Die Seelenwächterin

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Poetisch, berührend, magisch! Die neue Fantasy-Saga: Im Zeichen der Krähe.

Es ist die dunkelste aller seherischen Gaben, die Rhia besitzt: Ihr Totemtier, die Krähe, schenkt ihr das Wissen über den nahenden Tod. Rhia weiß: Es macht sie mächtig und verletzbar zugleich. Sie muss fort von ihrem Heimatdorf, nach Kalindos, wo die Krähenfrau Coranna sie in die Geheimnisse des Totenvogels einweihen wird.
Schon auf dem Weg dorthin begegnet ihr der geheimnisvolle Wolfsmensch Marek, der sie in einer sternenklaren Nacht zur Liebe verführt. Wenig später im neuen Dorf angekommen, muss Rhia ein großes Opfer bringen. Coranna verlangt, dass Rhia stirbt und sich wiederbeleben lässt. Nur dann kann sie Weisheit erlangen - und ihrem Volk im Krieg mit den Abtrünnigen beistehen!


  • Erscheinungstag 10.01.2012
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781461
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der Hund würde nicht sterben.

Sicher, er war krank und schon kein Welpe mehr gewesen, als Rhias erste Erinnerung vor mehr als fünf Wintern den Horizont ihres Bewusstseins erhellt hatte. Er lag vor dem Feuer, hatte seinen schweren grauen Kopf in ihren Schoß gelegt und starrte ausdruckslos in die Flammen. Behutsam streichelte sie die drahtigen Haare an seinen Flanken. Sein Fleisch fühlte sich kalt an, und seine Rippen traten deutlich hervor. Selbst sein stockender Atem roch abgestanden wie ein halb geöffnetes Grab.

Alles deutete darauf hin, dass Boreas die Morgensonne nicht mehr erblicken würde. Und dennoch ...

Ihre Mutter Mayra stand vom Tisch auf und kam zu ihnen. Ihre Schritte raschelten leise auf dem Teppich aus Wolfshaut. Eine irdene Schale und ein blassgrünes Tuch in der Hand, kniete sie sich neben Rhia.

„Das wird ihm auf seiner Reise nach Hause die Schmerzen nehmen.” Sie zeigte Rhia den Inhalt der Schüssel – etwas Flüssigkeit, nicht mehr, als in die hohle Hand eines Kindes passte. Das war nicht genug.

Mayra breitete das Tuch über die Schüssel und begann zu singen. Leise und sanft rief sie ihren Schutzgeist Otter an, um die Wirkung der Medizin zu steigern.

Rhia schloss die Augen und versuchte, Angst und Trauer aus ihren Gedanken zu vertreiben. Die Schutzgeister konnten am besten wirken, wenn die Anwesenden ihnen aus dem Weg gingen.

Durch ihre geschlossenen Lider bemerkte Rhia, wie ein goldenes Licht aufglimmte, das die Farbe der Sonne an einem Herbstnachmittag hatte. Ein leises Plätschern und Mayras geflüsterter Dank verrieten ihr, dass Otter den Hilferuf erhört hatte. Als das Licht verblasste, öffnete Rhia die Augen und sah in die ihres Hundes. Tränen tropften auf seine Schnauze.

Mayra tauchte das Tuch in die halb volle Schüssel, um es zu tränken. Sie saßen da und horchten auf die einzigen Geräuschen im Raum – das angestrengte Schnaufen des Hundes und das Knistern der Funken in der steinernen Feuerstelle.

Dann hörte Rhia, wie Tropfen in die Schüssel fielen, als ihre Mutter das Tuch auswrang. Kein Tropfen durfte verschwendet werden, so viel wie möglich musste der Hund schlucken, um Erleichterung zu erfahren.

Selbst in seinem hohen Alter und mit dem gekrümmten Rücken war Boreas viel größer als Rhia. Stand er auf den Hinterbeinen, konnte er ihr die Pfoten auf den Kopf legen. Ein Jahr zuvor, als Rhia sich von einer Krankheit erholte, die ihre Muskelkraft schwinden ließ und ihr alle Kraft aus den Gliedern saugte, hatte Boreas zugelassen, dass sie seinen starken Rücken und seine Beine als Krücke benutzte. Und jetzt, in kalten Nächten wie dieser, wenn der Wind und die Wölfe draußen vor den Wänden aus Baumstämmen heulten, kuschelte sie sich neben seinem pelzigen Leib zusammen, eine seiner Vorderpfoten über ihre Schultern gelegt, und schlief warm und beschützt ein.

