Die Orsini Brüder - Playboys mit Herz? - 5in1

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SCHWELENDES FEUER
Wie eine gekaufte Braut kommt Corinne sich vor, als sie den Millionär Raffaello Orsini heiratet. Zwar erfüllt sie so den letzten Wunsch ihrer besten Freundin, seiner verstorbenen Frau … Doch ein Leben ohne Liebe scheint sie zu erwarten, ohne Leidenschaft, ohne Erfüllung! Denn trotz des schwelenden Feuers in seinen Blicken bleibt Raffaello kühl und lässt Corinne in ihrem Bett allein - bis sie auf einer Party mit einem anderen flirtet! Kaum zurück auf dem Anwesen, umarmt der feurige Italiener sie hitzig und küsst sie hungrig: Niemand darf sich nehmen, was nur ihm zusteht …

KÜSS MICH, PLAYBOY!
Welche Frau kann ihm schon widerstehen? Raffaele Orsini hat alles, was ein Playboy braucht: Er sieht gut aus, ist reich, erfolgreich, ein geradezu begnadeter Liebhaber und keinem erotischen Abenteuer abgeneigt! Und ausgerechnet Chiara, das Mädchen aus einfachem Hause, lehnt ihn ab? Die Frau, die er auf Anweisung seines Vaters heiraten soll, will ihn nicht in ihrem Bett? Das ist unmöglich! Raffaeles Jagdinstinkt ist geweckt: Er will die stolze Sizilianerin mit seinen Verführungskünsten bezwingen - und merkt in seinem Eifer nicht, dass Chiara mit ihm dasselbe im Sinn hat …

PLAYBOY MIT HERZ
Playboy-Millionär Dante Orsini verbringt selten eine Nacht allein in seinem Penthouse. Aber sein Herz verschenken? Niemals! Bis er während einer Geschäftsreise Gabriella wiedersieht. Überrascht spürt er, wie genau er sich an ihre kurze Affäre erinnert. Als sei es gestern gewesen: das Strahlen in Gabriellas Augen, ihre Seufzer der Leidenschaft, wenn er sie liebte … Rätselhaft, wie heftig er sie immer noch begehrt! Aber was ihn noch viel mehr schockiert: Seit wann hat Gabriella eigentlich einen kleinen Sohn - der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist?

GELIEBTER BODYGUARD
Bodyguard für eine schöne junge Schauspielerin? So einen Job hat der vermögende Playboy Falco Orsini schon lange nicht mehr nötig. Doch als er die Verletzlichkeit in Elles Augen sieht, ist ihm klar: Diese Frau braucht ihn! Auch wenn sie ihn nach einem heißen Kuss brüsk zurückweist, ist Falcos Beschützerinstinkt geweckt. Um sie vor einem Verfolger zu retten, entführt er Elle in seinem Privatjet nach Hawaii. Allein mit ihr in seinem luxuriösen Strandhaus, steigt die erotische Spannung mit jedem Tag - mit jeder Nacht. Doch Falco soll Elle beschützen - nicht begehren!

SAG NICHTS, KÜSS MICH!
Nicolo Orsini ist ein echt sizilianischer Macho: charmant, sexy, und er liebt schöne Frauen - in seinem Bett. Wahre Gefühle kommen für ihn nicht infrage. Bis er für seinen Vater ein Weingut in der Toskana kaufen soll - und auf die unwillige Tochter des Hauses trifft. Kratzbürstig stellt sich Principessa Alessia ihm jeden Tag neu entgegen. Nicolo weiß bald kaum noch, was er mit der aufreizenden Adligen machen soll. Sie durchschütteln? Keine schlechte Idee. Sie küssen, bis sie endlich ihren eigensinnigen Mund hält? Überraschend ist es diese Idee, die sein Herz am meisten lockt …


  • Erscheinungstag 03.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769482
  • Seitenanzahl 720
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Catherine Spencer, Sandra Marton

Die Orsini Brüder - Playboys mit Herz? - 5in1

Catherine Spencer

Schwelendes Feuer

1. KAPITEL

Der Brief lehnte an einer Haarspraydose auf Corinne Mallorys Schminktisch. Kaum der richtige Aufbewahrungsort für feinstes Büttenpapier mit einem goldenen Wappen. Andererseits war es überhaupt ein Wunder, dass sie ihn nach dem Lesen behalten und nicht einfach zerknüllt in den Papierkorb geworfen hatte.

Es war der Name, schwungvoll und energisch unter die maschinengeschriebenen Zeilen gesetzt, der Corinne davon abgehalten hatte. Raffaello Orsini war mit ihrer besten Freundin verheiratet gewesen, und Lindsay hatte ihn von ganzem Herzen geliebt. Sie war absolut verrückt nach ihm gewesen, bis zum letzten Atemzug. Das allein hatte Corinne ihren Stolz schlucken und sich seinen Wünschen fügen lassen. Welche Gründe auch immer er für seinen unerwarteten Besuch in Kanada haben mochte, Corinne war es Lindsays Andenken schuldig, ihn zu treffen.

Jetzt waren es nur noch zwei Stunden, bevor sie den Mann zum ersten Mal persönlich kennenlernen würde. Allerdings war sie inzwischen nicht mehr so sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Was trug man zu einer Einladung, die sich mehr nach einem Befehl denn einer Bitte anhörte?

Corinne begutachtete den dürftigen Inhalt ihres Kleiderschranks. Schwarz war wohl die passendste Wahl. Mit Perlen. Ein Dinner im Pan Pacific, Vancouvers nobelstem Hotel, verlangte nach einem Hauch von Eleganz – selbst wenn die Perlen nicht echt waren und das Kleid nur aus Kunstseide.

Zumindest konnten die schwarzen Pumps ein Designer-Emblem auf der Innenseite vorweisen. Ein Souvenir aus der Zeit, als sie sich noch ein paar luxuriöse Extras hatte leisten können.

Auch diese Schuhe waren eine Erinnerung an Lindsay, eine zierliche Frau mit riesengroßen Träumen, in deren Wortschatz der Ausdruck „geht nicht“ keinen Platz hatte.

Wir kaufen uns irgendeine Ruine im richtigen Teil der Stadt und machen daraus ein schnuckeliges kleines Hotel, Corinne. Ich kümmere mich um die Einrichtung und die Zimmer, und du übernimmst die Küche.

Da brauchen wir schon eine gute Fee, die uns hilft.

Unsinn! Wenn wir es wirklich wollen, dann gelingt uns das auch. Nichts wird uns aufhalten!

Und wenn wir uns verlieben und heiraten?

Dann müssen es Männer sein, die unseren Traum teilen. Es könnte natürlich nicht schaden, wenn sie auch reich wären. Vielleicht sogar sehr, sehr reich.

Und falls sie es nicht sind?

Das macht auch nichts, denn wir werden es aus eigener Kraft schaffen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir es schaffen, Corinne. Wir nennen unser Hotel ‚The Mallory Raines‘ und hängen ein großes Schild mit einem goldenen Logo über die Tür, verschlungene Buchstaben, MR. Bis wir dreißig sind, werden wir weltberühmt für unsere Gastlichkeit und unsere Küche sein. Die Leute werden sich darum reißen, bei uns unterzukommen.

Doch das war, bevor Lindsay einen Urlaub in Sizilien machte und sich Hals über Kopf in Raffaello Orsini verliebte. Der Mann war tatsächlich sehr, sehr reich, nur leider zeigte er nicht das geringste Interesse für Lindsays Traum. Stattdessen gelang es ihm, sie von seinem Vorhaben zu überzeugen. Lindsay vergaß das berühmteste Hotel am Pazifik und zog auf die andere Hälfte der Erdkugel, um Raffaellos Frau zu werden und eine Familie zu gründen.

Und das Glück, an das sie immer so unerschütterlich geglaubt hatte? Es hatte sich gegen sie gewandt und Lindsay mit vierundzwanzig dahingerafft. Leukämie hatte ein dreijähriges Mädchen mutterlos gemacht.

Die Erinnerungen brachen über Corinne hinein. Sie blinzelte lästige Tränen zurück, bevor sie nach ihrer Wimperntusche griff. Wann hatte sie das letzte Mal Make-up benutzt? Offensichtlich war es zu lange her, wenn man jetzt das Resultat betrachtete. Nun, es würde reichen müssen, und überhaupt, was machte es schon für einen Unterschied? Mit welchen Absichten auch immer Raffaello Orsini hier aufgetaucht war … Es gab keinen Grund für Corinne, sich hübsch zu machen.

Von unten drang das Geräusch von klapperndem Geschirr zu ihr hinauf. Mrs. Lehman, ihre Nachbarin und bevorzugter Babysitter, bereitete das Abendessen für Matthew zu.

Matthew war alles andere als glücklich, dass seine Mutter ausging. „Du sollst nicht weggehen. Du sollst hierbleiben. Immer lässt du mich alleine“, hatte er mit zitternder Unterlippe verkündet.

Mit gutem Grund, wie Corinne sich im Stillen eingestand. Viel zu oft konnte sie ihren Sohn abends nicht ins Bett bringen und zudecken, weil sie häufig Nachtschichten schob und selbst während der Ferien arbeiten musste. Doch es lag nun mal in der Natur der Dinge, und so gerne sie es auch anders hätte … Jemand musste für die Miete und das Essen auf dem Tisch sorgen.

„Ich bleibe nicht zu lange weg, und morgen backe ich uns Heidelbeerpfannkuchen zum Frühstück. Hör auf Mrs. Lehman, ja? Sei brav und mach ihr keinen Ärger, wenn es Zeit zum Schlafengehen wird, okay?“

„Vielleicht tue ich es doch“, warnte er trotzig. Obwohl er erst vier war, hatte Matthew mittlerweile einige Taktiken entwickelt, seinen Willen durchzusetzen. Überhaupt entpuppte er sich immer häufiger als kleiner Satansbraten. Inständig hoffte Corinne, dass sie bei ihrer Rückkehr nicht eine völlig fertige Mrs. Lehman vorfinden würde, die vergeblich versucht hatte, Matthew ins Bett zu bekommen.

Ich sollte zu Hause bleiben, dachte Corinna. Doch dieser Brief ließ ihr keine Ruhe. Obwohl sie bereits jedes Wort auswendig kannte, nahm sie ihn noch einmal zur Hand und las ihn durch. Vielleicht würde ihr diesmal endlich klar werden, was der Absender mit seinem Schreiben sagen wollte.

Villa di Cascata, Sizilien, 6. Januar 2008

Signora Mallory,

Ende des Monats werde ich wegen einer dringenden

Angelegenheit nach Vancouver kommen, die mir erst

kürzlich zur Kenntnis gebracht wurde.

Ich habe eine Reservierung im Pan Pacific Hotel und

würde es zu schätzen wissen, wenn Sie mich dort am

28. Januar um halb acht zum Dinner treffen könnten.

Mit freundlichen Grüßen

Raffaello Orsini

Doch auch beim zweiten Lesen entdeckte sie nicht den geringsten Hinweis, was sie zu erwarten hatte. Und nach dem Lärm in der Küche zu schließen, legte Matthew gerade los, Mrs. Lehman einen weiteren turbulenten Abend zu bescheren.

„Hoffentlich haben Sie einen guten Grund, Mr. Orsini“, murmelte Corinne, bevor sie den Brief zurück auf den Tisch warf. Mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel ging sie nach unten, um einen kleinen Jungen zu beruhigen, der keine Erinnerung an seinen Vater hatte und dessen Mutter sich mehr schlecht als recht mit seiner Erziehung abmühte.

Beeindruckend, dieser Ausblick, entschied Raffaello. Im Norden erhob sich eine schneebedeckte Gebirgskette in den klaren Nachthimmel. Die Lichter der Brücke über der Hafeneinfahrt glitzerten wie Diamanten. Fast direkt unter dem Fenster seiner Suite lag eine Fünfundzwanzig-Meter-Jacht vor Anker und schaukelte sanft auf dem Wasser.

Dieser Ort konnte sich mit Sizilien zwar nicht vergleichen, aber er war dennoch bemerkenswert. Auch weil es Lindsays Heimat war. Die Szenerie hier war wild und distinguiert zugleich, schön und betörend – wie Lindsay.

Vor zwei Jahren hätte er nicht hierherkommen können. Auch vor einem Jahr noch nicht. Der Schmerz hatte zu tief gesessen, und die Trauer war zu sehr mit Ärger vermischt. Doch wie hieß es so schön? Die Zeit heilt alle Wunden. Sie vergoldete aber auch die Erinnerungen an Lindsay, die ihm zum Trost geworden waren.

„Ich tue das für dich, amore mio“, murmelte er, während er zum Himmel hochblickte.

Irgendwo unten in der Stadt schlug ein Kirchturm achtmal. Diese Corinne Mallory verspätete sich. Ungeduld erfüllte ihn. Er wollte die Angelegenheit endlich hinter sich bringen. Rasch griff er nach dem Telefon und rief beim Empfang an, um dem Portier erneut mitzuteilen, dass Corinne Mallory in seine Suite hinaufgeschickt werden sollte, sobald sie kam. Falls sie kam. Das, was er ihr vorzuschlagen hatte, war ungeeignet, um es an einem öffentlichen Ort zu besprechen.

Nachdem weitere zehn Minuten vergangen waren, ertönte ein derart lautes Klopfen an seiner Tür, dass er zusammenzuckte. Er unterdrückte den Ärger und richtete sich auf dem Weg zur Tür ein letztes Mal das Jackett.

Denk immer daran, dass sie Lindsays beste Freundin war. Das heißt nicht, dass sie deine beste Freundin werden muss, aber es wäre für alle Beteiligten gut, wenn zumindest eine gewisse freundliche Atmosphäre geschaffen werden könnte.

Raffaello hatte Fotos von ihr gesehen. Er war fest davon überzeugt, die Frau auf der anderen Seite der Tür genau einschätzen zu können. Doch sie war zarter, als er vorausgesehen hatte. Wie feine Spitze, die man achtlos behandelte. Ihre Haut schien fast durchsichtig. Viel zu straff spannte sie sich über die feinen Gesichtszüge, sodass das Gesicht fast zu klein für die großen blauen Augen wirkte.

Mit einer zuvorkommenden Geste trat Raffaello zur Seite. „Signora Mallory, danke, dass Sie meine Einladung angenommen haben. Kommen Sie doch bitte herein.“

Sie zögerte nur kurz, bevor sie seiner Aufforderung nachkam. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie mir eine Wahl gelassen hätten, Mr. Orsini. Auch hatte ich nicht damit gerechnet, dass das Treffen in Ihrem Zimmer stattfinden würde. Ich kann nicht behaupten, ich sei besonders erfreut darüber.“

Glaubte sie etwa, er sei um die halbe Welt gereist, um sie zu verführen? Ein ausschweifendes Schäferstündchen hätte er sich auch zu Hause gönnen können, wenn er es darauf angelegt hätte. „Ich versichere Ihnen, meine Absichten sind völlig ehrenhaft.“

Sie ließ sich von ihm aus dem Mantel helfen, bevor sie knapp erwiderte: „Das sollten sie auch besser sein.“

Er musste sich ein Grinsen verkneifen und deutete zu den Flaschen auf dem Barschrank. „Darf ich Ihnen vor dem Dinner etwas zu trinken anbieten?“

Wieder zögerte sie. „Eine Weinschorle vielleicht, danke.“

„Also …“ Er schenkte Pinot Grigio in ein Weinglas ein und goss es mit Mineralwasser auf, während er sich selbst einen Whiskey genehmigte. „Erzählen Sie mir ein wenig von sich, signora. Ich weiß nur, dass Sie und meine verstorbene Frau Freundinnen waren und dass Sie Witwe sind und einen kleinen Sohn haben.“

„Das ist immerhin mehr, als ich über Sie weiß, Mr. Orsini“, sagte sie mit entwaffnender Offenheit. „Und da ich nicht die geringste Ahnung habe, worum es bei unserem Treffen überhaupt geht, würde ich gern zum Kern der Sache kommen, ohne Zeit auf meine Lebensgeschichte zu verschwenden, an der Sie sicherlich kein wirkliches Interesse haben.“

Mit den Gläsern in den Händen kam er zu ihr und reichte ihr die Weinschorle. „Da irren Sie sich. Ich habe meine Gründe, mehr über Sie zu erfahren.“

„Fein. Dann werden Sie sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich Ihre Neugier nicht zu befriedigen gedenke, solange Sie mir diese Gründe nicht mitteilen. Ich will gar nicht behaupten, ich wüsste, wie solche Dinge in Sizilien gehandhabt werden, aber in diesem Land hier stimmt keine Frau mit auch nur einem Funken Verstand zu, einen wildfremden Mann in seinem Hotelzimmer zu treffen. Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht gekommen.“ Sie stellte das Weinglas ab und sah auf ihre Armbanduhr. „Sie haben genau fünf Minuten für Ihre Erklärung, dann gehe ich wieder.“

Er nippte an seinem Whiskey und musterte sie anerkennend. „Jetzt verstehe ich, warum Sie und meine Frau befreundet waren. Auch sie ist immer direkt auf den Punkt gekommen. Es war einer von vielen Charakterzügen, die ich an ihr bewunderte.“

„Viereinhalb Minuten, Mr. Orsini.“

„Also gut.“ Er zog einen Brief aus der Ledermappe, die er auf dem Tisch bereitgelegt hatte. „Der hier ist an Sie gerichtet. Ich denke, er wird alles erklären.“

Als Corinne die Handschrift erkannte, wurde sie blass. „Der Brief ist von Lindsay.“

Sì.

„Woher wissen Sie, was drinsteht?“

„Ich habe ihn gelesen.“

Bei seinen Worten wurde sie rot vor Zorn. „Wer gab Ihnen das Recht dazu?“

„Ich.“

„Ich werde mir merken, nie private Korrespondenz herumliegen zu lassen, wenn Sie in der Nähe sind.“ Ihre blauen Augen blitzten vor Empörung.

„Lesen Sie diesen Brief, signora, und danach können Sie den lesen, den Lindsay an mich gerichtet hat. Vielleicht werden Sie mir dann mit weniger Feindseligkeit begegnen und verstehen, warum ich den weiten Weg zurückgelegt habe, um mich mit Ihnen zu treffen.“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, beugte dann aber den Kopf und las. Anfangs war ihre Hand noch ruhig, doch je weiter sie las, desto mehr begann das Blatt in ihren Fingern zu zittern, bis Corinne selbst am ganzen Körper bebte.

Fassungslos und ungläubig zugleich schaute sie Raffaello an. „Das … Das ist doch absolut lächerlich! Sie kann nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen sein!“

„Meine Frau war bis zu ihrem letzten Atemzug geistig klar. Die Krankheit hat ihren Körper zerstört, nicht ihren Geist.“ Er schob seinen Brief über den Tisch. „Hier steht ihre Bitte an mich. Sie sehen, beide Briefe wurden am gleichen Tag geschrieben. Dies hier ist eine Kopie. Sie können sie behalten, wenn Sie möchten, um später in Ruhe nachzulesen.“

Corinne überflog das Blatt, bevor sie es ihm kopfschüttelnd zurückreichte. „Ich habe erhebliche Schwierigkeiten, Lindsays Bitte zu akzeptieren.“

„Objektiv betrachtet lässt sich ein gewisser Sinn nicht bestreiten.“

„Da bin ich anderer Ansicht“, widersprach sie tonlos. „Ihnen muss der Sinn auch entgangen sein, sonst hätten Sie nicht so lange gewartet, um sich damit an mich zu wenden. Sie sind vor über drei Jahren geschrieben, wenn man dem Datum Glauben schenken darf.“

„Ich habe sie erst vor wenigen Wochen zufällig entdeckt, als ich ein altes Fotoalbum durchsah. Ich muss gestehen, dass ich zuerst genauso reagiert habe wie Sie.“

„Sie wollen damit doch hoffentlich nicht andeuten, dass Sie Lindsays Wunsch jetzt erfüllen möchten?“

„Zumindest sollte man über ihn nachdenken.“

Corinne griff nach ihrem Weinglas. „Ich glaube, ich könnte jetzt etwas Stärkeres vertragen“, murmelte sie.

