, doch als sie an dem Käfig vorbeigegangen war, hatte sie gesehen, wie der Dompteur den Tieren die Lippen mit einer dünnen Schnur zurückgebunden hatte.

Als sie sich umsah, bemerkte sie einige Darsteller, die zu ihren Wagen gingen, um sich auf den nächsten Auftritt vorzubereiten. Einer der Dompteure führte fünf große graue Pferde fort.

„Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Zirkus“, meinte Krista. „Alles scheint ein wenig … schäbig zu sein.“

„Ja, das habe ich auch schon bemerkt. Das viele Herumreisen ist vermutlich ziemlich hart für die Pferde und schadet der ganzen Ausstattung.“

„Vermutlich.“ Doch es bedrückte Krista, dass alle Tiere in einer so schlechten Verfassung zu sein schienen. Bei den Ponys konnte man durch das dicke Winterfell hindurch die Rippen sehen, und die Bären ließen die Köpfe hängen, als hätten sie gar nicht mehr die Kraft, sie zu heben.

Krista und Corrie bahnten sich ihren Weg durch die Menschenmenge, die aus dem Zelt strömte, und bemerkten, dass sich vor einem der bunt bemalten Zirkuswagen eine Gruppe bildete. An dem Wagen waren Käfigstäbe angebracht, und Krista fragte sich, was für ein Tier dort wohl gehalten wurde.

„Lass uns sehen, was es dort gibt“, sagte Corrie und zog ihre Freundin in die Richtung. Sie waren ein seltsames Paar: die eine klein, die andere groß; die eine blond, die andere mit feuerrotem Haar. Und doch waren sie schon seit Langem die besten Freundinnen.

Da Krista so groß war, konnte sie selbst von ihrem Standort aus erkennen, dass die Kreatur in dem Käfig keinesfalls ein Tier war. Über dem Käfig stand geschrieben: „Der letzte Barbar“. Und darunter: „Vorsicht! Nähertreten auf eigene Gefahr!“

„Das ist er!“ Corrie schrie fast. „Komm, lass uns näher hingehen.“

Ja, das war der Mann, den Kristas Vater erwähnt hatte. Er stand vornübergebeugt in dem Käfig, der zu niedrig war, als dass er sich hätte aufrichten können, und war bis auf ein Fell, das ihm als Lendentuch diente, nackt. Wie ein Verrückter rüttelte er an den Gitterstäben. Krista sah, dass ein bulliger Mann mit einer Narbe über der Wange einen langen spitzen Stab schwang, mit dem er immer wieder auf ihn einstach.

Der an Händen und Füßen gefesselte Mann im Käfig tobte und wütete. Krista war überzeugt, dass er fluchte, auch wenn das Kauderwelsch, das er von sich gab, keinen Sinn machte.

Doch er war sicher weder sieben Fuß groß, noch war sein Körper mit dichtem blonden Haar bedeckt. Trotzdem war er größer als jeder Mann ihres Bekanntenkreises, hatte langes, zotteliges Haar, das ihm über die breiten Schultern fiel, und einen ungekämmten Bart, der bis zu seiner Brust reichte, auf der dick die Muskelstränge hervortraten. Auch seine Arme und Schenkel waren muskulös und seine Augen …

Selbst aus dieser Entfernung konnte sie die Wildheit darin erkennen, den brennenden Hass, der in ihren unglaublich blauen Tiefen brannte. Noch nie zuvor hatte Krista eine so intensive Farbe gesehen.

„Großer Gott“, sagte Corrie ehrfurchtsvoll. „Wir müssen näher hingehen.“

Den Blick immer noch auf die Kreatur in dem Käfig gerichtet, folgte Krista Corries Drängen, und sie bahnten sich einen Weg durch die Menge. Krista verspürte in ihrem Herzen Mitleid mit dem Mann, und etwas in ihr wünschte sich, den Käfig nie entdeckt zu haben.

Lieber Gott, der schlimmste Verbrecher verdiente es, besser behandelt zu werden als der Mann im Käfig.

Zum zweiten Mal traf der Stock Leifs Rippen, und er stieß ein Brüllen aus, packte die Eisenstäbe und rüttelte daran. Denn wenn er es nicht tat, würde der Stock wieder sein Ziel finden, das wusste er. Leif hatte Narben an Armen und Beinen, Narben auf seinem Rücken und von den Fesseln, die er tragen musste, Narben an den Handgelenken und Knöcheln.

Ein Teil von ihm spürte die Schmerzen schon gar nicht mehr. Dieser Teil seines Selbsts brachte kaum mehr den Willen auf, jeden Morgen aufzustehen und einem weiteren höllischen Tag entgegenzusehen. Diesen Teil seines Selbsts kümmerte es nicht mehr, ob er lebte oder starb.

Doch der andere Teil seines Selbsts, in dem sein wilder Lebenswille ungebrochen war, ließ ihn weitermachen; noch eine Minute, noch eine Stunde.

Er ließ ihn hoffen, irgendwie doch noch eine Fluchtmöglichkeit zu finden.

Ohne auf das Gebrüll der Menschen zu achten, die sich vor seinem Käfig versammelt hatten – einige deuteten auf ihn und lachten, andere zogen Grimassen –, sah er zu dem kleinen Wesen hin, das zwischen den Stäben hindurchschlüpfte, um ihm Gesellschaft zu leisten. Einen Affen nannten sie es. Er nannte es Alfinn – kleiner Kobold. Er war der einzige Freund, den Leif in dieser gottverlassenen Welt besaß, in die er hineingestolpert war, und ihm bedeutete diese Freundschaft viel.

Leif sprach zu dem Affen, als könnte der ihn verstehen, und machte sich über die Leute lustig, die sich über ihn lustig machten, auch wenn sie seine Worte natürlich nicht verstanden. Eines Tages, sagte er sich, würde er einen Weg aus diesem Käfig finden, würde frei sein von den Fesseln, die ihn so machtlos gegenüber seinen Feinden sein ließen. Eines Tages würde er dem fetten Snively den Stock entreißen und ihm diesen in seine verrotteten Eingeweide rammen.

Aufgeregt schnatternd hüpfte der Affe auf und ab, als Snively wieder auf Leif einstach, bis der einen Wutanfall bekam. Die Menge brüllte auf und wich zurück. Einige der Frauen schrien voller Angst.

Leif gefiel es, dass sie Angst vor ihm hatten.

Es war die einzige Macht, die er in einer Welt besaß, in der er ansonsten machtlos war, in der ihm sein Leben nicht länger gehörte.

Nach und nach zerstreute sich die Menge. Die Leute hatten gesehen, weswegen sie gekommen waren. Als Leif wieder nach draußen schaute, waren nur noch zwei Frauen übrig geblieben. Eine davon war rothaarig, kleiner als der Durchschnitt und auch hübscher, auch wenn sie nicht zu den Frauen gehörte, die anziehend auf ihn wirkten. Dazu ähnelte sie zu sehr einem Kind.

Er erinnerte sich daran, wie es war, eine Frau in den Armen zu halten, eine richtige Frau, die das Blut eines Mannes in Wallung bringen konnte.

Die Blonde war so eine Frau. Groß, üppig, reif für einen Mann, mit cremeweißer Haut und einem Mund, der für die Leidenschaft geschaffen zu sein schien. Er fühlte seine Männlichkeit erwachen. Es tat gut zu wissen, dass es seinen Feinden nicht gelungen war, ihn völlig zu brechen, sosehr sie es auch versucht hatten. Und es tat gut zu wissen, dass er immer noch ein Mann war.

Leif grinste dem Affen zu. „Na, das ist mal eine Frau … eine richtige Frau“, sagte er. „Mit einem einzigen Blick dieser hübschen grünen Augen könnte sie das Blut eines Mannes zum Kochen bringen.“

Alfinn schnatterte, als würde er ihn verstehen. Die Blonde sagte etwas zu der Frau neben ihr, drehte sich dann um und wollte gehen. Leif beobachtete, wie ein Windstoß ihr die Haube vom Kopf wehte. Goldblond schimmernde Locken fielen ihr rechts und links auf die Schultern. Sie reckte sich, um den Hut noch zu erwischen, und obwohl die voluminöse Kleidung ihre weiblichen Formen verhüllte, konnte er ihre schmale Taille und ihr hübsch gerundetes Hinterteil erkennen.

„Schau dir das an, Alfinn. Ein Hintern, wie geschaffen zum Vergnügen eines Mannes. Wäre ich nicht in diesem Käfig, ich würde ihr einen Ritt verschaffen, den sie so bald nicht vergisst, einen Ritt, der uns beide befriedigen könnte.“

Das Grinsen wich aus seinem Gesicht, als die Blonde herumwirbelte und ihn ansah. Ihre Wangen waren jetzt flammend rot, und ihre grünen Augen sprühten Feuer. Wie ein Falke auf seine Beute stürzte sie auf ihn zu, und unwillkürlich wich Leif von den Gitterstäben zurück.

„Wie kannst du es wagen!“

Sekundenlang stand er wie erstarrt da und fragte sich, ob die Frau vielleicht seine Gedanken lesen konnte.

„Du bist ein grobes, ungeschlachtes Tier! Und ich habe auch noch Mitleid mit dir gehabt – was war ich doch für eine Närrin!“ Mit einem Blick, der wilder war als alle Blicke, die er selbst in die Menge geworfen hatte, funkelte sie ihn an. Und noch bevor ihm klar wurde, dass sie ihm in der gleichen Sprache geantwortet hatte, in der er zu ihr gesprochen hatte, drehte sie sich um und eilte zu ihrer Freundin zurück.

„Warte!“, rief er hinter ihr her. „Geh nicht fort! Verzeih mir, was ich gesagt habe. Ich wusste nicht, dass du mich verstehen kannst. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich schwöre, ich habe noch nie eine Frau beleidigt!“

Sie hob zwar ein wenig den Kopf, doch sie ging weiter und ihre Freundin ebenfalls.

„Bitte, ich flehe dich an! Ich brauche deine Hilfe.“ Er verspürte einen Kloß in der Kehle. Mit jedem Tag war er näher daran, den Verstand zu verlieren. Verwirrt fragte er sich, ob das alles überhaupt geschehen war. „Bei den Göttern, bitte komm zurück. Ich flehe dich an.“ Seine Stimme brach. „Du bist meine … einzige Hoffnung.“

Endlich hielt sie an und blieb einige Sekunden lang mit dem Rücken zu ihm stehen. Dann drehte sie sich um und kam zum Käfig zurück. Sie hatte ihn wirklich verstanden, also war er doch nicht verrückt. Leif merkte nicht, dass ihm die Tränen in den Augen standen, bis er blinzeln musste und sie ihm in seinen dichten Bart rannen.

Rasch wischte er sie fort, bevor das Mädchen sie bemerken konnte.

„Es tut mir leid“, sagte er, als sie den Käfig erreicht hatte. „Ich weiß, ich habe dich beleidigt, doch das war nicht meine Absicht. Du sprichst meine Sprache. Niemand sonst versteht sie. Ich bin hier ein Gefangener und brauche dringend deine Hilfe.“

Er sah, wie sie die Stirn runzelte. Sie war nicht länger zornig. „Die Sprache, die du da sprichst … wo hast du sie gelernt?“ Sie sprach die Worte deutlich aus, wenn auch nicht perfekt, doch gut genug, dass er sie verstehen konnte.

„Dort, wo ich herkomme, spricht man so.“

„Das ist nicht möglich. Seit mehr als dreihundert Jahren hat keiner mehr Altnordisch gesprochen.“

„Auf der Insel Draugr ist das unsere Sprache.“

„Die Insel Draugr? Von der habe ich noch nie gehört.“

Leif schlug das Herz bis zum Hals. Er wusste, ein Ausrutscher, eine falsche Bewegung, und die Frau würde verschwinden und mit ihr vermutlich seine einzige Chance, die Freiheit wiederzuerlangen. „Von dort bin ich vor sechs Monaten losgesegelt. Weit im Norden von hier zerschellte mein Schiff an den Felsen, und ich wurde schwer verletzt an Land gespült.“

„Du hast Schiffbruch erlitten?“

Er nickte. „Als ich gesund genug war, um zu wissen, was geschehen war, wurde ich gefangen genommen und an den Mann verkauft, der mich in diesen Käfig steckte.“

Die Blonde biss sich auf die vollen, rosigen Lippen. Es erstaunte ihn, dass er erneut Verlangen nach ihr verspürte. Nachdem er die letzten sechs Monate wie ein Tier hatte leben müssen, hätte er das nicht für möglich gehalten.

„Ich heiße Leif.“

Sie blickte auf sein Handgelenk und sah das dünne Blutrinnsal, das dort, wo die Fessel die Haut wund rieb, hinunterlief.

„Mein Vater spricht deine Sprache viel besser als ich, Leif. Er wird mit dir reden können und dir helfen, aus diesem Käfig herauszukommen.“

Leif zwang sich, nicht näher zu ihr zu treten. Denn er wollte nichts tun, was ihr bedrohlich erscheinen mochte, da er es sich nicht leisten konnte, sie zu verjagen.

„Dann wirst du wiederkommen und deinen Vater mitbringen?“

„Ja.“

„Wie ist dein Name?“

„Mein Name ist Krista Hart.“

„Schwörst du es bei deiner Ehre, Krista Hart?“

Einen Augenblick lang schien sie überrascht zu sein. „Ja, ich schwöre es bei meiner Ehre.“

Er nickte knapp. Während er ihr nachsah, fühlte er sich mit einem Mal erschöpft. Er wusste, dass die Hoffnung ihn schwächte, die ihn plötzlich erfasste. Das Wenige, das er besaß, hatte er verloren. Jetzt glaubte er, dass er es nicht überleben würde, wenn sie nicht wiederkam.

Müde setzte er sich in seinem Käfig auf den Boden, und der kleine Affe Alfinn kletterte auf seine Schulter. Zusammen würden sie auf den Mann, der Snively hieß, und auf dessen Helfer warten. Die Männer würden ihn in einen größeren Käfig bringen, ihn wie ein Tier füttern und tränken, ihn mit eiskaltem Wasser abspritzen, um ihn zu säubern, und dann für die nächste Vorstellung in den kleinen Käfig zurückschaffen.

Leif wurde die Brust eng. Vielleicht würde die Frau morgen kommen.

Er dachte an ihr dickes goldblondes Haar, das lockig ein hübsches Gesicht mit lebhaften grünen Augen umrahmte. Und er dachte an einen göttlichen Körper und betete, dass sie mehr war als nur eine schöne Frau.

Er betete, dass Krista Hart eine Frau von Ehre war.

4. KAPITEL

Hastig eilte Krista in ihr Stadtpalais in Mayfair und lief den Gang hinunter zum Zimmer ihres Vaters. Da sie geradewegs aus dem Zirkus kam, hatte sie Coralee im Schlepptau.

Krista klopfte, und ohne lange abzuwarten, stieß sie die Tür zum Studierzimmer ihres Vaters auf. „Vater, Sie werden es nicht glauben …“

Wie angewurzelt blieb sie stehen, als Matthew Carlton sich vom Stuhl vor dem Schreibtisch des Professors erhob. Wenn Matthew in letzter Zeit auch immer häufiger bei ihnen erschienen war, hatte sie ihn dennoch nicht erwartet.

Auch ihr Vater stand auf. „Was ist, Liebes? Doch kein neuer Ärger mit der Gazette?“

Sie blickte zu Matthew. Inzwischen machte er ihr deutlich den Hof, aber Krista war sich ihrer wahren Gefühle für ihn immer noch nicht sicher. Doch Matthew war intelligent und ein guter Gesprächspartner. Außerdem sah er mit seinen hellbraunen Haaren und den ebenmäßigen Zügen gut aus. Ihr Vater glaubte, dass er einen guten Ehemann abgeben würde. Und Matthew war auch der Ansicht, dass sie beide bestens zueinander passen würden.

Natürlich war es gut möglich, dass sein Interesse von Kristas beachtlicher Mitgift und dem Erbe ihrer Mutter angestachelt wurde.

„Nein, Vater, es hat nichts mit unserer Zeitung zu tun.“ Wieder schaute sie zu Matthew. Sie wusste nicht, warum sie zögerte, in seiner Gegenwart zu sprechen.

„Es tut mir leid“, sagte Krista zu ihm, „aber ich muss mit meinem Vater reden. Unter vier Augen.“

„Natürlich.“ Als Gentleman ließ Matthew sich zwar nichts anmerken, doch Krista wusste, dass es ihm nicht gefiel, wie ein Kind fortgeschickt zu werden.

Höflich neigte er den Kopf. „Wenn Sie mich entschuldigen wollen …“

„Vielleicht haben Matthew und Miss Whitmore Lust, im Salon eine Erfrischung zu sich zu nehmen“, schlug ihr Vater diplomatisch vor.

„Das wäre nett.“ Corrie schenkte Matthew ein zauberhaftes Lächeln, während sie ins Studierzimmer schwebte und seinen Arm ergriff. Sie warf Krista einen Blick zu, der besagte: „Dafür schuldest du mir etwas“, dann führte sie Matthew den Gang hinunter.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, als Krista auch schon von ihrem Zirkusabenteuer und dem wilden Mann im Käfig erzählte.

„Es war erstaunlich, Vater. Der Mann spricht Altnordisch. Deswegen verstand auch keiner, was er sagte. Zuerst hatte ich auch Schwierigkeiten.“ Krista versuchte, nicht zu erröten bei der Erinnerung an die obszönen Bemerkungen des großen Mannes.

Der Professor setzte die Brille ab. Seine Neugier war geweckt. „Sagte er, wie er die Sprache erlernte?“

„Das ist es ja. Er sagte, er komme von einer Insel, die sie Draugr nennen, und dass dort jeder Altnordisch spräche.“

Der Professor machte große Augen. „Die Insel Draugr? Bist du sicher, dass er das gesagt hat?“

„Ja, natürlich. Kennen Sie sie?“

„Auf Altnordisch heißt draugr Geist. Es gibt eine Legende über die Geisterinsel. Man erzählt sich, es sei ein von Nebel umhüllter Ort, ein felsiges Stück Land, voller Gefahren für einen unvorsichtigen Kapitän und sein Schiff. Die meisten meinen allerdings, dass dieser Ort überhaupt nicht existiert.“

„Was hat es mit dieser Legende auf sich?“

„Mal angenommen, die alten Wikinger, die in Grönland lebten, starben nicht zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts aus, wie die meisten Gelehrten glauben. Als ihre Anzahl durch Krankheiten und todbringendes Wetter immer kleiner wurde, flüchtete sich das Volk in die Sicherheit einer Insel irgendwo im Norden der Orkneys.“

„Die Insel Draugr?“

Er zuckte die schmalen Schultern. „Keiner weiß es wirklich. Doch so sagt es die Legende.“

Krista dachte an den Mann im Käfig. „Es ist gut möglich, Vater, dass es weit mehr als nur eine Legende ist.“

Sie berichtete ihm von dem Schiffbruch und dass der Mann erzählte, man habe ihn gefangen genommen und in die Sklaverei verkauft. „Es war mitleiderregend. Keiner sollte behandelt werden wie dieser arme Kerl.“

Seine braunen Augen strahlten, als der Professor jetzt hinter dem Tisch hervortrat. „Und du glaubst nicht, dass er geisteskrank ist … einer, der die Sprache vielleicht irgendwie gelernt hat und jetzt nur so tut als ob?“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber ich versprach, dass wir ihm helfen würden. Ich gab ihm mein Wort.“

„Dann sollten wir ihm auch helfen.“ Ihr Vater ging zur Tür und öffnete sie. Er wartete, bis Krista auf den Gang hinaustrat. „Wir werden uns bei Matthew entschuldigen und Coralee auf unserem Weg zum Zirkus zu Hause absetzen.“

Krista fühlte sich erleichtert. Sie hatte ihr Wort gegeben, und sie war entschlossen, es auch zu halten.

Leif war für die Spätnachmittagsvorstellung wieder zurück in seinen Käfig gebracht worden. Der fette Snively musste ihn nicht stechen, damit er die Menge voller Wut anbrüllte. Leif brauchte sich nur vorzustellen, dass die Frau, mit der er gesprochen hatte, ihr Wort brechen und nicht wiederkommen würde. Er musste nur daran denken, wie er den Rest seiner Tage zusammengekauert auf dem Boden eines eisernen Käfigs verbringen würde, und die Verzweiflung in ihm verwandelte sich in heiße Wut.

Die übliche Menschenmenge versammelte sich vor dem Käfig, und Alfinn erschien. Anscheinend spürte er, dass Leif während dieser Zeit seine Gesellschaft brauchte. Leif hob die gefesselten Fäuste und hämmerte gegen die Stäbe. Einer aus der Menge warf einen Stein nach ihm. Einige andere machten es ihm nach, und der scharfe Schmerz, den die Steine ihm verursachten, steigerte Leifs Wut.

Snively grinste. Er war hingerissen von der Vorstellung, und das stachelte Leifs Wut nur noch mehr an. Er tobte und beschimpfte die Zuschauer mit Ausdrücken, die nicht für das Ohr eines anständigen Menschen gemacht waren. Da erhaschte er einen Blick auf leuchtend blondes Haar im Hintergrund der Menge.

Sein Herz machte einen Sprung und hämmerte dann wie wild in seiner Brust. Sie war gekommen. Diese große blonde Frau, die alle anderen überragte, diese Frau mit der glatten Haut und den strahlend grünen Augen konnte man nicht verwechseln. Leif schluckte die Worte hinunter, die er der Menge noch hatte zubrüllen wollen. Einmal hatte er die Frau bereits beleidigt. Er würde es nicht wieder tun. Schweigend beobachtete er, wie sie auf ihn zukam, gefolgt von einem noch größeren, sehr dünnen Mann. Er trug einen dieser komischen hohen Hüte, die die Männer hier zu mögen schienen. Leif zwang sich, geduldig zu warten, obwohl er doch vor Freude und voll neuer Hoffnung laut hätte schreien mögen. Da trat Snively vor den Käfig und hinderte den Mann und die Frau am Näherkommen.

Leif wusste, dass er sie vor der Gefahr warnte.

Der dünne Mann lächelte nur und sprach dann mit Snively. Doch Leif verstand nicht, was er sagte. Während der ganzen Zeit ließ die Frau Leif nicht aus den Augen, und ihr Gesichtsausdruck wurde immer finsterer. Der Dickwanst sagte etwas und ging dann fort. Schaudernd vermutete Leif, dass er wohl zu seinem Herrn lief. Man nannte ihn Leopold, und er war noch grausamer als der fette Snively.

