Die Maschen des Schicksals

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Was gibt es Besseres, als über dem leisen Klappern von Stricknadeln Ängste, Sorgen und Sehnsüchte mit seinen Freundinnen zu teilen? Niemand kennt die Maschen des Schicksals besser als Lydia, Besitzerin des Wollgeschäfts "A Good Yarn", und sie will den drei Frauen in ihrem Strickkurs unbedingt helfen. Gemeinsam entrollen sie ihren Kummer wie die Wollknäule zu ihren Füßen, und erschaffen daraus etwas Neues, Einzigartiges: ein unzerreißbares Band der Freundschaft und einen roten Faden für ihr Glück.

In der Blossom Street findet man neue Freunde, die Liebe und das Glück.


  • Erscheinungstag 09.01.2017
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499876
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Debbie Macomber

Die Maschen des Schicksals

Roman

Aus dem Amerikanischen von Constanze Suhr

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MIRA® TASCHENBUCH

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

A Good Yarn

Copyright © 2005 by Debbie Macomber

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Übersetzung der Strickanleitung: Leena vom Hofe

Redaktion: Laura Oehlke

Titelabbildung: büropecher, Köln

ISBN eBook 978-3-95649-987-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. Kapitel

„Eine Socke in Handarbeit herstellen verbindet mit der Geschichte. Wir erhalten dadurch einen kleinen Einblick in das Leben der Strickerinnen, die mit der gleichen Fertigkeit und Technik arbeiteten, die wir heute anwenden.“

(Nancy Bush, Verfasserin von „Folk Socks“ (1994), „Folk Knitting in Estonia“ (1999) und „Knitting on the Road, Socks for the Travelling Knitter“ (2001), erschienen bei Interveave Press)

Lydia Hoffman

Stricken hat mir das Leben gerettet. Es begleitete mich durch die beiden langwierigen Leidensphasen meiner Krebserkrankung. Einer besonders heimtückischen Art, bei der sich Tumore im Gehirn bildeten, die mich mit unbeschreiblichen Kopfschmerzen plagten. Ich ertrug Schmerzen, die ich mir vorher nie hätte vorstellen können. Der Krebs zerstörte meine Jahre als Teenager, doch ich war entschlossen zu überleben.

Ich war gerade sechzehn geworden, als die Krankheit zum ersten Mal diagnostiziert wurde, und ich lernte stricken, während ich eine Chemotherapie durchmachte. Eine Frau mit Brustkrebs, die im Behandlungsstuhl neben mir saß, strickte ebenfalls, und sie brachte es mir bei. Die Chemotherapie war schrecklich – nicht ganz so schlimm wie die Kopfschmerzen, aber fast. Durch das Stricken konnte ich die endlosen Stunden überstehen, in denen ich mich entsetzlich schwach fühlte und mit ständigem Brechreiz zu kämpfen hatte. Mit zwei Nadeln in den Händen und einem Knäuel Wolle auf dem Schoß bekam ich das Gefühl, alles ertragen zu können. Mir fiel das Haar büschelweise aus, aber ich war in der Lage, das Garn um die Nadel zu schlingen und eine Masche zu stricken. Ich schaffte es, ein Muster einzuarbeiten und ein Stück zu vollenden. Ich konnte kaum einen Bissen bei mir behalten, aber ich konnte stricken. An diese kleinen Erfolgserlebnisse klammerte ich mich.

Stricken war meine Rettung – die Handarbeit und mein Vater. Er gab mir die emotionale Kraft, diese letzte Phase des Kampfes zu überstehen. Ich überlebte, mein Vater traurigerweise nicht. Ironie des Schicksals, oder? Während ich die Krankheit besiegte, brachte sie meinen Vater um.

Auf dem Totenschein steht, dass er an einem schweren Herzinfarkt starb. Doch ich glaube, es war etwas anderes. Als ich einen Rückfall erlitt, traf ihn das noch mehr als mich. Mom war immer unfähig gewesen, mit Krankheiten umzugehen. Deshalb lag die Hauptlast meiner Pflege bei meinem Vater. Meist war er es, der mich zur Chemotherapie brachte, der sich mit den Ärzten stritt und dafür kämpfte, dass ich die bestmögliche medizinische Behandlung erhielt –, der mir den Willen zum Weitermachen gab. Während ich von meinem Kampf ums Überleben vollkommen vereinnahmt war, bemerkte ich nicht, was für einen hohen Preis mein Vater für meine Genesung zahlte. Als mir bescheinigt wurde, dass ich mich auf dem Weg der Besserung befand, versagte ihm sein Herz ganz einfach den Dienst.

Nachdem er gestorben war, wurde mir klar, dass ich entscheiden musste, was ich nun mit meinem Leben anfangen wollte. Es sollte ihm zu Ehren geschehen, was immer ich auch wählte. Das hieß, ich war bereit, ein Risiko einzugehen. Ich, Lydia Anne Hoffman, beschloss, auf dieser Welt ein Zeichen zu hinterlassen. Im Nachhinein betrachtet klingt das ziemlich melodramatisch, doch genau so dachte ich vor einem Jahr. Was, möchten Sie vielleicht fragen, könnte ich getan haben, das so bedeutend und außergewöhnlich war?

Ich eröffnete einen Wollladen in der Blossom Street in Seattle. Das klingt wahrscheinlich nicht gerade weltbewegend, aber für mich war es ein Schritt in die Zukunft. Ich hatte etwas Geld von meinen Großeltern geerbt und verwendete jeden Cent davon, um mein Geschäft zu eröffnen. Und das, obwohl ich es nie länger als ein paar Wochen in einem Job ausgehalten hatte. Ich, die so gut wie nichts über Finanzen, Gewinn- und Verlustrechnung oder Geschäftsplanung wusste. Jeden Heller, den ich besaß, investierte ich nun in das, von dem ich etwas verstand. Das waren die Wolle und das Stricken.

Natürlich brachte das ein paar Probleme mit sich. Zu jener Zeit fanden in der Blossom Street umfangreiche Sanierungsarbeiten statt. Die Frau des Architekten, Jacqueline Donovan, war eine der Schülerinnen in meinem ersten Strickkurs gewesen. Die Teilnehmerinnen dieses ersten Kurses, Jacqueline, Carol und Alix, sind heute meine drei besten Freundinnen. Im letzten Sommer, als ich „A Good Yarn“ eröffnet hatte, war der Laden umgeben von Baustellen. Es stellte sich als äußerst schwierig dar, in der Nähe einen Parkplatz zu finden. Die Kundinnen, die sich letztendlich in meinem Laden eingefunden hatten, mussten ständig Staub und Krach ertragen. Ich weigerte mich, mir meine Freude an dem Geschäft durch diese Unbequemlichkeit verderben zu lassen. Und glücklicherweise ging es meinen Kundinnen genauso. Ich war überzeugt, dass ich das mit dem Geschäft schaffen würde.

Von meiner Familie erhielt ich nicht die Unterstützung, die man vielleicht hätte erwarten können. Mom versuchte, mich zu ermutigen. Doch nachdem sie Dad verloren hatte, schienen ihre Kräfte nicht mehr auszureichen. Sie befindet sich seither in ihrer ganz eigenen Welt, eingehüllt in eine Wolke von Trauer und Hoffnungslosigkeit. Als ich ihr von meinem Vorhaben erzählte, versuchte sie nicht, es mir auszureden. Aber sie ermutigte mich auch nicht. Das Positivste, das sie zu mir sagte, war: „Sicher, mein Liebling. Mach du nur, wenn du unbedingt musst.“ Von meiner Mutter war das die stürmischste Ermunterung, die ich mir vorstellen konnte.

Meine Schwester Margaret dagegen hatte keine Skrupel, mir meine geschäftliche Zukunft in den düstersten Farben auszumalen. An dem Tag, als ich meinen Laden eröffnete, kam sie hereinmarschiert, um mir ihre aussichtslosen Prognosen mitzuteilen. Die Wirtschaftslage sei schlecht, so meinte sie, und die Leute würden kein Geld ausgeben. Ich sollte mich glücklich schätzen, wenn ich mich in den nächsten sechs Wochen über Wasser halten könne. Nachdem ich mir ihre Litanei zehn Minuten lang angehört hatte, war ich nahe dran, den Pachtvertrag zu zerreißen und die Tür wieder abzuschließen. Dann erinnerte ich mich daran, dass es mein erster offizieller Verkaufstag war. Ich wollte nicht aufgeben, bevor ich nicht wenigstens mein erstes Wollknäuel verkauft hatte.

Wie Sie sich denken können, haben Margaret und ich eine komplizierte Beziehung. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe meine Schwester. Bevor die Krankheit ausgebrochen war, hatten wir ein ganz normales Verhältnis, mit allen Hochs und Tiefs, die Geschwister nun mal durchlaufen. In der ersten Zeit nach der Diagnose verhielt sie sich großartig. Ich erinnere mich daran, wie sie mir einen Stoffteddy schenkte, den ich mit ins Krankenhaus nehmen sollte. Ich muss ihn immer noch irgendwo haben, wenn Whiskers ihn nicht inzwischen in der Mache hatte. Whiskers ist mein Kater, und er besitzt die Angewohnheit, alles Pelzige mit seinen Krallen zu bearbeiten.

Es war während meines ersten Rückfalls, als Margarets Verhalten sich auffallend veränderte. Sie tat so, als wollte ich krank sein. Als würde ich dermaßen nach Aufmerksamkeit hungern, dass ich mir dieses schreckliche Leiden selbst ausgesucht hätte. Während ich nun meine ersten anstrengenden Versuche startete, auf eigenen Beinen zu stehen, hatte ich gehofft, dass sie meine Bemühungen unterstützen würde. Stattdessen machte sie mir nur Schwierigkeiten. Doch im Laufe der Zeit änderte sich ihr Verhalten wieder, und ich konnte sie durch meine harte Arbeit schließlich doch von meinem Laden überzeugen.