„Mir ist klar, dass man sich an diesen Vorschlag erst gewöhnen muss, Signora Mallory, aber ich hoffe, Sie werden ihn nicht sofort von der Hand weisen. Von der praktischen Seite her gesehen birgt ein derartiges Arrangement viele Vorteile.“

„Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, Mr. Orsini, aber wenn Sie das denken, können Sie unmöglich alle Tassen im Schrank haben.“

„Eine interessante Redewendung“, erwiderte er, wobei er sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte, „die aber keineswegs zutrifft. Ich hoffe, ich kann Sie beim Dinner davon überzeugen.“

„Nachdem ich diese Briefe gelesen habe, halte ich ein gemeinsames Dinner für keine gute Idee.“

„Wieso? Befürchten Sie, es könnte mir gelingen, Ihre Meinung zu ändern?“

„Nein“, erwiderte sie im Brustton der Überzeugung.

„Was kann es dann also schaden, wenn wir die Angelegenheit über einem guten Essen diskutieren? Wenn Sie danach noch immer gehen wollen, werde ich Sie bestimmt nicht aufhalten. Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie nicht die Einzige sind, die ihre Zweifel hat. Auch ich bin keineswegs von der Durchführbarkeit der Wünsche meiner verstorbenen Frau überzeugt, doch um ihr Andenken zu ehren, bin ich bereit, darüber zu reden. Sie würde es von mir erwarten und, so wage ich zu behaupten, von Ihnen ebenfalls.“

Corinne kämpfte mit sich, bevor sie nach einem Moment zustimmte. „Na schön, ich bleibe – um Lindsays willen, weil es ihr scheinbar so viel bedeutete. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen“, erwiderte sie seufzend.

Er hob sein Glas zu einem Toast. „Auf Lindsay.“ Es klopfte an der Tür. „Das wird unser Dinner sein. Ich habe es aufs Zimmer bestellt, denn ich denke nicht, dass wir unser Thema in der Öffentlichkeit diskutieren sollten.“

„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Ihre Antwort signalisierte Einverständnis, doch der gehetzte Blick, mit dem sie sich in der Suite umsah, deutete eher darauf hin, dass sie nach einem schnellen Fluchtweg suchte. „Kann ich mich etwas frisch machen, bevor wir uns zu Tisch setzen?“

„Natürlich.“ Er deutete zum Gästebad auf dem Korridor. „Lassen Sie sich Zeit, signora. Ich nehme an, der Chef und seine Leute werden ein paar Minuten brauchen, um alles aufzutragen.“

Sie brauchte mehr als nur ein paar Minuten, um sich wieder zu fassen!

Corinne verschloss die Tür hinter sich und starrte in den Spiegel. Sie wunderte sich nicht, als ihr fiebrig glühende Augen aus einem hochroten Gesicht entgegensahen. Ihre Sinne wurden auf eine harte Probe gestellt, eigentlich seit Raffaello Orsini seine Suitentür geöffnet und sie sich vor dem attraktivsten Mann wiedergefunden hatte, der ihr je unter die Augen gekommen war.

Lindsay hatte ihr damals Fotos von der Hochzeit geschickt. Aber Fotos konnten nicht die raue Sinnlichkeit einfangen, die dieser Mann ausstrahlte, da musste man ihm schon persönlich gegenüberstehen. Seine magnetische Anziehungskraft versetzte Corinne praktisch in Trance.

Er sah ganz anders aus, als sie sich vorgestellt hatte. Gut, er hatte das schwarze Haar und die typische oliv getönte Haut der Mittelmeerbewohner, aber soweit sie wusste, wurden sizilianische Männer normalerweise nicht knapp zwei Meter groß und hatten meist auch nicht Schultern, die jeden Rugbyspieler vor Neid erblassen lassen würden.

Was nun sein Gesicht betraf … Sie hatte es kaum über sich gebracht, ihn anzusehen, aus Angst, sie könnte die ganze Zeit auf seinen vollen sinnlichen Mund starren oder sich in seinen rauchgrauen Augen verlieren.

Sein Anblick hatte ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen. Jetzt begann sie auch zu verstehen, wieso Lindsay so willig bereit gewesen war, für diesen Mann alles aufzugeben. Seinen fein gemeißelten Gesichtszügen, dem markanten Kinn und der tiefen samtenen Stimme war zugegebenermaßen schwer zu widerstehen.

Die Luxussuite im dreiundzwanzigsten Stock, in die er sich einquartiert hatte, war ebenso atemberaubend. Sie war größer als die meisten Wohnungen. In dem riesigen Wohnraum stand sogar ein Konzertflügel, der Tisch in der Essnische bot Platz für sechs Personen, und überall hingen erlesene Kunstwerke an den Wänden. Corinne konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass jemand viel Zeit darauf verwenden würde, die Gemälde zu studieren. Nicht wenn die Fensterfront freien Blick auf den Stanley Park, die Lions Gate Bridge, Coal Harbour und die North Shore Mountains bot.

Das Verwirrendste jedoch war der Grund, aus dem er sie herbestellt hatte. Würde sie Lindsays Handschrift nicht genau kennen, hätte sie diese Briefe nie für echt gehalten. Die Echtheit konnte sie also akzeptieren, den Inhalt allerdings begriff sie immer noch nicht.

Deshalb hatte sie den an sie gerichteten Brief auch mit ins Bad genommen, um ihn noch einmal zu lesen, ohne Raffaello Orsinis forschenden Blick auf sich liegen zu spüren.

12. Juni 2005
Liebste Corinne,
ich hatte gehofft, dich noch einmal zu sehen. Wir hätten dann miteinander reden können, so wie wir es immer getan haben, offen und ohne etwas zurückzuhalten. Ich hatte auch gehofft, Elisabettas dritten Geburtstag miterleben zu können, doch inzwischen weiß ich, dass mir beides nicht mehr vergönnt sein wird. Mir bleibt nicht viel Zeit, um meine Angelegenheiten zu regeln, daher muss ich es schriftlich machen.
Corinne, du bist nunmehr seit fast einem Jahr Witwe, und ich weiß besser als jeder andere, wie schwer es für dich gewesen ist. Ich sehe inzwischen mit eigenen Augen, wie schmerzhaft Trauer sein kann, aber dann auch noch Geldsorgen zu haben … Zumindest das blieb mir erspart. Doch selbst mit Geld lässt sich keine Gesundheit kaufen, auch kann es einem Kind nicht den Verlust eines Elternteils ersetzen. Das ist etwas, das dein Sohn und jetzt auch bald meine Tochter durchmachen müssen und mich dazu bringt, diesen Brief zu schreiben.
Alle Kinder haben ein Recht auf zwei Elternteile, Corinne. Eine Mutter, um die kleinen Wehwehchen wegzuküssen, um einer Tochter den Weg zur Frau zu ebnen und um einen Sohn Mitgefühl und Zärtlichkeit zu lehren. Sie brauchen auch einen Vater, der sie vor einer Welt beschützt, deren sinnlose Grausamkeiten sie in so jungen Jahren noch nicht verstehen können, und der ihnen dann später beibringt, wie man sich dagegen wehrt.
Mit Raffaello habe ich so viel Glück erfahren. Er ist ein wunderbarer Mann und das beste Rollenvorbild für einen kleinen Jungen, der ohne Vater aufwachsen muss. Raffaello würde Matthew so unendlich guttun. Und wenn ich nicht mehr für meine Elisabetta da sein wer
de, dann kann ich mir niemand Besseren vorstellen als dich, Corinne, um meinen Platz einzunehmen.
Ich liebe dich praktisch seit dem Augenblick, als wir uns damals in der ersten Klasse begegneten, du bist meine Seelenschwester. Deshalb bitte ich dich, mir meinen letzten Wunsch zu erfüllen – dass nämlich du dich mit Raffaello zusammentust, in einer Ehe, und ihr die leeren Plätze im Leben unserer Kinder füllt.
Ihr seid zwei Menschen, die einander viel geben können. Doch ich habe noch einen ganz egoistischen Grund. Elisabetta ist zu jung, um mich in Erinnerung zu behalten. Ich hasse den Gedanken. Natürlich wird Raffaello alles tun, um mich in ihrem Herzen lebendig zu halten, doch niemand kennt mich so genau wie du. Du kannst ihr erzählen, wie ich als Kind und als Teenager war. Du kannst ihr von meinem ersten Flirt erzählen, meinem ersten Kuss, meinem ersten Liebeskummer, von meinem Lieblingsbuch, meinem Lieblingsfilm, meinem Lieblingslied … und noch so vieles mehr.
Wir beide haben alles miteinander geteilt. Wenn Elisabetta sich an dich wenden kann, dann ist es fast so, als könnte sie mich fragen. Ich vertraue dir mein Leben an, Corinne, doch das ist nun nicht mehr viel wert. Daher vertraue ich dir meine Tochter an. Ich verspüre den verzweifelten Drang zu leben, und ich habe solche Angst zu sterben. Aber ich könnte beruhigter gehen, wenn ich wüsste, dass Raffaello und du …

Hier endete der Brief, als hätte Lindsay keine Kraft mehr gehabt. Oder vielleicht waren es die Tränen gewesen, die sie daran gehindert hatten, weiterzuschreiben. Die Spuren waren auf dem Papier zu sehen, Spuren, die durch Corinnes Tränen jetzt aufgefrischt wurden.

Corinne griff eine Hand voll Kleenextücher und wischte sich den verlaufenen Mascara weg, der zu allem Übel in ihren Augen brannte.

„Oh, Lindsay“, flüsterte sie verzweifelt. „Du weißt, dass ich alles für dich tun würde. Alles … Aber das kannst du nicht von mir verlangen.“

2. KAPITEL

Als Corinne in den Salon zurückkehrte, stand der Mond am Himmel und sandte silberne Strahlen auf die schwarze Wasseroberfläche im Hafen. In der Suite leuchtete eine Bodenlampe und warf einen warmen Schein auf die Chaiselongue beim Fenster. Auf dem gedeckten Esstisch schimmerten Kristall und Silber im Schein der Kerzen. Corinne war erleichtert, als sie die dezente Beleuchtung sah. Das schwache Kerzenlicht würde ihre rot geweinten Augen kaschieren und verbergen, dass die Wimperntusche längst verschwunden war.

Raffaello Orsini rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihr gegenüber. Mit einem unmerklichen Nicken ließ er den Kellner wissen, dass der Wein gereicht werden konnte. Doch Corinne schmeckte nichts von dem leichten weißen Burgunder, denn Lindsays Brief hatte sie zutiefst getroffen. Vermutlich würde sie keinen Bissen hinunterbekommen. Inzwischen bereute sie es, die Einladung angenommen zu haben. Sie war nicht nur verwirrt und erschüttert, sondern sah vermutlich wie ein Häufchen Elend aus. Welche Frau würde sich unter solchen Umständen schon wohlfühlen?

Immerhin besaß der Mann so viel Anstand, mit keinem Wort auf ihr Äußeres anzuspielen. Stattdessen plauderte er bei der delikaten Vorspeise witzig und geistreich über seine ersten Erfahrungen als Tourist in der Stadt. Bis das Dessert serviert wurde, hatte Corinne sich im Laufe des mit Sorgfalt zusammengestellten Menüs immerhin so weit entspannt, dass sie tatsächlich etwas von den erlesenen Delikatessen schmecken und ihren Gastgeber näher begutachten konnte.

Dieser Mann strahlte vor allem Selbstsicherheit aus, sein Reichtum war nicht einmal so vorrangig. Auch wenn es offensichtlich war, dass er mehr Geld besaß, als er ausgeben konnte, und über die Macht verfügte, die mit diesem Wohlstand einherging. Eine gefährlich verlockende Kombination. Corinne gefiel sein Scharfsinn. Wenn er lächelte – was er eher selten tat –, dann hätte sie fast den eigentlichen Grund für ihre Anwesenheit vergessen und sich einbilden können, hier säßen nur ein Mann und eine Frau bei einem angenehmen Abendessen zusammen.

Fast. Denn sie wagte es nicht, sich gänzlich zu entspannen. Er war ein vielschichtiger Mann, die faszinierende Verkörperung von Widersprüchen. Die schmale Patek Philippe-Uhr, die handgemachten Schuhe und der maßgeschneiderte Anzug gehörten zum Bild des Finanztycoons, der mit Milliarden jonglierte, und gleichzeitig konnte man sich bei der verhaltenen Kraft seiner breiten Schultern und den durchtrainierten Muskeln gut vorstellen, wie er mit einer Ziege über der Schulter die sizilianischen Berge erklomm. Dennoch war nichts Derbes an ihm, im Gegenteil. Er war das Paradebeispiel eines Mannes von Welt, charmant und attraktiv. Eine Mischung, die eine Frau um den Verstand bringen konnte.

Sie würde auf der Hut sein müssen. Als hätte er ihre Gedanken erraten, ging er plötzlich zum Angriff über.

„Bis jetzt habe ich die ganze Zeit geredet, signora. Nun sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie mir etwas Aufregendes von sich, bitte.“

„Da gibt es nicht viel zu berichten, fürchte ich.“ Seine Aufforderung behagte ihr nicht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wohin das führen sollte. „Ich bin eine alleinerziehende Mutter, da bleibt nicht viel Zeit für Aufregendes.“

„Sie meinen, Sie sind zu beschäftigt damit, sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen?“

„So ungefähr, ja.“

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Chefköchin.“

„Richtig. Ich erinnere mich wieder, dass meine Frau einmal davon sprach. Sie haben in einem Fünf-Sterne-Restaurant gearbeitet, nicht wahr?“

„Vor der Heirat, ja. Danach blieb ich zu Hause, war Ehefrau und Mutter. Als mein Mann starb, wurde ein … Einkommen notwendig. Also eröffnete ich einen kleinen Partyservice.“

„Führen Sie ihn allein, oder haben Sie Personal eingestellt?“

„Anfangs war ich allein. Doch jetzt ist mein Kundenkreis größer geworden, und ich hole bei Bedarf Aushilfen. Die Essenszubereitung übernehme ich allerdings selbst. Ebenso erwarten meine Kunden, dass ich bei besonderen Anlässen persönlich die Aufsicht führe.“

„Es ist nicht leicht, sein eigener Chef zu sein. Was hat Sie zu dieser Entscheidung gebracht?“

„Es war die perfekte Lösung. So konnte ich immer für meinen Sohn da sein, vor allem, als er noch ein Baby war.“

„Unabhängigkeit und Kreativität bewundere ich an einer Frau.“ Er verschränkte die Finger und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. „Und jetzt, wo Ihr Sohn älter ist?“

„Es ist nicht mehr so einfach“, gab sie zu. „Er ist aus dem Alter heraus, wo er sich friedlich in einer Ecke mit seinem Spielzeug beschäftigt, während ich das Büffett für eine sechzigköpfige Hochzeitsgesellschaft vorbereite.“

„Kann ich mir denken.“ Er lächelte verständnisvoll. „Wer passt dann auf ihn auf, wenn Sie sich um die kulinarischen Bedürfnisse von sechzig wildfremden Leuten kümmern?“

„Meine Nachbarin.“ Innerlich wand sie sich bei seiner treffenden Frage. „Eine ältere Frau, Witwe und Großmutter. Sie ist sehr zuverlässig.“

„Aber sicher nicht so liebevoll wie Sie, oder?“

„Kann denn überhaupt jemand eine Mutter ersetzen, Mr. Orsini?“

„Nein. Wie ich zu meinem großen Leidwesen selbst feststellen muss“, antwortete er gedankenverloren, bevor er abrupt das Thema wechselte. „Wie wohnen Sie?“

Pikiert schnappte sie nach Luft. „Nicht in heruntergekommenen Verhältnissen, wie Sie vermutlich annehmen.“ Was mochte Lindsay ihrem Mann über ihre Situation erzählt haben?

„Das war ganz und gar nicht meine Absicht“, stritt er sofort ab. „Ich möchte einfach nur mehr über Sie erfahren. Sozusagen den Hintergrund für ein sehr reizvolles Porträt füllen.“

Etwas beschwichtig erwiderte sie: „Ich habe ein kleines Reihenhaus in einem ruhigen Wohngebiet einige Meilen außerhalb der Stadt gemietet.“

„Mit anderen Worten, in einer sicheren Gegend, wo Ihr Sohn im Garten spielen kann, ohne dass man sich Sorgen machen muss.“

Corinne sah die winzige Terrasse vor sich, die vor der Küchentür lag, und den Rasen, der nicht größer als ein Badelaken war. Sie sah die Shaws vor sich, ihre Nachbarn zur anderen Seite, ein verknöchertes altes Ehepaar, das sich ständig beschwerte, Matthew mache zu viel Lärm. „Das Haus hat keinen richtigen Garten. Ich gehe mit meinem Sohn in den Park zum Spielen, und wenn ich keine Zeit habe, dann nimmt meine Nachbarin ihn dorthin mit.“

„Aber gibt es keine anderen Kinder in seinem Alter, mit denen er etwas unternehmen kann?“

„Leider nicht. Die meisten Bewohner dieser Anlage sind ältere Leute. Rentner, so wie meine Nachbarin.“

„Hat er wenigstens einen Hund oder eine Katze?“

„Laut Mietvertrag dürfen keine Haustiere gehalten werden.“

Raffaello zog die Augenbrauen hoch. „Dio, bei so wenig Freiheiten muss sich der Arme ja wie im Gefängnis fühlen.“

Sie verschwieg ihm, dass sie ähnlich dachte. „Nichts ist perfekt, Mr. Orsini. Liefe alles immer genau richtig, dann würden unsere Kinder nicht nur mit einem Elternteil aufwachsen müssen.“

„Aber sie tun es. Was mich zu meiner nächsten Frage bringt. Nachdem Sie nun Zeit hatten, sich von dem ersten Schock zu erholen … Was halten Sie von dem Vorschlag in dem Brief?“

„Wie?“ Verwirrt blickte sie ihn an. Seine Augen waren durchdringend und abwartend auf sie gerichtet.

„Ich möchte endlich Ihre Meinung dazu hören.“ Ein unnachgiebiger Ton hatte sich in seine Stimme geschlichen. „Sie haben doch sicher nicht den eigentlichen Grund vergessen, warum Sie hier sind, Signora Mallory, oder?“

„Wohl kaum. Ich habe bisher nur nicht … viel über die Angelegenheit nachgedacht.“

„Dann schlage ich vor, dass Sie damit anfangen. Es ist viel Zeit vergangen, seit meine Frau ihren letzten Wunsch niedergeschrieben hat. Ich möchte nicht unnötig weitere Zeit verschwenden.“

„Um eines klarzustellen, ich lasse mich nicht herumkommandieren, Mr. Orsini, von niemandem. Da Sie so auf eine Antwort drängen, will ich offen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Lindsays Bitte jemals erfüllen werde.“

„So wenig bedeutet Ihnen also Ihre Freundschaft?“ „Es wird Ihnen nicht gelingen, mich emotional zu erpressen“, schoss sie zurück. „Das funktioniert bei mir nicht.“

Die rauchgrauen Augen verdunkelten sich. Aus unterdrücktem Ärger? Aus Trauer oder Frustration? Corinne wusste es nicht zu sagen.