Leif richtete nun seine ganze Aufmerksamkeit auf das Paar vor seinem Käfig.

„Mein Name ist Paxton Hart“, sagte der dünne Mann, und Leif verstand jedes Wort.

„Ich bin Leif von Draugr. Dort komme ich her.“

„Meine Tochter erzählte mir einen Teil deiner Geschichte. Ich würde gerne den Rest hören.“

Leif blickte über die Schulter zu dem Wagen, in dem sich Leopold wahrscheinlich aufhielt. Aber er sah niemanden kommen. Rasch erzählte er Paxton Hart seine Geschichte.

„Ich war ein freier Mann, jetzt bin ich ein Sklave. Ich hoffe, du kannst mir helfen.“

„In England gibt es keine Sklaven“, erklärte Paxton. „Hier kann kein Mann einen anderen besitzen.“ Er wandte sich an die Frau, von der er sagte, sie wäre seine Tochter, und sprach Worte, die Leif nicht verstand. Als er Schritte hörte, blickte Leif auf und sah, dass Leopold herbeieilte. Sosehr er sich auch zu beherrschen versuchte, begann er doch innerlich zu zittern.

„Sind Sie der Besitzer des Zirkus?“, fragte der Professor.

Der Mann hatte schwarze Haare und war in den Vierzigern. Er machte eine übertriebene Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, lag ein schmieriges Lächeln auf seinem Gesicht. „Nigel Leopold, zu Ihren Diensten. Und Sie sind …?“

„Professor Paxton Hart.“

Sir Paxton Hart“, fügte Krista hinzu, in der Hoffnung, dass der Titel ihnen irgendwie helfen würde.

„Erfreut, Sie kennenzulernen, Sir Paxton.“ Leopold ließ wieder sein falsches Lächeln aufblitzen.

Krista empfand sofort Abneigung gegen den Mann. „Mr. Leopold“, sagte sie. „Sie halten einen Mann gegen seinen Willen fest. Er behauptet, Sie hätten ihn entführt. Damit machen Sie sich eines entsetzlichen Verbrechens schuldig.“ Sie deutete auf den Käfig. „Lassen Sie ihn sofort frei.“

Leopold lachte. „Der Kerl floh aus Bedlam. Ich tue ihm nur einen Gefallen. Aber wenn Sie wünschen, dass er zurückgebracht wird …“

„Ihm fehlt überhaupt nichts“, erwiderte Kristas Vater. „Er spricht nur eine fremde Sprache.“

„Unsinn – das behauptet er nur. Der ist völlig verrückt. Hier verdient er sich wenigstens seinen Unterhalt. Wir füttern ihn dreimal am Tag und geben ihm einen trockenen Schlafplatz.“

„Er ist kein Tier“, meinte Krista scharf. „Und er verdient nicht, wie eines behandelt zu werden.“

„Der Mann ist verrückt. Wie ich schon sagte, ich tue ihm nur einen Gefallen.“

Stirnrunzelnd betrachtete der Professor den Zirkusbesitzer. „Ich glaube, ich verstehe jetzt, wo das Problem liegt. Für wie viel würden Sie ihn freilassen?“ Immerhin war Leif eine einzigartige Attraktion. „Der letzte Barbar“ zog sehr viele Leute an, die einiges an Geld da ließen. Leopold wollte ihn nicht verlieren. Leif die Freiheit zu erkaufen würde also nicht billig sein.

„Glauben Sie mir, mein Freund, den Preis können Sie nicht aufbringen“, sagte Leopold.

Krista blickte zu dem gefesselten blonden Mann, der in dem viel zu kleinen Käfig kauerte. Auch wenn es an diesem Tag recht warm war, blies doch ein scharfer Wind, und mit so wenig Kleidung am Körper musste er frieren. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke und hielten einander fest. In seinen Augen lag ein so verzweifelter, gequälter Ausdruck, dass Krista vor Mitleid das Herz schwer wurde. Ganz gleich, was es kostete, es kam nicht infrage, dass sie ein menschliches Wesen in diesem Käfig ließ.

Ihr Vater nannte eine mehr als angemessene Geldsumme, doch Leopold lächelte nur und schüttelte den Kopf. „Sie müssen keine Angst haben. Wie ich schon sagte, er verdient sich seinen Unterhalt.“

„Dann werden wir wohl andere Maßnahmen ergreifen müssen“, sagte Krista. „Erstens möchte ich Sie daran erinnern, dass mein Vater von der Königin zum Ritter geschlagen wurde. Zweitens, mein Name ist Krista Chapmann Hart. Mein Großvater ist der Earl of Hampton.“

Auch wenn er seine Gesichtszüge rasch wieder in der Gewalt hatte, schossen Leopolds schmale schwarze Augenbrauen doch für einen kurzen Moment nach oben.

„Außerdem“, fuhr Krista fort, „hat der Mann im Käfig Sie eines Verbrechens bezichtigt. Mein Vater und ich sprechen beide seine Sprache, und wir wären mehr als glücklich, wenn wir vor Gericht bezeugen dürften, dass Sie ihn entführt haben und ihn hier gegen seinen Willen festhalten. Und dass Sie ihn aus Selbstsucht zu Ihrem eigenen Profit versklaven. Wir werden der Obrigkeit unwiderruflich klarmachen, dass Sie, Mr. Leopold, der Mann sind, der hinter Gitter gehört.“

Leopolds Gesichtsfarbe wechselte zu einem lebhaften Rot. „Sie können mir nicht drohen!“

„Meine Tochter hat Ihnen nicht gedroht“, sagte der Professor. „Sie hat nur die Tatsachen festgestellt. Wenn Sie dem widersprechen wollen, so steht Ihr Wort gegen unseres.“

Ein schmieriger Zirkusbesitzer gegen einen Ritter des Königreichs und ein Mitglied der Aristokratie. Fast musste Krista lächeln.

„Sie haben die Wahl“, fuhr ihr Vater fort. „Entweder akzeptieren Sie einen vernünftigen Geldbetrag als Gegenleistung für die Auslagen, die Sie in den letzten sechs Monaten für Mr. Draugrs Wohlergehen hatten, oder Sie stellen sich dem Zorn der Obrigkeit. Wie entscheiden Sie sich?“

Leopold fluchte vor Wut. Er ballte die Hand zur Faust und schüttelte sie gegen Krista. Im Käfig hinter ihr hörte sie, wie Leif drohte, Leopold die Zunge herauszuschneiden, sollte er Hand an einen von ihnen legen.

Wieder hätte sie fast gelächelt. Doch als sie sich umdrehte, sah sie die großen, gefesselten Hände des Mannes die Gitterstäbe umklammern, als wollte er sie durch bloße brutale Gewalt zerbrechen, und seine Augen versprachen Rache.

War er wirklich so gefährlich, wie der Zirkusdirektor behauptete?

„Mr. Leopold …?“, drängte ihr Vater.

„Schon gut, schon gut. Sie haben gewonnen. Geben Sie mir das verdammte Geld. Nehmen Sie den verfluchten Bastard. Dann bin ich ihn Gott sei Dank los. Besser, wenn keiner von euch sich hier wieder blicken lässt.“

Der Professor räusperte sich. „Ich befürchte, dass ich nicht so viel Geld bei mir trage. Wir werden hier warten müssen, bis meine Tochter mit der Summe zurückkehrt.“

Leopold fluchte und stapfte davon.

Krista eilte zur Kutsche. Eine halbe Stunde später kehrte sie mit einem Beutel voll goldener Sovereigns zum Zirkus zurück. Ihr Vater brachte das Geld zu Mr. Leopolds Wagen und kam dann mit dem dicken Mann, den Krista zuvor schon gesehen hatte, zum Käfig zurück. Es war der Mann mit der Narbe auf der Wange.

Leise fluchend steckte der Kerl den rostigen Eisenschlüssel ins Schloss und öffnete die Tür, um Leif von der Insel Draugr freizulassen.

Krista stand dabei, als die Käfigtür aufschwang und der blonde Riese die Holzstufen herunterkletterte. Als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, sah sie, dass er mindestens sechs Zoll größer war als sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich klein.

Ruhig stand er vor ihrem Vater, während der dicke Mann sich niederkniete, um die Fesseln an seinen Fußknöcheln und dann die an seinen Handgelenken zu lösen. Kaum war er frei, packte Leif den Mann knurrend am Hemd und hob ihn hoch. Er schüttelte den Burschen derart, dass Krista befürchtete, er würde ihm das Genick brechen.

„Leif! Halt ein! Wenn du ihn verletzt, werden sie dich mit Sicherheit wieder in den Käfig stecken!“, schrie sie auf Altnordisch.

Er sah sie an. In seinen Augen konnte sie den Sturm erkennen, der in seinem Innern tobte. Einen Augenblick später schienen ihre Worte seine Wut durchdrungen zu haben, und er warf den kräftigen Burschen fort wie einen Sack Müll.

„Mein Freund“, sagte der Professor zu Leif, „wenn du unter zivilisierten Menschen leben willst, musst du lernen, dieses ungezügelte Temperament zu beherrschen.“

„Ich beherrsche mich bereits“, antwortete Leif. „Sonst wäre dieser Hurensohn jetzt tot.“

Krista unterdrückte ein Schmunzeln.

„Ich glaube, das ist jetzt der richtige Moment für uns zu gehen“, verkündete ihr Vater.

„Ich gehe nicht ohne meine Sachen.“ Leif starrte Snively, der sich gerade wieder aus dem Schmutz aufrappelte, wütend an. „Sagt ihm, ich will mein Schwert und den Rest meines Besitzes, den sie mir gestohlen haben.“ Er warf einen Blick auf den winzigen Affen, der an den Gitterstäben hing. „Und sagt ihm, dass Alfinn mit mir kommt.“

„Alfinn?“, wiederholte Krista.

Er deutete auf das kleine Tier, das nicht viel größer war als seine Hand. „Alf ist der einzige Freund, den ich in den letzten sechs Monaten hatte. Ich werde ihn nicht hierlassen.“

Krista seufzte. „Ich will sehen, was ich tun kann.“ Sie übersetzte die Worte des blonden Mannes und deutete dabei auf den Affen. Snively brummte etwas, was sie nicht ganz verstand.

Als Leif einen drohenden Schritt auf Snively zumachte, wich der mit erhobenen Händen zurück. „Sagen Sie dem Kerl, er kann den verdammten Affen haben. Sagen Sie ihm, ich gehe jetzt seine Sachen holen.“

Leif griff nach Alfinn. Der kletterte an seinem Arm hoch, setzte sich auf seine Schulter und sah dabei sehr erfreut aus, was äußerst komisch wirkte. Krista musste zugeben, dass er ein niedlicher kleiner Bursche war, auch wenn sie nicht wusste, was sie mit ihm anfangen sollten.

Aber sie hatte auch keine Ahnung, was sie mit Leif anfangen sollten.

Wenige Minuten später kam der bullige Mann zurück. Er legte Leifs schweres Schwert auf den Boden, das in einer dicken Lederscheide steckte, zusammen mit einem mit geschnitztem Hirschhorn verzierten Gehänge und einem Armband, das Leif offensichtlich ebenfalls gehörte.

„Sagen Sie ihm, dass seine Kleider von den Felsen zerfetzt wurden.“

Krista nickte, übersetzte für Leif, und der Mann eilte davon. Ihr Vater brach auf, und Leif folgte ihm, nachdem er seine Habseligkeiten eingesammelt hatte. Krista ignorierte die Leute, die sie anstarrten, als sie an ihnen vorbeigingen: zwei Männer, einer davon fast nackt, und eine Frau, die so groß war wie ein Mann. Bei der Kutsche blieben sie stehen.

„Nun, Vater, was schlägst du vor, was wir jetzt tun sollen?“

„Wie? Oh ja … ja, darüber müssen wir reden.“ Er sah zu dem riesigen blonden Mann hoch. „Du hast keinen Ort, wohin du gehen könntest, Leif of Draugr. So viel ist klar. Bis du eine Lösung für dein Problem gefunden hast, kannst du bei uns bleiben.“

Leif schien über den Vorschlag nachzudenken. „Ich brauche ein Schiff, um nach Hause zurückkehren zu können.“ Sein Blick schweifte über die belebten Londoner Straßen. „Der Ort hier, an dem ihr lebt … wie heißt der?“

„London“, entgegnete der Professor.

„Auf Draugr träumten die jungen Männer jahrelang davon, ferne Orte zu sehen … Orte, von denen unsere Vorfahren in den Sagas erzählten. Aber es gab keinen Wald mehr. Man konnte keine Segelschiffe bauen, wie unsere Vorväter es taten, die zu ihrer Zeit große Wikingerkrieger waren. Dann strandete ein Schiff auf den Felsen am nördlichen Ende der Insel, und wir erhielten endlich die Gelegenheit, auf die wir gewartet hatten.“

Seine Augen suchten Krista, und sein Blick war so intensiv, dass sie meinte, ihn auf der Haut spüren zu können. Dann wandte er sich wieder an ihren Vater. „Ich verließ die Insel, um die Welt zu erkunden … um alles zu lernen, was ich lernen konnte. Bis jetzt habe ich nur Grausamkeit kennengelernt. Aber ich glaube, man kann hier auch Gutes finden. Mehr denn je muss ich also noch lernen. Willst du mich unterrichten?“

Der Professor strahlte förmlich. „Wir beide schließen einen Handel ab. Ich werde dich unterrichten – wenn du mich unterrichtest!“

Auf dem Gesicht des blonden Mannes erschien ein Lächeln, und in seinem dichten Bart blitzten blendend weiße Zähne auf. Das Lächeln verwandelte seine Züge und ließ ihn jünger aussehen.

Fast nackt stand er da, und zum ersten Mal sah Krista ihn als Mann. Er besaß den Körper eines Wikingerkriegers, eine erstaunlich männliche Statur, die Krista einen kleinen Schauer über den Rücken jagte.

Ihrem Vater musste aufgefallen sein, wohin sie schaute, denn er öffnete den Schlag, holte eine Decke unter dem Sitz hervor und legte sie Leif um die mächtigen Schultern. Einen Moment lang wich der kleine Affe zur Seite und kauerte sich dann wieder auf seinen Platz.

„Ich glaube, die Leute haben dich genug angestarrt.“

Leif nickte nur und umklammerte die Decke, während Krista in die Kutsche stieg und Platz nahm.

Als Nächster stieg der Professor ein, gefolgt von Leif. Mit seiner großen Gestalt schien er das Innere des Wagens auszufüllen. Als die Kutsche anfuhr, ertappte Krista sich dabei, wie sie sein Gesicht betrachtete, die hohen Wangenknochen und die unglaublich blauen Augen.

Sie fragte sich, wie alt er war und wie er wohl ohne die langen Haare und den ungepflegten Bart aussehen mochte.

5. KAPITEL

Ich weiß nicht recht, wie es jetzt weitergehen soll“, sagte der Professor zu Krista, als sie im Eingang zu ihrem Stadtpalais standen.

„Er braucht etwas zum Anziehen.“ Krista gab sich Mühe, nicht auf die kraftvollen Beine unterhalb der Decke zu starren, die Leif fest um seine starken Schultern gewickelt hatte. „Er braucht eine Rasur, und er braucht einen Haarschnitt.“

„Ja, ja, natürlich.“ Ihr Vater wiederholte die Worte für Leif, dessen Miene sich bei seinen Worten leicht verhärtete. „Wenn du hier leben willst, wirst du dich unserer Lebensweise anpassen müssen“, meinte der Professor. „Willst du das?“

Leif blickte von Kristas Vater zu ihr und nickte. „Ich bin hier. Also habe ich keine andere Wahl.“

Er blickte sich um, sah zu dem Licht hoch, das sich in dem geschliffenen Kristall des Lüsters über ihnen brach, und dann hinunter auf den schwarz-weißen Marmorboden unter seinen nackten Füßen. Dank Margaret Harts erlesenem Geschmack war es ein elegantes Domizil. Die Salons, das Frühstückszimmer und die Gästezimmer waren alle in hellen, zarten Farben gehalten und mit exquisiten Tapeten ausgestattet. Die Herrenräume – Studierzimmer, Bibliothek und Billardzimmer – besaßen dunkle Holzverkleidungen und schwere, mit Schnitzereien verzierte Möbel.

Leif betrachtete die elegante Umgebung, und Krista konnte ihm sein Erstaunen vom Gesicht ablesen. Er ging und griff nach einer kristallenen Lampe. „Das ist fürs Licht?“

„Ja“, sagte Krista. „Sie verbrennt Öl.“

„Wir benützen Kerzen und Fackeln. Das hier ist eine gute Idee.“

Krista unterdrückte ein Lächeln. Er ging in den Salon, setzte sich auf ein Sofa aus rosa Samt, wippte auf und nieder, um die Federung zu prüfen, und sah dann zu Krista, die neben ihrem Vater in der Tür stand.

„Keine Felle? Wir benützen Wolfsfelle, um uns warm zu halten.“

Wolfsfelle! Sie deutete auf den mit Marmor verkleideten Kamin. „Wir verbrennen Kohle“, erklärte sie.

Sie beobachtete, wie er durch den Raum ging und dabei einen Gegenstand nach dem anderen hochhob, eine Cloisonné-Vase, ein kleines, gemaltes Porträt ihrer Mutter, einen silbernen Kerzenhalter, in dem eine Bienenwachskerze steckte. Ihr Vater gab ihm noch einige Augenblicke, um sich mit dem Haus vertraut zu machen, dann ging er zu ihm.

„Ich werde dich in Kürze ein wenig herumführen“, sagte er, „um dir einige Dinge zu zeigen, die du vielleicht noch nie gesehen hast und die dich interessieren könnten.“

Leif nickte nur, während seine Augen ununterbrochen über die Einrichtung des Hauses glitten.

„Gehen wir doch in der Zwischenzeit hinauf, und ich klingle nach meinem Kammerdiener.“ Der Professor musterte Leifs langes Haar und seinen dichten Bart. „Da müssen wir einiges tun. Lass uns sehen, ob Henry der Herausforderung gewachsen ist.“ Er lächelte Krista zu. „Wenn du mich entschuldigen würdest, Liebes.“

Sie nickte. „Während Sie sich darum kümmern, sehe ich einmal nach, ob ich etwas zum Anziehen für ihn finde.“

Die bereits mit Grau durchsetzten braunen Augenbrauen des Professors gingen nach oben. „Das dürfte sich sicher als ein Problem erweisen.“

„Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.“ Krista überließ ihren Vater seiner Aufgabe und machte sich auf den Weg zu den Ställen. Der Kutscher war ein groß gewachsener Mann, wenn auch nicht so groß wie Leif. Vielleicht würden es seine Kleider tun, bis sie für Leif etwas Passendes hatten anfertigen lassen.

„Skinner!“, rief sie, und wenig später erschien ein großer, kräftiger Mann. „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Es soll auch nicht zu Ihrem Schaden sein.“

Der Kutscher lauschte ihrem Vorschlag und grinste.

Zwanzig Minuten später kehrte sie ins Haus zurück, auf dem Arm eine braune Hose und ein weitärmeliges handgewebtes Hemd. Wahrscheinlich waren die Kleidungsstücke Leif zu eng, aber sie waren immer noch besser als das wenige, was er im Moment trug.

Krista ließ den Männern Zeit genug, um mit dem fertig zu werden, was eine Herkulesaufgabe zu sein schien, dann erst ging sie mit den Kleidern nach oben. In der Hand trug sie noch ein Paar Stiefel von Skinner. Sie wollte gerade zum Schlafzimmer ihres Vaters gehen, als sie wie angewurzelt stehen blieb. Die Badezimmertür hatte sich geöffnet, und sie erblickte Leif, der bis auf ein schmales weißes Leinenhandtuch um seine Hüften nackt in der Mitte des Raumes stand.

Wie ein großer nasser Hund schüttelte er den Kopf, sodass die Wassertropfen durchs Badezimmer bis hinaus auf den Korridor sprühten. Ihre Blicke trafen sich, und Krista hielt die Luft an.

Mit kurz geschnittenem Haar und glatt rasiertem Gesicht sah Leif unglaublich gut aus. Hohe Wangenknochen, wohlgeformte Lippen – die Linie der Kinnbacken markant und hart … Und wenn er lächelte, zeigte er blendend weiße Zähne.

Wie von selbst wanderte ihr Blick über seinen Körper. Jetzt, wo der blonde Vollbart verschwunden war, konnte man seine Brust sehen. Sie war sehr muskulös und mit einem Flaum goldblonder Haare bedeckt.

Ihr Blick wanderte tiefer und glitt über den einzigen Körperteil, der anständig bedeckt war. Das Tuch bewegte sich, zuckte und begann, sich zu heben. Schockiert flog Kristas Blick zu Leifs Gesicht, und sie sah, wie seine Mundwinkel nach oben gingen.

„Ich hoffe, dir gefällt, was du siehst. Du merkst ja, wie sehr du mir gefällst.“

Mit flammend rotem Gesicht eilte Krista davon und hörte hinter sich den kleinen Affen schnattern, als würde er lachen. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich zu beherrschen, als sie an die Tür ihres Vaters klopfte und eintrat.

Der Professor, der gerade vor seinem Toilettentisch saß und in einem Buch las, nahm seine Brille ab. „Was ist denn, Liebling?“

„Dieser … dieser Mann“, stotterte sie. „Sie müssen etwas unternehmen.“

„Ich tue mein Bestes, mein Schatz. Henry hat ihn rasiert und sein Haar geschnitten. Leif hat sich sehr gründlich gewaschen. Ich finde, dass er jetzt eigentlich wesentlich besser aussieht.“

Das stimmte. Er sah besser aus. Leif of Draugr war schön wie die Sünde und gebaut wie ein Wikingergott. Er war das vollkommenste Mannsbild, das Krista je gesehen hatte. Sie hielt ihrem Vater die Kleider hin. „Er ist immer noch fast nackt, und er ist … er ist …“

„Ja?“

Was sollte sie sagen? Dass es sie beunruhigte, welchen Weg die Gedanken dieses Mannes nahmen? Aber vielleicht tat sie ihm unrecht. Schließlich war der arme Kerl die letzten sechs Monate in einem Käfig eingesperrt gewesen, und er war doch, das konnte man nicht übersehen, ein sehr männlicher Mann.

„Lass gut sein.“ Sie drückte ihrem Vater die Kleider in die Hand. „Sie werden ein wenig eng sein, aber wenigstens wird er darin anständig aussehen.“

Ihr Vater nickte. „Ich bringe sie ihm sofort.“

Krista sah zu, wie ihr Vater den Gang hinunterging und im Badezimmer verschwand. Wenige Minuten später kam er zurück.