Margaret, um es einmal milde auszudrücken, ist nicht gerade der warmherzige, spontane Typ. Ich hatte nie geahnt, wie viel ich ihr bedeute, bis bei mir noch einmal der Verdacht auf Krebs bestand. Das war nur wenige Monate, nachdem ich „A Good Yarn“ eröffnet hatte. „Verdacht auf Krebs“ kann nicht beschreiben, was in mir vorging, als Dr. Wilson seine beängstigenden, wohlbekannten Tests anordnete. Es war, als würde meine Welt zusammenbrechen. Tatsächlich glaube ich nicht, dass ich diesen Kampf ein weiteres Mal hätte durchstehen können. Mein Entschluss stand bereits fest. Ich würde jede Art von Behandlung ablehnen, sollte ich tatsächlich wieder einen Rückfall haben. Ich wollte nicht sterben. Aber wenn man schon einmal so kurz davor gewesen war, verliert es seinen Schrecken.

Mein Verhalten ärgerte Margaret, und sie konnte meine rigorose Einstellung nicht akzeptieren. Über das Sterben zu reden macht sie nervös, so wie die meisten Leute. Doch wenn man sich bereits so intensiv mit Krankheit und Tod hatte auseinandersetzen müssen, kommt es einem fast so normal vor wie das Licht auszuschalten. Nein, ich möchte nicht sterben, aber ich fürchte mich auch nicht mehr davor. Glücklicherweise ergaben die Tests, dass der Tumor gutartig war. Ich erzähle davon, weil mir damals klar wurde, wie sehr meine Schwester mich liebt. In den letzten siebzehn Jahren hatte ich sie nur zweimal weinen sehen – als Dad starb und als Dr. Wilson mir sagte, dass ich gesund bin. Margaret war es auch, die mich darin unterstützte, mich nach diesem Ergebnis wieder bei Brad Goetz zu melden. Brad, der für UPS die Blossom Street, also auch mich, beliefert, ist der Mann, mit dem ich seit dem letzten Jahr zusammen bin. Er ist geschieden und hat das Sorgerecht für seinen neunjährigen Sohn Cody. Es wäre untertrieben zu sagen, Brad sähe gut aus. Der Mann ist schlichtweg umwerfend! Bereits am ersten Tag, als er in den Laden kam und mehrere Kartons mit Wolle auf dem Arm balancierte, fand ich ihn sehr attraktiv, um nicht zu sagen sexy. Ich war so aufgeregt, dass ich Schwierigkeiten hatte, den Lieferschein zu unterschreiben. Er musste mehrere Versuche starten, mich einzuladen, bevor ich mich schließlich zu einem Drink überreden ließ. Bei meiner Erfahrung in Bezug auf Männer war ich sicher, einem solchen Date nicht gewachsen zu sein. Niemals hätte ich den Mut gehabt, Brads Einladung anzunehmen, wenn Margaret mich nicht regelrecht dazu gedrängt hätte.

Die Eröffnung des Ladens bedeutete für mich, Ja zum Leben zu sagen. Doch meine Schwester glaubte, ich hätte Angst vor dem Leben. Angst, mich aus meiner winzigen, bequemen Welt hinauszuwagen, die ich mir mit dem Wollgeschäft selbst geschaffen habe. Sie hatte recht. Das wusste ich, wollte es aber nicht wahrhaben. Es war so viele Jahre her, seit ich etwas Zeit mit irgendeinem anderen Mann als meinem Vater oder meinem Arzt verbracht hatte, dass ich in dieser Beziehung völlig hilflos war. Aber Margaret wollte keine einzige meiner Ausreden akzeptieren. So ließ ich mich schließlich auf Brad ein. Auf die Drinks folgten Dinnerverabredungen, Picknickausflüge und Unternehmungen mit Cody. Ich begann Brads Sohn genauso zu lieben wie meine beiden Nichten Julia und Hailey.

Als ich dachte, ich wäre wieder an Krebs erkrankt, hatte ich mich von ihm getrennt. Das war ein Fehler, wie ich später einsah. Brad konnte mir jedoch vergeben, und wir setzten unsere Beziehung fort. Wir sind vorsichtig … Okay, ich bin diejenige, die es langsam angehen lässt, aber er ist damit einverstanden. Auch er war schon einmal sehr verletzt worden, als seine Exfrau Janice sich mit der Begründung von ihm trennte, sie müsse „sich selbst finden“. Und er muss auch an Cody denken. Der Junge hängt sehr an seinem Vater, und ich möchte dieses besondere Band zwischen den beiden nicht zerstören. So weit läuft alles gut, und wir reden immer öfter über eine gemeinsame Zukunft. Brad und Cody gehören inzwischen so fest zu meinem Leben, dass ich mir gar nicht vorstellen könnte, ohne sie zu sein.

Obwohl es eine Weile gedauert hat, sieht Margaret die Zukunft meines Wollladens endlich positiv. Tatsächlich arbeitet sie jetzt mit mir zusammen im Geschäft. Wir beide setzen uns gemeinsam für eine Sache ein, und das grenzt geradezu an ein Wunder. Manchmal fallen wir in alte Gewohnheiten zurück, aber wir machen Fortschritte. Ich bin so glücklich, sie an meiner Seite zu haben. In jeder Beziehung.

Bevor ich mich zu sehr in Einzelheiten verliere, möchte ich etwas über mein Geschäft berichten. In dem Moment, in dem ich diesen Laden gesehen habe, wusste ich, was für Möglichkeiten darin steckten. Trotz der Probleme mit der Renovierung und den zeitweiligen Unbequemlichkeiten durch die Bauarbeiten war mir klar, dass er perfekt ist. Ich unterschrieb den Mietvertrag, bevor ich überhaupt alles gesehen hatte. Mir gefiel das große Schaufenster, das zur Straße zeigte. Jetzt schläft Whiskers meist dort zusammengerollt inmitten all der Wollknäuel. Die Blumenkästen erinnerten mich an den ersten Fahrradladen meines Vaters. Es war fast, als würde mein Dad mir seine Zustimmung zu meinem Vorhaben geben. Der Anblick der farbenfrohen, wenn auch staubigen Markise machte mir schließlich deutlich: Hier und sonst nirgendwo wollte ich meinen Plan realisieren. Ich wusste, aus diesem kleinen altmodischen Laden könnte das einladende Geschäft werden, das ich mir vorgestellt hatte – und so war es auch.

Die Renovierungsarbeiten sind nun fast abgeschlossen. Aus dem alten Bankgebäude wurde ein luxuriöses Apartmenthaus, und der Videoladen daneben ist inzwischen eine Art französisches Café, fantasievollerweise „French Café“ genannt. Alix Townsend, die an meinem allerersten Strickkurs teilgenommen hatte, arbeitete damals in dieser Videothek. Und irgendwie passt es, dass sie ihren ersten richtigen Job als Konditormeisterin in genau diesen Räumen ausübt. Bedauerlicherweise ist Annies Café am anderen Ende der Straße jetzt geschlossen und zu vermieten, doch der Laden wird bestimmt nicht lange leer stehen. Hier in der Gegend ist einiges in Bewegung.

Es war der erste Dienstag im Juni und ein wunderschöner Tag. Der Sommer würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Die Glocke über meiner Tür bimmelte mit ihrem schönen Klang, als Margaret hereinkam.

Ich begrüßte sie aus dem Hinterzimmer des Ladens – meinem offiziellen Büro –, wo ich gerade Kaffee kochte. „Guten Morgen.“

Margaret antwortete nicht gleich. Und als sie etwas sagte, war es mehr ein Brummen als eine Begrüßung. Da ich meine Schwester und ihre Launen kenne, beschloss ich, erst einmal abzuwarten. Wenn sie sich mit einer ihrer Töchter oder ihrem Mann gestritten hatte, würde sie es mir schon beizeiten mitteilen.

„Ich mache gerade Kaffee“, sagte ich, als Margaret nach hinten kam und ihre Tasche einschloss.

Ohne einen Kommentar nahm sie sich eine saubere Tasse von der Ablage und griff nach der Kanne. Es tröpfelte weiter aus dem Wasserbehälter und zischte auf der Heizplatte, aber Margaret schien es nicht zu bemerken.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, und mein Vorsatz, ihr Zeit zu lassen, war vergessen. „Was ist los?“, wollte ich wissen. Ich muss zugeben, ich hatte wenig Geduld. Doch sie erschien in letzter Zeit einfach ein bisschen oft mit dieser miesen Stimmung bei der Arbeit.

Sie drehte sich zu mir um und brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Nichts … Tut mir leid. Irgendwie kommt es mir heute einfach wie Montag vor.“

Da der Laden montags geschlossen ist, beginnt unsere Arbeitswoche am Dienstag. Ich betrachtete sie stirnrunzelnd und überlegte, was wirklich los sein könnte. Doch sie machte ein völlig unbeteiligtes Gesicht, sodass der wahre Grund ihres Verhaltens nicht zu erraten war.

Meine Schwester ist eine eindrucksvolle Erscheinung mit breiten Schultern und dichtem dunklen Haar. Sie ist groß und schlank, aber kräftig. Man sieht immer noch, dass sie Sportlerin gewesen ist. Ich wünschte aber, sie würde sich mal eine andere Frisur zulegen. Sie trägt ihr Haar immer noch wie auf der Highschool, Mittelscheitel und glatt bis auf die Schultern herunter, wo es sich nach innen wellt, als hätte sie es mit einem Lockenstab malträtiert. Das war jedenfalls Teil ihrer Ausrüstung in der Teenagerzeit – der Lockenstab, das Haarspray, die rigoros gehandhabte Bürste. Der Stil ist klassisch und steht ihr, aber ich würde einiges darum geben, wenn sie mal etwas Neues probierte.

„Ich werde einen neuen Kurs anbieten“, sagte ich und wechselte abrupt das Thema, in der Hoffnung, sie aus ihrer düsteren Stimmung zu holen.

„Für was?“

Aha, Interesse. Ein gutes Zeichen. Im Großen und Ganzen sind meine Kurse bis jetzt gut gelaufen. Ich hatte einen für Anfänger gegeben, einen für fortgeschrittene Anfänger und einen für Shetland-Muster. Aber es gab noch einen, den ich schon seit einer Weile anbieten wollte.

„Ist das so eine schwierige Frage?“

Die sarkastische Bemerkung meiner Schwester holte mich aus meiner kurzen Versunkenheit. „Socken. Ich werde Unterricht im Sockenstricken geben.“

Mit den originellen neuen Wollgarnen, die auf dem Markt sind, ist Sockenstricken gerade der große Renner. Ich habe eine Anzahl von europäischen Sorten eingeführt, und mir gefällt die Vielfalt. Meinen Kunden auch. Einige der Garne sind so gesponnen, dass sie ein herrlich buntes Muster ergeben, wenn man damit arbeitet. Ich fand es faszinierend, ein Paar gestrickte Socken zu sehen, die ihr Muster dem Faden und nicht dem Strickenden verdankten.