„Von Gefühlen war hier niemals die Rede. Es ist ein rein geschäftlicher Vorschlag, eine Abmachung, die einzig und allein zum Wohle Ihres und meines Kindes getroffen wird. Um die Vereinbarung zu realisieren, ist es das Einfachste, dass Sie und ich heiraten.“

„Das ist meiner Meinung nach völlig unakzeptabel. Falls Sie es noch nicht wissen sollten, aber arrangierte Ehen sind in diesem Land lange aus der Mode. Sollte ich jemals wieder heiraten, was unwahrscheinlich ist, dann einen Mann meiner Wahl.“

„Ich hatte den Eindruck, Signora Mallory, dass Sie in keiner Position sind, so wählerisch zu sein. Wie Sie selbst beschrieben haben, wohnen Sie zur Miete und sind der Willkür Ihres Vermieters ausgeliefert. Sie sind überarbeitet, und so verbringt Ihr Sohn mehr Zeit mit einer Fremden als mit Ihnen.“

„Zumindest bin ich unabhängig.“

„Ein Zustand, für den Sie und Ihr Sohn einen hohen Preis zahlen.“ Einen Moment lang musterte er sie schweigend, dann wurde sein Ton versöhnlicher. „Ich bewundere Ihre Energie und Ihre Willensstärke, cara mia, aber warum sind Sie so versessen darauf, Ihren bisherigen Lebensstil beizubehalten, wenn ich Ihnen viel mehr bieten kann?“

„Schon allein deshalb, weil ich es nicht mag, wenn man mir Almosen in den Rachen stopfen will.“ Mich „cara mia“ zu nennen wird daran nichts ändern!

„So sehen Sie das also? Begreifen Sie denn nicht, dass beide Seiten davon profitieren würden? Meine Tochter gewinnt bei diesem Arrangement ebenso wie Ihr Sohn.“

Abwesend strich Corinne mit den Fingerspitzen über die Knospen des exquisiten Rosengestecks, das den Tisch schmückte. Die samtenen Blütenblätter ließen sie an Matthews weiche Haut als Baby denken, bevor er sich zu einem kleinen Tyrannen entwickelt hatte.

… Raffaello wird alles tun, um mich in ihrem Herzen lebendig zu halten. Wenn Elisabetta sich an dich wenden kann, dann ist es fast so, als könnte sie mich fragen … Ich vertraue dir meine Tochter an, Corinne … So ähnlich hatte Lindsay es in ihrem Brief ausgedrückt.

Offensichtlich schien Raffaello überzeugt zu sein, dass sie über seine Worte nachdachte, denn er ließ nicht locker. „Befürchten Sie, ich könnte meine ehelichen Rechte im Schlafzimmer einfordern?“

„Woher soll ich das wissen? Würden Sie das denn?“ Seine Frage ärgerte sie so sehr, dass sie unüberlegt geantwortet hatte.

„Möchten Sie denn, dass ich sie einfordere?“

Corinne öffnete den Mund für ein klares Nein, doch sie schloss ihn wieder, als ein Bild in ihrem Kopf auftauchte – unerwartet, unwillkommen, unglaublich erotisch –, wie Raffaello Orsini nackt aussehen mochte. Die plötzliche Hitzewelle, die ihren Körper durchströmte, schockierte sie zutiefst.

Die letzten vier Jahre hatte sie wie ein Automat funktioniert. Ihre sämtlichen Energien waren darauf ausgerichtet gewesen, ihrem Sohn ein sicheres Zuhause zu schaffen, angefangen bei der Miete, der Krankenversicherung, dem Essen, bis hin zum Abbezahlen der Schulden, die ihr verstorbener Mann hinterlassen hatte. Eigene Bedürfnisse hatte sie beiseite geschoben, hatte sie verdrängt und negiert. Es war einfach lächerlich, in dieser Situation von Fantasien heimgesucht zu werden, die ihr nicht behagten. Allerdings wurde sie auch daran erinnert, dass sie eine Frau war. Ihre Sexualität mochte auf Sparflamme zurückgeschaltet sein, dennoch war die Glut nicht völlig erloschen.

„Diesen Punkt brauchen Sie jetzt nicht zu entscheiden“, meinte Orsini gewandt. „Hier dreht es sich hauptsächlich um das Wohlergehen zweier Kinder. Ich werde Sie nicht zwingen, die Ehe gegen Ihren Willen zu vollziehen. Aber Sie sind eine attraktive Frau, und als heißblütiger Sizilianer würde ich Ihre Versuche in diese Richtung auch nicht sabotieren, sollten Sie solche unternehmen.“

Seine Arroganz war unfassbar! Eher würde sie freiwillig in ein Kloster gehen, bevor sie körperliche Aufmerksamkeiten von ihm wollte! „Dafür besteht nicht die geringste Chance, denn ich habe nicht vor, mich auf Ihren Vorschlag einzulassen. Es ist eine lausige Idee.“

„Was ist verkehrt daran, wenn zwei Erwachsene sich zusammentun, um ihren Kindern ein normales Familienleben zu bieten? Meinen Sie nicht, die beiden hätten es verdient?“

„Die verdienen das Beste, was wir ihnen geben können. Dass ihre jeweiligen Elternteile aus falschen Gründen heiraten, gehört nicht dazu.“

„Dem würde ich zustimmen, wenn wir uns vormachten, dass Gefühle im Spiel seien, signora. Aber wir gehen die Sache ja verstandesmäßig an. Meiner Meinung nach erhöht das die Chancen für ein Gelingen erheblich.“

„Verstandesmäßig?“ Sie verschluckte sich fast an dem Kaffee. „So definieren Sie es also?“

„Wie sonst? Wir suchen in der zweiten Ehe nicht nach Liebe. Wir beide haben unsere wahren Seelenpartner verloren, wir hegen keine romantischen Illusionen, wir gehen lediglich einen bindenden Vertrag ein, um das Leben unserer Kinder zu verbessern.“

Von seiner Logik und seinem durchdringenden Blick gleichermaßen zermürbt, stand Corinne auf und stellte sich ans Fenster. „Sie vergaßen den finanziellen Vorteil zu erwähnen, den ich durch ein solches Arrangement erhalten würde.“

„Das ist für mich nebensächlich.“

„Für mich ist es aber wichtig.“

„Wieso? Weil Sie das Gefühl haben, gekauft zu werden?“

„Unter anderem, ja.“

„Das ist lächerlich.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenigstens einmal sind wir uns also einig. Die Idee ist lächerlich. Leute heiraten nicht aus solchen Gründen.“

„Aus welchen Gründen dann?“

Durch seine Hartnäckigkeit aufgerieben, suchte sie nach einer Antwort und entschied sich für genau die falsche. „Wie Sie selbst sagten – aus Liebe.“

Dabei war sie in der Vergangenheit eines Besseren belehrt worden. Was ihr als Liebe erschienen war, hatte sich letztendlich als Lust herausgestellt. Schwärmerei. Selbsttäuschung. Illusion. Das einzig Gute an ihrer Ehe war Matthew. Wäre Joe nicht gestorben, hätten sie irgendwann vorm Scheidungsrichter gestanden.

Wie aus weiter Ferne drang Raffaello Orsinis Stimme in ihre Gedanken. „Auch dieses Mal sollten Sie aus Liebe heiraten – aus Liebe zu Ihrem Sohn. Hören Sie sein Lachen, wenn er mit einem Freund in einem riesigen Garten spielt. Stellen Sie sich vor, wie er an einem Privatstrand Sandburgen baut oder wie er in einer sicheren flachen Bucht in warmem Wasser schwimmen lernt. Sie selbst leben in einer geräumigen Villa und werden nicht mehr von Geldsorgen geplagt. Sie haben alle Zeit der Welt, um sie mit Ihrem Sohn zu verbringen. Stellen Sie sich all das vor, und dann sagen Sie mir, ob es tatsächlich eine so lausige Idee ist, wenn wir uns zusammentun.“

Er bot Matthew mehr, als sie ihrem Sohn je würde geben können. Auch wenn sie wusste, dass es reine Bestechung war … Hatte sie als Mutter das Recht, ihrem Sohn ein besseres Leben vorzuenthalten, wenn sie jeden Penny zweimal umdrehen und oft Nein zu Matthew sagen musste?

Auf der anderen Seite … Jeder wusste, dass man nichts geschenkt bekam, und wenn etwas zu gut schien, um wahr zu sein, dann war es höchstwahrscheinlich auch nicht wahr. Dieser seltsame Handel, den Raffaello Orsini ihr da vorschlug, mochte sie letztendlich mehr kosten, als es die Sache wert war. Würde sie Matthew einen Gefallen tun, wenn sie den Respekt vor sich selbst verlor?

Sie zwang sich, ihre Gedanken in vernünftige Bahnen zu lenken. „Sie haben sich viel Mühe gegeben, um darzulegen, welche Vorteile mir diese Abmachung bietet, Mr. Orsini. Was springt dabei für Sie heraus?“

Sie blickte ihm nach, als er zur Bar ging und Cognac in zwei Schwenker goss. „Als Lindsay starb“, er kam zu ihr ans Fenster und reichte ihr ein Glas, „zogen meine Mutter und meine Tante zu mir in die Villa, um sich um Elisabetta zu kümmern und, wenn ich ehrlich bin, auch um mich. Es war gut, dass sie es gemacht haben. Ich war zu jener Zeit zu wütend auf das Leben, zu sehr in meine Trauer verstrickt, um meiner Tochter der Vater sein zu können, den sie verdient. Die beiden Frauen haben ihr eigenes Leben zurückgestellt, um uns zu helfen.“

„Sie können sich glücklich schätzen, dass die beiden für Sie da sind.“

Er ließ den Cognac im Glas kreisen und schaute auf die goldbraune Flüssigkeit. „Ja, sehr glücklich. Ich bin ihnen auch dankbar.“

Als sie das Zögern in seiner Stimme hörte, warf sie ihm einen strengen Blick zu. „Aber?“

„Nun, sie haben Elisabetta maßlos verwöhnt. So sehr, dass die Kleine nicht mehr zu kontrollieren ist. Ich weiß nicht, wie ich es ihnen beibringen soll, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Elisabetta braucht eine strenge Hand, und ich bin nicht unbedingt derjenige, der diese Hand hat. Teils weil ich oft geschäftlich unterwegs bin, teils aber auch …“ Er zuckte mit einer Schulter. „Ich bin ein Mann, Corinne.“

Seltsam, die Tatsache, dass er ihren Vornamen benutzte, versetzte sie in ein solches Hoch, dass sie ihre Zunge nicht mehr im Zaum hatte. „Ist mir aufgefallen.“ Entsetzt über sich selbst, versuchte sie abzuwiegeln. „Ich wollte damit nur sagen … Vermutlich gehen Sie wie die meisten Männer davon aus, dass Ihr Wort Gesetz ist.“

Er lachte auf, es war ein tiefes, warmes und wohltönendes Lachen, dann wurde er wieder ernst. „Sie haben Lindsays Briefe gelesen, Sie wissen, was sie sich wünschte. Wenn Sie etwas für mich tun können, dann erfüllen Sie den letzten Wunsch meiner Frau. Nehmen Sie Lindsays Platz in Elisabettas Leben ein. Helfen Sie meiner Tochter, die Frau zu werden, auf die ihre Mutter stolz sein würde. Was ich Ihnen biete, lässt sich in Euro messen. Was Sie mir geben können, ist unbezahlbar.“

„Sie sind sehr überzeugend, Mr. Orsini. Dennoch ist die Durchführung dieser Idee aus mehreren Gründen unmöglich.“

„Nennen Sie mir drei.“

„Mein Mietvertrag läuft noch weitere zwei Jahre.“

„Den löse ich für Sie ab.“

„Ich habe Verpflichtungen … Schulden.“

„Die zahle ich für Sie.“

„Ich will Ihr Geld nicht.“

„Sie brauchen es.“

Der Mann hatte für alles eine Lösung parat! Frustriert suchte sie nach einem anderen Argument. „Und wenn Sie meinen Sohn nicht mögen werden?“

„Müsste ich damit rechnen, dass Sie meine Tochter nicht mögen?“

„Natürlich nicht. Sie ist ein unschuldiges Kind.“

„Eben.“ Er spreizte die Finger vor sich, eine Geste, die mehr sagte als alle Worte. „Unsere Kinder sind unschuldig, und wir sind verantwortlich für ihr Wohl.“

„Sie erwarten von mir, dass ich meinen Sohn aus seinem Leben hier herauszerre und mit ihm nach Sizilien ziehe?“

„Was hält Sie hier? Ihre Eltern?“

Nicht unbedingt. Die Enttäuschung über ihre Eltern kam schon, als sie noch ein Teenager gewesen war.

Köchin? Abfälliger hätte niemand die Frage stellen können, als sie den beiden ihre Ambitionen mitgeteilt hatte.

Den ganzen Tag an einem heißen Herd zu stehen ist alles, was dir einfällt, nachdem wir uns für deine Ausbildung abgerackert haben? Doch das war noch harmlos gewesen im Vergleich zu der Reaktion, als Joe Mallory in ihr Leben getreten war. Heirate diesen Tunichtgut, und du hast von uns nichts mehr zu erwarten.

Dass ihre Eltern in Bezug auf Joe recht gehabt hatten, half Corinne nicht über das Gefühl hinweg, von ihnen im Stich gelassen worden zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals von Matthew abwenden würde. Eltern taten so etwas einfach nicht. Ihre Eltern hatten es getan, und sie zeigten nicht die geringste Reue.

„Meine Eltern sind nach Arizona gezogen“, antwortete sie jetzt. „Wir sehen uns nur selten.“

„Sie haben sich entfremdet?“

„So kann man es wohl nennen“, erwiderte sie knapp.

„Dann haben Sie noch einen Grund, mich zu heiraten. Ich bringe eine Familie mit.“

„Ich spreche kein Italienisch.“

„Das werden Sie lernen, ebenso wie Ihr Junge.“

„Ihre Mutter und Ihre Tante könnten etwas dagegen haben, dass Sie eine Fremde ins Haus bringen.“

„Meine Mutter und meine Tante werden sich meinen Wünschen fügen.“

„Hören Sie auf, mich zu drängen!“, rief sie aus. Sie hatte das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Ganz gleich, was sie auch anführte … Er fand einen besseren Grund, warum auch sie sich seinen Wünschen fügen sollte.

„Verzeihen Sie mir. Sie stehen noch unter Schock, so wie ich auch, als ich die Briefe meiner Frau las. Es ist unentschuldbar von mir, von Ihnen eine sofortige Entscheidung zu verlangen.“

Er brachte seine Worte mit so viel ernst gemeinter Reue hervor, dass Corinne sich zu ihrem Entsetzen sagen hörte: „Genau. Ich brauche Zeit, um Vor- und Nachteile abzuwägen. Das kann ich nicht, wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen.“

„Natürlich, das verstehe ich vollkommen.“ Er ging zum Schreibtisch, um einen Umschlag mit Fotos zu holen, die er auf dem Esstisch ausbreitete. „Diese hier werden Ihnen vielleicht bei der Entscheidungsfindung helfen. Soll ich Sie allein lassen, damit Sie sich die Bilder ansehen können?“

„Nein. Ich würde jetzt gern nach Hause gehen, um in Ruhe über Ihren Vorschlag nachzudenken.“

„Wie viel Zeit brauchen Sie? Ich muss so schnell wie möglich nach Sizilien zurückkehren.“

Sie könnte ihm ihre Antwort schon jetzt geben, aber es war nicht die, die er hören wollte. Also würde sie besser schweigen und zusehen, dass sie aus seiner Nähe fortkam. Das Risiko war so geringer, einer Sache zuzustimmen, die ganz und gar unmöglich war. „Morgen werde ich Ihnen meine Entscheidung mitteilen.“

„Einverstanden.“ Er sammelte die Fotos wieder ein und steckte sie in den Umschlag zurück. „Ich werde dem Fahrer Bescheid geben, den Wagen vorzufahren. Ich begleite Sie nach unten.“

Er führte sie durch die Lobby und nach draußen, bevor er ihr beim Einsteigen in die wartende Limousine half. Und dann, in letzter Minute, zog er den Umschlag mit den Fotos aus der Jackentasche und ließ ihn auf ihren Schoß fallen.

Buona notte, Corinne“, wünschte er ihr. „Morgen erwarte ich Ihre Antwort.“

3. KAPITEL

Corinne warf Raffaello einen missbilligenden Blick zu und wollte ihm den Umschlag zurückreichen. Doch plötzlich fielen die Fotos heraus und verteilten sich über die Lederpolster des Rücksitzes. Noch während sie sie einsammelte, schloss Raffaello den Wagenschlag, und die Limousine setzte sich in Bewegung.

Nur weil Raffaello Orsini beschlossen hatte, dass sie die Fotos mitnahm, konnte niemand sie zwingen, sie sich anzusehen. Sie würde sie morgen per Kurier zurückschicken, zusammen mit ihrer abschlägigen Antwort.

Corinne war froh und erleichtert, als der Chauffeur den Wagen vor ihrem Haus stoppte.

Den Mantelkragen gegen die Kälte mit einer Hand fest um den Hals gezogen, eilte sie den gepflasterten Pfad entlang zu ihrer Haustür. Nachdem sie den kleinen Flur betreten hatte, wunderte sie sich über die ungewöhnliche Stille, die im Haus herrschte.

Normalerweise schaltete Mrs. Lehman den Fernseher ein, und da die alte Dame schwerhörig war, drehte sie die Lautstärke weit auf. Doch dieses Mal kam ihr Mrs. Lehman entgegen. Sie hielt ihren Hausschlüssel schon in der Hand, als könne sie gar nicht schnell genug in die eigene Wohnung zurückkehren. Als wäre das nicht seltsam genug, bemerkte Corinne den Bluterguss unter dem linken Auge der alten Dame.

Sofort ließ Corinne ihre Handtasche fallen und eilte zu Mrs. Lehman. „Großer Gott! Was ist mit Ihnen passiert? Wo ist Ihre Brille? Sie sind etwa gestürzt?“

„Nein, Liebes.“ Normalerweise war Mrs. Lehman eine herzliche und offene Person, doch dieses Mal mied sie Corinnes Blick. „Meine Brille ist zerbrochen.“

„Aber wie? Oh …“ Eine fürchterliche Ahnung überkam Corinne. „Bitte, sagen Sie nicht, dass Matthew dafür verantwortlich ist!“

„Nun … Ich fürchte, doch. Wir hatten … einen kleinen Zusammenstoß, als es Zeit wurde, ins Bett zu gehen, und er … er hat seinen Spielzeug-Lkw nach mir geworfen. Es war schon nach zehn, bevor er sich endlich beruhigt hat.“

Corinne krampfte sich der Magen zusammen. Da saß sie mit einem Fremden bei einem exquisiten Dinner zusammen, um sich einen völlig absurden Vorschlag anzuhören, und ihr Sohn nutzte die Zeit, um die Güte einer Frau zu missbrauchen, auf deren Hilfe Corinne sich immer hatte verlassen können.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mrs. Lehman. Das tut mir entsetzlich leid.“ Sie begutachtete die Schwellung. Eine Schnittwunde war zu sehen, und um die Wunde herum hatte sich die Haut blau und violett verfärbt. „Warten Sie, ich hole Ihnen einen Eisbeutel zum Kühlen.“

„Nein danke, Liebes, ich möchte nur noch in mein eigenes Bett.“

„Dann begleite ich Sie nach Hause.“ Corinne dachte an den Raureif, der auf dem Pfad gefunkelt hatte. Sie würde es nicht riskieren, dass Mrs. Lehman ausrutschte und sich vielleicht auch noch die Hüfte brach. Für einen Abend war genug Schaden angerichtet worden. „Und morgen werden Matthew und ich zu Ihnen kommen. Nachdem ich mir meinen Sohn vorgeknöpft habe, meine ich.“

Vor lauter Sorgen konnte Corinne in dieser Nacht nicht einschlafen. Hoffentlich war die Verletzung nicht schlimmer, als sie ausgesehen hatte. Hatte Mrs. Lehmann vielleicht eine Gehirnerschütterung erlitten? Was wäre, wenn sie in der Nacht ins Koma fiel? Oder wenn ihr Augen unheilbar verletzt worden war? Auf dem kurzen Weg zurück zu ihrem Haus waren Mrs. Lehmans Schritte sicher gewesen. Sie hatte auch keine Probleme gehabt, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber die Frau war Mitte siebzig, und in diesem Alter …

Die Fantasie ging mit ihr durch! Corinne riss sich zusammen und gestand sich den wahren Grund für ihre Angst ein. Was war mit ihrem Sohn los, dass er sich so schrecklich benahm? Einen „kleinen Zusammenstoß“ hatte Mrs. Lehman es genannt, doch bei einer zerbrochenen Brille und einem blauen Auge war dies eine glatte Untertreibung.