„Er zieht sich jetzt an. Sicher ist er hungrig. Ich habe ihn gebeten, mit uns zu Abend zu essen. Sag der Köchin bitte, dass ein zusätzliches Gedeck aufzulegen ist, ja?“

Krista versuchte sich vorzustellen, wie der riesige Mann mit ihnen an einem Tisch saß. Er war ein Barbar. Er entstammte einer Kultur, von der man angenommen hatte, dass sie vor mehr als dreihundert Jahren verschwunden war. Auch wenn Krista die Wikinger faszinierend fand, so waren sie doch ein wildes, grausames und primitives Volk.

Innerlich stöhnte sie auf. Wenn sie doch nur einen Weg wüsste, wie sie Leif of Draugr nach Hause schicken könnte.

Leif hatte sich das Haar mit dem Handtuch trocken gerieben und genoss das Gefühl, kurz geschnittene blonde Locken und glatte, bartlose Wangen zu haben. In seiner Welt trugen die Männer lange Haare und Bärte. Doch in den Monaten seit seiner Gefangennahme hatte er seinen schier unbezähmbaren Haarwust und den ungepflegten Bart hassen gelernt.

Vielleicht gab es an diesem London genannten Ort doch einige ganz brauchbare Sitten.

Er zog die Kleider an, die Paxton Hart ihm gegeben hatte. Die Beinlinge – hier nannte man sie Hosen – waren zu kurz und saßen so eng, dass er Angst hatte, die Nähte würden platzen. Vorn wölbte sich seine Männlichkeit vor und drückte sich so fest gegen den Stoff, dass es wehtat.

Zu Hause trugen die Männer bequeme, lose fallende Beinlinge unter ihren Kitteln, die bis über die Knie reichten. Im Sommer waren die Tuniken kürzer, und die Beine waren, bis auf die kniehohen Stiefel, unbedeckt.

Leif zog an dem weißen gewebten Kleidungsstück – ein Hemd hatte Paxton es genannt. Paxton war ein Professor. So nannten sie hier einen Ratgeber. In Leifs Welt gab es keine festen Orte wie hier, an denen man lernte. Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben: wie man Getreide anbaut, wie man Schafe, Ziegen und Vieh züchtet oder im Meer Fische und Robben fängt und wie man kämpft, um seine Familie zu beschützen. Leif hatte das immer für gut und richtig gehalten.

Es gab auch eine Schriftsprache auf Draugr. Vieles aus ihrer Geschichte war aufgeschrieben worden, sodass jede Generation ihre Erinnerungen hatte. In dieser neuen Welt wurden Informationen in ein Buch geschrieben, wie der Professor es nannte.

„Ich habe einen sehr großen Raum voller Bücher“, hatte der Mann voll Stolz zu ihm gesagt. „Wenn du erst einmal Englisch sprechen kannst und schreiben gelernt hast, wird dir die ganze Welt offenstehen.“

In diesem Augenblick erschien Alfinn, durchstreifte das Badezimmer und untersuchte Wanne und Waschbecken. Leif drehte sich um und warf einen Blick in den Spiegel. Er sah, dass das weiße Hemd über seinen Schultern spannte und die Nähte sich dehnten. Und seine Arme waren ein wenig zu lang für die weiten, gekräuselten Ärmel.

Aber er hatte sich bedeckt, und seine Würde war wiederhergestellt.

Er musste lächeln. Während seiner Gefangenschaft hatte er gelernt, wie prüde die Frauen hier waren und dass sie so taten, als wüssten sie nur wenig über die Männer. Doch ihre Augen hatten sie oft verraten und ihre Neugier gezeigt oder ihre Gedanken, die eher lüsterner Natur waren.

Selbst die Blonde war neugierig. Ihr hatte sein Aussehen auch gefallen und wie sein Körper ohne Bekleidung aussah. Auch er würde sie gern einmal so sehen. Allerdings glaubte er nicht, dass dies dem Professor gefallen würde.

Selbst auf Draugr beschützte ein Vater die Tugend seiner Tochter, und eine junge Frau schenkte sich ihrem Ehemann unberührt. Aber es gab auch Frauen, die einen vergnügten Abend genauso zu schätzen wussten wie die Männer. Und wenn genug Geld vorhanden war, konnte ein Mann es sich leisten, sich neben seiner Frau auch noch einige Konkubinen zu halten.

Bevor er Draugr verließ, hatte Leif daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen, und es hatte einige gegeben, die gern eingewilligt hätten. Doch er war entschlossen gewesen, die Welt jenseits seiner Insel kennenzulernen, und als sich die Gelegenheit dazu ergab, hatte er zugegriffen. Deswegen hatte er leiden müssen. Aber schlechte Menschen gab es überall, und die Freundlichkeit, die der Professor und seine Tochter ihm zeigten, ließen wieder die Hoffnung in ihm aufleben, dass doch nicht alles vergebens war.

Er wandte sich vom Spiegel ab, ließ den Affen mit dem Versprechen im Badezimmer zurück, ihm Futter zu bringen und machte sich auf den Weg nach unten. Die engen Hosen rieben an seiner Männlichkeit und ließen ihn an die Blonde denken. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, doch dann sah er sie neben dem Professor stehen.

Sie trug ein Kleid aus einem feinen, weichen Stoff in dem gleichen strahlenden Grün wie ihre Augen. Das Oberteil lag eng an ihrem üppigen Busen an, und ihre Taille war schmaler als die irgendeiner Frau auf seiner Insel. Der Rock ihres Kleides bauschte sich verführerisch über ihren Hüften.

Das Kleid schien noch unbequemer zu sein als die Tracht der Männer, trotzdem gefiel es ihm, denn dort, wo das Oberteil in einem V-förmigen Ausschnitt endete, konnte er einen Blick auf cremeweiße Haut erhaschen. Es waren hübsche runde Brüste, und mit einem Mal saß seine Hose noch enger.

„Guten Abend, Professor“, sagte er und benutzte dabei das englische Wort. „Guten Abend, Frau.“ Er kannte die richtige englische Anrede nicht, doch er würde sie sicher bald lernen.

„Die richtige Anrede ist ‚Miss Hart‘.“

„Miss … Hart“, wiederholte er, und die Aussprache bereitete ihm nur wenig Mühe. Mehr als sechs Monate lang hatte er der Sprache der Menschen dieses Landes gelauscht. Von Anfang an wusste er, dass seine Chancen, die Freiheit zu erlangen, steigen würden, wenn er einige dieser Wörter lernte. Jetzt, wo er frei war, erschien es ihm sogar noch wichtiger.

„Wir werden morgen mit unserem Sprachunterricht beginnen“, sagte der Professor zu ihm. „Heute Abend wollen wir uns nur in deiner Sprache unterhalten. Du musst hungrig sein, Leif. Lasst uns zu Tisch gehen.“

Leif nickte, und sein Magen knurrte als Bestätigung. Insgeheim hoffte er, dass diese Leute etwas Handfesteres aßen als Haferschleim, von dem er die letzten sechs Monate hatte leben müssen.

Krista beobachtete, wie Leif of Draugr vor ihr in das Speisezimmer ging. Auch wenn eine Frau in der Wikingergesellschaft Respekt genoss, so kam sie doch erst nach dem Mann. Und dieser Gedanke gefiel ihr nicht. Wenn Leif in der zivilisierten Welt seinen Weg machen wollte, hatte er noch vieles zu lernen.

Sie wollte ihm schon erklären, dass die Dame immer vor dem Herrn den Raum betrat, als ihr einfiel, was ihr Vater gesagt hatte. Keine Unterrichtsstunde heute Abend. Sicher verdiente der Nordländer ein paar Stunden, in denen er sich einfach nur seiner Freiheit erfreute.

Sie setzten sich zu Tisch, ihr Vater am Kopf der Tafel und Leif zu seiner Rechten.

„Ich kann mir vorstellen, dass du hungrig bist“, sagte Krista, um eine ungezwungene Atmosphäre bemüht.

„Ich könnte das ganze Hinterteil eines Schafes verdrücken“, erwiderte er mit einem schelmischen Lächeln, das Grübchen auf seine Wangen zauberte. Lieber Gott, es gehörte verboten, dass ein Mann so gut aussah. Das war nicht fair gegenüber dem Rest der Männerwelt. Aber seine ungehobelte Bemerkung ließ sie erkennen, dass er doch nicht viel mehr war als ein hübsches Gesicht. Und an solchen Männern war sie nie interessiert gewesen.

Ihr Vater räusperte sich, um sie zu warnen, Leifs Benehmen nicht zu korrigieren, und fing dann an, ihm Fragen zu stellen. Sie sprachen schnell, sodass Krista einiges von der Unterhaltung entging, doch sie glaubte verstanden zu haben, dass Leif unverheiratet war und keine Kinder hatte. Außerdem war er der älteste Sohn eines Chiefs.

„Ich kenne siebenundzwanzig Sommer“, sagte er. „Und wie alle Männer unserer Insel konnte ich nicht erwarten, die Welt jenseits meiner Heimat zu entdecken.“

Krista breitete die Serviette über ihren Schoß. „Du hast erwähnt, dass das Schiff, das ihr gebaut habt, irgendwo nördlich von hier gesunken ist.“

Er nickte und folgte ihrem Beispiel. „Mein Vater befürchtete, dass so etwas passieren würde. Als sein ältester Sohn bin ich dazu bestimmt, an seiner Stelle zu regieren, wenn seine Zeit auf Erden vorüber ist. Er verbot mir wegzugehen, aber ich wollte nicht auf ihn hören.“

Seine Miene ließ erkennen, wie sehr ihn dieser Gedanke bedrückte. Wie es aussah, hatte er Verpflichtungen seinem Vater und seinem Clan gegenüber. Und wenn er nicht zurückkehrte, konnte er sie nicht erfüllen.

Zwei Diener erschienen mit Platten voll Fleisch und Gemüse. Leif beobachtete den Professor, der ihm genau erklärte, wie er eine Portion gebratenes Lamm von der Platte nehmen konnte, die man ihm hinhielt. Leif nahm sich eine gewaltige Portion, dann noch eine und versorgte sich dann gleich noch mit ausreichend gekochter Makrele, um seinen Teller bis zum Rand zu füllen.

Kaum hatte er ihn auf den Tisch gestellt, nahm er sein Messer, spießte damit einen Brocken Fleisch auf und schob ihn in den Mund.

Krista machte große Augen, als er vor Vergnügen grinste und sich mit dem Handrücken das Fett vom Mund wischte.

„Das schmeckt sehr gut“, meinte er.

Sie wollte schon sagen, dass man hierzulande mit der Gabel aß und auch keine zu großen Bissen in den Mund nahm, aber ihr Vater schüttelte den Kopf.

„Wir fangen morgen damit an“, meinte er leise auf Englisch zu ihr.

Leif nahm einen großen Schluck Wein aus seinem Kristallkelch und erstarrte. Ihre Blicke trafen sich, und Krista sah, dass der Geschmack ihm völlig fremd war und ihm auch nicht zusagte. Er blickte zu Boden. Es war ihm anzusehen, dass er daran dachte, alles wieder auszuspucken.

Schnell schüttelte Krista den Kopf. „Wir spucken hier nicht.“

Leif sah sie einen Moment lang an, dann schluckte er. „Was ist das?“, fragte er und verzog angewidert die Lippen, als hätte er Gift zu sich genommen.

„Wein“, antwortete ihr Vater. „Wenn ich mich recht erinnere, trinkt dein Volk gewöhnlich Bier. Vermutlich hat er dir nicht geschmeckt.“

Der Wikinger zog eine Grimasse.

„Man gewöhnt sich daran“, erklärte ihr Vater.

Krista hatte erst die Hälfte von ihrem Essen verspeist, als sie aufblickte und sah, dass Leifs Teller schon leer war.

„Ich glaube, Leif möchte noch ein wenig mehr“, sagte sie zu ihrem Vater. Sein Blick fiel auf den Teller des Wikingers, der völlig sauber gekratzt war. Krista bedeutete einem der Diener, noch eine Platte mit Fleisch und Gemüse zu bringen.

Leif beachtete die Karotten, Rübchen und Kartoffeln nicht, und Krista erinnerte sich, dass die Wikinger außer einigen wilden Zwiebeln und verschiedenen Arten von Seetang hauptsächlich Fisch, Fleisch und Milchprodukte gegessen hatten.

Dem Essen folgte das Dessert. Misstrauisch betrachtete Leif den Vanillepudding, der mit einem Püree aus gezuckerten Mandeln bedeckt war und den ein Diener vor ihn hinstellte.

„Du musst es nicht essen, wenn du nicht willst“, sagte Krista.

Leif sah sehr erleichtert aus. „Ich versprach Alfinn, ihm etwas zu essen zu bringen.“ Er nahm die Platte mit den Rübchen und den Karotten, stand auf und ging in Richtung Tür. Man sah, dass er nicht daran gewöhnt war, um Erlaubnis zu fragen.

„Im Allgemeinen werden Affen nicht im Haus gehalten“, rief Krista hinter ihm her. „Vielleicht wäre Alfinn in den Ställen glücklicher?“

Er nickte. „Alf ist daran gewöhnt, mit anderen Tieren zusammen zu sein. Ich glaube, es wird ihm gefallen.“ Damit verschwand er.

Als Krista und ihr Vater dann ebenfalls ihr Essen beendet hatten, war Leif immer noch nicht zurück.

Besorgt erhob sich der Professor. „Ich sollte besser nachschauen, was geschehen ist.“

„Ich habe eines der Gästezimmer herrichten lassen“, sagte Krista. „Dort dürfte er es mehr als bequem haben.“

Doch ihr Vater kam allein zurück. „Er schläft draußen im Stall. Er hat sich in einer der Boxen ein Bett aus Stroh gemacht. Ich wusste nicht recht, ob ich ihn wecken sollte.“

Nach allem, was er in den letzten sechs Monaten durchgemacht hatte, störte es Krista, dass er eine weitere Nacht auf dem Stroh verbringen sollte. „Vielleicht hat er etwas missverstanden. Ich gehe und erkläre ihm, dass er nicht länger wie ein Tier leben muss.“

Ihr Vater nickte. Sie wusste, dass er müde war, genau wie sie selbst. Morgen war Montag, und sie musste den Leitartikel für die aktuelle Wochenausgabe schreiben.

Es stand die Abstimmung über einen Gesetzesvorschlag bevor, der beinhaltete, in den Bergwerken Frauen, junge Mädchen und Kinder von der Arbeit unter Tage auszuschließen. Auch wenn er eher aus Sorge um die öffentliche Moral entstanden war, denn man hatte entdeckt, dass die Frauen und Kinder sich fast nackt auszogen, um die Hitze ertragen zu können, glaubte Krista doch, dass es ein gutes Gesetz war.

Sie ging hinaus und schlug die Richtung zu den Ställen ein.

Leif schlief tief, und wie so oft träumte er von zu Hause. Er hätte die Insel niemals verlassen dürfen. Dann würden seine Freunde noch leben, und er müsste sich nicht seinen Weg in einer feindlichen, ihm völlig fremden Welt suchen. Trotzdem, jetzt, wo er frei war, lernte er allmählich die Welt kennen, die er einst zu entdecken gehofft hatte, und es fiel ihm schwerer zu bedauern, dass er Draugr verlassen hatte.

Doch wäre er dortgeblieben, müsste er sich jetzt nicht nach einer Frau sehnen, müsste nicht von weichen, weiblichen Formen und vollen Brüsten träumen, von goldblondem Haar, das einen Mann erregte, wenn er nur daran dachte.

Durch die Dunkelheit drang eine Stimme bis in seine Träume. Er erinnerte sich, dass Inga heute Nacht in sein Bett gekommen war, dass er sie genommen hatte, bis sie beide mehr als befriedigt waren. Jetzt war er halb wach und erneut zum Liebesspiel bereit. Als sie ihn an die Schulter fasste und leicht schüttelte, wusste er, dass auch sie bereit sein musste.

Er griff nach ihr, zog sie zu sich aufs Stroh und rollte sich auf sie. Dann begann er eine dralle, runde Brust zu kneten, während er ihren Hals küsste.

„Du warst schon immer eine leidenschaftliche Frau, Inga, aber heute Nacht …“

Ihr wütender Schrei schmerzte in seinen Ohren. Leif, jetzt völlig wach, fuhr zurück und blinzelte verwirrt, da ihm wieder einfiel, dass er nicht mehr auf Draugr war.

„Wie kannst du es wagen!“

Er war in London, und die vollen Brüste, die er gestreichelt hatte, gehörten der üppigen Blonden.

„Ich habe geträumt. Ich dachte, du wärst jemand anders.“

„Jemand anders!“, schrie sie. „Jemand anders!“ Sie richtete sich kerzengerade auf und sah ihn von oben herab an. Selbst in ihrer Wut sah sie schön aus. Sie besaß die fein geschnittenen Züge einer Nordlandfrau, den grazilen Hals und die vollen Lippen. „Das ist jetzt das dritte Mal, dass du mich beleidigst, Leif of Draugr. Du wirst dich sofort entschuldigen oder das Haus verlassen und nicht wiederkehren.“

Leif biss die Zähne zusammen. Er konnte nirgends hin und brauchte die Hilfe dieser Leute. Trotzdem würde er sich nicht von einer Frau herumkommandieren lassen, auch wenn sie noch so hübsch war.

„Ich bereue nicht, dich angefasst zu haben. Es tut mir nur leid, dass du es nicht willst. Dafür entschuldige ich mich.“

Er trug immer noch diese unbequemen Hosen, die seine Hüften und Beine wie eine zweite Haut umschlossen. Doch er hatte sie aufgeknöpft, und jetzt befürchtete er, Krista könnte entdecken, was sie bei ihm bewirkt hatte. Schnell rappelte er sich hoch und wandte sich einen Augenblick zur Seite, um sich die Hose wieder zuzuknöpfen.

Im schwachen Licht einer Laterne, die an einer Wand hing, konnte er sehen, dass Kristas Gesicht glühte. Ihre Haarnadeln hatten sich gelöst. Die schwere Mähne fiel in dicken goldenen Locken, in denen hier und da Strohhalme steckten, über ihre Schultern.

Leif konnte sich an keine Frau erinnern, die je eine solch wilde Lust in ihm geweckt hatte. Er fluchte leise.

Doch sie hatte es trotzdem gehört. „In diesem Haushalt wirst du das Fluchen unterlassen“, erklärte sie.

„Du gibst Befehle wie ein Mann. Ist das auch eine eurer Sitten?“

Sie errötete und sah zur Seite. „Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass du nicht in der Scheune schlafen musst. Im Haus steht ein Zimmer für dich bereit.“

Leif sah zu dem kleinen Affen hin, der ihn angstvoll mit seinen glänzenden dunklen Augen anblickte. „Was ist mit Alfinn? Er wird glauben, ich hätte ihn im Stich gelassen.“

„Affen gehören nicht ins Haus“, entgegnete Krista.

Alfinn ließ einen verlorenen, mitleiderregenden Schrei hören. Den Trick hatte er immer angewandt, um vom Publikum Naschereien zu erbetteln.

Krista seufzte. „Also gut, du kannst ihn mitnehmen. Aber dann musst du auch seinen Schmutz wegräumen.“

Leif grinste. „Alf ist ein sehr sauberer Affe.“

Entnervt verdrehte Krista die Augen und ging ins Haus zurück. Leif folgte ihr. Ihre weite Bekleidung verbarg den größten Teil ihrer weiblichen Kurven, doch unter dem schweren Stoff schwang ihr hübsches Hinterteil hin und her.

Bei allen Göttern, was Krista Hart betraf, so musste er sich in Acht nehmen. Er war gewöhnt, sich jede Frau zu nehmen, die er begehrte. Und den Frauen hatte es immer gefallen, wenn er sich ihnen näherte.

Dieses Mal war es wohl anders. Obwohl er jetzt ein freier Mann war, würde er auf sein Vergnügen verzichten müssen. Leif dachte an Kristas Wut, als er im Halbschlaf ihre Brust gestreichelt hatte. Den Göttern sei Dank, dass seine Waffen nicht in Reichweite gelegen hatten. Hätte diese Frau sein Schwert gefunden, sie hätte es ihm gewiss ins Herz gestoßen.

Missmutig brummte er in sich hinein. Ganz anders als Inga würde die Blonde ihn gewiss nicht in ihr Bett einladen.

6. KAPITEL

Krista war spät dran, obwohl sie sonst selten verschlief. Und sie wäre auch an diesem Morgen rechtzeitig aufgewacht, wäre sie über die Begegnung im Stall nicht so wütend gewesen, dass sie nur mit Mühe hatte einschlafen können. Leif Draugr war ein großer, grober, zu schnell gewachsener Flegel ohne das geringste Feingefühl. Was für Freiheiten er sich genommen hatte! Kein Mann hatte es je gewagt, ihre Brüste auch nur zu berühren, geschweige denn sie zu streicheln, als wüsste er, wie empfindsam sie waren.

Krista verbat sich jeden Gedanken an Leif und eilte zum Badezimmer. Sie öffnete die Tür und trat ein.

Beim Anblick des großen Scheusals, das in der Badewanne lümmelte, riss sie erschrocken die Augen auf. Er hatte die Knie bis an die Brust gezogen, und das Wasser bedeckte kaum seine Männlichkeit.

„Guten Morgen.“

Mit brennend rotem Gesicht wich Krista zurück und zog unwillkürlich ihren gesteppten Morgenmantel enger um sich. „Was machst du hier?“ Sie kniff die Augen fest zu, doch den Anblick der breiten, muskulösen Schultern und der Arme, die aussahen, als wären sie aus Stahl, konnte sie nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen.

„Ich bade“, sagte er, als wäre es sein gutes Recht, zu der Zeit, in der normalerweise Krista hier war, den mit Marmor ausgelegten Raum zu besetzen. „Ich dachte, hier sei es üblich zu baden. In meinem Land reinigen wir uns mit Dampf oder setzen uns in eine der heißen vulkanischen Quellen. Aber so wird es auch gehen.“

Zähneknirschend wandte Krista ihm den Rücken zu. Sie erinnerte sich daran, wie sein großer, fester Körper sie im Stall ins Stroh gedrückt und wie er die heißen Lippen auf ihren Hals gepresst hatte, und ein leichter Schauer überlief sie.

Tief holte sie Luft. „Wieso bist du jedes Mal halb nackt, wenn ich dich treffe?“

Er wollte etwas erwidern, doch sie stolzierte schon hinaus, knallte die Tür zu und ging in ihr Schlafzimmer zurück.