„Gut.“ Margaret zuckte die Schultern. „Ich nehme an, du wirst vorschlagen, sie auf zwei Rundnadeln zu stricken und nicht mit der Doppelnadelmethode“, bemerkte sie beiläufig.

„Natürlich.“ Ich bevorzugte das Arbeiten mit zwei Rundnadeln.

Meine Schwester häkelte lieber, und obwohl sie stricken konnte, tat sie es selten. „Das Sockenstricken scheint in letzter Zeit ziemlich beliebt zu sein, oder?“ Sie klang immer noch unbeteiligt, fast desinteressiert.

Ich betrachtete sie eingehend. Sie hatte immer drei oder vier Argumente parat, warum meine jeweilige Idee nicht funktionierte. Das war praktisch schon ein Spiel zwischen uns geworden. Ich erzählte ihr meine neusten Pläne, und sie sagte mir sofort, warum sie zum Scheitern verurteilt waren.

„Du meinst also, ein Kurs im Sockenstricken würde unsere Kunden interessieren?“ Ich konnte nicht anders, als noch mal nachzufragen. Meine Güte, bei Margaret war heute irgendetwas absolut nicht in Ordnung.

Ich persönlich fand aus anderen Gründen den größten Spaß am Sockenstricken. Das Beste war zunächst einmal die Tatsache, dass ein Paar Socken ein kleines Projekt ist. Wenn ich eine Decke oder einen Shetlandpullover fertiggestellt hatte, wollte ich normalerweise etwas produzieren, das schnell ging. Nachdem ich endlose Stunden gestrickt hatte, fand ich es sehr befriedigend zu sehen, wie eine Socke binnen Kurzem Form annahm. Socken beanspruchten weder einen großen Einsatz an Zeit noch an Wolle und waren wunderbare Geschenke. Ja, Socken waren ganz eindeutig mein neues Kursprojekt. Da Dienstag erfahrungsgemäß am wenigsten los war im Laden, schien es mir am besten, den Unterricht an diesem Tag anzubieten.

Margaret nickte. „Du hast recht. Ein Kurs im Sockenstricken würde sicher Anklang finden“, murmelte sie.

Ich starrte meine Schwester an und glaubte für einen Moment, ein paar Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. Nun betrachtete ich sie eingehender. Wie ich vorher bemerkte, weint sie sehr selten. „Geht es dir wirklich gut?“, erkundigte ich mich vorsichtshalber leise. Ich wollte sie nicht bedrängen, aber irgendetwas schien mit ihr nicht zu stimmen. Sie sollte wissen, dass ich mir Sorgen um sie machte.

„Frag doch nicht ständig“, fuhr sie mich an.

Ich seufzte erleichtert. Die alte Margaret war wieder da.

„Könntest du ein Schild fürs Schaufenster machen?“, bat ich sie. Künstlerisch war sie erheblich talentierter als ich. Normalerweise verließ ich mich auf ihr Können, wenn es um Ankündigungen und die Fensterdekoration ging.

Wieder zuckte sie ziemlich gelangweilt die Schultern. „Bis zum Mittag habe ich eins fertig.“

„Wunderbar.“ Ich ging zur Eingangstür, schloss sie auf und drehte das Schild auf „Geöffnet“. Whiskers blickte von seinem Stammplatz im Schaufenster auf, wo er sich in der Morgensonne aalte. Auf der Fensterbank vor dem Laden blühten rote Geranien. Die Erde wirkte ausgetrocknet, deshalb nahm ich die Gießkanne und ging damit raus. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich etwas Braunes – ein Lieferwagen bog um die Ecke. Ein vertrautes Glücksgefühl überkam mich. Brad.

Tatsächlich manövrierte er den Wagen auf den Parkplatz vor Fanny’s Floral, das Geschäft neben meinem. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht sprang er heraus.

„Ein schöner Tag heute“, sagte er und grinste noch breiter. Dieser Mann lächelte aus vollem Herzen, mit ganzer Seele, und er hat die ausdrucksvollsten blauen Augen, die ich jemals gesehen habe. Für mich sind sie wie ein Leuchtfeuer. Ich könnte schwören, dass ich diese Augen meilenweit sehen kann, so strahlend blau sind sie. „Hast du eine neue Lieferung für mich?“, wollte ich wissen.

„Ich bin die einzige Lieferung, die ich heute für dich habe. Und ich könnte ein paar Minuten erübrigen, wenn es Kaffee gibt.“

„Gibt es.“ Das gehörte zu unserem Ritual. Brad kam zweimal in der Woche im Laden vorbei, mit oder ohne Woll-Kartons – wenn er es schaffte, auch öfter. Er blieb nie besonders lange. Meist füllte er nur seine Thermoskanne mit Kaffee, nutzte die Gelegenheit, mir einen Kuss zu geben, und setzte so schnell wie möglich seine Runde fort. Wie immer folgte ich ihm also heute in den hinteren Raum und tat überrascht, als er mich umarmte. Ich liebe es, von ihm geküsst zu werden. Diesmal begann er damit, meine Stirn zu liebkosen, um dann mein Gesicht mit unzähligen Küssen zu bedecken, bis er meinen Mund erreichte. Seine Lippen auf meinen zu spüren, löste bei mir sofort ein Kribbeln im ganzen Körper aus. Er hat eine ganz besondere Wirkung auf mich – und das weiß er auch.

Brad hielt mich gerade lange genug fest, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann ließ er mich los und griff nach der Kaffeekanne. Mit gerunzelter Stirn drehte er sich zu mir um.

„Gibt es Probleme zwischen Margaret und Matt?“, wollte er wissen.

Ich wollte ihm gerade versichern, dass alles in Ordnung sei. Doch bevor ich einen Ton sagen konnte, hielt ich inne. Plötzlich wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte. „Warum fragst du?“

„Wegen deiner Schwester“, flüsterte er. „Sie ist in letzter Zeit so komisch. Hast du das nicht auch schon bemerkt?“

Ich nickte. „Irgendetwas beschäftigt sie.“

Ich dachte darüber nach, wie sie vorhin unserer üblichen verbalen Auseinandersetzung ausgewichen war.

„Soll ich mal mit ihr reden?“, erkundigte sich Brad und vergaß, leise zu sprechen.

Ich schwieg kurz, weil ich befürchtete, dass Margaret beleidigt wäre und ihn genauso anfahren würde wie mich. Aber dann überlegte ich es mir anders. Meine Schwester liebte ihn abgöttisch. Und wenn es jemanden gab, der ihre Schutzmauer überwinden konnte, dann er. „Vielleicht, aber nicht jetzt.“

„Wann denn?“

„Vielleicht sollten wir uns alle bald mal zusammensetzen.“

Brad schüttelte den Kopf. „Ich halte es für sinnvoller, wenn Matt nicht dabei wäre.“

„Stimmt.“ Ich nagte an meiner Unterlippe. „Hast du eine bessere Idee?“

Bevor er etwas darauf erwidern konnte, zog Margaret den Vorhang zum Hinterzimmer beiseite und funkelte uns verärgert an. Brad und ich blickten sie zweifellos so schuldbewusst an, wie wir uns fühlten.

„Hört mal zu, ihr zwei Turteltauben. Wenn ihr über mich reden wollt, dann schlage ich euch vor, nicht so laut zu sprechen.“ Dann ließ sie den Vorhang wieder los und stapfte zurück in den Verkaufsraum.

2. Kapitel

Elise Beaumont

Die Pensionierung sorgte für all das, was Elise Beaumont sich erhofft und was sie befürchtet hatte. Die Weckfunktion an ihrem Radiowecker blieb nun ständig ausgeschaltet. Sie wachte auf, wenn ihr Körper signalisierte, dass er keinen Schlaf mehr benötigte. Aß, wenn sie hungrig war, und nicht, wenn die Schulbibliothek wollte, dass sie ihre Mittagspause machte.

Dann gab es da aber noch die negativen Seiten. Jahrelang hatte sie geknausert und gespart, um ihr eigenes Haus auf ihrem kleinen Stück Land bauen zu können. Nach monatelangem Suchen und vielen Wochen, in denen sie verschiedene Projekte begutachtet hatte, fand sie eines, das genau ihren Wünschen entsprach. Es befand sich am Stadtrand, und auch ohne Blick auf den Ozean war es wunderschön, denn es lag in der Nähe eines Nadelwaldes. Sie stellte sich vor, wie sie am frühen Morgen auf ihrer kleinen Terrasse Kaffee trank und das Wild beobachtete, wenn es zwischen den Bäumen erschien. Sie plünderte ihr Bausparkonto und legte eine große Summe Bares vor. Dabei ging sie davon aus, dass der Bauplaner zuverlässig sei, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Zusammen mit vielen anderen wurde sie betrogen und ausgenommen. Innerhalb eines Monats erklärte die Baufirma den Bankrott. Mit dem Resultat, dass sie kein Haus ihr Eigen nennen konnte, sämtliche Ersparnisse los war und eine Menge Rechnungen zu begleichen hatte. Es war ein Albtraum ohne Ende.

Während sie im Bett lag, dachte sie daran, dass sie schon seit Jahren einmal reisen wollte. Aus dem Gebiet hinaus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Nur, jetzt konnte sie sich das nicht mehr leisten. Doch zum ersten Mal seit ihrer Kindheit verspürte sie den Drang, ihrer kreativen Ader zu folgen. Sie hatte vor, wieder zu stricken und Unterricht in Ölmalerei zu nehmen. Nachdem sie ihr ganzes Leben inmitten von Büchern verbracht hatte, spielte sie mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben. Vielleicht eine Kindergeschichte … Sie war sozusagen offen und frei, alles zu probieren – sobald erst mal der Prozess gegen den Bauunternehmer abgeschlossen wäre. Bis dahin konnte sie an nichts anderes denken als an ihre finanzielle Misere und die juristische Auseinandersetzung, die vor ihr lag.