Wenn Corinne ehrlich zu sich war, hätte sie gar nicht so überrascht sein müssen. Sie selbst hatte in letzter Zeit mehrere solcher „Zusammenstöße“ mit Matthew gehabt. Wie konnte sie verhindern, dass diese Wutanfälle immer häufiger auftraten und schlimmer wurden, bevor etwas wirklich Ernstes passierte?

Irgendwann gegen vier Uhr morgens fiel Corinne in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von Albträumen gequält wurde. Die kleinen Häuschen der Nachbarschaft lagen alle in Trümmern. Mrs. Lehman fuhr in einer großen schwarzen Limousine davon, die über und über mit ihren Habseligkeiten beladen war, und Corinne kletterte über Haufen von verkohlten Ziegelsteinen, während sie verzweifelt nach Matthew suchte. Doch sie fand nur Raffaello Orsini, der, auf einem Trümmerhaufen sitzend, lässig ein Kartendeck mischte. „Das ist alles, woraus Ihr Heim gemacht ist, signora“, sagte er und fächerte die Karten aus. „Sie haben nichts.“

Gegen acht Uhr schreckte sie schweißgebadet auf. Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste Matthew zu ihr ins Bett gekrochen sein, denn er lag zusammengerollt an ihrer Seite. Er bot ein Bild kindlicher Unschuld, und ihr Herz zog sich zusammen.

Sie liebte ihren Sohn mehr als ihr Leben. Wahrscheinlich zu sehr, wie sie manchmal dachte. Das machte es ihr schwer, ihn wirklich streng zu disziplinieren. Wenn solche schlimmen Dinge wie gestern Abend passierten, fühlte sie sich als alleinerziehende Mutter völlig überfordert. Doch selbst wenn Joe noch leben würde, hätte er sich auch dieser Verantwortung entzogen, so wie er es stets tat. Er wäre als Vater ebenso untauglich gewesen, wie er es als Ehemann gewesen war.

Leise stieg Corinne aus dem Bett, duschte und schlüpfte in einen bequemen Jogginganzug, bevor sie in die Küche hinunterging, um das Frühstück zuzubereiten. Sollte sie Heidelbeerpfannkuchen machen, wie sie Matthew gestern versprochen hatte? Oder würde sie damit sein schlechtes Benehmen nur noch fördern? War sein schlimmes Verhalten ein ausreichender Grund, ihr Versprechen zu brechen? Ergaben zwei falsche Dinge ein richtiges?

Corinne haderte noch immer mit sich, als Matthew nach unten kam. Seine Decke hatte er über die Schultern geschlungen. Er kletterte auf den Schemel am Küchentresen. Mit den zerzausten Haaren und den schläfrigen Augen sah er so niedlich aus, dass Corinnes Herz überfloss.

Na schön, Pfannkuchen, aber keine Heidelbeeren, entschied sie im Stillen und goss ihm ein Glas Saft ein. Sie brauchte einen Kaffee. Stark und schwarz. Er würde ihr den nötigen Energieschub geben, um den vor ihr liegenden Tag zu meistern.

Über Nacht hatte der Himmel sich zugezogen. Ein feiner Nieselregen hüllte die kahlen Bäume in einen feuchten Nebel, der durch das undichte Fenster über der Küchenspüle ins Haus hereinzog. Im Haus nebenan rief Mrs. Shaw schrill nach Mr. Shaw, er solle seinen Haferbrei essen kommen. In Corinnes eigener kleinen Küche stach Matthew mürrisch in seine Pfannkuchen und kleckerte mit Sirup.

Corinne übte sich in Geduld, bis Matthew gegessen hatte, bevor sie ihn wegen seines gestrigen Benehmens zur Rede stellte. Wie erwartet, lief es nicht so, wie es sollte.

„Ich muss nicht auf Mrs. Lehman hören“, schmollte er trotzig. „Sie ist nicht meine Mommy. Sie ist doof.“ Er rutschte von dem hohen Hocker. „Ich gehe spielen.“

Corinne hielt ihn fest, bevor er zur Küche hinausrennen konnte. „Du wirst jetzt nicht spielen, junger Mann, sondern mir zuhören. Und dann ziehst du dich an, damit wir zu Mrs. Lehman gehen können. Du wirst dich bei ihr entschuldigen.“

„Nein!“ Er trat nach ihrem Schienbein. „Du bist auch doof!“

Es ist noch nicht neun Uhr, und schon geht der Ärger los, dachte sie frustriert. Als sie Matthew entschlossen in sein Zimmer zurücktrug und wortlos auf den Boden setzte, brach er in Tränen aus und stimmte ein jämmerliches Geheul an. Ausgerechnet jetzt klingelte es an der Tür.

Mit hängenden Schultern ging Corinne, um zu öffnen.

Mrs. Lehman stand auf der Schwelle. Ihr Auge war inzwischen zugeschwollen, der Bluterguss hatte sich dunkelblau gefärbt. „Nein danke, ich komme nicht herein“, lehnte sie Corinnes Einladung ab. „Meine Tochter und ihr Mann holen mich gleich ab, ich werde ihnen mit dem neugeborenen Baby helfen.“

„Wie schön, Mrs. Lehman. Aber Sie hätten doch auch anrufen können. Bei diesem Wetter aus dem Haus zu gehen … Wegen Matthew brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Im Januar läuft das Geschäft immer nur schleppend, ich bin sicher, ich kann …“

„Sehen Sie, genau deshalb kam ich her. Ich werde nicht mehr auf ihn aufpassen können, ich ziehe für immer zu meiner Tochter. Sie liegt mir schon seit Monaten in den Ohren, und hier hält mich nichts, seitdem mein Mann verstorben ist. Das wollte ich Ihnen persönlich sagen. Ich wollte mich bei Ihnen verabschieden, Sie waren immer so nett. Und Ihnen Ihren Schlüssel zurückgeben.“

„Ich verstehe.“ Nur zu deutlich, fügte Corinne in Gedanken hinzu. Der gestrige Abend musste der letzte Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Sie fühlte sich miserabel. „Es tut mir so leid, Mrs. Lehman. Ich habe den Eindruck, als hätte ich Sie vertrieben.“

„Unsinn! Ich denke schon lange darüber nach, was ich mit meinen letzten Jahren anfange, und ehrlich gesagt, selbst wenn ich hier wohnen bliebe, würde ich nicht mehr auf Matthew aufpassen wollen. Ich werde nicht jünger, und ich kann nicht mehr mit ihm mithalten.“ Ein bedrücktes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Sie sollten jetzt besser zu ihm zurückgehen. So, wie es sich anhört, haben Sie wohl schon alle Hände voll mit ihm zu tun.“

Ein Wagen fuhr vor, eine junge Frau stieg aus und sah zu ihnen hinüber. Erschreckt schnappte Mrs. Lehmans Tochter nach Luft, als sie das Gesicht ihrer Mutter sah, bevor sie einen wütenden Blick auf Corinne warf, die sich noch nie im Leben so geschämt hatte.

Die alte Dame umarmte Corinne mit einem traurigen Lächeln. „Auf Wiedersehen, meine Liebe, alles Gute für Sie.“

Corinne verschloss die Haustür und stieg mit einem schweren Seufzer die Treppe zu Matthews Zimmer hinauf. Mittlerweile hatte sich sein Wutanfall gelegt, und er spielte still mit einem Holzzug. Corinne wünschte, sie könnte es dabei belassen und den Vorfall von gestern Abend einfach übergehen. Doch das ging nicht. So jung Matthew auch war, er musste sich für seine Handlungen verantworten. Das war eine Lektion fürs Leben, und wer anderes als seine Mutter sollte sie ihm beibringen?

Es wurde ein schweres Gefecht. Corinne versuchte, geduldig und ruhig zu bleiben. Nichts wirkte, weder Reden noch Ermahnen. Matthew bekam stattdessen einen neuen Wutanfall.

Er brach ihr das Herz mit seinen Tränen und seinem Gebrüll. Was war ihrem kleinen Jungen mit dem sonnigen Gemüt und dem heiteren Wesen nur geschehen?

Sie wusste den Grund. Er brauchte eine Mutter, die ganz für ihn da war, aber dies war ihr nicht möglich. Die Tatsache, dass sie ihr Bestes unter den Umständen leistete, beruhigte nicht ihr schlechtes Gewissen. Irgendetwas musste sich ändern!

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand sah Corinne aus dem Küchenfenster und überdachte ihre Möglichkeiten. Sie könnte zusätzliches Personal einstellen und mehr Zeit mit ihrem Sohn verbringen. Aber gute Leute waren schwer zu finden und nicht billig, und Geld war seit Joes Tod ihr größtes Problem. Seit ihre Kreditwürdigkeit den Bach hinuntergegangen war wegen der Schulden, die er auf den gemeinsamen Konten gemacht hatte. Die Bank hatte die Hypothek gekündigt, und Corinne hatte aus der Neubausiedlung am Stadtrand mit den ruhigen Straßen und den vielen Bäumen, wo junge Familien mit Kindern wohnten, wegziehen müssen. Sie hatte den zuverlässigen Mittelklassewagen gegen einen zwölf Jahre alten Transporter tauschen müssen, der zwar groß genug für den Lieferservice war, bei dem man aber nie sagen konnte, wann er streikte. Sie hatte ihre Ansprüche auf das absolute Minimum herunterschrauben müssen.

Doch obwohl sie diejenige war, die jeden Penny umdrehte, war es Matthew, der den Preis letztendlich zahlen musste.

Wir haben keinen Spaß mehr miteinander. Früher habe ich mit ihm gespielt und ihm vorgesungen, ihn zum Lachen gebracht. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal miteinander gelacht haben, dachte sie.

Früher hatte sie auch andere Dinge getan, dem nächsten Tag erwartungsvoll entgegengesehen und sich über Kleinigkeiten freuen können. Heute wachte sie auf und fragte sich, ob und wie sie den Tag überstehen sollte. Eigentlich lebte sie in ständiger Angst, als würde ein Damoklesschwert über ihr schweben.

Spürte Matthew unbewusst ihre Sorgen und ihre Müdigkeit?

„Unsere Kinder sind unschuldig, wir sind verantwortlich für ihr Wohl“, hatte Raffaello Orsini gestern Abend gesagt …

Allein der Gedanke an ihn schien das Haus mit seiner Gegenwart zu füllen, mit seiner unwiderlegbaren Logik.

„Was ist verkehrt daran, wenn zwei Erwachsene sich zusammentun, um ihren Kindern ein normales Familieleben zu bieten? Meinen Sie nicht, die beiden hätten es verdient?“

Unwillkürlich ging ihr Blick zu dem Umschlag, den sie gestern beim Nachhausekommen auf den Esstisch geworfen hatte. Ihre Füße schienen ein Eigenleben zu entwickeln und trugen sie dorthin. Sie setzte sich, nahm den Umschlag in die Hand und zog die Fotos heraus.

Es waren Aufnahmen von einer Villa. In den Räumen hingen Deckenventilatoren und Vorhänge in Pastellgrau und – blau an den Fenstern. An den Wänden waren Ölgemälde zu sehen, auf den Marmorböden lagen kostbare Teppiche, und die großen Balkone waren mit schmiedeeisernen Balustraden umgeben.

Ein Haus, wie Lindsay es geliebt hatte – es bot viel Platz und war einladend. Eine alte Steinmauer umgrenzte das Grundstück, ein Garten mit bunten Blumenbeeten und üppig grünen Rasenflächen, beschattet von hohen Palmen. Dahinter war das azurblaue Meer zu sehen.

Corinne hob den Blick und sah sich langsam um. Das hier nannte Matthew sein Zuhause. Das Reihenhaus war alt, aber nicht alt genug, um idyllisch zu sein. Die Räume waren klein, die Wände so dünn, dass sie in der Nacht Mr. Shaws Schnarchen hören konnte. Sie dachte an den winzigen Garten, der nicht einmal groß genug für einen Sandkasten war, ganz zu schweigen davon, dass Matthew hier mit seinem Dreirad fahren konnte. Letzten Sommer hatte Mrs. Shaw ein riesiges Theater veranstaltet, als Matthew mit seinem Ball einen ihrer Geranientöpfe zerbrochen hatte.

„Passen Sie in Zukunft gefälligst besser auf Ihr Gör auf!“, hatte sie gefaucht.

Corinne dachte daran, dass er hier keine Spielkameraden hatte. An die ständigen Ermahnungen, keinen Lärm zu machen, um die Nachbarn nicht zu stören. Kleine Jungs mussten Lärm machen. Sie sollten rennen und spielen, bis sie völlig verausgabt und glücklich waren. Doch Matthew konnte sich nicht entfalten, sein Leben war durch Regeln und Verbote eingeschränkt, er verkümmerte wie eine Pflanze ohne Wasser und Licht.

Vielleicht war Lindsays Bitte doch nicht so absurd, wie sie im ersten Moment geglaubt hatte.

Eine geschäftliche Abmachung, einzig und allein zum Wohle der Kinder, so hatte Raffaello Orsini es genannt. Wenn es wirklich nichts mit Gefühlen zu tun hatte, wie er behauptete, konnte es dann funktionieren? Wie würde es sein, wieder neugierig und voller Freude auf den nächsten Tag zu warten, statt nur darauf zu hoffen, dass sie ihn hinter sich brachte?

Bei dieser Frage musste sie stutzen. Kein Wunder, dass Matthew sich derart danebenbenahm. Ihre Einstellung war auf ihn übergegangen. Jetzt bot sich ihr plötzlich die Chance, alles auf einen Schlag zu ändern.

Entsetzt wurde Corinne klar, dass ihre Entschlossenheit, Raffaello Orsinis Vorschlag abzulehnen, bröckelte. Und wie um ihrer Ablehnung den tödlichen Stoß zu versetzen, fiel ein übersehenes Foto aus dem Umschlag. Es war das Porträt eines kleinen Mädchens.

Es war Lindsay wie aus dem Gesicht geschnitten. Das gleiche fröhliche Lachen, die gleichen unternehmungslustigen Augen, selbst die gleichen Grübchen in den Wangen. Nur das Haar war anders, dunkler und dichter.

„Ich vertraue dir meine Tochter an … Ich kann mir niemand Besseren vorstellen als dich, Corinne, um meinen Platz einzunehmen“, hatte Lindsay geschrieben.

Mit der Fingerspitze strich Corinne über die feinen Gesichtszüge auf dem Foto. „Elisabetta“, seufzte sie leise.

Es war ein Seufzer der Kapitulation.

Geduld war noch nie seine Stärke gewesen, zumindest dann nicht, wenn es um geschäftliche Angelegenheiten ging.

Der Vorschlag, den Raffaello Corinne Mallory gestern Abend unterbreitet hatte, war nichts anderes. Welche vernünftige Frau würde nicht erkennen, dass die Vorteile einer solchen Vereinbarung erheblich größer waren als die Nachteile? Doch inzwischen war es vier Uhr nachmittags, und noch immer hatte er keine Antwort.

Er hatte lange genug gewartet!

Raffaello griff zum Telefon, überlegte es sich anders, bestellte stattdessen an der Hotelrezeption einen Wagen und stand eine knappe Stunde später vor Corinnes Reihenhaus.

Dass er der letzte Mensch war, den sie erwartet hatte, wurde offensichtlich, als sie auf sein Klingeln hin die Haustür öffnete.

„Was tun Sie denn hier?“ Sie war so perplex, dass sie die Worte kaum über die Lippen brachte.

„Mir wäre es auch lieber gewesen, ich hätte mir die Mühe sparen können“, erwiderte er prompt. „Aber wie sagt man? Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet eben zum Berg kommen, nicht wahr?“ Er ließ den Blick über ihre schlanke Figur gleiten. „Wobei Sie keineswegs die Ausmaße einer solchen Landmasse haben, doch scheinbar die gleiche Unbeweglichkeit.“

„Es heißt genau andersherum, Mr. Orsini. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muss der Berg zum Propheten kommen. Und wenn Sie nur ein wenig länger gewartet hätten, dann hätten Sie sich die Mühe tatsächlich sparen können.“ Sie wedelte mit einem großen Umschlag vor seinem Gesicht. „Hier ist Ihre Antwort. Als ich das Klingeln hörte, dachte ich, es sei der Kurier.“

„Nun, den können Sie jetzt wieder abbestellen.“

„Ja, das sollte ich wohl besser.“ Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Da Sie nun schon mal hier sind, können Sie auch hereinkommen.“

Ihr Tonfall klang, als hätte sie sich den Feind ins Haus geholt. „Grazie tante.“ Sein Dank triefte vor Sarkasmus.

Sie ging ihm voraus in die Küche und nahm das Telefon zur Hand, als wollte sie ihm Gelegenheit geben, sich umzusehen.

Hinter dem hohen Küchentresen lag vermutlich das Wohnzimmer, eine Terrassentür zeigte auf ein lächerlich kleines Rasenstück hinaus. Das musste der Garten sein, den sie erwähnt hatte. Eine Stehlampe, ein Fernsehtisch, ein Regal, voll gestopft mit Kinderbüchern und Puzzles, ein Zweisitzer und ein Sessel, davor ein niedriger Tisch, eine Spielzeugkiste in einer Ecke – das machte die Einrichtung aus.

Pastellgelbe Wände, ein wertvoller Teppich auf dem Boden und eine Vase mit Narzissen auf dem Tresen verliehen dem Ganzen Wärme und Behaglichkeit, der Duft eines frisch gebackenen Kuchens hing in der Luft. Offensichtlich war sie eine Frau mit Geschmack, die dieses Zimmer so gemütlich wie möglich gestaltet hatte, dennoch wurde sofort klar, wie weit entfernt das hier von seiner Welt war.

Hatte sie sich die Fotos angesehen und war zu der gleichen Überzeugung gelangt? Er wollte schon nach dem Umschlag greifen, um das herauszufinden, doch sie hatte ihren Anruf beendet und schnappte schneller danach.

„Da Sie jetzt hier sind, brauchen wir das wohl nicht mehr und können persönlich darüber reden. Ich habe soeben Tee aufgebrüht. Möchten Sie eine Tasse?“

„Zuerst würde ich gern die Angelegenheit klären. Sollte danach die Gelegenheit bestehen, nehme ich gerne eine Tasse an.“

„Auch gut.“ Corinne räusperte sich. „Ich bin lange in mich gegangen. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, Ihr Angebot anzunehmen.“

In der Geschäftswelt war er berüchtigt für sein Pokerface, für die Fähigkeit, jegliche Regung aus seiner Miene herauszuhalten. Doch ihre wenigen Worte machten es ihm schier unmöglich, seine Gefühle zu verbergen. „Ich hatte eine andere Antwort erwartet“, sagte er.