Bis er fertig war und sie endlich ins Badezimmer konnte, hatte sie sich noch mehr verspätet und war ziemlich wütend. Du meine Güte, war es erst gestern gewesen, dass das Haus ihr als ein stiller Zufluchtsort erschienen war?

Ihre Zofe Priscilla Dobbs half ihr beim Anziehen und Frisieren. Dann eilte Krista die Treppe hinunter und band sich auf dem Weg zur Haustür noch rasch die Bänder ihrer Haube. Draußen wartete schon die Kutsche. Sie nahm ihren wollenen Mantel vom geschnitzten Garderobenständer im Eingang und beeilte sich noch mehr, als sie die beiden preisgekrönten Braunen ihres Vaters ungeduldig stampfen hörte, dass die Geschirre klirrten.

Milton Giles, der langjährige weißhaarige, immer äußerst sorgfältig gekleidete Butler der Familie öffnete Krista die Tür und trat zurück, um sie vorbeizulassen. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Miss.“

„Danke, Giles.“

Gerade als sie durch die Tür trat, stieß sie auf Matthew Carlton, der in diesem Augenblick die oberste Stufe zum Eingangsportal erreichte.

„Krista! Ich hoffte, Sie hier zu finden.“ Er lächelte.

Sie unterdrückte einen ärgerlichen Seufzer. „Es tut mir leid, Matthew. Heute Morgen bin ich außerordentlich spät dran. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Das kann man so sagen. Viscount Wimby und seine Gattin Diana haben mich eingeladen, sie heute Abend zu einer Vorstellung von ‚Die überirdische Braut‘ in das Theater Ihrer Majestät zu begleiten. Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, doch ich hoffte, Sie könnten mich begleiten.“

Krista musste noch den Leitartikel dieser Woche schreiben und unbedingt mit Corrie über deren Zirkusartikel sprechen, denn sie wollte sichergehen, dass ihre Freundin sich jeden Hinweis auf den wilden Mann im Käfig verkniff. Bis jetzt wusste Corrie nicht, dass dieser Mann im Haus ihrer besten Freundin wohnte – zumindest vorerst. Wenn sie es erst einmal erfuhr, würde sie verstehen, wie wichtig es war, sein Privatleben zu schützen.

„Ich freue mich über die Einladung, Matthew, wirklich, aber ich habe so viel zu tun und …“

„Und was? Wie es scheint, gibt es für Sie immer etwas zu tun, das wichtiger ist als ich.“

„Das ist nicht wahr. Ich bin nur sehr beschäftigt. Ein etwas unerwarteter … Gast … ist angekommen. Das hat meinen Arbeitsplan ein wenig durcheinandergebracht.“

In diesem Moment blickte sie auf und stöhnte innerlich. Leif schritt in seinem lächerlich engen Hemd und der engen Hose die Treppe herunter und durchbohrte Matthew geradezu mit seinem Blick.

Matthew starrte ebenso gebannt auf Leif. „Wer … ist … das?“ Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Das ist doch sicher nicht Ihr Gast?“

Krista gefiel sein Ton nicht. Und wie es schien, ging es Leif ebenso. Auch wenn er kein Wort verstand, sah man es seinem Gesicht an.

„Das ist eine sehr lange Geschichte, Matthew. Gerade jetzt habe ich keine Zeit, sie zu erklären.“

Matthew betrachtete den großen blonden Mann, der selbst in seinen schlecht sitzenden Kleidern unglaublich gut und überwältigend männlich aussah. „Sollten Sie sich eine mögliche gemeinsame Zukunft für uns beide vorstellen können, werden Sie sich die Zeit für eine Erklärung nehmen müssen.“

Er war doch wohl nicht eifersüchtig. Leif mochte gut aussehen, doch er war unerträglich grob und ein Barbar. Also ganz bestimmt keine Bedrohung für einen Gentleman wie Matthew.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Also gut, wir werden in die Oper gehen. Ich werde Ihnen heute Abend alles erklären.“

„Nein, ich wünsche jetzt eine Erklärung. Und ich denke, dass Sie mir eine schulden.“

Glücklicherweise erschien in diesem Augenblick ihr Vater in der Halle. „Ich glaubte, Stimmen zu hören …“

Erleichtert seufzte Krista auf. „Vater, Matthew hat einige Fragen über unseren … Hausgast. Würden Sie sich einen Moment Zeit nehmen, um ihm alles zu erklären?“

Leif hatte die letzte Stufe erreicht und trat näher. „Wer ist dieser Mann?“, fragte er, als hätte er ein Recht dazu, es zu wissen.

„Er ist ein Freund“, antwortete Krista ungeduldig und sah, wie Matthew wegen der Sprache, in der sie sich unterhielten, die Augenbrauen hob.

„Seine Name ist Leif Draugr“, sagte ihr Vater zu Matthew. „Er ist Wikinger und spricht deren Sprache. Ich werde Ihnen gerne alles erklären, doch im Gegenzug rechne ich in dieser Angelegenheit auf Ihre Diskretion. Das hier ist eine großartige Chance für uns, Matthew! Die Chance, eine Kultur zu studieren, die man seit Langem für ausgestorben hält.“

Neugierig betrachtete Matthew den Wikinger, und der sah ihn an, als wäre er der fette Mann mit dem Stock draußen vor seinem Käfig.

„Sie haben mein Wort“, entgegnete Matthew, sichtlich fasziniert. „Worüber wir auch sprechen werden, es bleibt absolut unter uns.“

Ihr Vater nickte und sagte an Leif gewandt: „Du musst mich entschuldigen. Ich muss ein Wort mit meinem Kollegen sprechen. Sobald ich fertig bin, können wir mit unserem Unterricht beginnen.“ Dann sah er seine Tochter an. „Unser Gast braucht dringend passende Kleidung. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich freuen, wenn du mir in dieser Angelegenheit hilfst. Ich könnte dich am Nachmittag von der Redaktion abholen, wenn du etwas Zeit erübrigen kannst.“

Krista seufzte innerlich. Ihre Mutter hatte ihrem Vater immer bei der Auswahl seiner Anzüge geholfen. Danach hatte sie selbst erfolgreich diese Aufgabe übernommen. Sie würde den großen Wikinger viel besser beraten können als der Professor.

„Gut, ich gehe mit. Bis zum Nachmittag müsste ich alles unter Kontrolle haben.“

„So um zwei Uhr dann?“

Sie nickte und schenkte Matthew ein Lächeln. „Wenn die Herren mich dann entschuldigen würden …“

Matthew und ihr Vater verbeugten sich leicht. Zu Leif sagte Krista nichts, aber sie konnte seinen Blick spüren, während sie durch die Tür ging. Doch sie ignorierte das seltsame kleine Flattern im Magen und ging die Eingangsstufen hinunter zu ihrer Kutsche.

Die Arbeit in der Redaktion verlief wie immer. Kürzlich hatte Krista sich nach einem billigeren Papierhändler umgeschaut, und jetzt verbrachte sie den Morgen damit, die verschiedenen Angebote zu studieren. Sie saß an ihrem Schreibtisch, als ihr Vater in ihr Büro trat.

„Ach du liebe Güte, es tut mir leid, Vater. Ich habe völlig die Zeit vergessen.“ Sie nahm die Schürze ab, die sie sich über das taubengraue Kleid gebunden hatte. Es war mit scharlachroten Borten besetzt und gehörte zu ihren Lieblingskleidern. „Lass mich nur die Haube aufsetzen, und dann komme ich gleich mit.“

Er nickte und wartete geduldig, während Krista nach oben in den Waschraum ging, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Sie nahm ihren Mantel, setzte die mit scharlachroten Litzen verzierte Haube auf die blonden Locken, band die Bänder unter dem Kinn fest und ging wieder nach unten.

„Leif wartet in der Kutsche“, sagte der Professor.

Und er wartete ziemlich ungeduldig, wie Krista feststellen konnte, als sie in die Kutsche kletterte und ihm gegenüber Platz nahm.

„Du bist zu spät, Frau.“

Krista war ein wenig verstimmt. „Von Frauen erwartet man, dass sie zu spät kommen. Außerdem, woher weißt du das überhaupt? Du hast keine … keine …“ Sie wusste das altnordische Wort für Uhr nicht. Also sagte sie: „Keine Möglichkeit, die Zeit zu wissen.“

Er beugte sich vor, sah aus dem Fenster und deutete zu der goldenen Kugel empor, die über der Stadt strahlte. „Die Bewegung der Sonne sagt mir alles, was ich wissen muss.“ Eindringlich sah er sie an. „Und du, Frau, bist spät.“

Krista öffnete schon den Mund, um ihm zu erklären, dass er von Glück sagen konnte, wenn sie überhaupt mitkam, als ihr Vater ihr einen seiner Blicke zuwarf. „Denke daran, Liebes“, meinte er auf Englisch, „dort, wo Leif herkommt, ist alles etwas anders.“

„Nun gut, aber Leif ist jetzt in London und nicht auf der Insel Draugr.“ Sie warf dem blonden Mann einen Blick zu. „Er muss lernen, die Dinge zu akzeptieren, wie sie hier nun einmal sind.“

Leif stöhnte, als verstünde er, was sie sagte.

Krista ignorierte ihn und erduldete stumm, auf dem Weg durch den dichten Londoner Verkehr hin und wieder wegen eines Schlaglochs durchgeschüttelt zu werden. Auch wenn sie ihn nicht beachtete, konnte sie Leifs Gegenwart spüren. Sie schien mit jeder seiner Bewegungen verbunden zu sein, spürte, wie sein heißer Blick über ihren Körper wanderte. Noch nie war sie sich eines Mannes so bewusst gewesen. Und das empfand sie als seltsam beunruhigend.

Schließlich hielten sie vor dem Laden von Stephen Ward and Company in der Regent Street – es war der Lieblingsschneider von Kristas Vater – und betraten das Gebäude. Man hatte Mr. Ward bereits ihre Ankunft angekündigt, und er erschien höchstpersönlich hinter der Theke.

„Willkommen, Sir Paxton, Miss Hart. Wie immer ist es uns ein Vergnügen, Ihnen zu dienen.“ Mr. Ward war ein kleiner Mann mit schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haaren und einem dünnen Schnurrbart. Nur ein leichtes Anheben seiner Augenbraue verriet das Erstaunen bei Leifs Anblick in seinen zu engen Kleidern.

„Das ist Mr. Draugr, ein Freund aus Norwegen“, erklärte der Professor nonchalant. „Bei der Ankunft hat man ihm am Pier das Gepäck gestohlen. Sie sehen selbst, wie dringend er neue Garderobe benötigt.“

„Ja … das sehe ich in der Tat.“ Der Mann drehte sich um, klatschte in die Hände, und zwei Lehrlinge erschienen. Der eine war groß und schlaksig mit sehr blasser Haut, der andere etwas kleiner, mit rotblondem Haar und blauen Augen.

„Ich glaube, wir haben ein schönes Stück Arbeit vor uns“, sagte der Schneider zu ihnen, ehe er sich lächelnd zu Paxton Hart umdrehte. „Keine Angst, Sir. Stephen Ward ist dieser Aufgabe gewachsen.“

Er führte die Gruppe durch einen Vorhang in den luxuriös eingerichteten rückwärtigen Raum des Geschäfts und deutete auf ein Podest. „Wenn Mr. Draugr dort hinaufsteigen möchte, damit wir Maß nehmen können.“

Leif sah zum Professor hin, der ihm Mr. Wards Wünsche übersetzte, und kletterte dann auf das Podest.

Stephen Ward näherte sich der Plattform und blieb einen Moment stehen, um Leifs beeindruckende, breitschultrige Gestalt zu betrachten. „Respekt, er ist etwas ganz Besonderes.“ In den dunklen Augen des Mannes war offenkundige Bewunderung zu lesen.

Krista erlaubte sich ebenfalls einen prüfenden Blick. Man konnte nicht behaupten, dass er zu Leifs Nachteil ausfiel. Seine Taille war schmal, sein Bauch flach und seine Beine lang und muskulös. Einen Moment lang streifte ihr Blick über die Ausbuchtung vorn an seiner zu engen Hose, bevor sie rasch wieder in sein Gesicht sah.

Ein wenig amüsiert verzog Leif die Mundwinkel. „Wenn du willst, dass die neuen Kleider passen, Frau, solltest du nicht so auf diese besondere Stelle starren.“

Krista wurde feuerrot. Du lieber Gott, wie sprach er denn mit ihr! Mit ihren einundzwanzig Jahren hatte Krista oft genug den Gesprächen der Frauen gelauscht, um über die Anatomie eines Mannes Bescheid zu wissen. Wegen seiner Größe und dem, was seine eng sitzende Hose enthüllte, wusste sie, dass Leif Draugr gut ausgestattet sein musste. Krista versuchte zu verdrängen, was dies für eine Frau bedeutete, doch sie musste immer daran denken.

Das Schlimmste war, dass Leif ihr Interesse zu spüren, ja, dass es ihm zu gefallen schien.

„Für eine Frau ist es gut zu wissen, was sie erfreut.“

Krista verbiss sich die grobe Antwort, die ihr auf der Zunge lag, und straffte die Schultern. „Die Zeit wird knapp“, sagte sie zu Mr. Ward. „Wollen wir nicht fortfahren? An meinem Schreibtisch wartet noch eine Menge Arbeit auf mich.“

„Natürlich“, entgegnete Stephen Ward. „Lassen Sie mich nur noch rasch Maß nehmen, und dann werden wir entscheiden, was Ihren Freund gut kleiden könnte. Davon ausgehend können wir dann den Stoff und die Farben wählen, die ihm am besten stehen. Wenn wir fertig sind, können Sie ihn dann nebenan in Menkins Hutladen bringen. Dort findet er jeden Hut, den er sich nur wünscht. Und für Stiefel und Schuhe dann die Straße hinunter zu Beasley und Hewitt.“

Der Ladenbesitzer rollte die dunklen Augen. „Ich wage zu sagen, dass Mr. Draugr sehr viel Glück hat. Stellen Sie sich nur vor, am Ende des Tages ist er stolzer Besitzer einer kompletten neuen Garderobe.“

Eine komplette neue Garderobe, dachte Krista verdrossen – und sie und ihr Vater würden die Rechnung bezahlen. Ein wenig Dankbarkeit war wohl das Mindeste, was man von Leif erwarten konnte.

Stattdessen knurrte und murrte er während der ganzen Anprobe, beklagte sich über den unbequemen Sitz der Kleidung und den kratzigen Stoff.

„Auf Draugr sind die Kleider dazu gemacht, bequem zu sein“, erzählte er ihrem Vater und richtete dann die blauen Augen auf Krista. „Wie kannst du in solch enger Kleidung arbeiten? Ich würde meinen, sie schneiden dir die Blutzufuhr zum Kopf ab.“

Krista war gerade dabei, Dutzende von Stoffen und Modeentwürfen durchzusehen. Sie unterbrach ihre Arbeit und warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Zivilisierte Frauen ziehen sich eben so an. Es ist die … die …“ Sie kannte das altnordische Wort für ‚modisch‘ nicht und war sich auch nicht sicher, ob es so ein Wort überhaupt gab. „… die anständige Art, sich zu kleiden. Die meisten Männer finden die Art, wie wir uns kleiden, sehr anziehend.“

Sie wollte nicht zugeben, dass er eigentlich recht hatte, da gerade sie es hasste, dieses lächerlich unbequeme Fischbeinkorsett zu tragen, das ihre Taille zusammenschnürte und ihrem Körper diese Sanduhrform gab, die heutzutage so modern war.

Leif betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Er registrierte ihre schmale Taille, und für einen Augenblick ruhte sein Blick auf ihrem Busen, bevor er zu ihrem Gesicht zurückkehrte.

Er nickte knapp. „In diesem Punkt muss ich den anderen Männern zustimmen. Doch ich glaube, deine Schönheit hat wenig mit Kleidern zu tun. Eigentlich wärst du ohne Kleid viel anziehender.“

Entgeistert sah Krista ihn an. Sie konnte nicht glauben, dass er das gesagt hatte und dazu ausgerechnet noch vor ihrem Vater!

Der Professor räusperte sich und wandte sich an Stephen Ward. „Wie meine Tochter schon sagte, hat sie heute Nachmittag noch eine Menge zu tun. Wenn wir uns vielleicht ein wenig beeilen könnten …“

„Ja, ja, natürlich.“ Der Schneider sputete sich mit der Anprobe, und seine Lehrlinge halfen ihm dabei.

„Mr. Draugr braucht die Anzüge sehr bald“, erklärte Krista ihm. „Für Ihre Mühe sind wir gerne bereit, jeden Preis zu zahlen, den Sie für angebracht halten.“

Wards Äuglein leuchteten bei der verlockenden Aussicht, die sich da vor ihm auftat. „Nun gut, ich sehe die Dringlichkeit natürlich ein. Die Sachen könnten in drei Tagen für die erste Anprobe bereit sein. Die Anzüge dürften dann am Ende der Woche fertig sein.“

„Sehr gut“, sagte der Professor und sah überaus erfreut drein. „Wir werden in drei Tagen wiederkommen.“

Sie verließen den Laden, machten halt bei den Hutmachern und dann noch bei den Schuhmachern am Ende des Häuserblocks. Endlich waren sie fertig.

Die Kutsche fuhr zurück zu dem schmalen Backsteingebäude, das die Redaktion von Heart to Heart beherbergte. Ihr Vater begleitete Krista hinein.

„Wann darf ich dich zu Hause zurückerwarten?“

„Matthew hat mich gebeten, ihn heute Abend in die Oper zu begleiten. Ich werde mich noch umziehen müssen. Ich hoffe, so gegen sechs Uhr zu Hause zu sein.“

Der Professor nickte, schien aber irgendwie zerstreut, ja sogar besorgt zu sein. Und Krista fragte sich, ob es vielleicht wegen der heißen Blicke war, die Leif Draugr ihr in der Kutsche zugeworfen hatte.

7. KAPITEL

Das Theater Ihrer Majestät in Haymarket war verschwenderisch mit Kristalllüstern, roten Samtvorhängen, passenden roten Samttapeten an den Wänden und vergoldeten Leuchtern ausgestattet. Ein Meer aus elegant gekleideten Damen und Herren füllte die Plätze.

Für diese Gelegenheit hatte Krista ein schulterfreies Kleid aus amethystfarbener Seide gewählt. Goldene Spitzenborten bedeckten die Vorderseite und zauberten einen zarten Schimmer auf den Ansatz ihrer Brüste. Der Schnitt des weiten Rocks entsprach der neuesten Mode. Der geraffte Überrock aus farblich passender Spitze wurde von amethystfarbenen Schleifen gehalten.

Die Opernvorstellung näherte sich dem Ende, und während der Vorhang sich senkte, verklang die Musik. Die Menge applaudierte, und in der eleganten Loge des Viscounts rief Lord Wimby neben Krista und Matthew: „Bravo!“

Er war ein älterer Herr mit eisgrauem Haar und rötlicher Gesichtsfarbe. Seine Lordschaft wurde von seiner viel jüngeren Gattin Diana begleitet. Da Krista und Matthew noch nicht verheiratet waren, spielten diese beiden heute Abend sozusagen die „Anstandsdamen“.

Matthew erhob sich von seinem Platz und bot Krista seine Hand beim Aufstehen.

„Michael Balfe war wundervoll, Matthew“, lobte Krista den Komponisten. „Danke, dass Sie mich eingeladen haben.“

Er lächelte. „Ich versichere Ihnen, das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.“

„Eigentlich zieht es Matthew vor, seine Abende mit aufregenderen Dingen zu verbringen“, erklärte Diana und schenkte ihm ein Lächeln, das Krista nicht recht deuten konnte.

„Sein Vater und ich ermutigen ihn, sich mehr den verfeinerten Freuden des Lebens zu widmen“, sagte Lord Wimby. „Hoffentlich haben auch Sie einen guten Einfluss auf ihn.“ Seine Augen funkelten bei diesen Worten, die darauf anspielten, dass sie beide ein Paar würden. Krista konnte sich das allerdings immer noch nicht so recht vorstellen.

Als sie in den Gang hinaustraten, öffnete Diana ihren Fächer aus schwarzen Federn und fächerte sich Luft zu. „Die Oper war wunderbar, nicht wahr? Nichts finde ich unterhaltsamer.“

In dunkelblau und schwarz gestreifte Seide gekleidet, das Gesicht von einer kastanienfarbenen Lockenpracht umrahmt, war Diana Cormack, Viscountess Wimby, eine außerordentlich schöne Frau.

Sie verließen das Theater und gingen hinunter zu den Kutschen, die in langer Reihe vor dem Eingang vorfuhren. Wenig später tauchte der elegante Vierspänner des Viscounts auf, und bald kutschierten sie durch Londons belebte Straßen, um Krista nach Hause zu bringen.

Trotzdem war es fast Mitternacht, bis sie vor dem Stadtpalais in der St. George Street ankamen. Matthew begleitete Krista zur Tür. Da die Diener bereits schlafen gegangen waren, benutzte Krista ihren Schlüssel. Dann drehte sie sich um und wünschte Matthew eine gute Nacht.

Er überraschte sie, als er sie mit einem Mal an sich zog und ihr einen zarten Kuss auf die Wange drückte. „Ich danke Ihnen für den reizenden Abend, Krista. Wir müssen das sehr bald wiederholen. In ein, zwei Tagen schaue ich vorbei, und dann können wir darüber reden.“

Krista nickte nur und wünschte, sie wäre sich über ihre Gefühle für Matthew Carlton im Klaren. Bei jedem Zusammensein mit ihm wurde sie unsicherer. Vielleicht würde die Zeit die Antwort bringen. Sie schloss die Eingangstür und wandte sich der Treppe zu, als sie Licht am Ende des Ganges sah. Es fiel durch die offene Tür des Studierzimmers. In der Annahme, ihr Vater würde noch spät arbeiten oder hätte vergessen, die Lampe zu löschen, ging sie den Flur entlang.

Als sie das Studierzimmer betrat, sah sie, dass es nicht ihr Vater war. Leifs blonder Kopf beugte sich über den Mahagonitisch in der Ecke, und Krista blieb abrupt stehen.

Leif hielt einen Stift in der Hand. Er umklammerte ihn, als könnte er ihm entwischen und bemühte sich, die Buchstaben zu kopieren, die ihr Vater für ihn niedergeschrieben hatte. Krista musste ein Geräusch gemacht haben, denn er legte den Stift beiseite, schob den Stuhl zurück und stand auf.