Ihr Leben schien auf Eis gelegt, bis sie diesen Ärger hinter sich hatte. Im Moment musste sie sich in Geduld üben, während die Anwälte die Unterlagen zusammensuchten und die Klage auf den üblichen Weg durch die Rechtsmühlen geschickt wurde. Im besten Fall würde es ein Jahr dauern, bis sie und die anderen überhaupt einen Teil ihres Geldes wiederbekämen. Falls das überhaupt jemals der Fall sein würde. Das war die große Frage. Sie konnte nichts weiter tun, als zu beten und zu hoffen, dass nicht alles verloren wäre.

Die Probleme mit der Baufirma bildeten nur einen Teil ihrer Schwierigkeiten. Mit der Aussicht darauf, dass ihr Haus rechtzeitig fertig würde, hatte sie den Mietvertrag für ihr Apartment gekündigt. Das war ihr erster Fehler gewesen. Wohnungen fand man in Seattle nicht so leicht. Es würde nicht nur schwierig werden, eine neue Bleibe zu mieten, sondern ihr graute davor, den größten Teil ihrer Rente für ein überteuertes Apartment auszugeben. Als ihre Tochter ihr vorschlug, zu ihr zu ziehen, nahm Elise dieses Angebot gern an. Nur für eine Übergangszeit, hatte sie sich geschworen. Doch inzwischen waren es bereits sechs Monate …

Nein – Elise weigerte sich, noch eine einzige Sekunde länger über ihr finanzielles Fiasko nachzudenken. Es deprimierte sie nur. Durch ihren Eifer, ein eigenes Heim zu bekommen, hatte sie praktisch alles verloren. Wenigstens war sie körperlich und geistig gesund, hatte ihre Tochter und die Enkelkinder.

„Oma, Oma!“, rief der sechsjährige John, während er wild gegen ihre Schlafzimmertür klopfte. „Bist du wach? Ich will reinkommen, darf ich?“

Elise stand auf und öffnete die Tür. Ihr sommersprossiger Enkel stand davor und grinste sie verschmitzt an. Sein volles karottenrotes Haar stand nach allen Seiten ab, genau so wie Mavericks früher. Die Haarfarbe ihres jüngsten Enkelkindes erinnerte sie oft an ihren Exmann. Sie hatte ihn in den vergangenen dreißig Jahren immer nur für kurze Zeit gesehen. Wie sie es jemals fertiggebracht hatte, einen Spielsüchtigen zu treffen, ganz zu schweigen davon, ihn zu heiraten, konnte sie sich immer noch nicht erklären. Ihre Liebesbeziehung war die wilde, impulsive Geschichte ihres Lebens.

Aber … wie hatte sie ihn geliebt. Sie war Hals über Kopf in diesen Mann verknallt gewesen. Nur Wochen nachdem sie sich kennengelernt hatten – ausgerechnet in einem Lebensmittelladen –, waren sie verheiratet gewesen. Kurz darauf wurde Aurora geboren, doch die Probleme hatten bereits angefangen. Zu jener Zeit arbeitete Marvin „Maverick“ Beaumont für eine Versicherungsfirma, doch er war abhängig von Kartenspiel und Wetten. Das hätte sie fast beide kaputtgemacht. Letztendlich wusste Elise, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihn zu verlassen. Immer, wenn sie ankündigte, die Scheidung einzureichen, bat er sie, es sich noch einmal zu überlegen. Er flehte sie an, ihm noch eine Chance zu geben. Doch dann verlief sein sogenannter Besserungsversuch jedes Mal nach dem gleichen Muster. Bis ihr klar wurde, dass sie ihn aus ihrem Leben ausschließen musste. Es tat immer noch weh. Nie hatte sie einen Mann so sehr geliebt wie Maverick. Sie hatte es versucht, doch keiner konnte solche intensiven Gefühle in ihr hervorrufen wie er.

In der Hoffnung, noch einmal zu heiraten, hatte sie sich ernsthaft bemüht, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Am nächsten war sie diesem Ziel gekommen, als Aurora fünfzehn wurde. Doch Elise fand heraus, dass Jules, ein Orchestermusiker, mit dem sie sich traf, in San Francisco eine Frau und zwei Töchter hatte. Völlig verzweifelt war sie seitdem nicht mehr dazu bereit, sich auf eine Beziehung einzulassen.

Mit beunruhigtem Gesichtsausdruck kam Elises Tochter um die Ecke. „John, ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Großmutter in Ruhe lassen“, schimpfte sie, während sie ihn am Arm packte und von der Tür wegzog. „Tut mir leid, Mom, ich habe den beiden gesagt, sie sollen dich heute ausschlafen lassen“, fügte sie mit einem entschuldigenden Blick hinzu.

„Ist schon in Ordnung, ich war bereits wach.“ Mit ihrer Tochter zusammenzuwohnen – einer Mutter, die keinen Beruf ausübte, sondern zu Hause blieb – gehörte nicht unbedingt zu Elises Traumvorstellung für ihr Rentnerdasein. Doch im Moment passte ihnen beiden dieses Arrangement. Elises Möbel befanden sich in einem Lagerraum, und ihre Wohnsituation war improvisiert. Aber sie hatte ein Dach über dem Kopf.

Solange sie darauf wartete, dass ihre Klage vor Gericht zum Abschluss kam, wohnte sie bei Aurora und David zur Miete. Die beiden hatten darauf bestanden, dass sie nicht so viel zahlte, doch ihr Beitrag stellte für das knappe Familienbudget trotzdem eine Aufbesserung dar. Elise half ihrer Tochter außerdem mit den Kindern. David, Elises Schwiegersohn, war Computerspezialist und installierte Software-Systeme für Firmen im Norden Amerikas, sodass er oft für eine oder zwei Wochen unterwegs war. Elise und Aurora, die schon immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt hatten, leisteten sich gegenseitig Gesellschaft. Und Elise wusste die Aufmunterung und Unterstützung ihrer Tochter zu schätzen.

„Gehst du heute Nachmittag mit uns in den Park?“, fragte John.

„Vielleicht“, erwiderte Elise, die ihm schwer eine Bitte abschlagen konnte. „Ich muss heute ein paar Besorgungen machen und weiß nicht, wie lange das dauert.“

„Kann ich mitkommen?“ John war so ein lieber Junge, der immer begierig darauf war, etwas Neues zu sehen oder zu unternehmen. Er war einen Monat zu früh auf die Welt gekommen und schien es noch heute immer besonders eilig zu haben.

„Nein, mein Schatz, du musst in den Kindergarten.“

Sofort machte er ein enttäuschtes Gesicht. Aber er akzeptierte mit einem kleinen Schulterzucken, dass er sie nicht begleiten konnte. Dann rannte er los und verschwand durch den Flur, um sich seinem Bruder anzuschließen.

„Ich hatte vor, in die Blossom Street zu gehen und mir diesen Strickladen mal anzusehen“, erklärte Elise ihrer Tochter.

Sie wusste, dass Aurora sich über ihr neu erwachtes Interesse am Stricken freute. Nach einem kurzen Besuch in der Kanzlei ihres Anwalts war Elise durch die neu gestaltete Straße gelaufen und hatte das Wollgeschäft entdeckt, von dem sie Aurora anschließend begeistert erzählt hatte.

Elise war über die Veränderungen in der Blossom Street freudig überrascht gewesen. Seit Jahren hatte die Gegend mit ihren heruntergekommenen Gebäuden einen Schandfleck dargestellt. Elise war nicht davon ausgegangen, dass eine solche Sanierung stattfinden würde. Anstelle die Altbauten abzureißen, hatte der Architekt die bereits vorhandenen Häuser modernisieren lassen und die verwahrloste Gebäudestruktur verbessert. Durch die Markisen, die Blumen und die bunt gefüllten Schaufenster sahen die Geschäfte sehr viel ansprechender aus. Bei ihr hatte dieses Idyll den Eindruck einer traditionsreichen, freundlichen Nachbarschaft hinterlassen, einer netten kleinen Welt für sich. Es war kaum vorstellbar, dass nur ein paar Häuserblocks entfernt die Wolkenkratzer aus dem Boden schossen. Ein Stück weiter den Berg hinunter befanden sich die Finanzunternehmen, die die City von Seattle bestimmten.

Als sie sich das Schaufenster von „A Good Yarn“ angesehen hatte, war ihr Blick an einem Schild hängen geblieben, auf dem Strickunterricht angeboten wurde. Es mochte ihr vielleicht verwehrt bleiben, ihren Ruhestand so zu genießen, wie sie gehofft hatte. Aber sie würde dadurch doch nicht zur Einsiedlerin werden, die sich nicht traute, auch nur einen Cent auszugeben! Außerdem würde sie das Stricken ja vielleicht auch von ihren finanziellen Problemen ablenken.

Nach einer Tasse Tee in ihrem Zimmer zog sich Elise an. Sie hatte noch immer eine schlanke Figur und wählte einen pfirsichfarbenen Hosenanzug, der sowohl elegant als auch bequem war. Obwohl es Anfang Juni war und die Sonne schien, blieb es immer noch recht kühl. Deshalb würde sie die dazugehörige Jacke brauchen, wenn sie nach draußen ging. Sie steckte sich eine kleine pinkfarbene Kamee an den Ausschnitt ihrer weißen Bluse. Es war das schönste Schmuckstück, das sie besaß. Maverick hatte es ihr geschenkt, noch bevor sie verheiratet gewesen waren. Sie liebte es und trug es ziemlich oft.

Immerhin hatte Maverick den Kontakt zu seiner Tochter aufrechterhalten. Wenn auch nicht mit solcher Regelmäßigkeit, die Elise angemessen gefunden hätte. Was sie betraf, so wollte sie nichts mit ihm zu tun haben. Aber sie gönnte Aurora die Möglichkeit, ihren Vater kennenzulernen. Das hatte sie immer unterstützt. Die Beziehung der beiden hatte nichts mit ihr zu tun.

Auf einmal blieb sie mit gerunzelter Stirn stehen. Zum zweiten Mal an diesem Morgen dachte sie an Maverick. Nicht, dass sie ihn jemals vollkommen vergessen hätte – wie konnte sie auch, wenn ihr Enkel ihm so ähnlich sah –, doch sie gab sich den Erinnerungen an ihn selten hin. Sie wollte nicht an ihn und die Tage und Nächte voller Liebe denken.