„Halt seinen Kopf, Liebes.”

Rhia fasste unter Boreas’ Schnauze und hielt sie hoch. Plötzlich atmete er heftig aus, es klang beinah wie ein Husten. Eine schwere Last schien von ihm abzufallen. Ein Geräusch wie das eilige Flattern schwerer Flügel erklang. Rhia stockte der Atem, und sie schaute sich um.

„Was ist los?”, fragte ihre Mutter.

Rhia sah in das verhärmte, durch Wind und Feuer gerötete Gesicht ihrer Mutter.

„Es ist noch nicht an der Zeit”, erwiderte sie.

„An der Zeit für was?”

„Dass er geht.”

Zärtlich sah Mayra ihre Tochter an. „Ich weiß, du wünschst dir, es wäre noch nicht so weit, aber ...”

„Er ist noch nicht bereit.” Sie unterdrückte ein Schluchzen und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. „Die Welt ist noch nicht bereit.”

Mayra kniff die Augen zusammen. „Warum sagst du das?” Rhia schaute nach Nordwesten, in die Richtung, aus der der Wind wehte. „Er nimmt einen Wolf mit sich, wenn er uns verlässt.”

Mit bebender Stimme flüsterte ihre Mutter: „Woher weißt du das?”

„Ich weiß es einfach.” Sie blinzelte, und ihre letzte Träne fiel, dieses Mal auf ihr Handgelenk. Jetzt aufzuhören bedeutete, die Magie ihrer Mutter zu verschwenden – eine Magie, die sie selbst eines Tages zu besitzen hoffte. Aber etwas, das nicht genau aus ihr selbst kam, bat sie um das Leben des Hundes. „Bitte, lass ihn nicht sterben, Mama. Warte bis zum Morgen, und du wirst sehen. Ich verspreche es.”

Mayras Augen leuchteten im Feuerschein, als sie Rhia mit einem Blick betrachtete, in dem mehr lag als nur Mitgefühl. Ihr Blick war schmerzerfüllt, wie damals, als Rhia krank gewesen war – und damals, das wurde ihr jetzt bewusst, hatte sie zum ersten Mal das Flügelschlagen gehört, das über die Landschaft ihrer Gedanken hinweggestrichen war.

Mayra streckte die Hand aus und strich Rhia eine ihrer rotbraunen Locken hinter das Ohr. Dann streichelte sie ihr mit dem Handrücken über die Wange. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf und stellte die Schüssel mit dem Tuch auf den Tisch.

Anschließend schlurfte sie zu der Leiter, die zum Schlafboden führte, den sie sich mit ihrem Ehemann, Tereus, teilte, und kletterte hinauf.

Rhia schleppte ein schweres Holzscheit zum Herd und wuchtete es in die Flammen. Es fauchte und zischte wie eine Wildkatze, die in Bedrängnis geraten war. Als sie sich daran erinnerte, dass sie das Scheit noch vor ein paar Monaten genauso wenig hätte heben können wie ihr Haus, blinzelte sie es fast wohlwollend an. Auch wenn sie nie wieder so stark wie die anderen sein würde, ließen ihre Muskeln sie nicht länger im Stich. Sie taten nicht mehr so, als hörten sie nicht, was Rhias Wille ihnen befahl. Sie gehorchten, wenn auch widerwillig und langsam wie trotzige Kinder.

Seufzend wandte Rhia sich vom Feuer ab, legte sich hinter Boreas auf den Boden und schmiegte sich an seinen Rücken. Den Teppich aus Wolfshaut zog sie über sich und den Hund. Boreas stöhnte tief auf.

„Schlaf jetzt”, murmelte sie an der knotigen Erhebung seines Hinterkopfs. „Morgen früh wachst du wieder auf.”