„Enttäuscht?“

„Nicht enttäuscht, nein. Überrascht.“ Er musterte sie lange, ihre feinen Züge, die langen Wimpern und blauen Augen, das schimmernde Haar. „Gestern Abend, als Sie meine Suite verließen, hatte ich den Eindruck, dass Sie Ihre Meinung nicht ändern würden. Was gab den Ausschlag?“

„Mein Sohn.“ Sie hielt seinem Blick stand. „Ich will offen sein, Mr. Orsini. Bliebe mir eine Möglichkeit, das Angebot abzulehnen, hätte ich es getan. Doch ich habe mir die Fotos angesehen, und Ihnen ist hier wohl genug aufgefallen, um Ihre eigenen Vergleiche zu ziehen. Gestern sagten Sie, es gehe um die Kinder. Sie haben recht. Wenn ich mich verkaufe und Matthew damit ein besseres Leben bieten kann, tue ich es. Dafür werde ich mein Bestes geben, um Ihrer Tochter eine gute Mutter zu sein.“

„Und wie stellen Sie sich Ihre Rolle als Ehefrau vor?“

Sie wurde rot wie ein Teenager, der sich zum ersten Mal einem Mann gegenüber sah, nicht wie eine Mutter und Witwe. „Ich werde mich an alle Ehegelübde halten, wenn Sie das wünschen.“

„Mit anderen Worten, Sie werden Ihre Pflicht erfüllen?“

Sie verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitronenscheibe gebissen. „Ich werde mein Bestes tun. Wenn Sie wünschen, unterzeichne ich auch einen Ehevertrag.“

„Warum sollte ich das von Ihnen verlangen?“

„Als Zeichen meines guten Willens. Ich heirate Sie nicht des Geldes wegen, um gleich darauf die Scheidung einzureichen und eine Abfindung zu ergattern.“

„Ich bin erfreut, das zu hören“, erwiderte er trocken. „Allerdings sollte ich Ihnen wohl sagen, dass eine Scheidung für mich nicht infrage kommt. Also überlegen Sie sich Ihren Schritt ganz genau, bevor Sie sich opfern. Ihr Sohn wird eines Tages alt genug sein und die Hilfe seiner Mutter nicht mehr brauchen. Wenn Sie mich jedoch heiraten, werden Sie meine Ehefrau bleiben, solange wir leben.“

„Ich verstehe. Um ebenso offen zu Ihnen zu sein, halte ich es nur für fair, Ihnen meinen Sohn vorzustellen, bevor Sie eine bindende Zusage machen.“

„Er ist hier?“

„Ja, natürlich. Der Vormittag ist nicht besonders gut verlaufen, also habe ich ihn ins Bett geschickt. Doch wenn ich ihn jetzt nicht aufwecke, wird er heute Abend Schwierigkeiten beim Schlafengehen machen.“

„Ja, ich würde ihn gern kennenlernen.“

Als sich ihre Blicke in diesem Moment trafen, bemerkte Raffaello, wie erschöpft und hilflos Corinne war.

„Sie könnten bereuen, dass Sie uns in Ihr Leben geholt haben“, meinte sie.

Der Junge machte also Schwierigkeiten, und die Mutter war mit ihrer Weisheit am Ende. Verständnis regte sich in ihm, denn er kannte dieses Gefühl nur allzu gut. „Wenn das als Warnung gedacht ist, Corinne, dann sollten Sie wissen, dass ich noch nie vor einer Herausforderung davongelaufen bin.“

„Sie haben Matthew noch nicht kennengelernt.“ Mit einem letzten zweifelnden Blick drehte sie sich um und ging nach oben.

4. KAPITEL

Corinne ging in ihr Schlafzimmer, um den alten Jogginganzug gegen eine schwarze Hose und eine weiße Bluse auszutauschen. Ihre Pantoffel kickte sie in die Ecke und schlüpfte in flache schwarze Schuhe, während sie sich gleichzeitig mit einer Bürste durchs Haar fuhr.

Nebenan konnte sie Matthew hören. Er war also wach und langweilte sich vermutlich. Rasch ging sie in sein Zimmer.

„Wir haben Besuch.“ Hastig wusch sie ihm das Gesicht und zog ihm eine saubere Jeans über. „Benimm dich also, ja?“

Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn nach unten, damit er den Mann kennenlernen konnte, der vielleicht sein Vater werden würde.

Raffaello Orsini saß im Wohnzimmer und blätterte in der Wochenendausgabe der Zeitung, legte sie aber sofort beiseite, als Corinne den Raum betrat.

„Das ist mein Sohn“, sagte sie, und dann: „Begrüß Mr. Orsini, Matthew.“

Einen Moment lang glaubte sie, er würde sich weigern, doch schließlich brachte er ein schüchternes „Hi“ heraus.

Raffaello beugte sich hinunter und schüttelte ernst die kleine Hand. „Ciao, Matthew, es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen.“

Diese Begrüßung von Mann zu Mann brach das Eis. „Rate mal, was? Ich habe einen richtigen Zug“, meinte er zu dem Besucher.

„Tatsächlich?“ Raffaello schien beeindruckt. „Würdest du ihn mir zeigen?“

Von ihrem Posten am Küchentresen beobachtete Corinne, wie Matthew und Raffaello in der Spielzeugkiste kramten, um Lokomotive, Waggons, Gleise, Häuser und eine Brücke herauszuholen und aufzubauen. Verwundert fragte sie sich, was scheinbar alle männlichen Wesen an Zügen derart faszinierte. Raffaello Orsini lag in seinem Anzug, der wahrscheinlich mehr kostete, als sie in sechs Monaten verdiente, auf dem Teppich und baute konzentriert die Brücke zusammen, während Matthew die Waggons ineinanderhakte.

„Wie alt bist du, Matthew?“, hörte sie ihn fragen.

„Vier.“ Er hielt seine Finger hoch. „Und du?“

Corinne war das Benehmen ihres Sohnes peinlich, doch Raffaello zuckte mit keiner Wimper. „Fünfunddreißig.“ Er legte Gleise unter die fertige Brücke. „Das ist uralt, was?“

Matthew betrachte ihn neugierig. „Bist du mein neuer Daddy?“

Raffaello warf einen amüsierten Blick in Corinnes Richtung. „Vielleicht.“

Corinne war klar, dass sie dies hätte voraussehen müssen. Matthew fragte sie oft, warum er keinen Daddy hatte wie andere Kinder, und obwohl sie ihm ebenso oft erklärt hatte, dass sein Daddy gestorben war, konnte er nicht verstehen, warum sie ihm nicht einfach einen neuen besorgte.

Matthew bemerkte die plötzlich angespannte Atmosphäre im Raum nicht, sondern ging zum nächsten Thema über. „Ich mag Pferde.“

„Ich auch“, stimmte Raffaello sofort zu. „Welche magst du am liebsten?“

„Braune. Und schwarze.“

„Eine gute Wahl. Große oder kleine?“

„Große.“

„He, ich auch.“ Raffaello hielt die flache Hand in die Luft, und grinsend schlug Matthew mit der Begeisterung eines Vierjährigen ein. Raffaello sah zu Corinne hinüber. „Sieht aus, als hätten Ihr Sohn und ich viel gemeinsam. Das muss gefeiert werden, meinen Sie nicht auch?“

Corinne war verlegen, denn jetzt war sie am Zug. „Nun, da es für Tee schon ein wenig zu spät ist … Möchten Sie mit uns zu Abend essen?“, schlug sie zögernd vor.

„Ich habe eine bessere Idee.“ Er zauste Matthew durchs Haar und stand auf. „Warum lade ich euch beide nicht zum Essen ein?“

„Danke, aber das ist wirklich nicht nötig. Außerdem gibt es hier in der Nähe nur ein Diner, familien- und kinderfreundlich.“

„Ich bin auch kinderfreundlich, Corinne.“

So schien es, ja. Aber sie bezweifelte, dass er jemals in einem solchen Restaurant gegessen hatte. „Damit meine ich Hochstühle, Kindermenüs und Buntstifte, die ausgeteilt werden, damit man das Platzset ausmalen kann.“

„Können Erwachsene dort auch essen?“

„Natürlich, nur …“

„Na, dann wird man uns beide dort hineinlassen.“

War der Mann eigentlich nie um eine Antwort verlegen? „Fein“, gab sie sich geschlagen. „Aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

Mit der Limousine fuhr der Chauffeur sie die kurze Strecke. Matthew war im siebten Himmel. Der uniformierte Fahrer, der kleine Fernsehschirm, die eingebaute Bar – unablässig stellte er Fragen nach den Dingen, die er in dem alten Transporter noch nie gesehen hatte.

„Die neue Erfahrung hat seine Neugier angestachelt“, meinte Raffaello, als Corinne sich für das Fragenbombardement ihres Sohnes entschuldigte. „Es wäre seltsam, wenn er keine Fragen hätte.“

Am Tisch in dem Diner sah Corinne sich unauffällig um und registrierte den Eindruck, der sich Raffaello bieten musste. Auf Plastikspeisekarten wurden Variationen von Hühnchen, Fischstäbchen, Pommes frites und Hamburgern empfohlen. Ketchup- und Senfflaschen standen auf den Tischen, dazu ein Serviettenhalter mit dünnen Papierservietten. Die Teller waren aus dickem glasiertem Ton, um ungeschickte Kinderfinger zu überdauern, die Gläser glanzlos, weil sie zu oft durch die Spülmaschine gelaufen waren.

Und dann war da zu allem Überfluss die mütterliche Bedienung, die leutselig fragte: „Na, was darfs denn für euch sein, ihr Lieben?“

Raffaello blieb völlig gelassen, so als ginge er jeden Tag in ein lautes Diner mit Plastikpolstern auf den Bänken, bestelle Hamburger und male mit kleinen Jungs auf papiernen Platzsets.

Das Ganze war irgendwie unwirklich. Da saß ein weltgewandter italienischer Firmenmogul in einem Maßanzug, tunkte Pommes frites in Ketchup und wirkte dabei noch so, als würde es ihm Spaß machen. Und Corinne? Wie kam sie dazu, auch nur die Möglichkeit ins Auge zu fassen, einen solchen Mann zu heiraten? Und dann … Wie lange würde Matthew sich noch von seiner besten Seite zeigen, bevor er den nächsten Wutanfall bekam?

Schon jetzt begann der Junge unruhig auf seinem Stuhl zu rutschen. Raffaello entging dies nicht.

„Er hat wohl genug. Da wir mit dem Essen fertig sind, sollten wir gehen.“

Innerhalb kürzester Zeit hatte Raffaello die Bedienung herangewinkt, die Rechnung beglichen und führte Corinne und Matthew durch den Nieselregen hastig zu der wartenden Limousine. „Dieses Wetter“, knurrte er, während er den beiden in die Wärme und den Schutz des Wagens half, „ist unzivilisiert.“

Uns halten Sie sicher auch für unzivilisiert, hätte Corinne fast gesagt. Matthew begann lautstark zu quengeln, weil ihn die Glasscheibe daran hinderte, von der Rückbank nach vorn auf den Beifahrersitz zu klettern. Er patschte mit den flachen Händen gegen die Scheibe und hinterließ fettige Fingerabdrücke.

„Sie müssen entschuldigen“, murmelte Corinne, als es ihr endlich gelungen war, den trotzigen Jungen sicher anzugurten.

Mit einer lässigen Geste tat Raffaello ihre verlegene Entschuldigung als unnötig ab. „Entspannen Sie sich, es ist ja nichts passiert.“

„Ich kann mich nicht entspannen“, gestand sie. „Ich wünsche mir, dass Sie ihn mögen.“

„Was gibt es an dem Jungen nicht zu mögen? Er will die Welt entdecken, so wie jeder kleine Junge. Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn er es nicht täte.“

Doch als sie vor dem Reihenhaus ankamen, strafte sein Verhalten seine Worte Lügen. Obwohl er sie bis zur Haustür begleitete und sogar Matthew trug, der sich beharrlich geweigert hatte, das kurze Stück zu laufen, lehnte er Corinnes Einladung ab, noch auf ein Stück Kuchen mit hineinzukommen.

Grazie, aber ich habe vor der Rückreise nach Sizilien noch eine Menge zu erledigen.“ Er küsste Corinne auf beide Wangen und eilte durch den nasskalten Abend davon zur Limousine, als könne er gar nicht schnell genug wegkommen.

Und jetzt? Verwirrt starrte Corinne ihm nach. Galt die Abmachung nun oder nicht? Hatte sie vielleicht irgendeinen geheimen Test nicht bestanden und sich als unpassende Ehefrau und Ersatzmutter erwiesen?

Raffaello meldete sich nicht am nächsten Tag und auch am übernächsten nicht. Corinne wusste nicht, ob sie erleichtert oder beleidigt sein sollte. Sie bemühte sich, ihre Gedanken an ihn zu verdrängen. Vermutlich war diese ganze Idee mit der Heirat von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Sie konnte von Glück sagen, dass Raffaello rechtzeitig zur Vernunft gekommen war. Und wenn sie eine gewisse Enttäuschung verspürte, so lag es an dem Funken Interesse, den dieser Mann in ihr geweckt hatte. Es war lange her, seit einem Mann das gelungen war. Offensichtlich zu lange, denn warum kostete sie es so große Anstrengungen, nicht mehr an ihn zu denken?

Als sie schon fest damit rechnete, ihn nie wiederzusehen, tauchte er mitten in einem Schneesturm drei Tage nach seinem ersten Besuch wieder auf. Immerhin hatte er sich vorher telefonisch angekündigt, sodass Corinne vorbereitet war.

Ciao“, grüßte er, brachte die Januarkälte mit ins Haus und hauchte zwei flüchtige Küsse auf ihre Wangen. „Ich habe das hier mitgebracht.“ „Das hier“ war eine Flasche des erlesensten Champagners.

„Wozu?“

„Um unsere Abmachung zu besiegeln und unsere bevorstehende Hochzeit zu feiern.“

Die Begeisterung, die in ihr aufflammte, war höchst ärgerlich. Corinne musste sich zwingen, gelassen zu bleiben. „Ich dachte schon, Sie würden den Deal vergessen und nach Sizilien zurückkehren.“

„Ohne Sie und Ihren Sohn?“, fragte er verständnislos. „Wie kommen Sie darauf? Wir hatten uns doch bereits geeinigt.“

„Ja, natürlich, aber … Nach Ihrem letzten Besuch sind Sie gegangen, ohne etwas Definitives zu sagen. Ich hatte den Eindruck, dass wir nicht länger zu Ihren Plänen gehören, da Sie so hastig davongerannt sind.“

„Ich habe die Bedingungen unserer Vereinbarung von einem Anwalt aufsetzen lassen, und ich habe alles arrangiert, damit Sie ein entsprechendes Willkommen in meinem Heim erwartet.“

Das Hochgefühl sank so schnell, wie es in ihr aufgestiegen war. „Also haben Sie doch beschlossen, sich durch einen Ehevertrag zu schützen?“

„Nein.“ Er folgte ihr in den Wohnraum und legte eine Aktenmappe auf den Küchentresen. „Ich habe beschlossen, Sie und Ihren Sohn zu schützen, sollte der Fall eintreten, dass Sie zum zweiten Mal Witwe werden. Lesen Sie es, wenn Sie mir nicht glauben.“

Corinne schluckte. „Ich verstehe.“

„Das hoffe ich.“ Er blickte sie mit seinen grauen Augen durchdringend an. „Unsere Ehe entspricht sicherlich nicht der Norm, dennoch ist gegenseitiges Vertrauen unerlässlich, wenn sie ein Erfolg werden soll. Ich bin kein Mann, der sein einmal gegebenes Wort bricht. Darauf können Sie sich verlassen, ganz gleich, was Sie vielleicht sonst an mir zu bemäkeln haben.“

Seine ruhigen und offenen Worte beschämten sie. Nicht jeder war so verantwortungslos und leichtsinnig wie ihr verstorbener Ehemann. „Ich glaube Ihnen, Raffaello. Nach allem, was Lindsay mir von Ihnen erzählt hat, weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann. Täte ich das nicht, würde ich Matthews Zukunft nicht in Ihre Hände legen. Sie sagten, dass unsere Kinder unschuldig und wir für ihr Wohl verantwortlich sind. Je länger ich über Ihre Worte nachdachte, desto klarer wurde mir, wie recht Sie haben. Das ist der ausschlaggebende Grund, weshalb ich meine Meinung geändert habe.“

„Warum zweifeln Sie dann plötzlich an mir?“

„Als mein Mann starb und ich mich mit einem Baby allein wiederfand, habe ich mir vorgenommen, mich nie wieder auf andere zu verlassen, nur noch auf mich selbst. Von da an sollte es nur Matthew und mich geben. Ich schwor, nie etwas zu tun, das die Zukunft und das Glück meines Sohnes gefährden könnte. Dann tauchten Sie auf, und über Nacht traf ich die Entscheidung, unser Leben mit Ihnen zu teilen.

Doch dann vergingen zwei Tage ohne ein Wort von Ihnen, und mir wurde klar, dass ich beinahe mein Versprechen gebrochen und Matthews Zukunft riskiert hätte.“

„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen unnötige Sorgen bereitet habe, das war nie meine Absicht.“ Raffaello kam zu ihr und nahm ihre Hände in seine. „Was immer die Zukunft bringen mag, ich gebe Ihnen mein Wort, dass weder Sie noch Ihr Sohn jemals unter unserer Ehe leiden werden.“

Seine Hände waren kalt, und doch erfüllte seine Berührung sie mit Wärme. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich je so geborgen und sicher gefühlt zu haben. „Ich werde mein Bestes tun, damit Sie dieses Versprechen nie bereuen müssen“, fügte er hinzu.

„Also haben wir einen Deal?“

„Ja, wir haben einen Deal.“

Sie hätte erwartet, dass er ihre Hände loslassen würde, doch stattdessen zog er sie leicht zu sich heran und besiegelte die Abmachung mit einem flüchtigen Kuss auf ihre Lippen.

Der Stromschlag, der sie durchfuhr, ließ Corinne zurückweichen. „Was kommt jetzt?“

„Jetzt sollten Sie den Vertrag lesen, bevor Sie ihn unterschreiben. Wenn Sie irgendwelche Anmerkungen machen wollen oder Fragen haben, dann ist jetzt noch Zeit, um alles zu klären.“

Er hatte natürlich recht. Nur weil ihr Körper auf eine flüchtige Berührung derart unmöglich reagierte, durfte sie ihren Verstand nicht völlig ausschalten.

Das zweiseitige Dokument hätte klarer und verständlicher nicht sein können. Mit ihrer Unterschrift würde sie zustimmen, schnellstmöglich nach Sizilien zu ziehen. Beide Parteien erhielten das Sorgerecht für die beiden Kinder. Sollte Raffaello sterben, ging eine Hälfte seines Vermögens an seine Tochter, die andere Hälfte an Corinne. Nach Corinnes Tod würde Matthew ihre Hälfte erben. Falls einer von ihnen starb, bevor die Kinder volljährig waren, würde der andere sich um beide Kinder kümmern und den gleichen Standard erhalten, den die Kinder bis dahin gewöhnt waren. Sollten beide Elternteile versterben, bevor die Kinder volljährig waren, würde ein legal eingesetzter Vormund, den beide Parteien übereinstimmend gewählt hatten, das Vermögen verwalten.

„Nun?“, fragte Raffaello, als Corinne den Vertrag durchgelesen hatte.

„Ihre Großzügigkeit ist überwältigend. Falls ich überhaupt einen Einwand habe, dann den, dass ich von meiner Seite nicht genügend in die Vereinbarung einbringe.“

„Sie erfüllen den letzten Wunsch meiner Frau. Das reicht, um mich zufriedenzustellen.“

„Meine Frau“, hatte er gesagt. Corinnes Mut sank ein wenig, während sie ihren Namen auf die gestrichelte Linie zeichnete. Wie würde er sie nennen, wenn sie verheiratet waren? Meine Ersatz-Gattin? Meine Statisten-Ehefrau?

„Jetzt, da das Geschäftliche erledigt ist …“ Er entkorkte die Flasche, die er mitgebracht hatte. „Wo bewahren Sie Ihre Champagnerflöten auf?“

Sie hatte tatsächlich zwei, auch wenn diese weder besonders fein noch elegant waren. Falls es Raffaello auffiel, so ließ er sich nichts anmerken. „Auf die Zukunft!“, meinte er, während er leise mit seinem Glas an ihres stieß.