Nachdem sie ihr schulterlanges braunes Haar gekämmt hatte, band sie es im Nacken zusammen. Es war noch immer nicht ergraut und ihr ganzer Stolz. Sie hielt in der Bewegung inne, als sie sich an noch etwas erinnerte. Maverick hatte es gern gehabt, wenn ihr Haar offen war. In der Bibliothek trug sie es immer fest zu einem Knoten zusammengebunden, aber wenn sie am Ende eines Arbeitstages nach Hause kam, hatte er als Erstes nach den Haarnadeln gegriffen, um ihre dichten Locken zu lösen. „Rapunzel, Rapunzel“, flüsterte er dann, und sie lächelte … Ein wenig ärgerlich mit sich selbst presste sie die Lippen zusammen und verscheuchte diesen Gedanken.

Aurora goss gerade Milch in die Müslischüsseln, als Elise in die Küche trat.

„Du siehst gut aus, Mom“, bemerkte sie.

Komplimente verunsicherten Elise, und sie tat die Bemerkung ihrer Tochter mit einem Kopfschütteln ab.

„Einen schönen Tag euch“, wünschte Elise den Jungs, als sie die Vordertür öffnete und das Haus verließ.

Die zwei sahen ihr nach, beide ein wenig bedrückt, als hätte sie sie verlassen und einem schrecklichen Schicksal übergeben. Die beiden Enkelsöhne waren ihre ganze Freude, aber sie wusste nicht, wie Aurora das schaffte. Sie bewunderte ihre Tochter für ihre Fähigkeiten als Ehefrau und Mutter.

Manchmal fürchtete Elise, dass sie in beidem versagt hatte. Sie hatte immer geglaubt, dass es nicht ihre Bestimmung war, eine Ehefrau zu sein. Und ihre beiden Ehejahre schienen es ihr bewiesen zu haben. Aurora war der einzige Schatz, den sie aus dem Wrack ihrer Ehe hatte bergen können. Ihre Tochter, mit eins dreiundachtzig genauso groß wie ihr Vater, war ein unbeschreiblicher Segen. Auch wenn Elise es nicht gern zugab, aber sie waren in mehr als einer Hinsicht zusammen erwachsen geworden. Glücklicherweise standen sie sich noch immer nahe.

Maverick hatte den Unterhalt für sein Kind regelmäßig gezahlt. Und wenn ihm danach war, dann rief er Aurora von dort an, wo er gerade lebte, und das schien jedes Mal in einem anderen Teil des Landes zu sein. Schon bald nach ihrer Hochzeit hatte er es aufgegeben, einen regelmäßigen Job auszuüben – obwohl er ziemlich viel Erfolg beim Verkauf von Versicherungen gehabt hatte – und konzentrierte seine ganze Energie auf das Spielen. Bindungen waren für einen Spielsüchtigen störend. Und wenn ein fester Wohnsitz für einen Spieler schon nicht geeignet war, dann war es eine Familie noch weniger. Während Elise in den Wehen lag, hatte ihr liebender Ehemann im Wartezimmer ein Pokerspiel angeleiert und die Geburt seines einzigen Kindes verpasst.

Elise nahm den 48er-Bus, fuhr in Richtung Blossom Street und stieg drei Stationen vor der Stadtbibliothek von Seattle aus, die kürzlich erst renoviert worden war. Durch ihre Arbeit in der Schulbibliothek hatte Elise einige der einflussreichsten Bibliothekare Washingtons kennengelernt. Zu denen gehörte Nancy Pearl, die das Programm „Wenn ganz Seattle das gleiche Buch liest“ organisiert hatte. Überall in den USA waren Städte, ob groß oder klein, dem Beispiel Seattles gefolgt. Elise war erfreut gewesen, dass diese Idee so beliebt wurde. Das zeigte, dass die Bibliothek noch immer ein wichtiger Teil der Gesellschaft war.

Als sie ausstieg, drückte sie ihre Tasche ganz fest an sich. Die Gegend war einmal für ihre Taschendiebe und Straßenräuber bekannt gewesen. Das schien sich nun geändert zu haben, aber man konnte ja nie vorsichtig genug sein.

Vor „Fanny’s Floral“ blieb sie stehen, um in der Auslage die purpurroten Nelken zu bewundern. Sie hatte vorher noch nie Nelken in einer solchen Farbe gesehen und war versucht, für Aurora einen Strauß mitzunehmen. Sie sollte wahrscheinlich kein Geld für Blumen verschwenden, aber dennoch … Nun ja, sie würde darüber nachdenken.

Eine Tigerkatze schlief zusammengerollt im Schaufenster des Wollgeschäfts. Elise öffnete die Tür, und eine kleine Glocke erklang. Offenbar an das Geräusch gewöhnt, rührte sich die Katze nicht.

„Guten Morgen“, wurde sie von einer freundlich aussehenden Frau begrüßt. Eine andere, etwas ältere, stand am Tresen und nickte Elise zu.

„Ja, es ist ein schöner Morgen“, erwiderte sie, von der warmen Ausstrahlung der jüngeren Frau sofort angenehm berührt. Das hier war ein sehr sympathischer Laden, geschmackvoll gestaltet und nicht zugestopft mit Wolle. Es gefiel Elise, dass sie über die Schaukästen hinwegsehen konnte. „Ich wollte mich wegen des Unterrichts erkundigen“, sagte sie, etwas abgelenkt von den Farben und Mustern überall um sie herum. Auf den Auslagen waren fertige Teile ausgestellt, sehr raffiniert auf Drahtrahmen angeordnet. Ihr Blick wurde von einem Pullover angezogen, auf dem vorn ein Dinosaurier gestrickt war. Luke und John würde das gefallen. Vielleicht könnte sie so etwas eines Tages für ihre Enkel machen.

„Diese Woche kann man sich für den Unterricht im Sockenstricken anmelden.“

„Socken“, wiederholte Elise, nicht sicher, ob sie so ein Kurs interessierte. „Ich habe früher mit fünf Nadeln gestrickt, aber das ist schon eine Weile her.“

„Wir arbeiten mit zwei Rundnadeln“, erklärte ihr die Frau. „Hier, ich zeige Ihnen mal, was ich meine.“ Sie führte Elise durch den Mittelgang, wo eine Reihe von Socken auf Plastikfüßen präsentiert wurden. Die Muster sahen kompliziert aus – viel zu kompliziert für Elises Geschmack. Es war schon Jahre her, seit sie Stricknadeln in der Hand gehabt hatte, und sie war nicht besonders erpicht darauf, ihre Motivation gleich an einem Projekt zugrunde gehen zu lassen, das zu schwer für sie war.

Sie wollte es gerade aussprechen, als die Frau ihr erklärte, dass die Verzierungen durch die Wolle selbst entstanden waren.

„Sie meinen, ich bräuchte einfach nur draufloszustricken?“

„So ist es. Die Wolle entwickelt das Muster von selbst.“ Die Frau fuhr fort, indem sie ihr erklärte, wie viel der Kurs kostete, wobei die Wolle und alle Hilfsmittel im Preis enthalten waren. „Übrigens, ich bin Lydia Hoffman, und das ist meine Schwester Margaret. Wir arbeiten zusammen.“

„Elise Beaumont“, stellte sie sich vor und lächelte die beiden an. Beim näheren Hinsehen wurde offensichtlich, dass die beiden miteinander verwandt waren. Die Ältere der beiden, Margaret, war kräftig gebaut, während die andere, Lydia, klein und zierlich war. Doch ihre Gesichter hatten die gleiche Form, mit ausgeprägten Wangenknochen und großen dunklen Augen. Sie ertappte sich dabei, wie sie die beiden anstarrte, und fügte schnell hinzu: „Ich bin gerade in Rente gegangen und dachte mir, ich fange wieder an zu stricken.“

„Das ist eine wunderbare Idee!“

Elise lächelte über Lydias Begeisterung. Margaret hatte sich wieder auf die Unterlagen konzentriert, die vor ihr auf dem Tresen lagen. Offenbar handelte es sich um Bestellkataloge und Formulare.

„Ich denke, es ist gut, mit einem Kurs wieder anzufangen“, sagte Elise.

Lydia nickte. „Ich bin froh, dass Sie beschlossen haben vorbeizukommen.“ Sie führte sie in den hinteren Teil des Ladens, wo ein Tisch und Stühle aufgestellt waren. „Wenn Sie Freitagnachmittag Zeit haben, würde ich Sie gern zu unseren Stricktreffen für die Wohlfahrt einladen.“

„Noch ein Kurs?“ Elise konnte sich nur einen leisten.

„Nicht direkt. Es entstehen keine Kosten. Ein Teil meiner Stammkundinnen kommt hierher, um für verschiedene Spendenprojekte und Organisationen zu stricken. Sie wären uns sehr willkommen, Elise.“ Sie erzählte von „Warm Up America“, dem „Linus-Projekt“ und „ChemoCaps“ für Menschen, die eine Chemotherapie durchmachten.

„Stellen Sie die Wolle?“, wollte Elise wissen, weil sie wieder an ihr begrenztes Budget denken musste.

„Auf jeden Fall, ja“, erwiderte Lydia. „Zumindest einen Teil davon. Für die ‚Warm Up America‘-Decken haben ein paar Förderer Wollreste gespendet, und jeder, der für eins der anderen Projekte Wolle kauft, bekommt darauf einen Rabatt.“

„Ja, vielleicht werde ich kommen. Klingt auf jeden Fall interessant.“ Elises Terminkalender war nahezu leer, und sie suchte nach Möglichkeiten, ihn zu füllen. Bisher hatte sie sich einer Lesegruppe angeschlossen, die sich einmal im Monat in einer der Filialen der Stadtbibliothek von Seattle traf. Und sie hatte sich gemeldet, um ehrenamtlich die Rundschreiben der Kirche zu falten. Außerdem war sie eine große Unterstützerin der lokalen Blutbank und arbeitete auch dort unentgeltlich jeden Montag von morgens bis nachmittags am Empfang.

„Möchten Sie sich für den Kurs zum Sockenstricken eintragen?“, fragte Lydia nach. „Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen.“

Wieder war Elise von der Freundlichkeit der Frau angenehm berührt. „Ja, ich denke schon.“ Sie öffnete ihre Tasche und holte ihr Scheckheft heraus. „Wie viele Leute werden an dem Kurs denn teilnehmen?“, erkundigte sie sich, während sie den Scheck ausschrieb.