„So … endlich kommst du nach Hause.“

Trotzig hob sie das Kinn. Wieso gelang es diesem Mann nur immer, sie zu ärgern? „Was ich mit meiner Zeit anfange, dürfte dich nichts angehen“, entgegnete sie.

Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. „Dieser Freund von dir … du bist noch so spät in der Nacht mit ihm zusammen gewesen?“

Neben dem Hauseingang brannte eine Laterne. Krista wurde klar, dass er sie mit Matthew zusammen gesehen haben musste.

„Wir waren in …“ Sie wusste nicht, mit welchem Wort sie am besten eine Oper beschreiben sollte. „Wir waren an einem Ort, wo man Musik spielt, und wir waren nicht allein.“

„Du sagst, er ist ein Freund. Aber ich glaube, er ist mehr.“

Sie überhörte die Bemerkung und trat stattdessen hinter den Tisch, um zu sehen, woran er arbeitete. Sie sah, dass er wieder und wieder Buchstaben geschrieben hatte und bei jedem Mal besser geworden war.

„Vater lehrt dich das Alphabet. Wenn du erst einmal die Buchstaben kennst, kannst du lesen lernen. Weißt du, was dieses Wort bedeutet?“

Er nickte. „In alten Zeiten benutzte unser Volk Sagas, um die Dinge zu bewahren, die es von Generation zu Generation weitergeben wollte. Dann kamen die Priester. Sie lehrten mein Volk das geschriebene Wort und erzählten ihm von eurem Christengott.“

„Dann bist du ein Christ?“

Er zuckte die breiten Schultern. „Auf Draugr haben wir unsere eigene Religion. Es ist eine Mischung aus eurem Christentum und unserem Glauben an die alten Wikingergötter.“

„Ich verstehe.“ Sie hätte gern mehr über den Ort gewusst, von dem er kam, doch es war spät. Zudem merkte sie, dass Leif sie mit brennenden Augen betrachtete, und das beunruhigte sie.

„Es ist schon nach Mitternacht“, erklärte sie. „Ich glaube, es ist Zeit, dass wir zu Bett gehen.“

Mit seinen blauen Augen blickte er sie scharf an. „Aye, Frau, wenn das dein Wunsch ist. Das würde mir am besten gefallen.“

Krista war auf seine rasche Bewegung, mit der sie in seine Arme gewirbelt wurde, nicht gefasst. Sie rang nach Luft, als sein Mund sich auf den ihren senkte. Einen Moment lang war sie zu schockiert, um Leif von sich zu stoßen. Als dann sein heißer Kuss, seine Zunge, die über ihre Lippen glitt, sie zwang, den Mund zu öffnen, wurde sie von einer heißen Welle erfasst, die ihr völlig den Verstand raubte.

Wärme durchströmte ihre Glieder, während sie seine weichen und doch festen Lippen fühlte. Krista schloss die Augen, und ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Leif presste seinen Körper an sie, und ihre Knospen unter dem Kleid wurden hart, da sie seine Erregung spürte. Sie beide schienen miteinander zu verschmelzen.

Dann glitt seine Hand tiefer, über ihre Hüften, bis er durch die vielen Schichten ihrer Röcke hindurch ihren Po umfasste. Jäh öffnete Krista die Augen.

Du lieber Gott! Jetzt erst wurde ihr klar, was Leif da tat. Sie erkannte, dass sie ihren einfachen Wunsch, sich zurückzuziehen, falsch übersetzt haben musste und dass er glaubte, sie hätte ihn in ihr Bett eingeladen.

Entschieden drückte sie die Hände gegen seine muskulöse Brust und versuchte ihn von sich zu stoßen. Sichtlich widerstrebend beendete Leif seinen Kuss, bevor ihr Vater das Studierzimmer betrat.

Krista war ein wenig zu sehr außer Atem, genauso wie Leif, und sie fühlte, wie heiße Röte ihre Wangen färbte. Ihr Vater sah von einem zum anderen und hob langsam die Brauen.

„Ich wollte nur nach Leif sehen“, sagte er zu Krista, „und ihm mitteilen, dass es Zeit fürs Bett ist.“

Krista errötete noch tiefer. „Ja, das versuchte ich ihm ebenfalls zu sagen.“ Sie war sorgsam darauf bedacht, dabei nur ihren Vater anzuschauen. „Unglücklicherweise habe ich mich wohl nicht richtig ausgedrückt. Leif hat mich missverstanden.“

Je mehr dem Professor die Bedeutung ihrer Worte aufging, desto höher hoben sich seine Augenbrauen.

„Es … es war wirklich nicht sein Fehler. Ich habe nicht die richtigen Worte benutzt, und daher bekam er einen falschen Eindruck.“

Der Professor warf Leif einen kurzen Blick zu. Doch der stand gelassen da und verstand kein Wort ihrer Unterhaltung. „Ich verstehe.“

„Sie sagten ja selbst, dass dort, wo er herkommt, alles anders ist.“ Sie hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie ihn verteidigte. Aber immerhin hatte sie seinen Kuss erwidert, zumindest eine Zeit lang, und ihn nicht im Mindesten als unangenehm empfunden. Bei dem Gedanken wurde ihr wieder ganz heiß.

„Ich wüsste gerne, was du zu deinem Vater sagst“, mischte Leif sich nun ein und sah sie eindringlich an.

„Ich sagte ihm, was geschehen ist. Dass du mich missverstanden hast.“

„Das ist richtig“, stimmte ihr der Professor jetzt in Leifs Sprache zu. „Meine Tochter wollte nur darauf hinweisen, dass du und sie sich für die Nacht ins obere Stockwerk zurückziehen sollten.“

Leifs Augen begannen wieder zu funkeln. „Ja, das hat sie gesagt. Dann ist es hier also Brauch, dass ein Mann seine Tochter einem Gast überlässt?“

„Nein!“, erwiderten beide wie aus einem Mund.

Paxton Hart räusperte sich. „Was wir beide sagen wollten, war, dass es bereits spät ist und du etwas Schlaf brauchst. Das ist alles.“

Leif machte ein langes Gesicht. Dann straffte er die Schultern, was ihn noch größer erscheinen ließ. „Es tut mir leid, Professor. Ich wollte dich und deine Tochter nicht beleidigen.“

„Dessen bin ich mir sicher, Leif.“

„Ich gestehe, dass ich sie gerne in meinem Bett hätte. Jeder Mann sieht, dass sie eine Frau von großer Schönheit und starker Leidenschaft ist. Wenn ich erst einmal eure Sprache und Sitten gelernt habe und mein eigenes Leben führen kann, werde ich dir vielleicht ein Angebot für sie machen.“

Krista unterdrückte ein erschrockenes Nach-Luft-Schnappen, und ihr Vater ließ einen eigenartig erstickten Laut hören. Er schien nach Worten zu suchen. „J…ja, nun, wir beide schätzen dein Interesse, Leif. Doch Krista hat vielleicht ihre eigenen Pläne.“

„Sie ist deine Tochter. Es ist an dir zu entscheiden, was das Beste für sie ist. Doch noch ist es nicht an der Zeit. Ich habe nichts anzubieten und kann nicht für sie sorgen. Wenn es so weit ist, werden wir vielleicht noch einmal miteinander reden.“

Ihr Vater sah sie Hilfe suchend an, doch Krista fiel nicht das Geringste dazu ein. „Es tut mir leid“, sagte er, „ich glaube nicht, dass die Zeit daran etwas ändern wird.“

Leif reckte das Kinn. „Wir werden sehen“, meinte er nur.

Krista zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dem Professor zu. „Kommen Sie, Vater. Wie Sie schon bemerkten, ist es an der Zeit, dass wir alle etwas Schlaf bekommen.“ Sie nahm seinen Arm und führte ihren Vater zur Tür. „Gute Nacht, Leif“, sagte sie mit höflichem Lächeln, ehe sie verschwand.

Krista konnte nicht schlafen. Himmel, war dieser Mann denn völlig verrückt? Ein Angebot wollte er für sie machen! Zehn Kühe vielleicht oder zwölf Schafe? So machte es ein Wikingerkrieger, wenn er sich eine Frau nehmen wollte. Gott bewahre!

Immerhin hatte er sie eine Frau von großer Schönheit und starker Leidenschaft genannt. Sie selbst hatte sich nie so gesehen und fühlte sich jetzt ungewohnt weiblich. Noch nie hatte sie so empfunden.

Während sie im Bett lag, berührte sie unwillkürlich mit den Fingern ihre Lippen. Leif mochte ein Barbar sein, doch er wusste, wie man küsste. Vielleicht war es das. Der Mann war wild, primitiv. Vielleicht erweckten seine unverhüllten Wünsche etwas Wildes und Primitives in ihr.

Wie auch immer, in dieser Nacht hatte sie etwas über sich selbst herausgefunden. Sie hatte entdeckt, dass sie eine Frau war mit denselben körperlichen Wünschen wie jede Frau. Diese Entdeckung war den empörenden Kuss wert, auch wenn sie sich schwor, dass so etwas nicht noch einmal passieren würde.

Der Woche folgte die nächste. Krista sah Leif selten, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit ihrem Vater im Studierzimmer verschwand. Selbst die Mahlzeiten nahmen die beiden dort ein und lehnten es höflich ab, ihr dabei Gesellschaft zu leisten. Vielleicht wollte ihr Vater Krista so Leifs mangelnde Tischmanieren ersparen.

Trotzdem war es nicht zu übersehen, dass der Professor allmählich immer mehr Hochachtung vor ihm hatte.

„Ein erstaunlicher Bursche“, sagte er eines Morgens stolz, als Krista gerade zu ihrer Arbeit gehen wollte. „Nie habe ich einen entschlosseneren Schüler gekannt. Er ist geschmeidig wie eine Gerte, und sein Gedächtnis für Wörter ist erstaunlich. Während eines Tages schafft er es, alle Aufgaben zu meistern, die ich ihm stelle und dazu noch eine ganze neue Liste von Vokabeln zu lernen.“

Krista konnte sehen, wie hart Leif arbeitete. Noch lange, nachdem der ganze Haushalt sich zur Ruhe begeben hatte, blieb er im Studierzimmer. Und wenn sie morgens herunterkam, saß er bereits an seinen Studien. Jetzt war er im Badezimmer immer schon lange fertig, bevor sie auch nur aufgestanden war.

Während der Woche hatte der Professor Leif zweimal zur Anprobe bei Stephen Ward and Company begleitet. Wie versprochen wurden die Kleider am folgenden Montagnachmittag geliefert. Sobald sie da waren, ging Leif in sein Zimmer und zog sie an. Henry, der Kammerdiener ihres Vaters, eilte herbei, um ihm zu helfen.

Über eine Stunde sah Krista Leif nicht. Matthew schaute auf dem Weg zu seinen abendlichen Fechtstunden vorbei, und Krista wollte gerade in den Salon gehen, um ihn zu begrüßen, als sie Leif und Vaters kleinen Kammerdiener entdeckte, die die Treppe herunterkamen.

Bei ihrem Anblick blieb Krista stehen und starrte Leif nur wortlos an.

Er trug taubengraue Hosen, eine hellblaue, mit dunkelblauer Seide bestickte Weste und einen dunkelblauen Gehrock. Für einen Mann seiner Größe bewegte er sich mit erstaunlicher Eleganz. Sein goldblondes Haar war frisch gekämmt, und in dem leicht gebräunten Gesicht kamen die blauen Augen voll zur Geltung. Er war der Sohn eines Wikingerhäuptlings, und in diesem Moment sah er jeden Zoll wie ein Mann von adligem Geblüt aus.

Dann zerrte er an der steifen weißen Halsbinde, die seinen kräftigen Hals umschloss, stieß einen leisen Fluch aus, und schon war die Illusion vorüber. Das hier war Leif of Draugr, ein ungebildeter Barbar, ermahnte sich Krista. Die Anziehungskraft, die von ihm ausging, war nur eine Reaktion auf sein verblüffend gutes Aussehen.

Doch als er vor ihr stehen blieb und sie sich dabei ertappte, wie sie in seine blauen Augen sah, da tat ihr Herz einen kleinen Sprung und begann, wie rasend zu schlagen.

„Gefallen dir die Kleider, Frau?“

Krista schluckte. „Du siehst sehr … sehr …“

Er verzog leicht die Mundwinkel. „Mein Aussehen gefällt dir. Ich kann es in deinen Augen sehen. Ich hatte es gehofft.“

Eines war sicher – dieser Mann war von sich selbst überzeugt. „Ich finde, du siehst in deinen neuen Kleidern sehr … nett aus.“ So nett, dass sie nicht aufhören konnte, ihn anzustarren, selbst dann nicht, als Matthew und ihr Vater aus dem Salon traten.

Matthew warf nur einen Blick auf Leif und runzelte sofort die Stirn. Der Blick ihres Vaters ging von Matthew zu ihr, folgte ihrem Blick zu Leif, und dann runzelte auch er die Stirn.

Leif und Matthew schienen aneinander Maß zu nehmen. Im Gesichtsausdruck der beiden Männer lag etwas Besitzergreifendes, und jeder schien den anderen zu warnen, sich von der Beute fernzuhalten. Und die Beute war wohl in diesem Fall Krista. Leif trat einen Schritt auf sie zu, doch sie wich ihm rasch aus.

Es gelang ihr zu lächeln. „Matthew, Sie erinnern sich an Mr. Draugr?“

Matthew schien um Fassung zu ringen. „Wie könnte ich ihn je vergessen?“

Leif biss die Zähne zusammen und sah Matthew scharf an. Er verstand nicht, was sie redeten, doch Matthews verächtliche Miene sprach offenbar Bände.

Paxton Hart räusperte sich. „Matthew kam vorbei, um seine Aufwartung zu machen, Liebes. Warum geht ihr beide nicht in den Salon, und ich lasse euch durch Giles einen schönen heißen Tee servieren?“

Krista lächelte gezwungen. „Das hört sich gut an.“ Sie war zu allem bereit, um der immer stärker werdenden Spannung zwischen den beiden Männern entkommen zu können.

Doch Matthew schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, ich kann nicht zum Tee bleiben. Mein Fechtlehrer ist ein höchst ungeduldiger Mann. Ich bin nur gekommen, um eine Einladung zu überbringen. Nächsten Samstag gibt mein Vater eine kleine Dinnerparty, und er lässt fragen, ob es Ihnen und dem Professor möglich ist zu kommen?“

Der Earl of Lisemore war ein äußerst mächtiger Mann und gewöhnt, dass man seinen Wünschen nachkam. Wenn Krista ernsthaft an Matthew interessiert war, hatte sie keine andere Wahl, als die Einladung anzunehmen.

„Vater?“

„Das ist sehr freundlich vom Earl“, sagte der Professor. „Natürlich wären wir entzückt teilzunehmen.“

„Fein. Ich werde meine Kutsche vorbeischicken, um Sie abholen zu lassen. Sagen wir am Samstagabend, sieben Uhr?“

Ihr Vater nickte.

„In der Zwischenzeit hätte ich Sie gerne noch unter vier Augen gesprochen, Professor Hart.“

Der Professor sah zu Leif und nickte müde. „Lassen Sie uns in mein Studierzimmer gehen. Wenn du uns entschuldigen würdest, Liebes?“ Er entschuldigte sich auch bei Leif, dessen Kiefermuskeln sich noch mehr anzuspannen schienen, und die beiden Männer verschwanden den Gang hinunter.

„Ich mag diesen Mann nicht“, sagte Leif.

„Du kennst ihn doch noch nicht einmal.“

„Ich weiß, dass er dich will. Er versucht es zu verbergen. Aber ich verstehe nicht, warum.“

Krista hatte keine Ahnung, ob Matthew sie begehrte oder nicht. Jetzt, da Leif es erwähnte, ärgerte es sie, dass sie nicht den kleinsten Beweis dafür hatte.

„Matthew macht mir den Hof“, sagte sie und hoffte, dass sie die Worte so übersetzt hatte, dass Leif sie verstand. „Das ist hier so Sitte, wenn ein Mann an einer Frau interessiert ist.“

„Hat er angeboten, den Brautpreis zu bezahlen, den dein Vater bestimmt hat?“

„Wir lernen uns doch erst kennen. Es ist noch nicht an der Zeit, von Heirat zu sprechen.“

Er brummte unwillig. „Er ist schwach. Du bist eine Frau mit starken Bedürfnissen. Er ist kein Mann für dich.“

„Ob er die richtige Wahl für mich ist oder nicht, geht dich nichts an. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest …“ Sie wandte sich zum Gehen, als sie Leifs festen Griff um ihren Arm fühlte. Er hielt sie zurück und drehte sie zu sich um.

„Du brauchst einen starken Mann, Krista Hart, einen Mann, der weiß, wie man dich behandeln muss. Du brauchst einen Mann wie mich.“

Sie befreite sich aus seinem Griff. „Du bist eingebildet und dünkelhaft, Leif Draugr, und ganz gewiss nicht der Mann, den ich brauche!“ Sie ging. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten, doch sie hörte sein leises tiefes Lachen, während sie die Treppe hinaufstieg.

So eine Unverschämtheit!

Unten öffnete sich die Tür zum Studierzimmer. Sie hörte, wie ihr Vater mit Matthew sprach, während beide den Gang entlanggingen. Krista schenkte ihnen keine Beachtung. Sie hatte die Männer und ihre andauernden Manipulationen satt. Die ihres Vaters, ihres Großvaters, und selbst Matthew versuchte sie zu beeinflussen. Leif mochte dreist sein und viel zu unverschämt, aber wenigstens sprach er offen aus, was er dachte.

Während sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, fragte sie sich, worüber Matthew wohl mit ihrem Vater hatte sprechen wollen – und kam dann zu dem Schluss, dass es ihr eigentlich egal war.

Er war ein Mann, und sie hatte grundsätzlich genug von den Männern. Energisch schloss Krista die Tür.

Ein weiterer Tag dämmerte herauf. Mit einem einzigen finsteren Blick verscheuchte Leif den kleinen Kammerdiener aus dem Zimmer. Gestern hatte man ihm beigebracht, wie man sich anzog. Und da mit seinem Gehirn alles in Ordnung war, war er jetzt durchaus fähig, diese sonderbare Kleidung selbst anzulegen, welche die Männer hier trugen.

Er lächelte. Nun ja, wenn Krista ihm dabei helfen würde … Er brauchte sich nur vorzustellen, wie ihre zarten weißen Finger über seinen Körper strichen, ihm sein gefälteltes weißes Hemd zuknöpften, wie sie dann hinuntergleiten und ihm helfen würden, die Hosen zu schließen – schon war er erregt.

Er hielt die weißen Baumwollunterhosen hoch, die die Männer hier unter ihren Hosen trugen, und warf sie dann beiseite. Das Hemd und die eng anliegenden Hosen würde er tragen. Auch die Weste und ebenfalls die burgunderfarbene Jacke, doch nicht diese einengende Kleidung, welche die Männer darunter trugen. Seine Toleranz hatte Grenzen, und die waren jetzt erreicht. Die Kleidung war unbequem, allerdings vermutete er, dass sie ihm gut stand, und es blieb ihm keine andere Wahl, als sie zu tragen. Er musste seinen Weg in diesem fremden Land machen. Und er hatte vor, weit mehr als nur das zu tun.

In dem Glauben, bald zurückzukehren, hatte er seinem Vater getrotzt. Etwas, das stärker gewesen war als er, hatte ihn dazu getrieben, die Welt jenseits seiner Heimat zu erkunden. Nach seiner Gefangennahme hatte er noch eine ganze Zeit lang geglaubt, falsch gehandelt zu haben. Doch jetzt war er frei. Endlich begann sein Abenteuer, und er war entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Und er lernte schnell. Dass die Götter ihm den Professor als Lehrer geschickt hatten, war ein Segen. Leif würde alles lernen, was er zum Überleben in dieser fremden Welt brauchte. Und mit der Zeit – dazu war er entschlossen – würde er wohlhabend werden.

Er würde Geld verdienen, um sich ein Schiff zu kaufen, das ihn zurück in die Heimat trug. Und er würde nicht als Gescheiterter zurückkehren, sondern als ein Mann, der an diesem Ort, den man England nannte, sein Glück gemacht hatte.

Leif würde seinen Vater stolz machen. Er würde ihm zeigen, dass sein Sohn recht getan hatte, die Heimat zu verlassen.

Verstimmt drehte er sich um, weil es an der Tür klopfte. Hoffentlich war das jetzt nicht dieses kleine Wiesel von einem Kammerdiener.

Als er jedoch öffnete, stand Krista draußen und nicht Henry. Mit ihren reizenden weiblichen Formen und dem glänzenden goldenen Haar sah sie hübsch aus wie immer.

„Mein Vater möchte dich im Studierzimmer sprechen.“

Er nickte, nahm seine Jacke und ging mit Krista die Treppe hinunter. Dass sie so groß war, gefiel ihm. Offensichtlich war das in diesem Land ungewöhnlich bei einer Frau. Und er dachte daran, wie gut ihre weichen Kurven zu seiner noch größeren, noch stärkeren Gestalt passen würden.

„Was wünscht der Professor?“, fragte er, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

„Das weiß ich leider nicht.“

Sie schien ein wenig nervös zu sein, und Leif fragte sich, warum. Vielleicht hatte der Professor beschlossen, es sei für ihn an der Zeit, wieder zu gehen, schoss es Leif durch den Kopf, auch wenn er nicht so recht daran glaubte. Paxton schien ein Mann von Ehre zu sein. Sie hatten ausgemacht, voneinander zu lernen. Wahrscheinlich machte es diesem Mann auch Freude, selbst etwas zu lernen.

Doch als er in dieses Zimmer, das man Studierzimmer nannte, eintrat und dabei Krista an der Hand hinter sich herzog, sah er den Professor die Stirn runzeln. Zum ersten Mal machte er sich Gedanken darüber, was er anfangen sollte, wenn Paxton Hart ihn doch fortschickte. Denn dazu war Leif noch nicht bereit. Er brauchte mehr Zeit, musste die Landessprache besser lernen und mehr über die Sitten wissen, bevor er auf eigenen Füßen stehen konnte.

Während er auf den Schreibtisch zuging, fragte er sich, welches Schicksal die Götter wohl diesmal für ihn bereithielten.

Krista folgte Leif, der ihr vorausging. Er glaubte immer noch, es wäre sein gutes Recht, vor ihr einen Raum zu betreten. Er ließ ihre Hand los, doch die Wärme seiner Berührung blieb. Als sie sich dem Schreibtisch näherten, erhob sich ihr Vater und bedeutete ihnen, sich zu setzen.