„Und auf unsere Kinder“, ergänzte sie den Toast. „Denn um sie geht es ja.“ Sie lud ihn ein, sich auf das Sofa neben dem offenen Kamin zu setzen. „Wie geht es jetzt weiter?“

„Morgen werde ich das Aufgebot einholen. Die Ehe sollte so bald wie möglich geschlossen werden, auf jeden Fall innerhalb einer Woche.“

„Das geht nicht!“, rief sie aus. „In einer Woche kann ich unmöglich alles erledigen. Ich muss die Sache mit meinem Geschäft regeln, unsere Sachen packen, mich mit dem Vermieter in Verbindung setzen …“

„Unwichtige Details, Corinne. Sie müssen sich um nichts anderes kümmern als darum, was Sie mit nach Sizilien nehmen wollen. Alles andere überlassen Sie mir.“

„Aber …“

„Sie werden sicher verstehen, dass ich Elisabetta nicht länger allein lassen will als unbedingt nötig.“

„Natürlich.“ Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Wäre die Situation andersherum gewesen, hätte sie ebenfalls darauf bestanden, so schnell wie möglich zu Matthew zurückzukommen. Trotzdem … Eine Woche reichte bestimmt nicht, um alles zu erledigen.

Raffaello konnte die Zweifel auf ihrer Miene sehen. Sanft strich er ihr über die Wange. „Vertrauen Sie mir, cara mia.“

„Das tue ich“, erwiderte sie, während sie erstaunt darüber war, dass sie es tatsächlich ernst meinte. „Ich bin es nur nicht gewöhnt, dass sich jemand um mich kümmert.“

„Dann gewöhnen Sie sich daran. Das ist mein Hochzeitsgeschenk an Sie.“ Er lächelte. „Sie runzeln noch immer die Stirn. Glauben Sie mir etwa nicht?“

„Nein. Mir ist nur gerade etwas eingefallen, das wir übersehen haben. Matthew sollte im nächsten Jahr eingeschult werden. In Sizilien wird das wohl nicht möglich sein. Er spricht ja die Sprache nicht.“

„Kein Grund zur Sorge. Elisabetta wird von ihrer Gouvernante in Englisch und Italienisch unterrichtet. Matthew wird hervorragend dazupassen, bis Weihnachten kann er fließend Italienisch. Also haben Sie andere Gründe anzuführen, die unsere Heirat aufschieben könnten?“

„Nein“, antwortete sie. „Keinen einzigen.“

Danach wickelte sich alles in rasantem Tempo ab. Corinne erkannte sehr schnell, dass Raffaello ein Mann war, der sich von Hindernissen grundsätzlich nicht aufhalten ließ. Innerhalb kürzester Zeit hatte er mit ihrem Vermieter geredet, ihre Schulden beglichen und ein Zwei-Mann-Team in ihr Haus geschickt, das ihre Habseligkeiten professionell für den Umzug verpackte. Für die Übernahme ihres Partyservices hatten sich drei Frauen gemeldet, die das Geschäft gemeinsam weiterführen wollten. Sie kauften ihr die gesamte Ausrüstung ab, inklusive vorhandener Vorräte.

Und so wurde aus Corinne, zehn Tage nach dem ersten Treffen mit Raffaello, um zwanzig nach zehn am Morgen vor dem Standesbeamten in Vancouver Mrs. Raffaello Orsini. Am gleichen Tag, um viertel vor drei am Nachmittag, bestieg sie mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn eine Air Canada – Maschine nach Rom, um ihr neues Leben zu beginnen.

5. KAPITEL

Die Fotos von Raffaellos Zuhause hatten die Wirklichkeit nicht eingefangen. Die Villa di Cascata war einfach atemberaubend. Riesengroß und luxuriös, hätte sie als königliche Residenz herhalten können. Nach der Reise hätte Corinne so etwas erwarten müssen. Erste Klasse von Vancouver nach Rom, dann weiter mit einer firmeneigenen Maschine nach Sizilien, wo ein Privatflughafen in die Landschaft gebaut worden war. Dadurch hätte sie vorgewarnt sein müssen, nun eine Welt zu betreten, die mit der ihr bekannten absolut nichts gemein hatte.

Wie um diese Tatsache zu untermauern, warteten Malvolia Orsini, Raffaellos Mutter, und Leonora Pacenzia, seine Tante, in der großen Eingangshalle und begrüßten sie mit den Worten: „Willkommen, wir freuen uns, Sie kennenzulernen.“ Höfliche Worte, in nahezu akzentfreiem Englisch gesprochen und doch bar jeglicher Herzlichkeit und Wärme. Wer sollte es den beiden auch verübeln, wenn sie die Fremde, die so abrupt in ihrer Mitte auftauchte, für eine skrupellose Mitgiftjägerin hielten? Corinne hatte sich diese Anschuldigung in der letzte Woche mindestens hundertmal selbst in Gedanken vorgeworfen.

Neben diesen beiden Frauen fühlte sie sich nichtswürdig, plump und tölpelhaft. Das taubengraue Kostüm, das ihr vorgestern noch perfekt für die Trauung erschienen war, kam ihr nun billig und unelegant vor im Vergleich zu dem klassischen schwarzen Designerkleid ihrer Schwiegermutter. Die Nasenflügel der Frau bebten missbilligend, als sie die dunklen Augen auf die Flecken richtete, die Matthews verklebte Hände auf Corinnes Rock hinterlassen hatten.

Versuch du mal, fünfzehn Stunden lang mit einem Vierjährigen auf beschränktem Raum flecken- und knitterfrei zu bleiben, dachte Corinne bissig.

Endlich riss Malvolia ihre Augen von dem unappetitlichen Anblick los und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Matthew. „Und wer ist dieser gut aussehende junge Mann?“

„Mein Sohn.“ Es war Corinne unmöglich, den kampfbereiten Ton in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sollte diese Frau Matthew geringschätzig behandeln, würde sie für nichts garantieren.

Doch welche Meinung auch immer Malvolia Orsini über die neue Ehefrau ihres Sohnes hegen mochte, an der Begrüßung, die Matthew galt, gab es nicht das Geringste auszusetzen.

Sie beugte das aristokratisch gerade Rückgrat und streckte beide Arme aus. „Ciao, kleiner Mann. Kommst du her und sagst mir deinen Namen?“

Kleiner Verräter, dachte Corinne wütend, als ihr Sohn sofort auf sie zuging und sich umarmen ließ. „Ich heiße Matthew. Und wie heißt du?“, fragte er.

„Ich bin Signora Orsini.“

„Bist du mein neuer Babysitter?“

„Nein.“ Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. „Ich bin deine neue Großmutter, du kannst mich also Nonna nennen. Und das ist deine neue Großtante“, sie deutete auf ihre Schwester neben sich. „Zia Leonora.“

Die sympathischere Schwester umarmte Matthew ebenfalls und sah zu Corinne. „Sie haben einen wunderbaren Sohn, signora.“

„Da stimme ich Ihnen zu“, meinte Corinne.

„Irgendwo hier muss auch noch eine Tochter von mir sein“, mischte Raffaello sich jetzt ein. Er legte den Arm um Corinnes Taille. „Warum ist sie nicht bei euch, damit sie ihren neuen Stiefbruder kennenlernen kann?“

„Ich habe sie mit Lucinda zu den Ställen geschickt. Lorenzo hat versprochen, ihr eine Reitstunde zu geben.“

„Warum ausgerechnet jetzt, Mutter? Du wusstest, wann wir ankommen, und konntest dir auch denken, dass ich sie unseren neuen Familienmitgliedern vorstellen wollte.“

Unmerklich reckte Malvolia die Schultern. „Ich dachte mir, es sei besser, wenn … deine Frau nicht direkt bei ihrer Ankunft von zu vielen neuen Gesichtern überwältigt wird.“ Der Tonfall, mit dem Malvolia das „deine Frau“ aussprach, machte klar, dass sie Corinne für einen Parvenü hielt, der nicht den Anspruch hatte, den Vordereingang zu benutzen, wenn es doch hinter dem Haus einen Lieferanteneingang gab, der extra für das Personal bestimmt war. „Sie möchten sich sicher frisch machen, bevor Sie Elisabetta treffen. Nicht wahr, signora?“

„Danke für Ihre Umsicht“, erwiderte Corinne überhöflich. „Ja, ich möchte mich wirklich gern frisch machen.“

„Natürlich.“ Mit einem majestätischen kleinen Nicken holte Malvolia zum vernichtenden Schlag aus. „Schließlich ist der erste Eindruck immer der bleibende.“

Nach dieser unverhohlenen Beleidigung hätte Corinne fast die Nerven verloren. Dabei hatte sie schon früh gelernt, dass Tränen einem nichts anderes als geschwollene Augen und eine rote Nase einbrachten. Hindernisse räumte man nur aus dem Weg, indem man gegen sie anging. Doch im Moment war ihr nicht nach Kämpfen zumute, denn sie fühlte sich völlig erschöpft. Seit Donnerstag hatte sie kaum ein Auge zugetan. Und nicht nur das. Trotz all der Schwierigkeiten in ihrem Leben, trotz des kleinen Hauses, das in Malvolia Orsinis Augen wahrscheinlich nicht einmal die Bezeichnung „Haus“ verdiente … Es war ihr Zuhause gewesen, und sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen.

Während diese Villa hier …

Corinne ließ den Blick umherschweifen und nahm ihre Umgebung zum ersten Mal bewusst wahr – die breite geschwungene Marmortreppe, die hohe Glaskuppel über der Halle, die dezent beleuchteten Nischen, in denen Kunstgegenstände auf hohen Sockeln standen. Diese Villa strahlte Geschmack und Reichtum aus, doch Corinne konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals inmitten dieser Pracht heimisch fühlen würde.

Leonora musste wohl bemerkt haben, dass Corinne kurz davor war, die Fassung zu verlieren. „Venite, signora, ich zeige Ihnen Ihre Zimmer.“

„Tu das, ich passe derweil auf den Kleinen auf.“ Besitz-ergreifend legte Malvolia ihre Hände auf Matthews Schultern. „Er wird es gut bei mir haben, signora.“

Zu jeder anderen Zeit hätte Corinne wahrscheinlich widersprochen, doch im Moment klammerte sie sich mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden an die Gelegenheit, dem kühlen, abschätzigen Blick ihrer Schwiegermutter zu entkommen.

Raffaello sah den beiden nach. Corinnes steifer Rücken und die gereckten Schultern entgingen ihm nicht, auch nicht die eckigen Bewegungen, mit denen sie die Treppe hinaufstieg. Im Verlauf der gesamten Reise war sie ebenso angespannt gewesen. Während Matthew sich auf ihrem Schoß zusammengerollt und, seinen Teddybären fest in den Arm geklemmt, geschlafen hatte, saß Corinne die ganze Zeit kerzengerade in dem Sitz und starrte mit leerem Blick vor sich hin.

Leer war ihr Blick jetzt allerdings nicht, als sie Leonora folgte, sondern regelrecht verzweifelt. Raffaello wusste auch, warum. Er klingelte nach dem Hausmädchen, übergab Matthew dessen Aufsicht und geleitete seine Mutter am Ellbogen in den Salon.

„Ich hoffte, du hättest dich inzwischen mit meinen neuen Lebensumständen angefreundet, Mutter. Da das allerdings nicht der Fall ist, werden wir jetzt also zu einer Einigung kommen müssen, wie dein Verhalten gegenüber meiner Familie aussehen wird. Du magst nicht einverstanden sein, aber …“

„Natürlich bin ich nicht einverstanden!“, rief sie aus und riss ihren Arm los. „Uns mitzuteilen, dass du um die halbe Welt fliegen und eine fremde Frau überzeugen willst, deine Ehefrau und die Stiefmutter deiner Tochter zu werden, war schockierend genug. Doch ich hielt es für einen Impuls, weil du Lindsay so sehr verehrt hast. Ich hätte niemals erwartet, dass du es wahr machst. Ich rechnete damit, du würdest wieder zur Vernunft kommen, bevor es zu spät ist und Schaden angerichtet wird.“

„Dann hast du meine Entschlossenheit wohl unterschätzt. Schließlich weißt du jetzt, dass wir geheiratet haben.“

„Glaubst du wirklich, mich überzeugen können, dass du das Richtige getan hast, indem du mich vor vollendete Tatsachen stellst und diese Fremde hierherbringst?“

„Diese Fremde, von der du da sprichst, ist meine Ehefrau.“

„So nennst du sie also?“, fragte Malvolia giftig. „‚Souvenir‘ ist die passendere Bezeichnung. Du kennst sie doch erst seit einer Woche.“

„Dann rate ich dir dringend, deine Denkweise zu ändern.“ Er machte sich nicht die Mühe, seine Verärgerung zu verbergen. „Ob es dir gefällt oder nicht, Corinne wird hier leben. Ich gestatte nicht, dass du sie respektlos behandelst.“

Seine Mutter schnaubte abfällig. „Als Nächstes wirst du mir erzählen, es sei eine Liebesheirat.“

„Keineswegs. Es ist eine Vereinbarung, die einzig und allein zum Wohle unserer Kinder getroffen wurde.“

„Und zu ihrem Wohl!“, erwiderte sie scharf. „Oder willst du behaupten, sie sei eine finanziell unabhängige Frau, der dein Geld egal ist?“

„Nein, aber ich möchte dich daran erinnern, dass du bei Lindsay ebenso reagiert hast. Doch zum Schluss hast du um sie getrauert wie jeder andere.“

„Lindsay hat dich angebetet, und du hast sie angebetet. Sie hat dir eine Tochter geschenkt und mir eine Enkelin. Was bringt diese neue Ehefrau mit, außer der Gier nach Luxus und finanzieller Absicherung?“

„Das geht nur sie und mich etwas an.“

Malvolia ließ sich auf ihren Lieblingssessel am Kamin sinken. „Wenn du unbedingt eine Ehefrau brauchtest, Raffaello … Ich kenne mindestens ein Dutzend Frauen hier auf Sizilien, Frauen von Rang und Namen, die alle mehr als glücklich gewesen wären, sich Signora Orsini nennen zu dürfen. Stattdessen bringst du eine Fremde ins Haus. Was ist so besonders an ihr?“

„Sie kannte und liebte Lindsay, und sie wird Elisabetta eine gute Mutter sein.“

Malvolia stieß einen entrüsteten Schrei aus. „Wo bleiben deine Tante und ich in dieser neuen Ordnung? Haben wir unsere Schuldigkeit getan und werden jetzt abgeschoben?“

„Ich würde nur ungern zu solch extremen Maßnahmen greifen müssen.“ Raffaello warf seiner Mutter einen vielsagenden Blick zu. „Du wirst immer Elisabettas geliebte Großmutter bleiben und Leonora ihre Großtante. Ich denke, dass Corinne hofft, ihr beide werdet ihren Sohn ins Herz schließen.“

Als er Matthew erwähnte, wurde ihre Miene weicher. „Ein einnehmender kleiner Bursche, das muss ich zugeben. Er blickt einem ohne Angst in die Augen. Es wird Elisabetta guttun, einen gleichaltrigen Spielkameraden zu haben. Manchmal fürchte ich, sie verbringt zu viel Zeit in der Gesellschaft alter Frauen.“

„Also sind wir uns einig?“

Seine Mutter seufzte. „Ja. Ich entschuldige mich für meine Bemerkungen. Ich war zu hart und habe nur nach Fehlern gesucht. Aber ich sorge mich um dich, mein Sohn. Diese Frau macht einen passablen Eindruck, aber was weißt du wirklich von ihr?“

„So viel ich wissen muss. Ich dachte, du würdest mich gut genug kennen, um meinem Urteil zu vertrauen. Ich dachte, ich könnte auf deine Unterstützung hoffen.“

„Das kannst du, Raffaello. Ich bin immer auf deiner Seite.“ Noch ein schwerer Seufzer. „Was letztendlich heißt, ich bin auch auf ihrer Seite.“

„Danke, Mutter.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und ging, um Corinne zu suchen.

Raffaello fand Corinne regungslos mitten im Salon ihrer gemeinsamen Suite stehen. Er trat zu ihr und drehte ihren Kopf leicht am Kinn zu sich. „Was ist, Corinne?“

„Ich versuche zu begreifen, warum ich hier bin.“

„Wo sonst solltest du sein, cara mia? Das hier ist dein Zuhause.“

„Nein, Raffaello“, entgegnete sie, während Tränen in ihren Augen schimmerten. „Es ist dein Zuhause. Meines wird es nie sein.“

„Wenn du damit auf die unfreundliche Begrüßung meiner Mutter anspielst …“

„Sie hat doch nur die Wahrheit gesagt – ich gehöre nicht hierher.“

„Aber natürlich tust du das. Du bist meine Frau.“

„Nenn mich, wie du willst. Es ändert nichts daran, dass ich hier fehl am Platze bin. Ich passe nicht in diese Umgebung.“

„Im Gegenteil, du verbindest die Vergangenheit mit der Zukunft. Erinnere dich … Hier geht es nicht um uns, erst recht nicht um meine Mutter oder meine Tante. Wir haben wegen Matthew und Elisabetta geheiratet.“ Wie um sein Argument zu untermauern, erschallte aus dem Garten Kinderlachen. „Die sich offensichtlich soeben getroffen haben und auf Anhieb prächtig verstehen.“ Er nahm Corinne bei der Hand und geleitete sie durch die großen Flügeltüren hinaus auf die Veranda, die um das gesamte Haus herumführte.

Weiter hinten auf dem Rasen spielten Elisabetta und Matthew mit einem kleinen Hündchen, einem Welpen aus dem Wurf, der vor ein paar Wochen im Stall zur Welt gekommen war.

„Schau nur, Corinne, sie sind schon Freunde geworden. Sieh dir deinen Sohn an, und dann sage mir, dass es ein Fehler war, ihn hierherzubringen.“

Sie lehnte sich gegen die schmiedeeiserne Balustrade und schaute hinunter zu den Kindern. Die Anspannung auf ihrem Gesicht ließ etwas nach, als sie ihren Sohn beobachtete, der voller Energie und Lebenslust über den Rasen tobte. „Ich habe ihn lange nicht mehr so ausgelassen gesehen“, gestand sie lächelnd.

„Warum zweifelst du dann immer noch? Oder bin ich ein derart abstoßender Ehemann, dass nichts dich überzeugen kann?“

Gequält blickte sie ihn an. „Es liegt nicht an dir, sondern allein an mir. Dreh und wende es, wie du willst, aber es ist Tatsache, dass ich mehr Vorteile aus unserer Abmachung ziehe.“

„Du redest von materiellen Dingen, aber …“

„Natürlich!“ Sie lachte ungläubig auf. „Sieh dich doch nur um, Herrgott! Mein ganzes Haus würde in diese Suite passen.“ Mit einer umfassenden Geste zeigte sie auf die Sofas und Sessel, den Schreitisch, die Lampen, die Gemälde. Accessoires, die in seinen Augen kaum Beachtung verdienten. „Du hast mich in eine Welt des Luxus eingeführt, von der ich nicht einmal wusste, dass sie existiert.“

„Ich habe dir nie verschwiegen, dass ich reich bin, Corinne. Aber wir beide haben einander so akzeptiert, wie wir sind. Dafür lässt sich kein Preis veranschlagen. Vermögen und Reichtum haben nie eine Rolle zwischen uns gespielt, also denke nicht mehr daran und lass mich dir deine Stieftochter vorstellen.“

Nach einem kurzen Moment nickte Corinne. „Ja, gern. Aber deine Mutter hat recht, ich sollte mich erst etwas herrichten. Und Raffaello … Danke.“

„Wofür?“

„Dass du dir die Zeit genommen hast, mich aufzumuntern. Und mir wieder in Erinnerung zu rufen, warum wir geheiratet haben.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Dass du bist, wie du bist.“

Ihr Lächeln berührte ihn, und er zog sie zu sich heran. „Mit einer traditionellen Heirat hatte das gestern nicht viel zu tun – keine Hochzeitstorte, kein erster Tanz. Über die Schwelle habe ich dich auch nicht getragen. Aber zumindest das kann ich jetzt tun.“

Er beugte seinen Kopf und küsste sie. Zart und sanft, nicht drängend oder leidenschaftlich. Mit dem Kuss wollte er Corinne versichern, dass sie sich immer auf ihn verlassen könnte.