Der Hund starb nicht. Er lebte noch zweieinhalb Jahre, bis Rhia fast elf Jahre alt war. Ein Rudel Wölfe versuchte, die Ponys von der Farm ihrer Familie in den Wald zu treiben. Und auch wenn er schon sehr betagt war, so war Boreas doch der erste der Hunde, der angriff und den Leitwolf tötete. Augenblicke später brach er unter der Anstrengung zusammen. Weil der Sommerboden zu trocken und hart war, um ein Grab zu schaufeln, bauten Rhia und ihre Familie gemeinsam für Hund und Wolf einen Hügel aus Steinen und sprachen dann ein Gebet zu Krähe, der beide Tiere sicher nach Hause führen sollte.

Rhias Vision musste irgendwie bekannt geworden sein, denn die Dorfbewohner begannen, das Mädchen einzuladen, um nach ihren kranken Hunden oder lahmen Ponys zu sehen. Sie wollte helfen, aber das Leid der Tiere machte sie traurig, und ihre Reisen auf die andere Seite erinnerten sie daran, dass sie als Kind fast selbst diesen Weg gegangen war.

Der bitterste Schlag kam, als Mayra, die Heilerin ihres Dorfes, sie nicht mehr mit in die Häuser von Patienten nahm. Während Rhias Kindheit hatten sie beide gehofft, dass der hebe, verspielte Otter auch sie berühren würde. Doch ein anderer Schutzgeist hatte sie erwählt – einer, der nicht das Leben umwarb, sondern das gefürchtete Gegenteil.

Eines Tages, nachdem Rhia gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, kam Galen, der Anführer des Dorfrates, zu der Pferde- und Hundefarm ihrer Familie und mit ihm sein Sohn Areas. Es war ein kühler Spätnachmittag am Frühlingsanfang, als die Blätterknospen noch der Fantasie der Bäume zu entspringen schienen. Rhia reinigte gerade die Hundezwinger, als sie den Mann und den Jungen den steilen Hügel zu ihrem Zuhause hinaufkommen sah. Sie beeilte sich, das lange Haar zu ordnen und sich den Schweiß unter den Augen wegzuwischen. Vor Galen darf man nicht schlampig wirken, sagte sie sich und lächelte dann über den armseligen Versuch, sich selbst zu betrügen. Es war der Anblick von Areas, nicht von seinem imposanten Vater, der ihren Puls zum Rasen brachte und ihre Hände zittern ließ, bis sie sich fragte, was sie mit ihnen machen sollte.

Wann sie angefangen hatte, in Areas mehr als einen Spielgefährten aus der Kindheit zu sehen, vermochte sie nicht mehr genau zu sagen. Wahrscheinlich war es im vergangenen Monat geschehen, einen Augenblick bevor oder nachdem er sie hinter den Ställen geküsst hatte. Seit diesem Augenblick jedenfalls wurden ihr schon durch den bloßen Geruch nach Stalldung die Knie weich.

Rhia eilte auf das Haus zu, um nach ihren Eltern zu rufen, und blieb dann stehen, um noch einmal nach den zwei Männern zu sehen, denn etwas an ihnen war an diesem Tag anders. Ihre Schritte waren schwer, die gebräunten Gesichter wirkten ungewöhnlich ernst, die Köpfe waren geneigt, sodass sich das Sonnenlicht in ihren Haaren fing, die die Farbe von frisch bestellter Erde hatten. Das Haar von Areas reichte ihm den halben Rücken hinab, doch Galens strich nur über seine Schultern. Er hatte es im letzten Jahr kurz geschnitten, um den Tod seiner Mutter zu betrauern.

Wie immer hing eine einzelne braune Falkenfeder mit schwarzen Streifen und einer roten Spitze um Galens Hals. Jeder, der sie kannte und der die Magie eines Tieres besaß – und das war jeder Erwachsene, dem sie je begegnet war -, trug irgendeinen Fetisch seines Schutzgeistes, um seine Kräfte zu zeigen. Das war keine Prahlerei, sondern pure Höflichkeit, durch die man andere wissen ließ, mit wem sie es zu tun hatten. Zum Beispiel konnte so niemand dazu verleitet werden, einen Eulenmenschen austricksen zu wollen, der eine Lüge durchschaute, als wäre sie aus Luft.

Als sie noch etwa zehn Schritte entfernt waren, traf Galens scharfer Blick endlich auf Rhia. Etwas darin brachte sie dazu, sich in einen dicken Umhang hüllen zu wollen. Einerseits verspürte sie das Bedürfnis, sich gegen die Kälte zu schützen, andererseits wollte sie sich verbergen.