„Ich habe euch beide nicht grundlos herbestellt.“ Der Professor sprach Altnordisch und schien seine Worte sorgfältig zu wählen. „Ich habe viel über diese Sache nachgedacht, und Matthews Bemerkungen gestern bezüglich dieser Angelegenheit gaben meinen Gedanken noch mehr Nahrung.“

Obwohl Krista und Leif sich gesetzt hatten, blieb ihr Vater stehen. Seine Miene wirkte ein wenig zu ernst. „Es ist mehr und mehr ersichtlich, dass Leifs Anwesenheit den Haushalt durcheinanderbringt.“

Krista hielt den Atem an. Er würde den Mann doch wohl nicht fortschicken. Allein konnte Leif draußen nicht überleben. Keiner würde ihn verstehen. Und er hatte kein Geld, keinen Platz, wo er bleiben konnte.

„Sie haben doch sicherlich nicht vor, Leif fortzuschicken?“, fragte sie ihren Vater auf Englisch.

„Lass mich zu Ende sprechen, Liebes. Auch wenn Leif sehr schnell lernt, so ist er noch nicht bereit für ein Leben hier in der Stadt. Sobald alles arrangiert ist, nehme ich ihn mit nach Heartland.“ Das war der Familiensitz in Kent. „Dort werden wir ungestört sein von gesellschaftlichen Zwängen, und ich werde Leif meine ganze Aufmerksamkeit widmen können.“

Krista verspürte eine Welle der Erleichterung.

„Was sagt er?“, fragte Leif besorgt.

„Vater bringt dich aus der Stadt heraus an einen Ort, wo du ungestört lernen kannst.“

„Das ist das Beste, Leif“, sagte er Professor zu ihm. „Auf Heartland wird es dir gefallen.“

„Du bist um deine Tochter besorgt. Du weißt, dass ich sie begehre.“

Krista errötete. „Über so etwas sprechen wir nicht so offen, Leif“, wies sie ihn leise zurecht. „Solche Gedanken behält man für sich.“

„So wie es dein Freund Matthew tut? Ich will aber nicht so tun, als wollte ich dich nicht.“

Krista wich seinem durchdringenden Blick aus und hatte mit einem Mal Herzklopfen.

„Es ist schon in Ordnung, Leif“, meinte ihr Vater freundlich. „Du hast ehrlich dein Interesse an meiner Tochter gezeigt. Daran kann ich nichts Falsches finden. Doch ich glaube, dass wir das Richtige tun. Wenn du lernen möchtest, dann fahre mit mir nach Heartland.“

Eine Zeit lang schwieg Leif, dann nickte er. „Vielleicht hast du recht. Es gibt vieles, das mich ablenkt. Ich werde mit dir gehen. Ich muss noch viel lernen, und es ist ein Segen der Götter, dass du zugestimmt hast, mich zu unterrichten.“ Sein Blick wanderte zu Krista. „Wenn ich gelernt habe, was nötig ist, werde ich zurückkehren.“

In seinen Augen lag etwas, bei dem Krista heiß und kalt wurde. Es war lächerlich. Der Mann hatte kein Geld, keine Zukunft. Er konnte weder lesen noch schreiben und noch nicht einmal englisch sprechen. Und doch war da etwas an ihm das sie schwach werden ließ …

„Vater hat recht“, sagte sie zu Leif und war auf einmal dankbar, dass eine Entscheidung gefallen war. „Wenn du erst einmal auf dem Land bist, wirst du viel leichter lernen können. Und ich glaube, es wird dir dort gefallen. Die Luft ist klar und das Gras grün. Vielleicht wird alles dort mehr deiner Heimat ähneln.“

Und sie würde wieder ein normales Leben führen, wie sie es seit dem Tag, an dem sie Leif of Draugr im Zirkus entdeckte, nicht mehr hatte tun können.

Nachdem ihr Vater ihnen seine Neuigkeit mitgeteilt hatte, entließ er Krista. Sie stand auf, um zu gehen, während die Männer sich auf ihre Arbeit vorbereiteten. Ihr war, als wäre ihr eine Bürde von den Schultern genommen worden. Leif würde nicht mehr da sein. Ihr Leben würde wieder ihr gehören.

Zum ersten Mal seit Tagen konnte sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren.

8. KAPITEL

Die Wochen vergingen. Der April ging in den Mai über, der Sommer kam näher. Die Nachmittage wurden warm und dann heiß, als der Juni in den Juli überging. Die Abonnentenzahl der Zeitung wuchs, und es kam Geld herein.

In den Monaten, seitdem Leif und ihr Vater die Stadt verlassen hatten, war Heart to Heart zur erfolgreichsten Damengazette in London geworden. Zusammen mit Coralee hatte Krista hart daran gearbeitet, eine Leserschaft aufzubauen. Ihre Anstrengungen hatten sich ausgezahlt.

Und die langen Arbeitsstunden hielten sie auch davon ab, ihren Vater allzu sehr zu vermissen. Sie war an seine Gesellschaft und seinen Rat gewöhnt. Selbst die Gegenwart ihrer Tante, die sich angeboten hatte, als Anstandsdame zu fungieren, während der Professor mit seinem Schüler arbeitete, konnte die Lücke nicht füllen, die seine Abwesenheit hinterließ.

Krista redete sich ein, dass sie Leif nicht im Geringsten vermisste. Er war grob und direkt und ohne einen Hauch von Manieren. Er lebte in einer völlig anderen Welt, in die er schließlich zurückkehren würde. Dass sie sich immer noch an seine heißen Küsse erinnerte, bestärkte sie nur noch in ihrem Entschluss, ihn zu vergessen.

Trotzdem wartete sie ungeduldig auf die Briefe ihres Vaters, in denen er immer wieder Leifs ungewöhnliche Begabung zum Lernen lobte und seine vielen Vorzüge pries. Sie erinnerte sich an eine Stelle im ersten Brief, den sie erhalten hatte.

Der Mann ist erstaunlich intelligent, weit mehr, als ich zu Anfang vermutete. Er hat bereits zu lesen begonnen und besitzt ein unglaubliches Ohr für die Sprache. Es scheint ihm hier auf dem Land zu gefallen. Er sagt, seine Heimatinsel habe die gleiche frische Luft, doch trüge jede Brise dort den Geruch des Meeres mit sich. Es ist felsig dort, vermutlich eher wie in Schottland und kälter natürlich.

Jeder Brief berichtete über Leifs Fortschritte, und auch ihr Vater lernte einiges über Leifs Kultur.

Durch das, was Leif mir erzählt, bin ich jetzt überzeugt, dass sein Volk im frühen sechzehnten Jahrhundert von Grönland her eingewandert ist. Allem Anschein nach sind die Leute auf Draugr völlig autark. Ich schreibe über dieses Thema, doch Leif hat mir das Versprechen abgefordert, seine Identität oder die Lage seiner Heimatinsel nicht zu verraten.

Jeder Brief lenkte Kristas Gedanken auf Leif, und noch Tage danach dachte sie über ihn nach.

Glücklicherweise hielt Tante Abby sie davon ab, sich zu langweilen. Lady Abigail Chapmann Brooks, die Witwe eines einstmals berühmten Londoner Anwalts, war die Schwester von Kristas Mutter. Jetzt lebte Tante Abby auf einem hübschen Landsitz in Oxfordshire, kam aber jedes Jahr zur Saison nach London. Sie war achtundvierzig Jahr alt, mit Silbersträhnen im einstmals blonden Haar und einer grazilen Figur, die immer noch die sehnsüchtigen Blicke der Männer auf sich zog.

Tante Abby war lebhaft und charmant, eine spritzige Persönlichkeit, die in vollen Zügen ihr Leben genoss. Und das war gut für Krista, denn ihre Tante zwang sie, am hektischen Gesellschaftsleben teilzunehmen, das Krista sonst mied.

„Aber wir müssen zu Lord Staffords Ball gehen, Liebes“, meinte Tante Abby und sprach damit das am Wochenende stattfindende Ereignis an. „Es wird die Party der Saison sein.“

Ganz gleich, wie viele lahme Ausflüchte Krista auch vorbrachte, ihre Tante überredete sie immer.

„Und denk daran, Matthew Carlton wird wahrscheinlich auch da sein.“

„Vermutlich. Er findet gewöhnlich Gefallen an so etwas.“

Die Tante zog eine Braue hoch. „Du hörst dich nicht besonders begeistert an. Bedenkt man, dass dieser Mann einer der begehrtesten Junggesellen Londons ist, so müsste man doch annehmen, dass du dich glücklich schätzt, die Frau zu sein, die sein Interesse geweckt hat.“

Sicher, sie konnte sich glücklich schätzen. Matthew besaß alle Qualitäten, die eine Frau sich bei einem Mann wünschte. Er war nett, rücksichtsvoll, intelligent. Und die Soireen, Bälle und Hauspartys gaben Krista Gelegenheit, ihn besser kennenzulernen.

Jetzt, wo ihr Vater nicht da war, war Matthew sogar noch aufmerksamer als sonst, und als der Juli in den August überging verbrachte Krista mehr und mehr Abende in seiner Gesellschaft, natürlich immer mit ihrer Tante als Anstandsdame.

Heute Abend hatten sie und Tante Abby zusammen mit Matthew, seinem älteren Bruder Phillip, Baron Argyle, und dessen Gattin Gretchen ein Theaterstück besucht. Sie hatte die Vorstellung in der prächtigen Loge von Matthews und Phillips Vater im Königlichen Theater in Drury Lane genossen.

Auch wenn das Stück gut gewesen war, hatte die lange Vorstellung Krista doch ermüdet. Ihr dunkelblaues Seidenkleid war ein wenig zerknittert, und die Locken, die auf ihre nackten Schultern fielen, verloren allmählich ihre Sprungkraft. Matthew sah überhaupt nicht mitgenommen aus, und als sie vor ihrem Stadtpalais vorfuhren, überraschte er sie mit der Frage, ob er noch auf einen Brandy mit hineinkommen dürfe.

Tante Abby, wie immer kein bisschen müde, stimmte sofort zu. „Natürlich dürfen Sie noch mit hereinkommen. Ich hätte Sie selbst einladen sollen. Wir würden uns freuen, Sie nur für uns zu haben und Ihre Gesellschaft genießen zu dürfen.“

Sie setzten sich eine Weile in den Salon und machten höflich Konversation, während Krista sich hinter vorgehaltener Hand bemühte, ein Gähnen zu unterdrücken. Dann schlug Matthew ihr vor, auf die Terrasse gehen, um die frische Luft zu genießen. Als sie durch die hohe Tür traten, erhaschte Krista einen Blick auf Tante Abby, die zwischen den Gardinen hervorspitzte. Sie spielte ihre Rolle als Anstandsdame sehr gut. Krista und Matthew taten, als würden sie sie nicht sehen.

„Ich habe den Abend genossen, Matthew“, sagte Krista und kämpfte gegen ein erneutes Gähnen an. „Danke, dass Sie mich eingeladen haben.“

Ein leichter Windstoß zerzauste sein dichtes braunes Haar. Er schenkte ihr ein warmes, zärtliches Lächeln. „Ich hoffe, ein Leben lang die Abende mit Ihnen teilen zu können, Krista.“

Schnell wandte sie den Blick ab und schaute zu Boden. Seit Kurzem spielte Matthew immer häufiger auf eine Heirat an. Krista sagte sich, dass es genau das war, was sie sich wünschte. Es war an der Zeit, eine Familie zu gründen. Denn das schuldete sie nicht nur ihrer eigenen Familie, sondern auch sich selbst.

Sie wusste, sie war zu groß und viel zu unabhängig, um anziehend auf die meisten Männer zu wirken. Vor ihrer Tür standen die Verehrer nicht Schlange. Wenn es mit Matthew nichts wurde, würde sie vielleicht als alte Jungfer enden, und das wollte sie sicher nicht. Wie jede Frau wünschte sie sich Kinder, und anscheinend wollte Matthew ebenfalls eine Familie haben.

Sie brachte ein Lächeln zustande und sah die kleine Veränderung in seinem Gesicht, den entschlossenen Blick, der in seine Augen trat. Trotzdem ahnte sie nicht, was es zu bedeuten hatte und war vor Schreck wie gelähmt, als Matthew vor ihr niederkniete und ihre Hand nahm.

„Sie müssen doch wissen, was ich für Sie fühle, Krista. Sie müssen wissen, dass ich tief für Sie empfinde. Wir passen gut zusammen, Sie und ich. Wir können ein wundervolles Leben miteinander haben. Heiraten Sie mich, Krista. Machen Sie mich zum glücklichsten Mann von London.“

Ihre Hand in der seinen zitterte. Sie hätte gern noch eine oder zwei Wochen über seinen Antrag nachgedacht, doch sie wusste, dass sie ihn schon lange genug hingehalten hatte. Sie glaubte nicht, dass sie in ihn verliebt war, und er hatte auch noch nie verliebte Worte zu ihr gesagt. Aber sie hatten vieles gemein, und sie mochte ihn. Ehen wurden oft auf viel weniger gegründet.

Krista schluckte und schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. „Ich würde mich wirklich geehrt fühlen, Ihre Frau zu werden, Matthew.“

Er erhob sich und führte ihre Hand an die Lippen. „Du wirst es nicht bereuen, Liebling, das verspreche ich dir. Wir werden sehr glücklich sein.“

Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Krista hoffte, wenigstens ein bisschen von dem Feuer zu spüren, das sie in der Nacht erfüllt hatte, als Leif sie küsste. Stattdessen war da nur ein angenehm warmes Gefühl, das eher Zuneigung als Liebe war.

„Wir müssen es unseren Familien sagen.“

Sie nickte. „Ich werde meinem Vater morgen schreiben.“

Matthew strahlte. „Ich werde Mutter und Vater die Neuigkeit berichten. Ich weiß, wie aufgeregt sie sein werden. Du machst mich zu einem sehr glücklichen Mann, Krista.“ Wieder küsste er sie, diesmal etwas sanfter.

Sie gingen ins Haus zurück und teilten Tante Abby die Neuigkeit mit. Deren Augen funkelten verschwörerisch, als sie Matthew ansah. Kristas Verlobter lächelte. Tante Abby war glücklich.

Und Krista fragte sich, warum sie selbst sich nicht glücklicher fühlte.

Ihre Entscheidung war gefallen. Heute in einem Jahr würde Krista eine verheiratete Frau sein.

Als Erstes berichtete sie am nächsten Morgen ihrem Vater in einem Brief von der Neuigkeit. Einige Tage später erhielt sie den Antwortbrief, in dem er ihr und Matthew seinen Segen gab und seine herzlichsten Glückwünsche übermittelte. Sie wusste, dass sie es jetzt auch ihrem Großvater sagen sollte – und das würde sie auch tun. Irgendwann, sehr bald.

Über einen Hochzeitstermin war noch nicht gesprochen worden. Sie und Matthew stimmten überein, dass ihre Verlobung nicht offiziell gemacht werden sollte, bevor ihr Vater vom Land zurückgekehrt war. Während die Tage vergingen, stellte Krista fest, dass sie froh darüber war. Denn seit dem Abend, an dem sie Matthews Antrag angenommen hatte, wurde sie von Zweifeln gequält.

Und um alles noch schlimmer zu machen, waren vor Kurzem die Probleme bezüglich ihrer Zeitung noch größer geworden.

Krista stand neben Coralee an der schweren Stanhope-Druckerpresse und dachte an all die Drohungen, die sie seit der Abreise ihres Vaters erhalten hatte – einschließlich der, die sie an diesem Morgen in ihrem Briefkasten gefunden hatte und jetzt in der Hand hielt, waren es sieben.

„Und was steht in dem drin?“, fragte Corrie und versuchte über Kristas Schulter hinweg den Brief zu lesen.

Krista gab ihrer Freundin das Blatt. „Es ist so ziemlich das Gleiche wie im letzten.“

Corrie las laut vor: „Du hast deine letzte Warnung erhalten. Jetzt wirst du den Ärger ernten, den du gesät hast.“ Sie blickte auf und schob sich die kupferfarbenen Locken hinters Ohr. „Ich glaube nicht, dass es dieselbe Handschrift wie letztes Mal ist.“

Krista ging in ihr Büro zu ihrem Schreibtisch. Sie öffnete die rechte Schublade und zog das kleine Bündel Briefe hervor, das sie während der vergangen Wochen erhalten hatte.

Die Botschaft, die obenauf lag, lautete: Teufelsbrut. Hört auf euch einzumischen oder tragt die Folgen. Es war die letzte Drohung, die sie erhalten hatten. Man hatte sie an den Eingang der Zeitungsredaktion geheftet.

Krista blätterte den Stoß durch. „Jede Handschrift scheint eine andere zu sein. Anscheinend haben wir da draußen eine ganze Armee von Andersdenkenden.“

„Vielleicht wollen sie uns das auch nur weismachen.“

„Die Handschriften sind verschieden, doch einige der Warnungen scheinen miteinander zu tun zu haben.“ Sie gab Corrie die Briefe.

Zwei der Verfasser protestierten gegen die Artikel, die Krista wegen der notwendigen Verbesserungen am städtischen Kanalisationssystem geschrieben hatte. Wegen der Kosten waren sie dagegen. Einige andere befassten sich mit der Zeitungskampagne, die Krista nach der Abreise ihres Vaters gestartet hatte und in der sie sich für eine Gesetzesvorlage einsetzte, die den Namen „Bergwerksgesetz“ trug. Die Vorlage, wenn sie denn genehmigt würde, würde verhindern, dass Frauen sowie Mädchen und Knaben unter zehn Jahren unter Tage arbeiten müssten. Da Kinder unter den Arbeitskräften eine große Rolle spielten, war dieser Vorschlag bei den Bergwerksbesitzern höchst unpopulär.

Besonders ein Mann namens Lawrence Burton, Hauptaktionär der Consolidated Mining Company, hatte sich sehr freimütig geäußert. Natürlich war er nicht der Einzige gewesen.

Coralee betrachtete den Brief, der an diesem Morgen eingegangen war. „Keine dieser Nachrichten enthält Gutes, aber irgendwie klingt dieser hier besonders bedrohlich.“

Krista lächelte. „Ach, ich weiß nicht, ‚Teufelsbrut‘ klingt gewiss ziemlich abscheulich.“

Ihre Freundin lachte. „Wir hätten längst die Obrigkeit unterrichten müssen, Krista. Wir müssen die Briefe der Polizei übergeben. Vielleicht findet sie heraus, wer hinter den Drohungen steckt.“

„Du sagst ja selbst, dass noch nicht einmal die Handschrift dieselbe ist. Das heißt, die Briefe kommen von verschiedenen Leuten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Obrigkeit da nach den Schuldigen suchen soll.“

„Du solltest trotzdem darüber nachdenken.“

Krista gab keine Antwort. Auch ohne die Polizei mit hineinzuziehen hatte sie schon genug Probleme.

Zumindest glaubte sie das, als sie an diesem Abend die Redaktion verließ, um nach Hause zu gehen.

Als sie am Morgen entdeckte, dass die Hinterzimmer von Heart to Heart nur noch ein Haufen rauchender Trümmer waren, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Früh am Morgen kam Krista vor dem dreistöckigen Backsteinhaus an, das ihre Zeitung beherbergte. Auf ihrem Weg hatte sie, wie sie es in letzter Zeit gelegentlich tat, den Kutscher Mr. Skinner am Grosvenor Square anhalten lassen, um Coralee mitzunehmen.

Krista sagte gerade etwas zu ihrer Freundin, als sie den knallroten, von zwei großen grauen Pferden gezogenen Spritzenwagen in der Gasse hinter dem Gebäude erblickte. Noch bevor die Kutsche anhielt, hatte sie schon die Tür aufgerissen, war aus dem Wagen gesprungen und lief zu dem Haus.

Corrie folgte ihr auf dem Fuß. „Gütiger Himmel!“

Krista konnte sehen, dass das Feuer schon fast aus war. Reste weißen Rauchs stiegen in die Luft, wo eine Gruppe Feuerwehrmänner mit einem kräftigen Wasserstrahl die hinteren Räume der Redaktion löschten. Doch der Schaden war ziemlich groß. Krista betete, dass der Hauptteil des Gebäudes, in dem sich die Druckerpresse befand, verschont geblieben war.

„Sie müssen zurückbleiben, Miss“, sagte ein kräftiger Mann mit dichten roten Haaren, der hier das Kommando zu haben schien. „Zu Ihrer eigenen Sicherheit.“

„Mein Name ist Krista Hart. Das hier ist mein Arbeitsplatz. Können Sie mir sagen, was geschehen ist?“

Er sah zu dem Rauch hinüber, der durch ein zerbrochenes Fenster nach draußen wehte. „Das Feuer brach im rückwärtigen Gebäude aus. Es erreichte aber nicht den Hauptteil.“

„Gott sei Dank. Wie kam es denn zu diesem Brand?“

„Soweit wir das beurteilen können, sieht es aus, als hätte jemand etwas durch die Hintertür geworfen.“

Krista sah ihn mit großen Augen an. „Wollen Sie damit sagen, es war kein Unglücksfall?“

„Nein, Miss. Tatsache ist, wenn die alte Mrs. Murphy nicht zufällig den Rauch gesehen hätte, wäre Ihr ganzes Gebäude abgebrannt, vielleicht sogar das ganze Viertel.“

Mrs. Murphy lebte mit ihrem kränkelnden Ehemann nur einige Türen weiter die Straße hinunter über Murphys Lebensmittelgeschäft. Krista schauderte bei dem Gedanken, dass der Besitz, vielleicht sogar Leben, verloren gegangen wären, hätte man das Feuer nicht so rasch entdeckt.

Corrie neben ihr ließ den Blick über die geschwärzten Ziegelmauern und das über der ganzen Gasse verstreut herumliegende Glas schweifen. „Ich denke mal, das ist jetzt mehr als nur eine Drohung.“

Krista seufzte. „Ich habe mich geirrt. Ich hätte zur Polizei gehen sollen, wie du gesagt hast.“

„Dafür ist es noch nicht zu spät. Und du musst es deinem Vater erzählen. Denn das hier kannst du unmöglich geheim halten.“

Krista nickte. Sie würde ihrem Vater eine Nachricht schicken. Sie wollte zwar nicht, dass er sich Sorgen machte, aber es gab keinen anderen Weg.

„Was meinst du, wer das war?“, fragte Corrie.