Was er allerdings überhaupt nicht vorausgesehen hatte, war die Wirkung ihrer Nähe auf ihn. Was ruhig und sacht hatte sein sollen, wurde gierig. Unbeherrscht. Heiß, verlangend und sinnlich.

Er war kein Heiliger. Seine sexuelle Lust war nicht mit Lindsay gestorben. Nach ihrem Tod hatte er seine körperlichen Bedürfnisse mit Frauen befriedigt, die nichts von ihm verlangten außer einer Nacht gemeinsamen Vergnügens. Diese Frauen hatten ihn nie wirklich berührt, nicht seine Seele, nicht sein Herz. Sie hatten nie den Beschützerinstinkt in ihm geweckt. In dem Moment, da er sie verließ, erinnerte er sich kaum noch an ihre Namen. Was ihnen durchaus recht war. Diese Frauen waren erfahren genug, um die Regeln des Spiels zu kennen und sich daran zu halten.

Corinne zu küssen hätte nicht viel anders sein sollen. Idealerweise hätten sie beide den Moment genossen, ihn vielleicht als erste Stufe hin zu einer intimeren Nähe angesehen. Schließlich waren sie Mann und Frau, und Raffaello hatte nicht vor, sein Ehegelübde zu brechen. Doch Corinne hatte mit ihrer Verletzlichkeit sein Herz berührt, was ihm nicht passte. Auch wenn sein Körper die natürliche Reaktion zeigte, so hätte sein Verstand sich nicht von Emotionen benebeln lassen dürfen. Es war nicht diese Art von Ehe zwischen ihnen.

Offensichtlich stimmte sie da mit ihm überein, denn ihre Reaktion war noch heftiger als seine, wenn auch wohl aus weit weniger schmeichelhaften Gründen. Entsetzt schnappte sie nach Luft und stieß ihn von sich. „Was war das?“ Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Eine Fehleinschätzung meinerseits“, antwortete er tonlos. „Es hat keine Bedeutung und ist auch kein Verrat an den Menschen, mit denen wir verheiratet waren. Du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen.“

Stumm starrte sie ihn an, die blauen Augen vor Schock und Schmerz weit aufgerissen.

„Vergiss es einfach, Corinne.“ Er zog ein blütenweißes Taschentuch aus der Tasche und tupfte ihr die Tränen von den Wangen. „Tu, als wäre es nie passiert. Du sagtest, du wolltest dich frisch machen, bevor du Elisabetta kennenlernst.“

„Ja.“ Noch immer blickten ihre Augen unruhig. „Wo kann ich mir das Gesicht waschen?“

„Die Bäder liegen dort, hinter dem Schlafzimmer.“ Er zeigte auf eine Tür. „Deines ist das linke. Warum nimmst du nicht ein heißes Bad und ruhst dich ein wenig aus? Dir bleibt genügend Zeit, um dich fürs Dinner zurechtzumachen. Wir treffen uns immer um halb acht für den Aperitif.“

„Aber Matthew …“

„Ist in guten Händen und hat zu viel Spaß, um dich zu vermissen. Die letzten Tage waren anstrengend, Corinne.

Warum tust du dir nicht einen Gefallen und lässt andere für eine Weile übernehmen? In den kommenden Wochen werden wir genug Gelegenheit haben, uns an den Alltag zu gewöhnen. Gönne dir die nächsten zwei Stunden und tu etwas für dich selbst. Denk nur an dich.“

Wie sollte sie an sich selbst denken, wenn ihre Welt innerhalb von Sekunden komplett aus den Angeln gehoben worden war?

Raffaello war galant genug, um die Schuld für das Geschehene auf sich zu nehmen, dabei lag die Verantwortung allein bei ihr, auch wenn es nicht geplant gewesen war. Er mochte es vergessen können, sie nicht.

Bis auf zwei Gelegenheiten – am Abend, als sie die Vereinbarung unterzeichnet hatten, und nach der Trauung – hatte er sie immer nur auf die Wangen geküsst, wie es in Europa üblich war. Als er vorhin den Kopf vorbeugte, da hatte sie nichts anderes erwartet und ihm ihr Gesicht entgegengehoben.

Doch irgendetwas lief aus dem Ruder, und bevor sie wusste, wie und warum, lagen ihre Lippen plötzlich auf seinem Mund. Es war der Funke, der ein Inferno entfachte.

Ihrer beider Lippen schienen miteinander verschmolzen zu sein. Corinne hatte nicht mehr atmen können, ihre Lungen begannen zu brennen. Raffaellos sinnlich geschwungener Mund konnte eine Frau zum Träumen bringen. Er war verführerisch, verlockend, erotisch.

Er hatte ihre Hüfte umfasst, sie näher an sich gezogen und damit ihre zu Fäusten geballten Hände zwischen ihren Körpern auf Höhe seiner Brust eingeschlossen. Was als ungeschicktes Malheur begonnen hatte, veränderte sich zu etwas unvergesslich Wunderbarem.

Sie hatte seine Erregung an ihrem Körper gespürt. Dieses Gefühl setzte etwas in ihr in Gang, so als würde ihr Körper – ihr weiblicher Körper – nach einem langen Winterschlaf erwachen, um sich für die wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings bereit zu machen. Es war eine so überwältigende Emotion, dass ihr Tränen in die Augen geschossen waren. Ein schier unerträgliches Pochen hatte in ihr eingesetzt. Ihr Verlangen nach Raffaello war so stark, dass sie ihn hatte wegstoßen müssen, wollte sie nicht riskieren, sie beide in Verlegenheit zu bringen, indem sie ihn anflehte, mit ihr zu schlafen.

Dabei wusste sie doch mit absoluter Sicherheit, dass sein Kuss Lindsay gegolten hatte. Umgekehrt nahm Raffaello – fälschlicherweise – an, sie hätte an Joe gedacht. Warum sonst hätte er wohl sagen sollen, sie brauche sich nicht schuldig zu fühlen?

Doch was würde er sagen, wenn er wüsste, wie sehr er sich irrte? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm erzählte, dass die Leidenschaft zwischen ihr und Joe wie ein Strohfeuer ausgebrannt war und nichts als Enttäuschung und Verbitterung zurückgelassen hatte? Würde er in ihr eine Frau sehen, die zu schwach oder zu leichtsinnig war, um ihre Ehe zu retten? Würde er bereuen, vorschnell gehandelt zu haben, weil sie niemals gut genug war, um Lindsays Platz einzunehmen?

„Oh, jetzt reiß dich endlich zusammen!“, sagte Corinne laut vor sich hin und drehte den Wasserhahn über der Wanne noch weiter auf, damit das Rauschen die weinerliche Stimme in ihrem Kopf übertönte.

Du bist hier wegen der Kinder, nicht wegen des Mannes und schon gar nicht deinetwegen. Wenn du also mit einer misstrauischen Schwiegermutter und einem Luxus, von dem du gar nicht wusstest, dass er in diesem Ausmaß existiert, zurechtkommen musst, dann ist das auf jeden Fall besser, als sich jeden Monat den Kopf zu zerbrechen, woher du die Miete nehmen sollst. Arbeite für das, was du hast, erledige deine Arbeit nach bestem Können und verlange nicht, dass man dir auch noch den Mond und die Sterne vom Himmel holt.

Corinne glitt bis zum Hals in das duftende Wasser. Die Wärme entspannte ihre Muskeln wohltuend. Dann stieg sie aus der Wanne, ließ sich auf das große Ehebett im Schlafzimmer fallen und schlief sofort ein.

Die Digitaluhr neben dem Bett zeigte zehn nach sechs, als Corinne wieder aufwachte. Zeit, sich ihrem Ehemann zu stellen – und diesem Drachen von einer Schwiegermutter.

Während sie sich anzog, fragte sie sich allerdings, wie sie wohl reagieren würde, käme Matthew eines Tages mit einer fremden Frau nach Hause, die er als seine Ehefrau vorstellte.

Ein letzter prüfender Blick in den großen Spiegel zeigte Corinne ein Bild, mit dem sie zufrieden war. Ihr Haar schimmerte seidig, ein Hauch Rouge brachte Farbe auf ihre blassen Wangen, und der Abdeckstift hatte die dunklen Ringe unter ihren Augen kaschiert. Was nun ihre Garderobe anbelangte … Das schwarze Kleid, die Pumps und die unechten Perlen, die Sachen, die sie beim ersten Treffen mit Raffaello getragen hatte, waren das Beste, mit dem sie aufwarten konnte. Zumindest sah sie präsentabel aus.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und ging nach unten, um den vor ihr liegenden Abend in Angriff zu nehmen.

6. KAPITEL

Gastone, der Butler, der mit Filomena, der Köchin, verheiratet war, wartete auf sie am Fuße der Treppe, um sie zum soggiorno zu geleiten. Übersetzt hieß das so viel wie Wohnzimmer, doch das war eine zu profane Bezeichnung für die Eleganz, die der große Raum ausstrahlte. Corinne blieb auf der Schwelle stehen und ließ ihren Blick umherschweifen.

Durch seidene Schirme warfen Steh- und Tischlampen weiches Licht und schlossen damit die nachtschwarze Dunkelheit vor den hohen Bogenfenstern aus. Draußen konnte Corinne eine breite Terrasse mit Säulen erkennen, von der man bei Tag einen wunderbaren Blick auf das Meer haben musste.

Das Mobiliar zeichnete sich durch klassische klare Linien aus, die Polster waren mit Samt bezogen. In einem Alkoven stand ein weißer Konzertflügel, schwere Stores hingen vor den Fenstern, in einem großen marmornen Kamin prasselte ein Feuer. Gemälde in kräftigen Farben schmückten die Wände. Der Raum spiegelte Lindsays Geschmack wieder, heiter und großzügig, wie sie selbst gewesen war.

Und mittendrin stand Matthew, der erschreckend viel Interesse für eine Pferdestatue auf einem Glastisch zeigte.

„Nicht, Schatz! Nicht anfassen …“ Sie eilte auf ihn zu.

Malvolia, beeindruckend in einem granatroten Samtkleid, hielt das Sherryglas Zentimeter vor ihren Lippen an. „Ah, das sind Sie ja, Corinna. Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie vielleicht verloren gegangen sind.“

Das hättest du wohl gern. Corinne zog Matthew aus dem potenziellen Katastrophengebiet fort und hob ihn auf den Arm, um sich mit ihm auf das Sofa zu setzen. Er trug ein sauberes weißes Hemd und eine schwarze Cordhose und schien sie überhaupt nicht vermisst zu haben. „Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie habe warten lassen.“

„Das haben Sie nicht. Meine Schwester und ich genießen wie immer die Zeit für unseren Aperitif.“

Mit einem dankenden Nicken nahm Corinne ein Glas Sherry von dem Tablett, das der Butler ihr hinhielt – und verstärkte den Griff um Matthews Schulter, der schon wieder voller Tatdrang zu dem Pferd zurückkehren wollte. „Ich hatte erwartet, dass Raffaello auch hier wäre“, sagte sie.

„Er ist mit seiner Tochter zusammen. Sie hat ihn vermisst. Aber sie werden sicher bald hier sein. Lassen Sie den Jungen ruhig spielen, Corinna. Er führt doch nichts Schlimmes im Schilde.“

Mein Name ist Corinne, und du hast keine Ahnung, wie schnell er dieses Zimmer in ein Schlachtfeld verwandeln könnte. Sie lächelte steif. „Es wird schlimm werden, wenn er die Skulptur umstößt und den Glastisch zerbricht.“

„Die chinesische Statue?“, flötete Malvolia zuckersüß. „Da besteht nicht die geringste Gefahr, meine Liebe. Sie ist aus Jade und viel zu schwer. Er wird sie nicht einmal verrücken können.“

„Dennoch wäre ich beruhigter, wenn er sie gar nicht erst anrührt.“

„Ich bestehe darauf, dass Sie mit diesen unnötigen Sorgen aufhören und den Jungen sich frei bewegen lassen.“

Es war gut, dass Raffaello gerade in diesem Moment ins Zimmer kam, sonst hätte Corinne für nichts garantieren können. Er sah so überwältigend aus in dem hellgrauen Anzug, dass sie ihren Blick gewaltsam von ihm losreißen musste, um auf das kleine Mädchen an seiner Seite schauen zu können.

Corinne glaubte, durch das Foto vorbereitet zu sein, doch als sie Elisabetta in Fleisch und Blut vor sich erblickte, raubte es ihr Sprache. Die Kleine war eine Miniaturausgabe von Lindsay.

„Du siehst schon etwas ausgeruhter aus, Corinne“, ließ sich jetzt Raffaello vernehmen.

Corinne atmete tief durch. „Ja, ich fühle mich auch besser, und ich freue mich, endlich deine Tochter kennenzulernen. Hallo, Elisabetta. Ich bin Matthews Mommy.“

„Und Papas neue Frau“, ergänzte die Kleine altklug. „Nonna hat mir alles über dich erzählt.“

„Das war ja nicht viel, tesoro.“ Malvolia warf einen nervösen Blick in Raffaellos Richtung. „Schließlich weiß ich selbst kaum etwas über sie, nicht wahr?“

Doch der Ausdruck in den Augen des Mädchens zeigte deutlich, dass es für Elisabetta schwierig genug war, sich plötzlich einer ungewollten Stiefmutter gegenüberzufinden, auch ohne das, was ihre Großmutter noch hinzugefügt haben mochte.

„Nun, das ist nicht mehr wichtig.“ Aufmunternd lächelte Corinne der Kleinen zu. „Denn jetzt bin ich ja hier, und du kannst alles selbst über mich herausfinden.“

Elisabetta schien es jedoch für eine bessere Idee zu halten, mehr über Matthew in Erfahrung zu bringen. „Komm“, sie unterstrich ihre Anordnung großtuerisch mit dem gekrümmten Zeigefinger. „Papa hat mir ein neues Puzzle mitgebracht. Er wird uns helfen, es zusammenzusetzen. Das wirst du doch, Papa, nicht wahr?“

„Ich helfe euch, den Anfang zu finden.“

Matthew brauchte nicht zweimal aufgefordert zu werden, er spurtete los. Raffaello würde ihn bestimmt nicht so wild herumrennen lassen, und morgen war noch genug Zeit, um mit dem Aufbau der Beziehung zu ihrer selbstgefälligen kleinen Stieftochter zu beginnen. Der einzige Nachteil war im Moment, dass sie, als die drei abzogen, allein in der Gesellschaft ihrer Schwiegermutter und der Schwiegertante zurückblieb.

„Sie waren vorher noch nie in Sizilien, wie Raffaello mir erzählte?“, begann Malvolia mit ihrem Verhör.

„Nein, es ist mein erster Besuch in Italien.“

„Also sind Sie nicht viel gereist?“

„Nicht in Europa, nein.“

„Und ausgebildet wurden Sie wo?“

„Größtenteils in Kanada, am ‚Vancouver Art Institute‘. Aber ich habe auch ein Praktikum in New York absolviert.“

„Sie sind Künstlerin?“

„In gewisser Hinsicht. Ich habe die kulinarischen Künste studiert.“

„Also sind Sie Köchin … Chefköchin, nehme ich wohl an. Wie haben Sie einen so anspruchsvollen Beruf und das Muttersein unter einen Hut bringen können?“

„Es war nicht immer einfach.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Malvolia musterte sie eindringlich. „Raffaello hat sein Wirtschaftsdiplom in Mailand gemacht und an der Colorado State University einen Abschluss auf dem Gebiet der Pferdezucht.“

„Tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass er sich für Pferde interessiert.“

„Ich nehme an, Sie werden noch viel über meinen Sohn lernen müssen, meine Liebe. Die Pferdezucht ist nur eine von vielen seiner Passionen. Aber erzählen Sie von Ihrer Familie, Corinna. Bedrückt es Ihre Eltern nicht, dass ihr Enkel nun so weit weg ist?“

„Nein.“ Sie antwortete abwesend, weil das Trio dort auf dem Boden beim Flügel ihre Aufmerksamkeit viel eher anzog. Elisabetta setzte eifrig Puzzleteilchen ein, aber Matthew sackte immer mehr in sich zusammen, seine Lider wurden schwer. Die Anstrengungen der letzten Tage holten ihn ein.

Erst jetzt wurde ihr das ohrenbetäubende Schweigen bewusst, das ihre knappe Antwort verursacht hatte. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie, wie die beiden Frauen sie mit fassungsloser Miene anstarrten. „Ich meine, sie leben in Arizona und sehen den Jungen nur sehr selten.“ Warum sollte sie die Tatsachen verschweigen? Die Wahrheit würde früher oder später doch herauskommen. „Meine Eltern wollten nie Kinder haben. Ich war ein später Unfall und zudem unerwünscht. Sie waren froh, als ich alt genug war, um selbst für mich zu sorgen. Sie haben nicht das geringste Interesse daran, die liebenden Großeltern zu spielen.“

Immerhin musste man Malvolia zugestehen, dass sie ehrlich bestürzt war. „Das ist so traurig für Sie, Corinna. Ich könnte mir eine solche Situation gar nicht vorstellen. Du, Leonora?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Leonora richtete einen mitfühlenden Blick auf Corinne. „In unserer Familie ist der Zusammenhalt immer stark gewesen. Und jetzt, da Sie mit Raffaello verheirat sind, hoffen wir, dass Sie sich zu unserer Familie dazugehörig fühlen können. Sie und Ihr Sohn.“

„Das hoffe ich auch“, sagte sie. „Da wir gerade von meinem Sohn sprechen … Der Junge schläft praktisch im Sitzen ein. Wäre es möglich, dass er sein Abendessen etwas früher bekommt? Ich kann ihn dann zu Bett bringen, bevor wir anderen uns zu Tisch setzen.“

„Die Kinder haben längst gegessen.“ Malvolia schien milder gestimmt. „Niemand mutet den Kleinen zu, bis zu dem späten Mahl mit den Erwachsenen zu warten. Was das Zubettbringen angeht … Das wird die Nanny übernehmen.“

„Nanny?“

„Ja, Lucinda. Sie haben sie noch nicht getroffen, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie ist seit Elisabettas Geburt bei uns und kommt sehr gut mit Kindern zurecht.“

„Das glaube ich gern, dennoch möchte ich Matthew lieber selbst zu Bett bringen, vor allem heute. Er schläft das erste Mal in einem fremden Haus, und er ist erst vier.“

Nach kurzem Überlegen nickte Malvolia. „Sie haben recht. Wir verschieben das Dinner, bis Sie beruhigt sein können, dass er tief und fest schlummert. Ich werde Lucinda rufen, damit sie Ihnen den Weg zur Kinderstube zeigt.“

Raffaello hatte mitgehört und stand auf, während er Matthew auf seinen Arm hob. „Ich mache das. Die beiden gehören längst ins Bett, und ich habe meiner Tochter seit zwei Wochen schon keine Gutenachtgeschichte mehr vorgelesen. Elisabetta, du gehst vor und zeigst Corinne, wo Matthews Zimmer ist.“

Die Kinderstube – der Begriff hatte in Corinne Bilder von viktorianischer Strenge und vergitterten Fenstern aufleben lassen – erwies sich als eine Suite von drei freundlichen Räumen direkt gegenüber dem ehelichen Elternschlafzimmer. Matthews Spielzeug war bereits in seinem Zimmer eingeräumt, und im Bad lagen seine kleinen Plastikboote auf dem Wannenrand. Sein Lieblingsstofftier wartete geduldig auf dem Kopfkissen seines Bettes, und Matthew schlief auch schon tief und fest, kaum dass er unter der Decke lag. Eine Weile blieb Corinne stehen und schaute auf ihren Sohn hinunter.