Mit einer Verbeugung hieß Rhia die Ankömmlinge willkommen. „Wie geht es Eurem Bruder?”, erkundigte sie sich und sah dabei Galen an.

„Nicht gut, Rhia. Danke der Nachfrage.” Er rang sich ein Lächeln ab, das ihr Unbehagen etwas milderte. „Sind deine Eltern zu sprechen?”

Sie nickte und streckte die Hand nach der Eingangstür aus, die sich öffnete, ehe sie sie berührt hatte.

„Galen, seid gegrüßt.” Ihr Vater hatte sich für die Gäste umgezogen, trug saubere Schuhe und ein rostrotes Hemd, das zu seinem Haar passte, das frisch gekämmt aussah und zu einem langen Zopf geflochten seinen Rücken hinabhing. Eine einzelne weiße Schwanenfeder, die durch die langen Tage auf der Farm etwas staubig geworden war, baumelte ihm an einer Lederkordel vom Hals, als er sich verbeugte. „Wir haben Euch erwartet.”

Mayra erschien an Tereus’ Seite und nahm seinen Arm. Ihre dünnen Lippen bebten, als sie zwischen Rhia und dem Ratsvorstand hin und her sah. „Bitte, kommt herein.”

Galen übertrat die Schwelle, drehte sich um und streckte seine Handfläche auf eine Art aus, die Rhia und Areas auf eindeutige Weise vermittelte, dass sie draußen bleiben sollten.

Die Tür schloss sich, und Rhia wandte sich ihrem Freund zu.

„Warum haben sie mir nicht gesagt, dass du und dein Vater kommt?” Sie hätten ihr wenigstens die Gelegenheit geben können, sich das Gesicht zu waschen und das Heu aus dem Haar zu kämmen. Aber jetzt wurde ihr klar, dass Mayra und Tereus sich beide so verhalten hatten, als würden sie sie beobachten und gleichzeitig meiden. „Und warum dürfen wir nicht zuhören?”

Areas zuckte mit den Schultern. „Mein Onkel ist sehr krank. Vater möchte wahrscheinlich deine Mutter um ihren weisen Rat bitten.”

„Aber er hat nicht nach meiner Mutter gefragt. Er hat nach meinen Eltern gefragt. Findest du das nicht geheimnisvoll?”

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Areas’ Gesicht aus. „Wenn du sechzehn Jahre lang mit meinem Vater lebst, gewöhnst du dich an seine Geheimnisse.”

Rhia wandte sich ab von Areas’ Grinsen, das ihr die Zehen erwärmte. „Ich muss den Hunden noch Wasser geben.”

Areas folgte ihr in den Hundezwinger. Die großen grauen Biester scharten sich um ihn, als wäre er selbst das Abendessen. Mit beiden Händen klopfte er sich auf die breite Brust, und zwei der Hunde legten ihre Pfoten auf ihn und leckten ihm das Gesicht ab. Rhia bemerkte, dass er zum ersten Mal größer war als die Tiere.

„Es ist nicht gut für ihre Rücken, so zu stehen.” Sie hob die zwei schmutzigen Wassernäpfe hoch.

„Tut mir leid. Aus!”, rief er den Hunden spielerischer zu, als dass sie gehorcht hätten.

Sie verließen den Zwinger und gingen zu Mayras Kräutergarten, wo Rhia das restliche Wasser aus den Näpfen schüttete.

„Außerdem”, sagte Areas, „sollte ich deinen Hunden kein schlechtes Benehmen beibringen. Wenn sie dich je so anspringen, werden deine kleinen Knochen zu feinem Mehl zerquetscht.”

Rhia versuchte, ihn wütend anzustarren, auch wenn es ihr besser gefiel, für ihre körperlichen Unzulänglichkeiten verspottet als bemitleidet zu werden. Areas war einer der wenigen Menschen, der sie nicht wie ein rohes Ei behandelte.

„Für diese Bemerkung gehst du an die Pumpe.” Sie warf ihm einen der Eimer zu.

„Du bist jetzt ein großes Mädchen, du schaffst das schon.” „Das ja, aber ich würde dir lieber dabei zusehen.”