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht bekommt die Polizei es heraus.“

„Möglich, aber sie hat sehr viel zu tun. Vielleicht sollten wir selbst jemanden engagieren, der sich um die Sache kümmert.“

„Das ist eine sehr gute Idee. Im Brief an meinen Vater werde ich ihn fragen, ob er irgendjemanden kennt, der für diese Aufgabe infrage kommt.“

Krista sah zu, wie die Feuerwehrmänner ihre Schläuche zusammenrollten und zurück zu ihrem Spritzenwagen trugen. Bald würde die Polizei da sein und Fragen stellen.

Corrie warf ihr einen Blick zu. „Schick den Brief noch heute ab, Krista.“

Krista blinzelte wegen des beißenden Rauchs. „Ja, ich glaube, das sollte ich tun.“

Leif strebte mit großen Schritten auf die Stallungen von Heartland zu, einem großen Steingebäude, das nach Staub und frischem Heu roch. Auf seinen Schultern hockte vergnügt kreischend der kleine Alfinn. Er war froh, wieder an seinem Lieblingsplatz zu sein. Als sie das schattige Innere betraten, sprang der Affe hoch, landete auf einem der oberen Gitter einer Box und kletterte von dort aus ins Gebälk hinauf.

„Benimm dich, Alf“, warnte Leif, und der Affe schnatterte geräuschvoll eine Antwort. Er war zufrieden mit seiner Umgebung und dem Stalljungen Jamie Suthers, der sich am meisten um ihn kümmerte.

„Hat heute Morgen nichts als Unsinn im Kopf“, sagte der schlaksige dunkelhaarige Junge mit sichtlicher Zuneigung.

„Er freut sich des Lebens. Und er mag dich, Jamie.“ Leif winkte dem Jungen zu. Er war glücklich, dass Alf noch einen Freund gefunden hatte, und ging wieder in Richtung Haus. Er trat ein und ging dann den mit Marmor gefliesten Gang hinunter in die Bibliothek mit der hohen Decke, die der Professor als Arbeitszimmer benutzte.

Nach langen Wochen in diesem holzverkleideten, mit langen Bücherreihen ausgestatteten Raum fühlte Leif sich hier wohler als in irgendeinem anderen Raum dieses großen, eleganten Gebäudes.

Leif dachte zurück an die ersten Wochen nach seiner Ankunft. Heartland war eines Königs würdig. Aus schönen goldfarbenen Steinen erbaut, stand es vier Stock hoch, geschützt von einem Dach aus schwerem schwarzen Schiefer, auf einem Hügel inmitten weiter grüner Felder. Die Wege und Gärten waren bestens gepflegt, und am Haus entlang plätscherte ein fischreicher Fluss.

Die Innenausstattung war herrlicher, als Leif es sich mit seinen begrenzten Kenntnissen in dieser Welt je hätte vorstellen können. Es gab hier sogar noch üppigere Möbel als im Stadtpalais des Professors. Das Bett, in dem Leif schlief, war noch größer als das in London und die Matratze nicht nur aus Federn, sondern aus weichen Gänsedaunen.

Der Professor hatte ihm erzählt, dass es Hunderte von Häusern gab, die weit eleganter waren als Heartland. Doch das war Leif egal. Er hatte diesen Ort vom ersten Augenblick an geliebt. In seinen Augen konnte selbst der reichste Mann der Welt sich nicht mehr wünschen.

Leif setzte sich in einen reich mit Schnitzereien verzierten Stuhl. Er erinnerte ihn an den hochlehnigen Sessel, in dem sein Vater zu Hause als Häuptling im Langhaus auf einem Podest saß. Dieser Stuhl hier war nur einer von sechs Stühlen, die einen schönen geschnitzten Tisch in der Mitte der Bibliothek umgaben. Vor Leif auf dem Tisch lag ein Stapel Bücher, von denen der Professor annahm, sie könnten Leif interessieren. Er schlug das oberste Buch auf und begann zu lesen.

Bald würde Professor Hart mit einer neuen Liste von Wörtern und Begriffen kommen, und sie würden wieder mit dem Unterricht beginnen. Diese Stunden waren lang und anstrengend, doch der Professor lobte seine Leistungen, und Leif glaubte, dass das Ergebnis die Mühe wert war.

Er erinnerte sich an die ersten mühevollen Wochen auf dem Land. Paxton Hart hatte im Unterricht eine Buchstabentafel benutzt, ein dickes Stück Karton, das in drei Teile gefaltet war. Nachdem Leif das Alphabet gelernt hatte und es den hohen Ansprüchen des Professors gemäß auch schreiben konnte, lernte er ganze Wörter zu schreiben. Er begriff sehr schnell und arbeitete hart. Den Professor schien es zu freuen. Zuerst lernte Leif in einer Fibel lesen. Dann las er Bücher für ältere Kinder. Jetzt las er bereits alles, lernte mehr und mehr Wörter und wie man sie richtig aussprach.

Nach vier Monaten intensiven Studiums hatte er Vertrauen in seine Fortschritte. Er wusste, dass er weit besser arbeitete, als der Professor erwartet hatte.

In dem Moment erschien Paxton Hart in der Tür zur Bibliothek. Leif runzelte die Stirn, als er das angespannte Gesicht des Mannes sah. Das Papier in seiner Hand zitterte ein wenig.

Leif sprang auf. „Was ist, Professor?“ Seit mehr als einem Monat sprachen sie nur noch Englisch, und Leif stellte fest, dass ihm die Worte immer leichter über die Lippen gingen.

„Es ist etwas passiert. Bei der Zeitung hat es Schwierigkeiten gegeben. Ich muss zurück in die Stadt.“

„Was für Schwierigkeiten?“ Leif wusste nun, was Zeitungen und Zeitschriften waren. Er wusste, dass der Professor und seine Tochter etwas besaßen, das man Gazette nannte, eine Wochenzeitschrift. Ihre Wochenzeitschrift wurde für Frauen gedruckt. Er war schon gespannt, die Maschine zu sehen, die so etwas fertigbrachte.

„Wie es scheint, hat Krista noch mehr Drohbriefe erhalten. Einige hatte sie bereits vor unserer Abreise bekommen, doch sie schienen eher ein Streich zu sein, den ihr jemand spielte, ein Scherz“, erklärte Paxton. „Ich habe sie nie wirklich ernst genommen.“

„Gefiel den Damen nicht, was Krista in ihrer Zeitschrift druckte?“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Es waren nicht die Damen. Sie schreibt Artikel, in denen sie soziale Reformen fordert – eine bessere Wasserversorgung der Stadt, kürzere Arbeitszeiten für Frauen und Kinder, so etwas eben. Anscheinend hat sie sich Feinde gemacht. Es sind Menschen, die nicht wollen, dass sich etwas ändert. Gestern hat jemand das Büro in Brand gesetzt.“

Leif erschrak. „Ihre Tochter ist doch nicht verletzt?“

„Nein, Krista geht es gut, aber sie macht sich Sorgen. Die Polizei hat keinen Hinweis, wer dafür verantwortlich sein könnte. Jetzt hat sie Angst, jemand könnte verletzt werden. Ich befürchte, der Jemand könnte sie sein. Ich muss sofort zurückkehren.“

„Ich fahre mit“, erklärte Leif.

Der Professor sah ihn an. „Ich hoffte, wir würden etwas mehr Zeit haben. Wenigstens ein paar Wochen mehr. Wir müssen uns noch mit den Anstandsregeln beschäftigen, den Dingen, die Sie kennen müssen, um sich in der feinen Gesellschaft zu bewegen.“ Er lächelte. „Wenn Sie in der Stadt sind, ist meine Tochter ja vielleicht bereit, Sie zu unterrichten. In diesen Dingen kennt sie sich weit besser aus als ich.“

„Möglicherweise. Wir werden zurückfahren und dafür sorgen, dass Krista in Sicherheit ist. Als Gegenleistung dafür wird sie mir beibringen, was ich noch lernen muss.“

Der Professor zögerte nur kurz, dann nickte er. „Ja … jetzt, wo ich darüber nachdenke, finde ich es richtig, dass Sie mitkommen. Meine Tochter liebt ihre Unabhängigkeit. Sie würde nicht wollen, dass jemand über sie wacht. Doch nach diesem Anschlag dürfte das nötig sein. Wenn wir zwei uns um sie kümmern, können wir sie vielleicht beschützen.“

„Ihre Tochter wird in Sicherheit sein, Professor. Das schwöre ich Ihnen.“

9. KAPITEL

Willst du wirklich gehen, Krista?“ Aufgeregt folgte Tante Abby ihrer Nichte zur Haustür. Es war der dritte Morgen nach dem Brand, und jeden Tag war es die gleiche Predigt. „Wie ich schon sagte, ich meine, du solltest zu Hause bleiben, wenigstens für eine Weile. Gib der Polizei ein wenig Zeit, sich mit der Sache zu beschäftigen und herauszufinden, wer das alles angezettelt haben könnte.“

Krista beugte sich hinunter und küsste die gepuderte Wange ihrer Tante. „Die Gazette kommt heute Morgen heraus. Um sie fertig zu machen, damit sie ausgeliefert werden kann, braucht es alle Mitarbeiter. Da der Raum für den Versand in Schutt und Asche liegt, müssen wir im zweiten Stock Tische für alle aufstellen. Das heißt, wir müssen die ganze Abteilung hinauf und die fertigen Bündel hinunterschaffen, was unsere Aufgabe noch erschwert.“

Sie nahm ihren Strohhut vom Garderobenständer, den Mantel ließ sie unbeachtet. Es war Mitte August, und die Luft stand heiß in den Straßen.

Ihre Tante rang die schlanken weißen Hände. „Ich wünschte, dein Vater wäre hier. Ich bin überzeugt, er würde dir verbieten, das Haus zu verlassen, bis alles wieder in Ordnung ist.“

Krista glaubte nicht, dass er so weit gehen würde. Und wegen der Probleme bei ihrer Gazette war sie froh, dass er auf dem Land blieb. Er würde sich nur Sorgen machen, und das wollte sie nicht.

„Ich habe versprochen, vorsichtig zu sein, und das bin ich auch.“

Da Krista auf ihren Brief keine Antwort erhalten und ein Gespräch mit der Polizei kein Ergebnis gebracht hatte, hatte sie einen Detektiv engagiert. Coralees Vater, Viscount Selkirk, schlug ihn vor. Sein Name war Randolph Petersen – Dolph, laut seiner Visitenkarte –, und kaum hatte er den Auftrag angenommen, bestand er darauf, dass sie einen Wachmann einstellte, um die Redaktion von ihm bewachen zu lassen, wenn keiner da war. Krista glaubte, dass er die Identität ihres Rächers bald herausfinden würde. Dann konnte die Polizei ihn verhaften.

Und bis dahin hatte Krista eine Zeitschrift herauszugeben.

Sie wandte sich zur Tür, eilte die Eingangsstufen hinunter und lief zu ihrer Kutsche, als sie dahinter eine zweite Kutsche stehen sah. Der Schlag schwang auf, und mit besorgtem Gesicht stieg Matthew Carlton die Eisenstufen herunter.

„Ich hörte, was in der Gazette passiert ist“, erklärte er. „Wieso hast du mir nichts gesagt? Hast du wirklich geglaubt, ich würde es nicht über kurz oder lang erfahren? Die Leute reden schon darüber und fragen sich, warum ich als Letzter davon weiß. Hast du etwa gedacht, es würde mich nicht kümmern?“

Krista spielte mit einer Falte ihres aprikosenfarbenen Kleids. „Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“

„Nun, ich mache mir Sorgen. Und ich finde, du solltest dich nicht in die Nähe von Heart to Heart begeben, bis die Polizei den Mann, der das Feuer legte, verhaftet hat.“

Krista seufzte. Genau das war der Grund, weswegen sie Matthew nichts gesagt hatte. Sie wusste, er würde nicht wollen, dass sie weiterarbeitete.

„Wir müssen die Zeitung herausbringen, Matthew. Dazu sind jetzt große Anstrengungen nötig. Und da ich die Herausgeberin bin, muss ich da sein, um zu helfen.“

Er legte den Kopf in den Nacken und sah sie von oben herab an. „Wenn wir erst einmal verheiratet sind, wirst du dich mit anderen Dingen zu beschäftigen haben als mit deiner dummen Zeitschrift.“

Krista erstarrte. „An unserer Zeitung ist nichts dumm. Ich dachte, du würdest mich verstehen. Ich habe dir erklärt, dass die Zeitschrift mir wichtig ist, und du sagtest, wir würden wertvolle Arbeit leisten.“

Sein ärgerlicher Blick wurde sanfter. „Es tut mir leid, Liebling. Ich bin nur so besorgt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert.“

Er schien es ehrlich zu meinen, und sie sollte ihm für seine Fürsorge dankbar sein. „Ich habe einen Privatdetektiv engagiert, Matthew. Nachts bewacht jetzt ein Wachmann das Gebäude. Seit dem Feuer sind keine Briefe mehr eingetroffen. Es gibt also nichts, weswegen man sich noch Sorgen machen müsste.“

Er seufzte. „Ich hoffe nur, du hast recht.“ Er nahm ihre Hand und half ihr beim Einsteigen in ihre Kutsche. „Gestern Abend sprach ich mit meinem Vater. Er meint, wir sollten den Hochzeitstermin festsetzen.“

Krista schüttelte den Kopf. „Nicht, bevor mein Vater zurück ist. So haben wir es ausgemacht. Ich denke, in einigen Wochen, höchstens einem Monat, wird er wieder da sein.“

Matthew widersprach nicht, aber er schien nicht gerade erfreut zu sein. Doch mit dem Sonnenlicht, das auf seinem hellbraunen Haar schimmerte, und den vornehmen Gesichtszügen sah er selbst wenn er nicht lächelte gut aus. Er hätte unter den elegantesten jungen Damen Londons wählen können, und doch hatte er sie ausgesucht.

Wieder verdrängte Krista die Frage, ob vielleicht die Höhe ihrer Mitgift sein Interesse geweckt hatte.

Aufseufzend machte sie es sich in der Kutsche bequem, während Matthew den Kutschenschlag schloss. Dann beugte sie sich noch einmal aus dem Fenster. „Ich nehme an, wir gehen am Samstagabend trotzdem noch zum Dinner bei Lord Wimby.“

„Natürlich“, antwortete er. „Ich werde dich und deine Tante um acht hier abholen.“

„Also bis dann.“ Während die Kutsche davonrollte, winkte Krista ihm ein Adieu zu und ließ sich dann in die Polster sinken. Warum war sie in Matthews Gegenwart immer nur so angespannt? Sie wusste nicht wieso, doch in seiner Gesellschaft konnte sie nie entspannt sein. Mit der Zeit würde sich das sicher geben.

Der Morgen ging ohne Zwischenfall vorüber. Als sie am Ende des Tages die Redaktion verließ und mit der Kutsche nach Hause fuhr, dachte sie noch immer über Matthew und ihre unsicheren Gefühle ihm gegenüber nach. Die Dämmerung war bereits angebrochen und ließ die Silhouette der Stadt in sanftem Rot erglühen.

Die Zeitung war fertig, sodass sie am nächsten Tag verteilt werden konnte. Krista war todmüde, sorgte sich wegen der Zeitschrift und fragte sich, ob ihr noch mehr Ärger bevorstand. Tief in Gedanken versunken stieg sie die Stufen zum Haus hinauf.

Wie immer öffnete Giles mit einer Verbeugung das schwere Eingangportal. Beim Anblick des blonden Riesen, der die geschwungene Treppe herunterstürmte, blieb Krista wie vom Blitz getroffen stehen.

„Sie sind zu Hause.“ Er hatte die Worte in fast perfektem Englisch gesprochen. „Ihr Vater und ich wollten Sie gerade abholen kommen.“

Krista sagte nichts. Sie hatte völlig vergessen, was für eine aufwühlende Wirkung dieser Mann auf sie hatte, wie unglaublich gut er aussah, wie groß, muskulös und wie männlich er war.

„Wir sind gerade in die Stadt gekommen“, fügte er hinzu. Sein leichter altnordischer Akzent gab den Worten einen weichen, irgendwie verführerischen Klang. „Nachdem Ihr Brief ankam, war Ihr Vater sehr besorgt.“

Krista befahl sich im Stillen, ihn nicht so anzustarren. Sie ignorierte die Hitze, die in ihr aufstieg, und befeuchtete nervös die Lippen.

Leifs Blick fiel auf ihren Mund, und seine Augen leuchteten in dem unglaublichen Blau, an das sie sich so gut erinnerte.

„Ich dachte oft an Sie, Krista Hart.“

Krista schluckte. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. „Sie haben … Sie haben viel gelernt in den Monaten Ihrer Abwesenheit.“

Er lächelte. „Ich habe hart gearbeitet. Aber ich muss noch sehr viel mehr lernen. Ihr Vater sagt, dass Sie mich unterrichten könnten.“

Die Worte wirkten ernüchternd auf Krista. „Ich Sie unterrichten? Was könnte ich Ihnen wohl …“

„Da bist du ja!“ Der Professor erschien, bevor sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte. „Liebes … es ist eine so entsetzlich lange Zeit gewesen.“

Sie lief zu ihm und fühlte, wie er die mageren Arme um sie legte. „Ich habe Sie so vermisst, Vater. Ohne Sie war es hier nicht wie sonst.“

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut es tut, dich wiederzusehen.“ Er nahm sie fester in die Arme, und sie schmiegte sich an ihn.

In einem Wirbel von rosa Seidenröcken gesellte Tante Abby sich zu der kleinen Gruppe am Eingang. „Ich glaubte, Stimmen zu hören.“ Sie lächelte Krista zu. „Ich bin froh, dich wieder sicher zu Hause zu wissen, meine Liebe. Ich habe mir nämlich schon Sorgen gemacht. Dann kamen Mr. Draugr und dein Vater an. Sie waren gerade auf dem Weg zum Picadilly, um dich abzuholen.“

„Dann haben Sie Mr. Draugr schon kennengelernt?“

Noch nie hatte Krista ihre Tante so strahlend lächeln gesehen. „Nun, ja. Du hattest mir bereits ein wenig über ihn erzählt, doch du hast vergessen zu erwähnen, wie gut er aussieht.“

Das hatte Krista selbst vergessen wollen.

Sie blickte zu Leif und sah, dass er über das Kompliment schelmisch lächelte.

„Ihre Tante ist eine sehr schöne Frau“, sagte er. „Es ist leicht, die Ähnlich… Ähnlich…“

„Ähnlichkeit“, half der Professor.

„Es ist leicht, die Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden zu bemerken.“

Dieser Mann konnte also auch charmant sein. Das hätte sie nie gedacht.

„Ich habe Sie erst in einigen Wochen erwartet“, sagte sie zu ihrem Vater.

„Nach deinem Brief waren wir beide sehr besorgt.“

Leif war ihretwegen besorgt? Ihr Vater wollte sicher nur höflich sein. „Nun, Sie sind endlich wieder zu Hause, und ich kann nicht sagen, dass ich traurig darüber bin.“

Leifs Augen wurden dunkler. „Dann haben Sie auch an mich gedacht.“

Krista errötete. Sie hatte überhaupt nicht an ihn gedacht. Zumindest hatte sie sich große Mühe gegeben, es nicht zu tun. „Ich sprach zu meinem Vater.“

Doch es war zu erkennen, dass Leif ihr nicht glaubte. Der Mann hatte sich nicht verändert. Er war immer noch ungeheuer eingebildet.

„Du hattest einen langen Tag“, sagte ihr Vater. „Du musst müde sein. Warum gehst du nicht hinauf und machst dich frisch? Wir können beim Abendessen über alles reden.“

Sie war tatsächlich müde. Und sie brauchte einen Moment, um wieder zu sich selbst zu kommen. „Ja, ich denke, das ist ein sehr guter Vorschlag. Wenn Sie mich entschuldigen würden …“

Als sie durch die Eingangshalle ging, warf sie einen Blick in den vergoldeten Spiegel. Ihre Locken hingen herunter, und ein Tintenklecks zierte ihre Wange. Sie sah entsetzlich aus.

Schnell raffte sie die Röcke und begann, die Treppe hinaufzugehen. Bis zur obersten Stufe hinauf konnte sie Leifs Blick im Rücken spüren.

Sie fragte sich, ob ihr Vater ihm gesagt hatte, dass sie jetzt verlobt war, und ob er verstand, dass sie nun unerreichbar war für ihn. Bevor sie den Korridor hinunterging, blickte sie noch einmal übers Geländer zu Leif hinunter. Der heiße Blick, den er ihr zuwarf, enthüllte überdeutlich seine Gedanken.

Er begehrte sie. Daran hatte sich nichts geändert.

Sie verdrängte das atemlose Gefühl, das in ihrer Brust erwachte. Wenn er erst einmal verstanden hatte …

Bei all seiner neu gewonnenen Bildung war dieser Mann immer noch ein Barbar. Und selbst wenn er von ihrer Verlobung erfuhr, würde das wahrscheinlich nichts daran ändern, dass er sie wollte.

Dieser Gedanke erfüllte sie erneut mit einer seltsamen Unruhe.

10. KAPITEL

Zum Abendessen zog Krista dasselbe dunkelblaue Kleid an, das sie getragen hatte, als Matthew ihr seinen Heiratsantrag gemacht hatte. Warum sie das tat, wusste sie nicht genau. Vielleicht, um sich daran zu erinnern, dass sie bald ihre Verlobung bekannt geben würde.

Sie fand ihren Vater und Leif im Studierzimmer. Die beiden Männer waren in einen Stapel Bücher vertieft. Auch sie hatten Abendkleidung angelegt. Leif trug jetzt einen schwarzen Gehrock, eine silberne Weste und graue Hosen. Krista erinnerte sich, dass sie damals selbst den Stoff dafür ausgesucht hatte. Doch sie hätte sich nie vorstellen können, wie gut Leif darin aussehen würde.

Ihr Vater erhob sich, als sie den Raum betrat, und Leif tat es ihm nach.

„Du siehst reizend aus, Liebes“, sagte der Professor.

Leifs Blick umfasste ihre Gestalt und kehrte dann zu ihrem Busen zurück, der von dem züchtigen, eleganten Ausschnitt des Kleides diskret betont wurde. Langsam erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. „Selbst Freya wäre eifersüchtig auf Ihre Schönheit.“

Krista errötete. Bei den Wikingern war Freya die leidenschaftliche, unersättliche Göttin der Liebe.

Krista war sich nicht sicher, ob der Vergleich wirklich ein Kompliment war.

„Danke.“ Auf der Stuhllehne neben ihm entdeckte sie den kleinen Affen und musste lächeln. „Wie ich sehe, haben Sie Ihren Freund wieder mitgebracht.“

„Er hätte sich auf dem Land gelangweilt“, erklärte Leif.

„Ich bin sicher, das hätte er“, meinte Krista.