„Ich würde es gern auf sechs beschränken.“

„Haben Sie schon viele Interessenten?“

„Noch nicht, aber das Schild hängt erst seit Dienstagmorgen draußen. Sie sind die Erste, die sich anmeldet.“

„Die Erste“, wiederholte Elise. Und aus unerfindlichen Gründen verspürte sie eine gewisse Freude bei dem Gedanken, die Erste zu sein.

Schließlich beschloss sie, doch noch einen Strauß dieser wunderbaren Nelken für Aurora zu kaufen.

3. Kapitel

Bethanne Hamlin

So sollte es nicht sein, dachte Bethanne Hamlin traurig, als sie die Auffahrt zu ihrem Haus in Capitol Hill hochfuhr. Das Gebäude, errichtet in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, bevor es als zu unsicher galt, mit Steinen auf einem erdbebengefährdeten Gebiet zu bauen, war ihr Traumhaus gewesen. Sie hatte sich auf den ersten Blick darin verliebt. Die kurze steile Auffahrt endete vor der Garage im Untergeschoss. Betonstufen führten zu einer kleinen Terrasse, und die Vordertür hatte einen Bogen. Wie der Eingang zu einem verwunschenen Häuschen im Märchen, dachte sie immer. Eine Giebelwand ragte vom Schlafzimmer im ersten Stock hervor. Von der Fensterbank dort konnte man die gesamte Nachbarschaft überschauen. Bethanne hatte oft an diesem Fenster gesessen und gelesen oder ihren Tagträumen nachgehangen. In diesem wunderschönen Heim hatte sie ihr perfektes Leben gelebt. Ihr Märchentraumleben …

Sie schaltete den Motor aus und blieb einen Moment in ihrem fünf Jahre alten Plymouth sitzen. Bethanne versuchte genug Energie und Kraft zu sammeln, um dieses Haus mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu betreten. Dann holte sie tief Luft, stieg aus und zog die Tasche mit den Lebensmitteln, die sie gerade eingekauft hatte, vom Rücksitz.

„Ich bin zu Hause!“, rief sie so fröhlich, wie sie konnte, während sie die Tür öffnete.

Sie war erleichtert, als alles still blieb.

„Andrew? Annie?“ Sie stellte die Einkäufe auf dem Küchentresen ab, füllte den Teekessel, machte den Herd an und setzte das Wasser auf. Vor der Scheidung war sie keine große Teetrinkerin gewesen, aber im letzten Jahr hatte sie sich praktisch zu einer Süchtigen entwickelt. Sie trank inzwischen zwei oder drei Kannen pro Tag.

„Ich bin da“, rief sie ein zweites Mal. Wieder keine Antwort.

Nach wenigen Minuten begann der Kessel zu pfeifen, und sie goss das dampfende Wasser über die Earl-Grey-Teebeutel in der Keramikkanne, die einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Dann trug sie den Tee zum Frühstückstisch.

Als sie in der kleinen Nische saß, dachte sie erneut über den Sinn ihres Lebens nach. Ein weiteres Mal versuchte sie zu verstehen, was ihr und ihren Kindern in den vergangenen zwei Jahren widerfahren war. Nichts schien mehr in Ordnung zu sein. So als würden nicht einmal mehr die Jahreszeiten in der richtigen Reihenfolge ablaufen. Oder als hätte der Mond plötzlich die Sonne ersetzt … Es fiel ihr immer noch schwer zu begreifen, was passiert war – und warum.

Alles hatte vor sechzehn Monaten an einem Valentinstag-Morgen begonnen … Die Kinder waren wach und machten sich in ihren Zimmern lautstark für die Schule fertig. Kurz zuvor, als sie gehört hatte, wie Andrew und Annie sich wegen des Badezimmers stritten, hatte sie ihren Morgenmantel übergezogen und war in die Küche gegangen, um das Frühstück vorzubereiten. Dann, als sie zum Schlafzimmer zurückging und vor der Tür stehen blieb, sah sie, dass ihr Mann auf dem Bett saß, die Knie angewinkelt, das Gesicht in den Händen vergraben. Bethanne fürchtete zuerst, er hätte eine Grippe. Normalerweise war er um diese Uhrzeit bereits aufgestanden und für die Arbeit angekleidet. Er liebte seinen Job als Makler bei einer erfolgreichen Grundstücksfirma. Sein Verdienst war hoch genug, sodass Bethanne bei den Kindern zu Hause bleiben konnte. Als Andrew und dreizehn Monate später Annie geboren waren, hatte sie beschlossen, sich vollständig den Kindern zu widmen. Grant hatte ihre Entscheidung unterstützt. Es gefiel ihm, dass sie zu Hause blieb, Zeit für ihn und die Kinder hatte, und wusste es zu schätzen, dass sie oft gediegene Geschäftsessen für ihn und seine Kollegen vorbereitete.

„Grant?“, fragte sie, vollkommen unvorbereitet auf das, was nun folgen sollte.

Er blickte auf, und Bethanne sah solchen Schmerz in seinen Augen, dass sie sich zu ihm aufs Bett setzte und ihm die Hand auf die Schulter legte. „Was ist los?“, flüsterte sie.

Grant schien keinen Ton herauszubringen. Er öffnete den Mund, um zu reden, aber es kam kein Wort heraus.

„Mom!“, rief Annie vom Treppenabsatz herunter. „Ich brauche deine Hilfe!“

Bethanne zögerte einen Augenblick, hin- und hergerissen zwischen der Sorge um ihren Mann und den Bedürfnissen ihrer Kinder, dann drückte sie kurz Grants Arm. „Ich bin gleich zurück.“ Tatsächlich dauerte es zehn Minuten, und beide Kinder hatten das Haus verlassen, als sie wieder zurückkam.

Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, saß Grant immer noch so da wie zuvor. Sein Gesichtsausdruck war zutiefst bekümmert.

„Sag es mir“, drängte sie leise, während sie sich beunruhigt fragte, was passiert sein könnte. Grant war vor einer Woche beim Arzt gewesen, und obgleich alles in Ordnung zu sein schien, waren sämtliche Routineuntersuchungen vorgenommen worden. Vielleicht hatte Dr. Lyman etwas gefunden, und Grant wagte jetzt erst, darüber zu reden. Sie setzte sich wieder neben ihn, die Matratze bewegte sich leicht unter ihrem Gewicht.

„Heute ist Valentinstag“, sagte Grant mit einer so heiseren Stimme, dass sie sie kaum wiedererkannte.

Sie küsste ihn auf die Wange und spürte, wie er sich versteifte. „Grant, bitte … was ist los?“

Da begann er zu weinen. Sein ganzer Körper wurde von großen Schluchzern geschüttelt. In den zwanzig Jahren ihrer Ehe konnte sich Bethanne nur an wenige Situationen erinnern, in denen ihr Mann solche starken Gefühle gezeigt hatte. „Ich will dir nicht wehtun.“

„Sag es mir einfach!“

Er fasste sie so fest bei den Schultern, dass sich seine Finger fast schmerzhaft in ihr Fleisch drückten. „Du bist eine gute Frau, Bethanne, aber …“ Er stockte. „Aber ich liebe dich nicht mehr.“

Zuerst dachte sie, dass er einen Scherz machte, und kicherte nervös. „Was soll das heißen, du liebst mich nicht mehr? Grant, wir sind seit zwanzig Jahren verheiratet. Natürlich liebst du mich.“

Er schloss die Augen, als könne er es nicht ertragen, sie anzusehen. „Nein, das tue ich nicht. Es tut mir so leid. Aber ich habe es versucht. Ich habe es weiß Gott versucht. Ich kann mit dieser … dieser Charade nicht länger leben.“

Bethanne starrte ihn sprachlos an. Das war der Mann, mit dem sie all die Jahre zusammengelebt und geschlafen hatte. Und plötzlich, auf einen Schlag, war er ein Fremder geworden.

„Was ist passiert?“, erkundigte sie sich unsicher.

„Bitte“, flehte er, „zwinge mich nicht, es zu sagen.“

„Was zu sagen?“ In diesem Moment war sie eher verwundert als verärgert. Statt die Worte persönlich zu nehmen, verfiel sie sofort in ihre pragmatische Art, ein Problem anzugehen. Was auch immer nicht stimmte, konnte in Ordnung gebracht werden, genauso wie ein undichter Wasserhahn oder eine kaputte Steckdose. Man brauchte nur den Klempner oder den Elektriker zu bestellen. Was immer reparaturbedürftig war, benötigte lediglich die entsprechende Behandlung, und alles funktionierte wieder so wie vorher.

„Es gibt einen Grund, warum ich dich nicht mehr liebe“, stieß ihr Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er warf die Steppdecke zur Seite und stand auf. Seine gereizte Art bestürzte sie.

„Grant, was ist in dich gefahren?“

Er stieg in seine Hosen, zog sie hoch und schloss den Reißverschluss. „Bist du wirklich so schwer von Begriff, dass ich es aussprechen muss?“

Innerhalb von Sekunden war aus dem Häufchen Elend ein Tyrann geworden. „Was aussprechen?“, wollte sie wissen und hob unschuldig die Hände, in Erwartung dessen, was immer er ihr zu sagen hatte. Sie war mehr von seiner aggressiven Art schockiert als von seinen Worten.

Er hielt inne, den einen Arm im Ärmel seines Hemdes. Seine Worte kamen ohne jede Gefühlsregung und ohne dass er sie ansah. „Es gibt jemand anderen.“

Da begriff Bethanne endlich. „Du hast … eine Affäre?“ Plötzlich fühlte sie sich wie betäubt, und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Ihre Zunge schien auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein, sodass sie nicht sprechen konnte. Das war unmöglich. Sie weigerte sich, das zu glauben – Grant würde sie niemals betrügen. Sie hätte es gewusst, wenn er jemand anders gehabt hätte. In Filmen und Büchern hatten Männer Affären. Das war etwas, das anderen Frauen passierte, in anderen Ehen, aber nicht in ihrer. Im ersten Augenblick wollte sie es einfach nicht wahrhaben, bis er weiterredete, während er sich für die Arbeit anzog.

„Wann? Wie?“, stotterte sie.