Areas wurde tatsächlich rot, als er sich bei der Pumpe neben dem Garten hinkniete. Der Hebel quietschte, als er ihn anhob.

„Ehe du es merkst”, erwiderte er scherzend, „bist du auf und davon in den Wald zu deiner Weihung.”

Beim Gedanken daran, die dunklen Wälder zu betreten, musste sie ein Schaudern unterdrücken. „Ich bin zu beschäftigt. Wenn mein Schutzgeist mir meine Gabe verleihen will, kann er sie hierher bringen.”

„Die Geister verleihen keinem Macht, der sich vor ihnen versteckt.” Er pumpte das Wasser mit langsamem, gleichmäßigem Rhythmus in den Eimer. „Bis auf Maus vielleicht.”

„Ich bin nicht Maus!” Rhia schleuderte Areas fast den anderen Napf an den Kopf.

Schützend hielt er sich den Arm vors Gesicht und lachte, doch dann wurde seine Stimme ernst. „Jeder weiß, was du bist.”

Sie atmete scharf ein. „Sag es nicht.”

Einen langen Augenblick starrten sie einander an. Jeder weiß es? Sie fragte sich, ob diese stille Ubereinkunft es wahr machte. Leugnen würde den Lauf des Schicksals nicht ändern, genauso wenig, wie man einen Wolf verjagte, indem man ihm den Rücken zukehrte. Aber sie war noch jung und hatte noch Zeit, so zu tun, als wäre ihre Zukunft eine offene Lichtung und kein schmaler Waldweg.

Rhia kniete sich neben Areas, um ihren Napf auszuwaschen, und scheuerte das Innere dann mit einer Bürste aus Pferdehaar. Wenn sie nur auch ihren Verstand so einfach von verstörenden Gedanken befreien könnte. „Wahrscheinlich gehst du als Erster, weil du älter bist.”

„Das ist ein Geheimnis, das Vater nicht für sich behält.” Areas setzte sich in der Hocke zurecht und sah auf die fernen Wälder hinaus. „Wenn irgendwer außer Bär in der Nacht im Wald zu mir kommt, sterbe ich vor Schreck.”

„Hauptsache, du bist kein Bärenmarder. Das sind nutzlose Störenfriede.” Sie warf die Bürste zur Seite und riss mit besonders viel Kraft am Hebel der Pumpe. Ihre älteren Halbbrüder Nilo und Lycas – Zwillings-Bärenmarder – hatten sie, seit sie laufen konnte, gequält, bis zu dem Tag, an dem sie mit sechzehn Jahren in ihr Haus gezogen waren. Da war Rhia elf gewesen. Sie und ihre Eltern hatten sich schnell an den Frieden gewöhnt, den der Weggang ihrer Brüder hinterließ, auch wenn es Zeiten gab, in denen sie vermisste, wie die beiden sie zum Lachen brachten.

„Wir brauchen Bärenmarder, wenn es je wieder Krieg gibt”, sagte Areas.

Der Hebel glitt ihr aus den Fingern, und das Metall schepperte in der Stille. Sie sprach, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Auch Bären werden dann gebraucht.”

Er stieß verächtlich die Luft aus. „Mach dir keine Sorgen um mich. Bären planen Kriege. Wir kämpfen nicht in ihnen.” Auf ihren misstrauischen Blick hin fügte er hinzu: „Normalerweise. Außerdem ist das nicht deine Sorge.”

„Ist es doch, weil ...” Sie stand auf und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Weil so viele Bären und Bärenmarder berufen worden sind. Papa sagt, das ist seltsam. Es bedeutet, der Krieg hält in Asermos Einzug.”

„Nicht unbedingt.”

Seine Gleichgültigkeit brachte sie dazu, die Hände zu Fäusten zu ballen. „Die Geister tun alles aus einem bestimmten Grund”, sagte sie. „Wenn niemand jemals krank würde, bräuchten wir keine Heiler, keine Otter und Schildkröten. Wenn niemand Träume hätte, bräuchten wir keine Schwäne -wie Papa -, um sie zu interpretieren. Und wenn es keine Kriege gäbe, bräuchten wir dich nicht. Oder meine blöden Brüder.”

Areas nahm beide Näpfe hoch und wendete sich dem Hundezwinger zu. „Du machst dir Sorgen um Dinge, die du nicht einmal sehen kannst. Das ergibt keinen Sinn.”