Das war es, worum es bei dieser Ehe ging – um den ruhigen Schlaf ihres Sohnes und die Gewissheit, dass seine Zukunft gesichert war. Nicht um dieses lächerliche Sehnen, das jedes Mal jäh aufflammte, wenn sie ihren Mann ansah, oder diese prickelnden elektrischen Stöße bei jeder noch so flüchtigen Berührung.

Sie merkte erst, dass sie nicht mehr allein war, als sich eine Hand sanft auf ihre Schulter legte.

„Und? Wie macht er sich?“, fragte Raffaello leise.

„Er ist sofort eingeschlafen.“

„Elisabetta auch. Eine Seite aus dem Märchenbuch, weiter bin ich nicht gekommen. Wie geht es dir?“

„Unter den Umständen eigentlich recht gut.“ Sie warf einen Blick in sein Gesicht. Das schwache Nachtlicht malte Schatten auf seine markanten Züge. „Von deiner Mutter habe ich in zehn Minuten mehr über dich erfahren als in all der Zeit, die wir zusammen verbracht haben.“

„Ich habe keine Geheimnisse. Du brauchst nur zu fragen, und du erfährst alles, was du wissen willst.“

Sie zuckte leicht mit einer Schulter. „Die Gelegenheit hat sich nie ergeben.“

„Und jetzt, da du mehr von mir weißt, bereust du es, mich geheiratet zu haben?“

„Nein.“ Sie war zu müde, um etwas vorzutäuschen. „Ich hoffe nur, du findest keinen Grund, die Heirat zu bereuen.“

„Wieso sollte ich, Corinne? Du bist eine intelligente Frau, eine liebevolle Mutter und genau das, was Elisabetta in ihrem jungen Leben braucht.“

„Und du? Was brauchst du, Raffaello?“ Die Worte kamen unerwartet und hingen im Raum, sodass Corinne sich fast umgeblickt hätte, um herauszufinden, wer sie gesprochen haben mochte. Sie flehte zum Himmel, dass Raffaello in der Dunkelheit ihre brennenden Wangen nicht sehen würde. „Ich meine nur, du bist derjenige, der ständig gibt“, flüsterte sie. „Ich möchte dir auch etwas geben.“

„Meinst du vielleicht das?“ Er beugte den Kopf und presste sanft seinen Mund auf ihre Lippen. „Oder hattest du an mehr gedacht … Etwa so?“ Mit der Fingerspitze zeichnete er eine gerade Linie an ihrem Hals hinab, über die Perlen, die sie zwischen ihrem Busen trug, um dann eine Brust zärtlich zu umfassen.

Heißes Verlangen durchströmte sie. „Wenn es das ist, was du willst“, stammelte sie verlegen.

Abrupt schob er sie von sich, als würde sie ihn anwidern. „Tut mir leid, Corinne, aber das ist kein ausreichender Grund. Der Tag muss erst noch kommen, bevor ich eine Frau in mein Bett hole, weil sie meint, sie schuldet mir ihren Körper.“ Er war wütend, weil die flüchtige Berührung ihn halb blind vor Begehren gemacht hatte. Corinne hatte sein Herz berührt. Irgendwie war es ihr gelungen, sich in einen Ort hineinzuschleichen, an dem sie nichts verloren hatte. Das war es, was ihn halb zerriss.

„Wir haben meine Mutter und meine Tante lange genug warten lassen“, sagte er brüsk. „Du siehst wie ein waidwundes Reh aus. Nimm dich zusammen und setze eine andere Miene auf. Meinst du, das bringst du fertig?“

Sie hob das Kinn und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich bringe alles fertig, was ich mir vornehme. Schließlich habe ich dich ja auch geheiratet, nicht wahr?“

Dann eilte sie aus dem Zimmer, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen, und stieg würdevoll die breiten Stufen hinunter. Als sie am Fuß der Treppe war, traf sie auf Malvolia und Leonora, die auf dem Weg ins Speisezimmer waren.

„Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat“, hörte Raffaello sie sagen, als sie sich zu ihnen gesellte und ihn drei Schritte hinter sich laufen ließ, wie einen persönlichen Kammerdiener.

Das musste er ihr lassen. Was immer sie über ihn und die Episode im Kinderzimmer denken mochte, nichts davon zeigte sich während des Essens, weder auf ihrer Miene noch in ihrem Verhalten. Sie saß ihm gegenüber an dem langen Tisch, nippte an ihrem Weinglas, lobte die Suppe und den Schwertfisch, beichtete beim Dessert, dass sie eine Schwäche für Süßes hatte, und schaffte es, während des gesamten Tischgesprächs nicht ein einziges direktes Wort an ihn zu richten.

„Ich finde sie sehr einnehmend“, kommentierte seine Tante schließlich, nachdem Corinne den Kaffee abgelehnt und sich entschuldigt hatte, um zu Bett zu gehen. „Sie weiß sich zu benehmen und ist ausgeglichen und ruhig.“

Malvolia nickte zustimmend. „Sie hat auch keine Angst vor harter Arbeit. Das spricht für sie.“

„Mein Vermögen beeindruckt sie ebenfalls nicht besonders“, ergänzte Raffaello und lächelte grimmig über die Doppeldeutigkeit seiner Bemerkung, derer nur er sich bewusst war.

Nicht nur schien sein Geld Corinne nicht zu interessieren, sie zeigte auch wenig Begeisterung für ihn als Mann. Der kühle Blick, mit dem sie ihn bedacht hatte, als sie ihm Gute Nacht wünschte, hatte ihn wissen lassen, dass sie ihn wohl eher für einen ungehobelten Barbaren hielt. Es reizte ihn maßlos, in das große Doppelbett im ehelichen Schlafzimmer zu steigen und ihr zu zeigen, wer hier die Oberhand hatte!

Doch das würde er nicht riskieren. Eine kalte Dusche pro Abend reichte ihm.

Sie würde Raffaello keine zweite Chance bieten, sie zurückzustoßen!

Corinne machte sich fürs Zubettgehen fertig und tappte danach auf bloßen Füßen über den Flur zur Kinderstube. Obwohl sie am Nachmittag zwei Stunden geschlafen hatte, war sie zum Umfallen müde. Sie hätte auch im Stehen einschlafen können, aber der große Ledersessel in Matthews Zimmer war sicherlich bequemer.

Sie war fast eingeschlummert, als er auftauchte. Er öffnete die Tür gerade weit genug, dass er den Kopf hineinstecken konnte und das Licht vom Flur ihr in die Augen fiel.

„Was, zum Teufel, tust du da, Corinne?“

„Das ist doch wohl offensichtlich“, zischelte sie. „Ich versuche zu schlafen.“ Sie legte den Arm über die Augen. „Und dir aus dem Weg zu gehen“, fügte sie unmissverständlich hinzu. „Jetzt geh weg und lass mich in Ruhe. Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten.“

„Ich auch nicht. Ich verschwende meine Zeit nicht damit, mich mit jemandem auseinanderzusetzen, der sich kindisch benimmt“, konterte er arrogant.

Doch bevor Corinne eine schlagfertige Antwort einfiel, hatte er ihr schon die Decke weggerissen, hob sie aus dem Sessel und warf sie sich wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter.

Leise schrie Corinne auf. „Lass mich sofort los …!“

Er hielt nur ihre Beine fester, während er auf den Flur hinaustrat. „Hör auf mit dem Geschrei, du weckst die Kinder.“

Sobald sie im Schlafzimmer angekommen waren, stellte Raffaello sie unsanft auf die Füße und schaute sie durchdringend an.

„Eines möchte ich deutlich klarstellen.“ Jede einzelne Silbe klang wie ein Pistolenschuss. „Ganz gleich, wie wütend du auch auf mich sein magst … Weder vor meiner Familie noch vor dem Personal wirst du eine Szene machen.“

„Hätte ich so etwas beabsichtigt, wäre das Dinner die perfekte Gelegenheit gewesen!“

„Es war eine sehr weise Entscheidung von dir, dies nicht zu tun.“

Sein drohender Ton jagte ihr eine Eiseskälte über den Rücken. „Stellst du dir unsere Ehe so vor? Du befiehlst, und ich gehorche?“

„Nein, bei unserer Ehe geht es um einen Mann und eine Frau, die sich für das Wohl ihrer Kinder zusammengetan haben. Schon allein aus diesem Grund sollten wir tagsüber ein harmonisches Bild bieten.“

„Und nachts?“

„Als Lindsay schließlich rund um die Uhr häusliche Pflege brauchte, habe ich mein Arbeitszimmer in ein Schlafzimmer für die Krankenschwester umwandeln lassen. Ich werde dort schlafen. Das Zimmer liegt direkt hinter meinem Bad und hat eine Verbindungstür. Niemand wird also etwas merken. Nur Patrizio, mein persönlicher Diener, hat Zutritt. Auf seine Diskretion ist absoluter Verlass. Du siehst also, cara mia, deine kleine Inszenierung war völlig unnötig. Du kannst hier im Schlafzimmer in dem ruhigen Wissen schlafen, dass deine Ehre unangetastet bleibt.“

Seltsam, sie hätte erleichtert sein müssen, aber ein Gefühl der Enttäuschung beschlich sie. „Dann bin ich beruhigt“, erwiderte sie stattdessen.

Er steuerte auf die Badezimmertür zu. Bevor er dahinter verschwand, feuerte er mit tödlicher Treffsicherheit eine letzte vernichtende Bemerkung über die Schulter zurück.

„Ich kann dir versichern, das beruht auf Gegenseitigkeit. Buona notte, Corinne.“

Corinne rechnete nicht damit, dass der Streit so schnell beigelegt sein würde. Doch als sie am nächsten Morgen zusammen mit Matthew in den sonnendurchfluteten Frühstücksraum trat, sah Raffaello von seiner Zeitung auf und grüßte sie beide, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen.

„Ich wollte euch heute das Personal vorstellen und die Nachbarschaft zeigen“, schlug er vor, während Corinne am Frühstücksbüfett ein Müsli mit frischen Früchten für Matthew vorbereitete und sich selbst eine Tasse Kaffee eingoss. „Je eher ihr euch ein wenig auskennt, desto schneller werdet ihr euch heimisch fühlen.“

Sie schaute auf ihren Sohn, der hungrig sein Frühstück verschlang. „Da wir gerade von heimisch fühlen sprechen … Ich würde zuerst gern unsere Kartons auspacken. Kannst du uns das Personal nicht am Nachmittag vorstellen?“

„Natürlich“, willigte er sofort ein. „Überlege dir schon einmal, wie du diesen Haushalt gestalten willst. Als Hausherrin stehen dir diese Entscheidungen zu.“

„Ich habe keine Eile damit, Dinge zu ändern, Raffaello. Allein meine Anwesenheit ist für deine Mutter vermutlich eine Veränderung, an die sie sich erst gewöhnen muss. Wo ist sie überhaupt?“

„Sie und Leonora sind mit Elisabetta bei den Ställen.“ Er faltete die Zeitung zusammen und schenkte sich noch einen Kaffee ein. „Während der Woche hat Elisabetta von neun bis zwei Uhr Unterricht. Sie muss also die freie Zeit nutzen, wenn sie bei ihrem Pony sein will.“

Matthew hob den Kopf. „Ich will auch ein Pony haben.“

„Sei nicht so unverschämt“, ermahnte Corinne ihn.

Raffaello jedoch wischte den Tadel mit einem Schulterzucken beiseite. „Jeder Junge sollte ein eigenes Pony haben, figlio mio. Deine Mutter und ich werden sehen, was sich da machen lässt.“

„Du wirst ihn nur verwöhnen“, gab sie leise zu bedenken.

„Er hat ein wenig Verwöhnen verdient. Ihr beide habt es verdient. Und ich sehe es als meine Pflicht an, genau das zu tun.“

Corinne kniete in Matthews Zimmer vor dem Regal auf dem Boden und sortierte seine Lieblingsbücher ein. Als sie über die Schulter blickte, sah sie Elisabetta in der Tür stehen, die sie stumm beobachtete. Seit ihrer Ankunft hatte Corinne sich überlegt, wie sie es einfädeln könnte, Zeit mit ihr allein zu verbringen. Jetzt schien die Gelegenheit gekommen zu sein, und diese wollte sie nutzen.

„Hi, Süße“, sagte sie lächelnd.

„Was machst du da?“, fragte Elisabetta misstrauisch.

„Ich räume Matthews Bücher und sein Spielzeug ein. Möchtest du mal sehen?“

„Nein. Ich habe meine eigenen Bücher und Spielsachen.“

Na, das war ja ein glorreicher Anfang! „Ich habe auch etwas für dich mitgebracht. Magst du es dir anschauen?“

Kurz flackerte Neugier in den Augen der Kleinen auf. „Ja, warum nicht.“

Corinne stand auf. Sie hielt sich zurück, um nicht die Hand ihrer Stieftochter zu nehmen. Man sollte nichts überstürzen! „Dann komm mit, es ist in meinem Zimmer.“

Im Salon der ehelichen Suite bahnte Corinne sich einen Weg durch die überall verteilt stehenden Umzugskartons und hob eine kleine Schachtel auf, die nicht größer als ein Taschenbuch war. „Hier, das ist für dich.“

Elisabetta setzte sich mit der Schachtel auf das Sofa, öffnete den Deckel und holte eine silbern gerahmte Fotografie heraus. „Wer ist das?“

„Deine Mutter. Da war sie nur ein paar Jahre älter als du, Elisabetta. Ich dachte mir, du würdest das Foto gern haben.“

Das Mädchen strich mit einem Finger über das lachende Gesicht auf dem Foto. „Sie war hübsch.“

„Ja, genau wie du. Du siehst ihr sehr ähnlich.“

„Das sagt Papa auch immer. Aber er hat keine Fotos von ihr, als sie noch klein war.“

„Ich weiß. Deshalb habe ich viele Fotos mitgebracht, sie sind alle in den Alben dort drüben. Du kannst jederzeit herkommen und sie dir ansehen. Wenn du ein paar davon für dich haben möchtest, lassen wir Abzüge machen.“

„Wieso hast du so viele Fotos von meiner Mama?“

„Sie war meine beste Freundin. Wir waren wie Schwestern und haben alles zusammen unternommen. Ich habe sie sehr lieb gehabt.“

„Deshalb hat Papa dich auch hergebracht, nicht wahr?“ Nachdenklich sah Elisabetta sie an. „Weil Mama es so wollte.“

„Ja.“ Corinne nickte.

„Aber nicht, weil du es wolltest.“

„Das stimmt nicht. Ich wollte die Tochter meiner besten Freundin kennenlernen.“

„Du kannst aber nicht meine Mutter sein.“

„Das weiß ich, Schatz. Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich hergekommen bin. Ich möchte dir alles über deine Mutter erzählen, damit du sie nie vergisst. Natürlich kann ich ihren Platz nicht einnehmen, aber du kannst immer zu mir kommen, wenn dich etwas bedrückt. Oder um über deine Mutter zu reden. Ich kann dir so viel von ihr erzählen.“

„Und ich darf mir die Fotos anschauen, wenn ich Lust dazu habe?“

„Natürlich.“

Elisabetta kaute auf ihrer Lippe. „Matthew sagt Papa zu meinem Vater. Wie soll ich dich nennen?“

„Sag doch einfach erst einmal Corinne zu mir, und dann werden wir sehen, wie wir weitermachen.“

„Einverstanden.“ Mit dem Bilderrahmen in der Hand stand Elisabetta auf. „Grazie“, bedankte sie sich artig. „Ich werde Papa das Bild zeigen und es dann auf das Nachttischchen neben meinem Bett stellen.“

Corinne blickte dem Mädchen nach. Es würde nicht einfach werden, die Kleine für sich einzunehmen. Im Gegensatz zu Matthew, der keine Erinnerung an seinen Vater hatte, erinnerte Elisabetta sich gut an ihre Mutter, und Lindsay war schwer zu ersetzen, wie Corinne selbst wusste. Aber der Anfang war gemacht, und jetzt konnte sie nur darauf hoffen, mit Geduld und Herzlichkeit das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen.

Raffaello hielt Wort und übernahm anstandslos alle Pflichten für seine neue Familie. Mittlerweile mochte Corinne das Wort „Pflicht“ schon nicht mehr hören.

Er sah es als seine Pflicht an, Corinne über das mehrere Hundert Hektar große Anwesen zu führen. Er kam seiner Pflicht nach und zeigte ihr die schönsten Pfade für einen Spaziergang, den Weg in die kleine Stadt und den hinunter zum Privatstrand. Und pflichtschuldig stellte er ihr trotz ihres Protests einen eigenen Geländewagen zur Verfügung, wendig genug, um durch die engen Gassen der umliegenden Städtchen fahren zu können, und groß genug, um sich sicher zu fühlen, wenn sie mit den Kindern unterwegs war.

„Das hier ist jetzt deine Heimat“, sagte er, als er ihr den Schlüssel zu dem Porsche Cayenne in die Hand drückte. „Erkunde sie ganz nach deinem Belieben.“

Drei Wochen waren sie nun in Sizilien, als Raffaello mit Corinne nach Modica fuhr, um ihr die wunderschöne Stadt aus dem siebzehnten Jahrhundert zu zeigen. Sie besichtigten die Schokoladenfabrik, stiegen die vielen Treppen von der Unter- zur Oberstadt hinauf, schlenderten durch die Gassen und aßen schließlich in einem kleinen gemütlichen Familienrestaurant zu Mittag.

„Ich werde fünf Kilo zugelegt haben, noch bevor wir zurückfahren, bei so viel Schokolade, wie ich in der Fabrik probiert habe. Und jetzt auch noch das hier“, stöhnte Corinne.

„Die Kalorien verbrennst du gleich wieder. Man kann nicht nach Modica kommen, ohne nicht die Kirchen von San Pietro und San Giorgio zu besichtigen oder sich die Schlossruinen anzusehen.“

Mit ihren goldverzierten Schnitzereien und den prachtvollen Altären waren die Kirchen atemberaubend schön, und auch wenn der Anstieg zu der mittelalterlichen Schlossruine, eingenestelt in die Hänge der Monti Iblei, Corinnes letzte Kraftreserven aufbrauchte, so war der Ausblick, der sich von hier oben bot, die Anstrengung wert gewesen.

„Ich werde mir einen Tag nehmen und herkommen, um durch die Läden zu stöbern“, meinte sie auf der Rückfahrt.

„Fahr mit meiner Mutter und meiner Tante. Die beiden kennen die besten Boutiquen hier. Du könntest ein paar neue Sachen gebrauchen.“

„Die ich mir aber nicht leisten kann.“ Sie wurde rot. Natürlich wusste sie, dass ihre Garderobe einem Vergleich mit Malvolias oder Leonoras niemals standhalten würde, aber die kleine Summe, die ihr nach dem Verkauf ihres Geschäfts übrig geblieben war, hatte sie für Notfälle beiseitegelegt.

Dio, Corinne! Wie oft musst du daran erinnert werden, dass du dir alles leisten kannst, was dein Herz begehrt!“, brauste er verärgert auf.

„Ich fühle mich nicht wohl dabei, Geld von dir anzunehmen.“

Autor

Catherine Spencer

Zum Schreiben kam Catherine Spencer durch einen glücklichen Zufall. Der Wunsch nach Veränderungen weckte in ihr das Verlangen, einen Roman zu verfassen. Als sie zufällig erfuhr, dass Mills & Boon Autorinnen sucht, kam sie zu dem Schluss, diese Möglichkeit sei zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Sie wagte...

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Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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