„Wir haben uns im Büro kennengelernt“, sagte er. „Sie ist auch Maklerin, und sie war neu in der Firma.“ Er seufzte schwer. „Ich habe versucht, unsere Ehe zu retten, aber es ging nicht. Es war nicht meine Absicht, dass so was passiert.“ Sie hörte für einen kurzen Moment einen fast flehenden Tonfall in seiner Stimme, der aber sofort ärgerlich wurde. „Verdammt, Bethanne, mach es nicht noch schwieriger, als es ohnehin schon ist.“ Als hätte er es bereits seit Tagen geplant, öffnete er die Schranktür und zog einen Koffer heraus, den er aufs Bett legte.

„Du … gehst?“

Er beantwortete ihre Frage, indem er die Schubladen öffnete und seine Kleidungsstücke herausnahm. Bethanne zuckte zusammen, als sie beobachtete, wie er einen Stapel ordentlich zusammengelegter Unterhemden in den Koffer tat. Grant war ziemlich eigen mit seinen T-Shirts, sie mussten auf besondere Art gefaltet sein. Er war, was sein Äußeres betraf, besonders sorgfältig, und dieser Perfektionismus betraf auch sein Haar und die Kleidung.

„Wohin … wohin willst du?“ In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen, und die belangloseste war die erste, die sie aussprach.

„Ich ziehe zu Tiffany“, verkündete er.

„Tiffany?“, wiederholte sie ungläubig. Warum sie ausgerechnet in der schrecklichsten Situation ihres Lebens diese Komik entdeckte, würde sie nie begreifen. Mit einem Mal musste sie lachen. „Du verlässt mich wegen einer Frau, die Tiffany heißt?“

Er sah sie wütend an, als hätte sie den Verstand verloren. Und vielleicht war das ja auch der Fall. „Hau ab“, sagte sie fast lässig und wedelte mit der Hand. „Ich will, dass du verschwindest.“

Wie um ihren Wunsch zu untermauern, stapfte sie in den Keller hinunter und holte einen zweiten, noch größeren Koffer, den sie ins Schlafzimmer schleppte. Auf dem Weg überlegte sie angestrengt, ob sie dieser Tiffany je begegnet war. Soweit sie wusste, war das nicht der Fall. In Grants Büro wimmelte es von Frauen. Doch sie hätte nie gedacht, dass er in der Lage wäre, sie so zu hintergehen. Obwohl sie schon außer Atem war, nachdem sie den schweren Koffer die beiden Treppen hochgeschleppt hatte, verschnaufte sie nicht, ihr Ärger trieb sie an.

Sie warf den leeren Koffer achtlos auf das Bett und ignorierte die dicke Staubwolke, die sich dabei über die weiße Decke legte. Dann zog sie die Schranktür auf, packte die Anzüge mit einem Griff und warf sie mitsamt den Bügeln in den Koffer.

„Bethanne!“, rief Grant. „Hör auf.“

„Nein!“, schrie sie fast. Dann, etwas leiser, fragte sie: „Wie lange geht das schon mit dir und Tiffany?“ Als er nicht antwortete, drängte sie weiter. „Wie alt ist sie überhaupt?“ Kaum hatte sie mit diesen Fragen begonnen, gab es kein Halten mehr. „Ist sie auch verheiratet, oder bin ich die Einzige, die abserviert wird?“

Grant vermied es, sie anzusehen.

„Schon eine ganze Weile?“

Noch immer sah er sie nicht an und fuhr fort, seinen Koffer zu packen. Sie war wieder in die alte Gewohnheit verfallen – und faltete, glättete und ordnete seine Kleidungsstücke, die sie zuvor achtlos in den großen Koffer geworfen hatte.

„Ein Monat? Zwei Monate? Ist sie gut im Bett?“

„Bethanne, nicht.“

„Wie lange?“ Sie wollte keine Ruhe geben, bevor er ihr nicht die Wahrheit sagte.

Er stieß einen langen Seufzer aus, als hätte sie ihn mit ihrer Unnachgiebigkeit besiegt. „Zwei Jahre.“

„Zwei Jahre!“, schrie sie, außer sich vor Zorn. „Mach bloß, dass du rauskommst!“

Er nickte nur.

„Hau ab und komm nie wieder!“ In diesem Augenblick hatte sie es auch so gemeint. Doch nach nicht allzu langer Zeit wünschte sie sehnlichst, er wäre wieder zu Hause. Inzwischen war es ihr peinlich, wie verzweifelt sie versucht hatte, die Liebe ihres Mannes zurückzugewinnen. Sie war bereit gewesen, alles zu tun – einen Rechtsanwalt aufsuchen, betteln, locken, diskutieren. Einmal war sie an dem Punkt angelangt, kurz vor der Gerichtsverhandlung, da hätte sie zehn Jahre ihres Lebens gegeben, wenn Grant wieder zu ihr und den Kindern zurückgekehrt wäre.

Doch nachdem er erst mal das Haus verlassen und zu Tiffany gezogen war, hatte er nicht mehr die Absicht gehabt wiederzukommen. Es hätte sie fast umgebracht. Irgendwann musste sie es akzeptieren: Grant würde nie mehr zurückkehren. Er liebte sie nicht mehr, und nichts, was sie sagte oder tat, würde daran etwas ändern.

Ihre Ehe war kaputt, und ihre Selbstachtung zerstört. Wären die Kinder nicht gewesen, Bethanne hätte nicht gewusst, was sie getan hätte. Andrew und Annie brauchten sie mehr denn je, und nur für sie machte sie weiter.

Als sie endlich einen Termin mit dem Anwalt verabredet hatte, war der Mann sehr offen und hilfreich gewesen. Es wurde eine finanzielle Vereinbarung getroffen, die fair schien. Mit so viel Gerechtigkeitssinn, wie er aufbringen konnte, bezahlte Grant die Hypotheken auf das Haus, ihre Autos und die Rechnungen ihrer Kreditkarten, sodass sie beide zunächst schuldenfrei waren. Er wurde verpflichtet, für zwei Jahre Alimente zu zahlen, zusätzlich zu dem Unterhalt für die Kinder, bis diese die Highschool absolviert hätten. Die Studienkosten würden sie sich teilen. Bisher hatte er immer pünktlich bezahlt, doch dafür sorgte der Staat schon. Bethanne würde bald einen Job finden müssen, doch aus Dutzenden von Gründen hatte sie das immer wieder aufgeschoben.

Jetzt war es sechs Monate her, dass die Scheidung rechtsgültig wurde, und der Nebel begann sich gerade erst etwas zu lichten. Während sie versuchte, mit dem, was ihre Familie und Freunde als ihre „neue Realität“ bezeichneten, klarzukommen, wollte sie einen Schritt nach dem anderen in die Zukunft tun. Das Problem war, dass sie ihre „alte Realität“ herbeisehnte …

Bethanne nippte an ihrem Tee, der langsam abkühlte. Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als die Küchentür aufgerissen wurde und die sechzehnjährige Annie hereinstürzte, mit roten Wangen und schweißgebadet. Nasse Haarsträhnen klebten ihr zu beiden Seiten im Gesicht. Sie trug ein rückenfreies Top und Radlershorts und kam offensichtlich von einem ausgedehnten Lauf. Da Annie immer ein enges Verhältnis zu ihrem Vater gehabt hatte, war die Scheidung für sie besonders hart gewesen. Kurz nachdem Grant ausgezogen war, hatte Annie mit dem Joggen begonnen und rannte oft acht oder sogar sechzehn Kilometer am Tag. Unglücklicherweise war das nicht die einzige Veränderung im Verhalten ihrer Tochter. Die neuen Freunde, mit denen sie sich zusammengetan hatte, wirkten nicht sehr vertrauenerweckend.

Bethanne machte sich ständig große Sorgen um den Umgang ihrer Tochter. Das Mädchen hatte seine Wut auf Tiffany fokussiert, und Bethanne hegte den Verdacht, ihre neuen Freunde ermutigten sie zu ihren ungeheuerlichen Aktionen. Obgleich Bethanne sicher nicht zu den Fans dieser Frau gehörte, die übrigens, wie sie erfahren hatte, fünfzehn Jahre jünger war als ihr Ex, befürchtete sie, dass Annie in ihrem Eifer, sich an Tiffany zu rächen, etwas sehr Dummes anstellen könnte, das womöglich die Polizei auf den Plan rief.

Andrew hatte mit Bethanne mehrmals über die Aktionen von Annie gesprochen, von denen er wusste. Dazu gehörte, dass sie Tiffanys Namen und Adresse für ein Zeitschriftenabonnement angegeben hatte ebenso wie für etliche Bestellungen oder Verabredungen. Wie auch immer, Annie schwieg beharrlich, wenn Bethanne mit ihr darüber zu reden versuchte.

„Du hast mir keine Nachricht hinterlassen“, rügte Bethanne sie milde, als Annie zum Kühlschrank ging und eine kalte Flasche Wasser herausnahm.

„Tut mir leid“, murmelte das Mädchen ohne aufrichtiges Bedauern, drehte den Verschluss ab und lehnte den Kopf zurück, um die halbe Flasche zu leeren. „Ich dachte, du könntest es dir denken. Ich laufe ja jeden Tag.“

Bethanne hatte es sich gedacht, aber das war nicht der Punkt.

„Wie war es bei der Arbeitsagentur?“, wollte ihre Tochter wissen.

Bethanne seufzte und wünschte, Annie hätte dieses Thema nicht angesprochen. „Nicht gut.“ Sie hatte gewusst, dass die Jobsuche schwierig werden würde, doch sie hatte keine Ahnung gehabt, wie schmerzhaft diese Angelegenheit tatsächlich war. „Als ich dem Mann von meinen Backkünsten erzählte, schien er nicht sonderlich beeindruckt.“

„Du solltest in einer Konditorei arbeiten.“

Daran hatte sie auch schon gedacht. Doch acht Stunden umgeben von Backwaren erschien ihr nicht sehr verlockend.

„Andrew und ich wurden von allen unseren Freunden immer beneidet.“ Annie klang fast nostalgisch. „Wir hatten die besten Geburtstagspartys mit den leckersten Kuchen von allen.“

„Ich habe auch großartige Spieleabende organisiert, aber dafür gibt es heutzutage keine Verwendung mehr.“

„Ach, Mom.“ Annie verdrehte die Augen.