„Sinn hat damit nichts zu tun.” Sie folgte ihm. „Du weißt, ich habe recht.”

Er lachte sie über seine Schulter hinweg an. „Du hast immer recht.”

So zu tun, als würde er sich ergeben, war seine Art, das Thema zu wechseln. Sie dachte scharf über ein unverfängliches Thema nach, war jedoch zu neugierig auf seine baldige Bär-Werdung.

„Gibt es Bärenklauen, die du als Fetisch tragen kannst?” Sie hatte noch nie eine aus der Nähe gesehen.

„Nicht bis wir den nächsten Bären erlegen, und das kann noch Jahre dauern.” Er senkte die Trinkeimer über den Rand des Zwingers. „Bis dahin trage ich eine geschnitzte Klaue.”

„Macht die dein Vetter Jano für dich? Seine Fetische sind so hübsch.”

„Sollten sie auch sein. Er ist der Künstler der Familie. Die Spinne, versteht sich.” Areas sah sich um, als wolle er sichergehen, dass sie allein waren. „Darf ich dir etwas zeigen?”

Sie nickte und wartete. Er fasste in seine Hosentasche und zog dann seine Hand heraus.

„Komm näher.” In seiner warmen Stimme lag ein leichtes Zittern, und sein Blick wirkte seltsam verwundbar.

Rhia ging näher zu ihm. Ihr Kopf reichte kaum an sein Kinn heran, und sie hätte schwören können, seinen Atem auf ihrem Haar zu spüren, aber wahrscheinlich war das nur der Wind. Sie beugte sich über seine Handfläche, die er eng an seinen Bauch gedrückt hielt. Er öffnete sie und zeigte ihr eine kleine Schnitzerei, nicht länger als ihr Daumen.

„Das ist für deine Mutter”, erklärte Areas. „Nimm es ruhig.” Rhia ergriff das Stück Holz und hielt es dicht vor ihr Gesieht. Ein Otter stand auf seinen Hinterfüßen, die Pfoten vor der Brust verschränkt, und trug den Ausdruck intelligenten Staunens auf dem winzigen Gesicht.

„Wie schön. Er sieht aus, als würde er mich bitten, mit ihm im Fluss herumzutollen.” Sie drehte es in der Handfläche um. „Aber wie einer von Janos sieht er nicht aus.”

„Das hegt daran, dass es nicht von ihm ist.” Unsicher sah er sie an, bevor er zu Boden schaute. „Sondern von mir.”

Erstaunt keuchte Rhia auf. „Du hast das gemacht?”

Areas kratzte sich im Nacken und starrte auf seine Füße, mit denen er im feuchten braunen Gras herumscharrte. „Ich dachte, wenn deine Mutter einen neuen braucht – oder einen extra, nur für den Fall. Sie hat so viel dafür getan, Großmutters Schmerzen zu lindern, als sie im Sterben lag.”

Das war eine sehr hebe Geste. Ottermenschen mussten sich normalerweise damit zufriedengeben, eine Schnitzerei zu tragen, die ihren Geist abbildete, weil es ungerecht war, ein so seltenes Tier nur um des Fetischs willen umzubringen. Von jedem anderen Jungen, dachte Rhia, wäre ein solches Geschenk ein Versuch, sich bei den Eltern der Zukünftigen einzuschmeicheln. Aber Areas hatte ein großes Herz, so groß wie der Rest von ihm, und sie fragte sich, ob es je ihr allein gehören würde.

Sie legte ihm den Otter zurück in die Hand, sah sich seine Hände an, die im Gegensatz zu ihren riesig wirkten, und fragte sich, wie diese Hände etwas so Feines hatten erschaffen können. „Hast du ihn sonst jemandem gezeigt?”

Er schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich? Es ist nur eine dumme Sache, mit der ich mir beim Hüten der Schafe die Zeit vertreibe.”

„Vielleicht bist du auch eine Spinne.”