Leif verzog die Lippen, sagte aber nichts weiter. Der Affe war sein Freund. Wo er hinging, ging auch Alf hin. So einfach war das.

Sie befanden sich immer noch im Studierzimmer, als Tante Abby dazukam. Sie trug jetzt ein Kleid aus Goldbrokat mit dunkelgrünen Taftvolants am Oberteil und am Saum. „Allen einen guten Abend.“

„Guten Abend, Abigail“, sagte ihr Vater. „Mr. Draugr kennst du bereits, doch ich weiß nicht, ob Alfinn dir schon vorgestellt wurde.“

Tante Abby hob beim Anblick des winzigen Affen die hellen Brauen. „Ach du liebe Güte! Ist er nicht niedlich? Wo um Himmels willen haben Sie ihn her?“

Leifs Miene wirkte plötzlich härter. Krista konnte sehen, dass die Tage seiner Gefangenschaft ihm immer noch zu schaffen machten.

„Alf ist ein Freund von Mr. Draugr“, erklärte ihr Vater diplomatisch.

Mit schiefem Kopf schenkte der Affe Tante Abby einen seiner langen, liebenswerten Blicke. Sie lächelte. „Ist er nicht ein Schatz?“

Sie beugte sich vor und strich ihm über das Fellköpfchen. Alf schmiegte sich in ihre behandschuhte Hand.

„Schatz oder nicht“, sagte der Professor, „es wird Zeit zum Abendessen. Jamie wird sich um Alf kümmern.“

„Jamie?“, fragte Krista erstaunt.

„Alf hat auf Heartland einen Freund gefunden“, sagte Leif.

„Der Suthers-Junge“, erklärte der Professor. „Arbeitete im Stall, erinnerst du dich? Er ist Waise und hing immer mehr an dem Affen. Ich dachte, er könnte hier nützlich sein und auch ein Auge auf Alf haben.“

Der Affe sprang von der Lehne auf den Tisch und hüpfte zu Krista hinüber. Er streckte die winzige Pfote aus, und Krista reichte ihm ihre Hand. Er hatte sehr große, dunkle Augen, und sie schienen in Krista hineinblicken zu können.

„Ich glaube, Alf macht sich leicht Freunde“, warf sie ein.

„Er mag Sie“, sagte Leif. „Sie haben ihn damals gerettet. Daran erinnert er sich.“

Krista sah zu dem großen Wikinger hoch, und sein Blick schien zu sagen: Du hast auch mich gerettet, und auch ich erinnere mich.

Mit viel zu schnell klopfendem Herzen wandte sie sich ab und lächelte ihrem Vater zu. „Ich bin am Verhungern. Was ist mit Ihnen?“

„Verhungern?“, fragte Leif. „Was ist das für ein Wort?“

„Es meint hungrig sein“, sagte der Professor.

„Verhungern“, wiederholte Leif einige Male, während Alf auf seinen Arm kletterte und beide zur Tür gingen, um sich zu den Stallungen zu begeben. Mit jedem Mal wurde seine Aussprache besser.

Er ist ein erstaunlicher Mann, dachte Krista. Und schön wie die Sünde. Sie sah auf ihr dunkelblaues Kleid und dachte fest an Matthew Carlton.

Zur Feier der Rückkehr des Hausherrn und seines Gastes hatte die Köchin ein besonderes Essen vorbereitet. Es gab gebratene Rippchen, gebackenen Heilbutt in Austernsoße und Wildpastete. Leif verdrückte eine gehörige Portion und aß sogar ein wenig Kartoffeln und Karotten. Krista war überzeugt, dass sie ihm nicht sehr schmeckten.

Besonders der Fisch schien ihm jedoch zu munden, und Krista fragte Leif, ob bei ihm zu Hause das Meer für einen großen Teil der Nahrung sorgte.

Leif schluckte einen Bissen Heilbutt hinunter. „Auf Draugr essen wir meistens Schafe, Rinder und Ziegen. Aber es gibt auch Wild auf der Insel. Wir essen Fisch und diese Seetiere, die ihr Engländer Robben nennt. Alle paar Jahre kommt ein Wesen an unsere Küste, das Sie Walross nennen. Wir verarbeiten sein Fleisch und seine Stoßzähne.“

Erfreut stellte Krista fest, dass seine Manieren besser geworden waren. Er wartete, bis ein Diener ihm eine Portion Fleisch auf den Teller legte. Auch wenn er sein Essen nicht länger hinunterschlang, benutzte er jedoch immer noch nur sein Messer und seinen Löffel.

Krista sah, dass Tante Abby ihn fasziniert beobachtete. Falls sie seinen Mangel an Tischmanieren bemerkte, so schien es ihr nichts auszumachen.

Abby lächelte in seine Richtung. „Sie haben aber einen guten Appetit, Mr. Draugr.“

Leif nickte. Sein Blick streifte kurz Krista. „Ich war schon immer ein Mann von großem Appetit.“

Tante Abbys Blick folgte dem seinen, und ihre Augen weiteten sich. Eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. „Ja, nun … das kann ich mir vorstellen.“

Der Professor räusperte sich. „Mr. Draugr meint, dass ein Mann seiner Größe tüchtig essen muss, um bei Kräften zu bleiben.“

In der Tat, dachte Krista. Selbst in seinem perfekt maßgeschneiderten schwarzen Gehrock und den grauen Hosen sah er stark wie ein Ochse aus. Und er machte – das musste sie sich widerwillig eingestehen – eine schneidige Figur.

Entschlossen, die Konversation wieder auf ein unverfängliches Thema zu lenken, nahm sie einen Schluck Wein und stellte ihr Glas dann zurück auf den Tisch. „Sie sagten, auf Ihrer Insel gäbe es keinen Wald. Ohne Boote dürfte der Fischfang allerdings ein Problem sein.“

„Wir haben Boote – kleine Boote aus Schilf. Doch sie sind nicht groß genug, um lange Strecken zu segeln. In früheren Zeiten gab es Wälder auf der Insel, und die Menschen bauten Schiffe. Aber mit den Jahren brauchten sie den Wald auf, und die Schiffe wurden alt und verrotteten.“

„Sie haben erzählt, ein fremdes Schiff wäre an den Küsten zerschellt. Konnten Sie so das Schiff bauen, das Sie hierher brachte?“

„Das Schiff zerbrach, doch die meisten Balken waren noch brauchbar. Einige der Männer überlebten und waren begierig, wieder in ihre Heimat zu kommen.“ Er ignorierte den Wein und trank stattdessen von dem Bier, das der Professor für ihn bereitgestellt hatte. „Wir besaßen Zeichnungen von den Schiffen, auf denen unsere Krieger in früheren Zeiten gesegelt waren. Die bauten wir dann. Es gab welche unter uns, die hatten seit Jahren zu den Göttern um eine Gelegenheit gefleht, die Welt jenseits unserer Insel kennenzulernen. Jetzt bekamen wir endlich unsere Chance.“

„Haben Sie Familie, Mr. Draugr?“, fragte Tante Abby.

„Ja. Mein Vater lebt dort, meine Schwester Runa und meine Brüder Olav, Thorolf und Eirik. Mein Vater wollte nicht, dass ich gehe. Ich bin der Älteste, der Sohn, dessen Pflicht es ist, seinen Platz einzunehmen, wenn er in die Andere Welt reist. Deswegen muss ich auch zurückkehren.“

Sein Gesicht drückte eiserne Entschlossenheit aus. Man konnte sehen, dass Leif kein Mann war, der seine Verpflichtungen auf die leichte Schulter nahm.

Sie unterhielten sich noch ein wenig über das Leben auf der Insel, über die Monate, die er auf Heartland verbracht und wie viel er dort gelernt hatte.

„Sie sind wirklich ein erstaunlicher junger Mann, Mr. Draugr“, sagte Tante Abby. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, sich in so kurzer Zeit einer völlig neuen Kultur anzupassen.“

„Anzupassen?“

„In sich aufnehmen“, sagte Krista, und er nickte.

Ihr Vater lächelte. „Leif hat während unseres Aufenthaltes außerordentlich hart gearbeitet. Ihr glaubt gar nicht, wie viele Bücher er gelesen hat. Aber wie auch immer, jetzt ist es jedenfalls an der Zeit, dass er lernt, wie man sich in der feinen Gesellschaft benimmt. Ich hoffe, ihr beiden werdet ihm dabei helfen.“

Jetzt verstand Krista endlich. Das war es also, was Leif gemeint hatte.

Tante Abby bekam leuchtende Augen. „Ach du liebe Güte, das klingt nach einer Menge Spaß. Ich bin überzeugt, Mr. Draugr wird ein sehr begabter Schüler sein.“

„Ich wüsste nicht, warum ich dabei eine große Hilfe sein sollte“, widersprach Krista und suchte nach einer Möglichkeit, sich zu drücken. „Was die Etikette der feinen Gesellschaft angeht, kann man mich wohl kaum eine Expertin nennen. Außerdem habe ich viel in der Zeitung zu tun.“

„Abends und am Wochenende bist du zu Hause“, meinte ihr Vater. „Es ist doch sicher nicht zu viel verlangt, jemandem zu helfen, der in einem völlig fremden Land einen Neuanfang wagen will.“

Krista hatte ein schlechtes Gewissen. Ihr Vater und ihre Tante hatten recht. Sie hoffte nur, dass sie der Aufgabe gewachsen war.

Sie lächelte. „Sie haben recht. Ich würde mich freuen, wenn ich Tante Abby helfen könnte, Mr. Draugr zu lehren, was immer er lernen muss.“

„Oh, ich kann leider nicht behilflich sein“, sagte Abby. „Ich hätte schon längst auf meinen Landsitz zurückkehren müssen, um meinen Verpflichtungen nachzukommen, auch wenn ich es sehr bedauere, das hier zu verpassen.“

„Aber Sie sagten doch …“

„Ich sagte, dass es ein Spaß sein würde, und das wird es auch. Denk doch nur einmal daran, wie viel Freude es machen wird, Mr. Draugr den Walzer beizubringen. Und er muss wissen, wie man sich richtig vorstellt und wie man eine Dame begleitet. Du wirst ihn natürlich in die Oper und ins Theater mitnehmen. Vielleicht sollte er auch reiten lernen. Ein Mann sollte ein guter Reiter sein.“

„Leif reitet sehr gut“, sagte der Professor. „Er ist in Heartland ziemlich viel geritten.“

„Wir haben Pferde auf Draugr“, erklärte Leif. „Sie wurden von meinen Vorfahren auf die Insel gebracht.“

„Krista ist auch eine exzellente Reiterin“, fügte ihr Vater stolz hinzu. „Und ich bin sicher, dass sie eine sehr fachkundige Lehrerin in feinem Benehmen sein wird.“

Krista stöhnte innerlich. Sie dachte an die Punkte, die ihre Tante bereits aufgelistet hatte, und wusste, dass Leif auch noch unzählige andere Dinge lernen musste. Sie rang sich zu einer höflichen Antwort durch. „Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu helfen, wo immer ich kann.“

„Großartig!“ Ihr Vater strahlte. „Das ist also geregelt. Oh, da ist nur noch eine Sache.“

Misstrauisch sah Krista ihn an. „Was denn?“

„Leif hat den Wunsch geäußert, auf seine Art für alles zu bezahlen.“ Die Männer wechselten einen verschwörerischen Blick. „Er möchte nicht zur Last fallen und hat um eine Arbeit gebeten. Und als Besitzer von Heart to Heart habe ich ihn bei der Zeitung eingestellt.“

„Sie haben was?“

„Ich sehe keinen Grund, wieso du etwas dagegen haben könntest. Sicher kannst du die Hilfe eines großen, kräftigen Burschen wie Leif brauchen.“

Krista kämpfte um ihre Beherrschung. Sie war keine Närrin. Nach dem Feuer machte sich ihr Vater jetzt Sorgen. Er wollte einen Wachhund, jemanden, der als ihr Beschützer auftrat. Obwohl eigentlich sie die tagtägliche Arbeit in der Zeitung leitete, war ihr Vater der offizielle Besitzer. Normalerweise überließ er ihr die Entscheidung über die Mitarbeiter. Aber er hatte das Recht einzustellen, wen immer er wollte.

„Wir haben keine Stelle frei, Vater. Ich verstehe nicht, wozu …“

„Dir wird sicher etwas einfallen.“

Krista presste die Lippen zusammen. Leif wollte arbeiten. Nun gut, sie würde ihn arbeiten lassen.

Sie nahm einen Schluck Wein und betrachtete den Mann über den Rand ihres Glases hinweg. Sie würde schon dafür sorgen, dass Leif es bereuen würde, je den Namen Heart to Heart gehört zu haben.

An diesem Freitag wurde es heiß. Die Luft war schwer und schwül, und nur eine schwache Brise bewegte die Blätter an dem Baum, der draußen vor dem Fenster stand. Als Krista ihr Zimmer verließ und zur Treppe ging, sah sie Leif, der bereits unten auf sie wartete.

„Guten Morgen“, sagte er.

„Guten Morgen. Ich vermute, Sie wollen immer noch mit mir arbeiten …“

Sie hielt inne, als sie das schwere Schwert erblickte, das seine Hand umklammerte. Es war die Waffe in der Lederscheide, die er zurückerhalten hatte, als er den Zirkus verließ. „Was um Himmels willen haben Sie vor?“

„Sie hatten Probleme.“ Er zog das Schwert halb aus seiner Scheide. „Das hier ist gut gegen Probleme.“

Krista schüttelte den Kopf. „Die Leute hier benutzen seit ein paar Hundert Jahren keine Schwerter mehr, Leif, sondern Gewehre, Pistolen und Musketen.“

Das Schwert gab einen metallischen Klang von sich, als er es zurück in seine Hülle schob. „Ihr Vater hat mir solche Dinge gezeigt. Auf Heartland benutzten wir sie zur Vogeljagd.“

„Nun, dann sehen Sie ja, wie lächerlich es ist, so etwas Veraltetes wie …“

„Ich werde mein Schwert mitnehmen.“ Mit diesen Worten ging er zur Tür, blieb kurz stehen und sah über die Schulter zurück. „Kommen Sie mit?“

„Ich …“ Sie machte einen Schritt und blieb dann stehen. „Einen Moment noch. Da Vater und Sie mir die Aufgabe übertragen haben, Ihnen die Benimmregeln beizubringen, können wir auch gleich damit anfangen. In England ist es üblich, dass ein Herr der Dame erlaubt, ihm vorauszugehen. Das heißt, von jetzt an gehe ich vor Ihnen, Leif, nicht hinter Ihnen.“

Er runzelte die Stirn. „Ein Mann geht hinter einer Frau? Warum sollte er das tun? Ein Mann ist stärker, er ist ihr Beschützer. Er sollte vorausgehen für den Fall, dass Gefahr droht.“

„Das Betreten eines Salons dürfte nur selten gefährlich sein, also muss ein Mann auch nicht vorausgehen. Einer Frau zu erlauben, den Raum als Erste zu betreten, ist eine Geste des Respekts.“

Er runzelte noch mehr die Stirn. „Gibt es ein Buch über diese Sache, die man Benimmregeln nennt?“

„Ja. Ich werde Ihnen das Buch bringen, wenn wir heute Abend wieder zu Hause sind.“

Sie verließen das Haus. Krista ging voraus, Leif folgte ihr mit seinem Schwert. Es schien eines zu sein, wie es die Männer im Mittelalter benutzten, ähnlich einem schottischen Breitschwert. Der Griff bestand aus einem mit Schnitzereien verzierten Knochen. Auch wenn es eine veraltete Waffe war, war sie doch beeindruckend.

Als sie die Kutsche erreichten, erteilte Krista ihm eine weitere kurze Lektion und erklärte ihm, wie man einer Dame in eine Kutsche half. Die Wärme, die seine große Hand auf ihrer Taille hinterließ, als er ihr auf das eiserne Trittbrett half, ignorierte sie, nahm Platz und ordnete den üppigen Rock ihres hellblauen Tageskleids. Leif kletterte ebenfalls in die Kutsche; er war so groß, dass er den ganzen Sitz ihr gegenüber ausfüllte. Und doch wirkte er in seinen teuren maßgeschneiderten Kleidern kein bisschen fehl am Platz.

Während der Wagen Fahrt aufnahm und durch die belebten Straßen zum Picadilly rollte, bemerkte Krista, wie Leif immer wieder aus dem Fenster schaute. Ihr wurde klar, dass er aufpasste, ob Gefahr drohte.

„Gab es Kämpfe auf Ihrer Insel, in die Sie verwickelt waren?“, fragte sie, plötzlich neugierig geworden. Warum er wohl ein Schwert benötigt haben mochte?

„Es gibt verschiedene Clans auf Draugr. Einer von ihnen wollte unser Land haben, das weniger felsig und wesentlich fruchtbarer ist als das seine. Sie überfielen unser Heim, nahmen unsere Frauen und stahlen unser Vieh. Wir verteidigen uns, wenn es sein muss.“

„Vater sagt, Ihr Volk wäre völlig autark. Wenn Sie keinen Handel treiben, wie erhalten Sie dann Eisen für Ihre Waffen?“

„Im Gebirge gibt es genug Eisen für uns. Genug, um Schwerter, Lanzenspitzen und Äxte, Kochtöpfe und Arbeitsgeräte für die Landwirtschaft zu schmieden.“

Krista schwieg. Es entging ihr nicht, mit welcher Selbstverständlichkeit er sein Schwert trug, gerade so, als wäre die Waffe ein Teil seiner selbst. Krista schauderte. Oberflächlich betrachtet mochte Leif zivilisiert aussehen, doch unter der Kleidung eines Gentlemans war er ein Krieger – ein Wikinger. Daran hatte sich nichts geändert.

Die Kutsche fuhr den Picadilly entlang, bog an der Ecke in eine Seitenstraße ein und entließ sie vor dem Backsteingebäude von Heart to Heart. Krista führte Leif hinein und ging mit ihm direkt in ihr Büro.

Sie deutete auf sein Schwert. „Wenn Sie möchten, können Sie es hierlassen.“ Sie öffnete die Tür zu einem Schrank, der an der Wand stand, in dem Büromaterial aufbewahrt wurde.

„Ich würde es lieber bei mir behalten.“

„Sie können es hier drinnen lassen oder mit nach oben nehmen. Aber Sie können es nicht hier in der Redaktion herumtragen. Sie würden die Angestellten nur erschrecken.“

Er knurrte etwas, das sie nicht verstand, doch er lehnte das Schwert an die Innenwand des Schranks und schloss die Tür.

„Ich werde Ihnen jetzt die Redaktion zeigen und Sie unserer Belegschaft vorstellen. Dann können Sie mit der Arbeit anfangen.“ Am Tag zuvor hatten sie die Zeitungen gestapelt und zu Bündeln zusammengebunden. Heute mussten diese Bündel in Wagen geladen werden, welche die Zeitungen zu den Verteilerpunkten in der Stadt brachten.

Für Leif war das genau die richtige Arbeit. Und Krista hielt auch noch andere Aufgaben für ihn bereit.

„Ich möchte gerne sehen, wie Ihre Zeitung hergestellt wird“, sagte er, als sie Kristas kleines Büro verließen. Also nahm sie ihn mit zu der schweren Stanhope-Druckerpresse.

„Sie wurde von dem Earl of Stanhope erfunden“, erklärte sie. „Es ist die erste Druckmaschine, die ganz aus Eisen besteht.“

„Wie arbeitet sie?“

Sie zeigte ihm das Fach mit den Metalltypen, den Buchstaben und Nummern, die sie zum Drucken der einzelnen Ausgaben der Zeitschrift benutzten. Dann wandte sie sich der schweren gusseisernen Presse zu. „Um den Druck auf das Papier zu steigern, verfügt die Maschine über ein System miteinander verbundener Hebel. Dieses Modell ist bereits verbessert worden. In einer Stunde können wir bis zu zweihundert Seiten drucken.“

Leif war dabei, die Druckerpresse zu studieren, und untersuchte das schwere Arbeitsgerät von allen Seiten, als Coralee zu ihnen stieß.

„Corrie, das ist Leif Draugr. Ich glaube, du erinnerst dich an ihn.“

In dem Moment wandte Leif sich um, und Corrie blieb der Mund offen stehen. Sie stand einfach nur da und starrte in dieses unglaublich hübsche Männergesicht. Ihr Blick glitt tiefer. Sie musterte die breiten Schultern, den flachen Bauch und die langen Beine.

„Das kann doch nicht sein … das ist doch nicht etwa …“

„Leif, das ist Miss Coralee Whitmore. Sie ist die Redakteurin der Frauenseite unserer Gazette.“

„Was ist eine Redakteurin?“

„Das bedeutet, dass sie einen gewissen Teil der Zeitung überwacht, bestimmt, welche Artikel geschrieben werden und so weiter.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miss Whitmore.“

Corrie stand nur da und sah, den Kopf in den Nacken gelegt, zu ihm hoch. „Ich … ich kann es nicht glauben.“

„Ich gebe ja zu, dass es schwerfällt, aber er ist es trotzdem, glaube mir.“

„Gütiger Himmel.“

Corrie warf Krista einen vorwurfsvollen Blick zu, der bedeutete: Du hast mir nie gesagt, dass er absolut umwerfend ist!

„Mr. Draugr wird eine Zeit lang bei uns arbeiten, Coralee. Sobald er den Rest der Belegschaft kennengelernt hat, wird er Freddie dabei helfen, die Bündel aufzuladen.“

Der Blick ihrer Freundin kehrte zu Leifs kraftvoller Gestalt zurück. „Ja … ich bin sicher, dass Mr. Draugr das sehr gut kann.“

Krista ging an ihr vorbei und zeigte Leif die Redaktion und die Belegschaft. Sie stellte ihn als norwegischen Freund ihres Vaters vor. Bessie Briggs, die Schriftsetzerin, sah aus, als würden ihr gleich die Augen herausfallen. Gerald Bronner, der Drucker, wirkte neben Leif klein und weibisch, und Freddie Wilkes, Geralds junger Lehrling, ein Junge von vierzehn Jahren mit rötlich braunem Haar, starrte ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf.

Autor

Kat Martin
Ihre Arbeit im Immobiliengeschäft führte die New York Times Bestseller- Autorin Kat Martin auf den Weg ins Glück.

Durch ihre Tätigkeit als Maklerin lernte sie den perfekten Partner kennen – ihren Ehemann, den Western-Autor Jay Martin.

„Wir standen uns als potenzielle Verkäufer und Käufer gegenüber“, erinnert sie sich.

Kurz nachdem sie sich kennengelernt...
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