„Ich werde mich ernsthaft bemühen, wenn der Sommer vorbei ist.“

„Du schiebst es immer wieder auf.“

Ihre Tochter hatte recht. Doch nachdem sie so viele Jahre nicht gearbeitet hatte, glaubte Bethanne nicht, dass sie irgendwelche vermittelbaren Fähigkeiten besaß. Sie dachte mit Entsetzen daran, dass sie womöglich für den Rest ihres Daseins an der Kasse im Lebensmittelladen stehen und die Kunden fragen müsste, ob sie lieber eine Papier- oder eine Plastiktüte haben wollten.

„Vielleicht sollte ich Kosmetika verkaufen“, sagte sie und beobachtete Annies Reaktion. „Ich könnte so meine Zeit selbst einteilen und …“

„Mom!“ Das Mädchen sah sie aufgebracht an. „Das ist doch lächerlich.“

„Viele Frauen verdienen damit ein gutes Einkommen, und …“

„Kosmetika verkaufen ist vielleicht für andere in Ordnung, aber nicht für dich. Du hast eine Menge Talente, aber als Vertreterin wärst du eine Katastrophe, das wissen wir beide ganz genau. Es muss doch irgendwas anderes für dich geben. Wo bleibt denn dein Stolz?“

Tja, der versteckte sich seit sechzehn Monaten irgendwo in den Untiefen des Kellers, dachte Bethanne. „Ein Bürojob wäre fürchterlich“, sagte sie. Es war unvorstellbar für sie, sich jemals an einen Acht-Stunden-Trott zu gewöhnen.

„Du solltest einfach mal was nur für dich machen“, beharrte Annie. „Damit meine ich keinen Job.“

Jeder, den Bethanne kannte, sogar der Anwalt, den sie vor Kurzem getroffen hatte, riet ihr das Gleiche. „Seit wann bist du denn so schlau?“, scherzte sie.

„Gibt es nicht irgendwas, das du gern tun würdest, nur so aus Spaß?“

Bethanne zuckte die Schultern. „Du würdest lachen und mir wieder erklären, das wäre albern.“

„Was denn?“

Sie seufzte, nicht sicher, ob sie es sagen wollte. „Ich habe neulich ein Wollgeschäft gesehen und dachte daran, wie gern ich mal wieder stricken würde. Es ist schon Jahre her. Ich habe dir mal eine Babydecke gestrickt, erinnerst du dich noch?“

„Mom!“, rief Annie und sah dabei fast peinlich berührt aus. „Natürlich erinnere ich mich. Ich habe ja bis zu meinem zehnten Lebensjahr unter dieser gelben Decke geschlafen.“

„Ich habe gerne gestrickt, aber das ist lange her.“

Die Eingangstür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Es war Andrew, der von seinem Halbtagsjob im Supermarkt kam. Er betrat die Küche, legte den Rucksack ab, öffnete, ohne ein Wort zu seiner Mutter oder seiner Schwester zu sagen, den Kühlschrank und starrte hinein. Offensichtlich schien ihn außer eine Flasche Sodawasser nichts zu interessieren. Er nahm sie heraus, schloss die Tür, lehnte sich dagegen und sah die beiden stirnrunzelnd an.

„Was geht hier vor?“, fragte er und sah von Bethanne zu seiner jüngeren Schwester.

„Mom meinte gerade, dass sie wieder stricken will“, berichtete Annie.

„Ich habe nur mal daran gedacht“, beeilte sich Bethanne hinzuzufügen.

„Das kannst du doch machen“, erklärte Annie voller Überzeugung.

„Ja, klar“, stimmte ihr Andrew zu und öffnete den Verschluss seiner Flasche.

Aber Bethanne war sich nicht sicher, ob sie dazu in der Lage war. Es schien ihr alles zu viel Energie zu kosten – eine Arbeit finden, ihr Leben organisieren und dazu noch das Stricken. „Vielleicht mach ich’s“, murmelte sie unschlüssig.

„Du wirst es nicht hinausschieben, so wie alles andere.“ Annie öffnete die Vorratskammer und holte die Gelben Seiten hervor. „Wo war dieses Wollgeschäft?“

Bethanne biss sich auf die Unterlippe. „Blossom Street.“ „Erinnerst du dich an den Namen des Ladens?“, fragte Andrew.

Annie blätterte im hinteren Teil des dicken Verzeichnisses.

„Nein, aber seht mal …“

Mit dem Finger auf einer Seite blickte Annie auf, ihre Augen funkelten entschlossen. „Hab’s gefunden.“ Sie warf ihrem Bruder ein triumphierendes Lächeln zu, nahm das Telefon und tippte die Nummer ein, bevor Bethanne protestieren konnte. Als sie fertig war, reichte sie ihrer Mutter den Hörer.

Die freundliche Stimme einer Frau war zu hören. „A Good Yarn“, meldete sie sich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Also, hallo … Mein Name ist Bethanne Hamlin. Obwohl es ja auch egal ist, wie ich heiße, aber na ja, ich wollte wissen, ob Sie immer noch die Strickkurse anbieten.“ Sie schwieg kurz, um Luft zu holen. „Ich habe vor Jahren gestrickt“, fuhr sie fort, „aber das ist ja schon eine ganze Weile her. Vielleicht wäre es besser, wenn ich in Ihren Laden komme.“ Bethanne sah zu ihrer Tochter hoch.

„Gib mir mal das Telefon.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, griff Annie danach und hörte der Frau am anderen Ende der Leitung zu.

„Ja, das klingt gut. Schreiben Sie sie ein“, sagte sie schließlich, griff nach Stift und Papier, um die Einzelheiten zu notieren. „Sie wird da sein.“ Dann legte Annie auf.

„Du hast sie zu einem Kurs angemeldet?“, fragte Andrew.

„Genau.“

„Ich, also …“ Plötzlich dachte Bethanne voller Panik an die Kosten. „Hört zu, das ist vielleicht doch nicht so eine gute Idee, weil …“

Ihre Tochter unterbrach sie. „Du lernst, Socken zu stricken.“

„Socken?“, rief Bethanne und schüttelte den Kopf. „Das ist viel zu kompliziert für mich.“

„Mom“, mischte sich Andrew ein, „du hast doch die ganze Zeit gestrickt, oder nicht?“

„Die Ladeninhaberin meint, Socken stricken wäre nicht so schwierig“, fuhr Annie fort. „Sie heißt übrigens Lydia Hoffman, und sie behauptet, das wäre ganz einfach.“

„Na gut“, murmelte Bethanne.

„Mom, du gehst hin, und ein Nein werde ich nicht akzeptieren.“

„Du gehst“, stimmte Andrew ein.

Ihre Rollen hatten sich offenbar irgendwann vertauscht, das war Bethanne noch gar nicht aufgefallen. Es musste wohl passiert sein, als sie gerade nicht aufgepasst hatte.

4. Kapitel

Courtney Pulanski

Courtney fand, dass die Maßnahmen ihres Vaters übertrieben und unfair waren. Okay, sie hatte sich ein bisschen Ärger eingefangen, indem sie sich frech den Lehrern gegenüber verhalten hatte und ihre Zensuren zusehends schlechter geworden waren. Allerdings hätte alles viel schlimmer sein können – wenn zum Beispiel die Polizei herausfinden würde, wer vor vier Jahren den Müllcontainer angezündet hatte. Aber wer konnte ihr das schon verdenken? Ihre Mutter war vor Kurzem gestorben, und Courtney hatte sich verloren und verwirrt gefühlt. Sie war immer aggressiver geworden. Inzwischen ging es ihr besser – nicht dass sie alles überstanden hätte. Sie würde es nie „überstehen“, obwohl ihre ahnungslosen Freundinnen das Gegenteil behaupteten. Doch mit der Zeit hatte sie sich etwas gefangen und hart gearbeitet, um die Highschool hinter sich zu bringen. Und jetzt so was!

Das Abschlussjahr würde sie bei ihrer Großmutter in Seattle verbringen. Während die Kids, mit denen sie aufgewachsen war, gemeinsam ihre Prüfungen machten, saß sie meilenweit entfernt am anderen Ende des Landes. Courtney liebte ihre Großmutter, doch sie konnte sich nicht vorstellen, ein ganzes Jahr bei ihr zu leben.

Aber es gab sonst niemanden. Keinen anderen Ort, an dem Courtney bleiben könnte, während ihr Vater als Ingenieur bei einem Brückenbau-Projekt in Brasilien arbeitete. Die Gegend, in der er sich aufhielt, wäre nichts für ein junges Mädchen im Teenageralter, behauptete er.

Jason, ihr älterer Bruder, war im Internat und hatte einen Job als Nachhilfelehrer für die Sommerkurse. Ihre Schwester Julianna absolvierte ihr Grundstudium an der Uni und hatte ebenfalls einen Job, und zwar in einem Ferienhaus in Alaska. Courtney war die Jüngste. Die Kosten für die Ausbildung ihrer Geschwister häuften sich. Ihr Vater benötigte schlicht und einfach Geld, ansonsten hätte er einen solchen Auftrag nicht angenommen, bevor Courtney die Schule abgeschlossen hatte. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass sie dann ein Stipendium erhalten würde. Dummerweise waren ihre Zensuren nicht die besten, und die Chancen, einen geförderten Platz an der Uni zu erhalten, waren etwa so groß wie die, im Lotto zu gewinnen. Mit anderen Worten, ihr Vater wäre dazu gezwungen, auch für sie zu bezahlen. Das Jahr in Seattle zu verbringen war daher die naheliegendste Lösung.

Alles wäre anders gewesen, wenn ihre Mutter nicht bei diesem fürchterlichen Autounfall ums Leben gekommen wäre. Es war vor vier Jahren passiert, und noch immer kam es ihr vor wie gestern.

„Courtney!“, rief ihre Großmutter vom Treppenabsatz. „Bist du wach?“

„Ja, Grandma.“ Es war unmöglich zu schlafen, wenn der Fernseher schon um fünf Uhr morgens lärmte. Ihre Großmutter benötigte ein Hörgerät, aber sie weigerte sich, das einzusehen. Alle nuschelten, wenn es nach Vera Pulanski ging. Jeder Mensch auf dieser Welt!

„Ich mache gerade Frühstück!“, kam es von unten.

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