„Nein. Bär. Vater irrt sich in diesen Dingen nie.” Er schob den Unterkiefer vor, und sie beschloss fast, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber wenn er wirklich Spinne war, dann konnte er Waffen herstellen, statt sie zu benutzen, und dann wäre er in Sicherheit und würde eines Tages alt und grau werden, ehe sie hören musste, wie die Flügel sich auf seine ... Hör auf damit! In Gedanken gab Rhia sich selbst eine Ohrfeige. Es brachte nichts, über diese Dinge nachzudenken, und mehr als alles andere wollte sie von Nutzen sein.

„Du solltest deinem Vater von deinen Talenten erzählen”, sagte sie. „Vielleicht ändert er dann seine Vorhersage.”

„Bist du mit deinen Aufgaben fertig?” Areas warf einen Blick zum Haus und dann zu Rhia. „Ich glaube nämlich, ich habe letztes Mal, als ich hier war, etwas hinter den Ställen vergessen.”

Er nahm ihre Hand, ehe sie antworten konnte. Zwei kastanienbraune Ponys hoben ihre Köpfe und sahen dabei zu, wie sie den Hügel hinunterrannten, ehe sie sich wieder ihrem friedlichen Grasen zuwandten.

Mit dem Rücken gegen die Stallwand und knöcheltief im süß duftenden Gras, zog Rhia Areas an sich, bis er nur noch ein kurzes Stück entfernt war. Seine Lippen streiften ihre Stirn und den Augenwinkel, und sie atmete den süßen Moschusduft an seinem Hals ein.

„Ist das nicht besser, als über einen Krieg zu reden, den es gar nicht gibt?”, fragte er sie.

„Hier drinnen gibt es ihn.” Sie tippte sich an die Schläfe. „Dort gibt es so viele Sorgen, die alle von mir Gehör verlangen.”

Areas hob ihr Kinn mit einem Finger an. „Dann lass mich sie beruhigen.”

Er küsste sie sanft, und sie erschauerte noch heftiger als beim ersten Mal – nicht nur durch den Kuss selbst, sondern von dem, was danach kam, wonach er sie verlangen ließ. Sie schob die Hände in sein Haar und presste ihre Lippen fester auf seine. Wenn sie bloß nicht so jung wären ...

Mädchen und Jungen ihres Alters hatten kaum Gelegenheit, allein zu sein. Eltern zu werden bedeutete, ihre Gaben auf die nächste Stufe zu erheben, und wenn das geschah, ehe man die Gaben der ersten Phase verstand – oder noch schlimmer, ehe sie einem überhaupt geweiht worden waren -, wäre es wie fliegen lernen, ehe man kriechen konnte. Rhia fand es ungerecht, dass die Bräuche der Geister so weit an den Bedürfnissen junger Körper vorbeigingen, von denen sich ein besonders muskulöser gerade an ihren drängte.

Eine ferne Stimme rief ihren Namen. Seufzend löste sie sich von Areas’ Lippen. „Das ist mein Vater”, sagte sie.

Er schlang die Arme fester um ihre Taille. „Seine Stimme trägt ziemlich weit, oder?”

Rhia lachte und löste sich aus seiner Umarmung, um den Hügel hinaufzurennen. Ihr wurden schon nach wenigen Schritten die Beine müde. Sie drehte sich um, um rückwärts zu gehen, damit sie zusehen konnte, wie Areas ihr mit seinem langsamen, aufmerksamen Schlenderschritt folgte, ein Bär im Körper eines Mannes, das stand fest.

Ihr Absatz verfing sich im Saum ihres langen Rockes, und sie stolperte in den Matsch. Der Boden fing ihren Fall auf. Areas krümmte sich vor Lachen, was seine Beine so sehr zu schwächen schien, dass sie den Hügel nicht länger erklimmen konnten. Rhia rappelte sich vom Boden auf und versuchte, sich mit aller Würde, die sie noch aufbringen konnte, den Dreck vom Hinterteil zu wischen. Ihre schlammigen Hände verschmierten den Fleck auf ihrem hellgrünen Rock zu einem breiten braunen Striemen. Die Kreatur, die Ungeschick verkörperte, welche es auch sein mochte, musste ihr Geist sein.

„Da bist du ja.”

Mayra stand hinter ihr, und neben ihr standen Galen und Tereus. Die drei sahen Rhia ungewöhnlich eindringlich an.

„Galen möchte mit dir sprechen.” Tereus streckte seiner Tochter die Hand entgegen. „Komm herein.”

„Du bleibst hier”, sagte der Ratsvorstand zu seinem Sohn. Die vier betraten gemeinsam das Haus und setzten sich an den hölzernen Tisch. Einige Augenblicke lang sprach niemand, und Rhias Füße begannen, unruhig zu werden. Die Zehen an ihrem rechten Fuß zogen den Absatz ihres linken Schuhs mehrere Male an und aus, und dann tat der linke Fuß es ihm gleich.

Endlich räusperte ihre Mutter sich. „Galen hat gute Neuigkeiten.” Die Männer sahen sie verwirrt an. „Das heißt, er hat Neuigkeiten”, sagte Mayra. „Vielleicht sind sie gut.”

Galen seufzte und wandte sich an Rhia. „Ich brauche deine Hilfe.”

Rhia sperrte den Mund auf und schloss ihn genauso schnell wieder. Sie hatte noch nie erlebt, wie Galen einen Erwachsenen um Hilfe bat, ganz zu schweigen von einem Mädchen ihres Alters.

„Was soll ich – äh, was kann ich tun? Für Euch. Was kann ich für Euch tun?”, stammelte sie.

Gequält kniff Galen die dunkelblauen Augen zusammen. „Wie du weißt, ist mein Bruder Dorius sehr krank. Deine Mutter sagt, sie kann nichts mehr für ihn tun.”

Rhia nickte. „Das tut mir leid.”

„Du könntest ...” Sein Kiefer zitterte. „Wenigstens würde ich es dann wissen. Wissen, was kommt und wann.”

Rhia sah erst ihre Eltern an, dann Galen. „Ich verstehe nicht.” „Du hast die Macht”, platzte es aus ihm heraus. „Du weißt, wann der Tod kommt.”

Ihr wurde ganz schwindelig.

„Die Tiere”, sagte Galen. „Es hat mit deinem Hund angefangen. Ich habe Geschichten gehört. Und außerdem ...” Er straffte sich und sah wieder mehr wie der mächtige Mann aus, der er war. „Zu erkennen, was die Gabe von anderen ist, ist eine von meinen. Eine meiner Gaben. Sag mir, wenn du ein krankes Tier siehst, woher weißt du dann, ob es leben wird oder sterben muss?”

Sie wandte ihren Blick ab. „Das ist nur so ein Gefühl.” „Beschreib es mir.”

Rhia atmete tief ein und konzentrierte sich auf die Worte statt auf den Drang, wegzurennen. „Ich sehe sie an, sehe in ihre Augen und höre einen Vogel. Es klingt verrückt, aber wenn der Vogel davonfliegt, dann lebt die Kreatur, und wenn er landet, muss das arme Ding sterben. Und wenn er fliegt, dann weiß ich, wie er zurückkommen wird.”

„Wie wer zurückkommen wird?”, fragte Galen.

Sie antwortete nicht, sondern starrte nur auf einen Knoten in der hölzernen Oberfläche des Tisches. Sie wollte einen Finger hineinstecken und den Schlingen bis in die dunkle Mitte folgen, aber das, glaubte sie, würde unter den Umständen wohl zu kindisch wirken.

„Antworte ihm, Rhia”, forderte ihre Mutter sie sanft auf. „Krähe”, flüsterte sie. „Krähe kommt und nimmt sie mit auf die andere Seite. Und ich sehe dabei zu.” Noch leiser flüsterte sie: „Ich hasse es.”

Niemand hörte ihren letzten Satz, oder wenn doch, ließen sie es sich nicht anmerken. Galen schob seinen Stuhl über den Boden zurück und stand auf.

„Wirst du mir helfen, Rhia?”, fragte Galen. „Kommst du und siehst dir meinen Bruder an?”

Sie blickte zu ihm auf und zitterte. „Ihr wollt, dass ich es mit einem Menschen versuche?”

„Das ist deine Gabe”, sagte er. „Du hast die Gabe der Krähe.”

2.KAPITEL

Als sie sich dem Haus von Dorius, Galens älterem Bruder, näherten, dämmerte es bereits. Tereus war zu Hause geblieben, um sich um eine Stute zu kümmern, die kurz vor dem Abfohlen stand, aber Rhias Mutter ging neben ihr und hielt die Hand ihrer Tochter so fest, dass die ihre Mutter zweimal daran erinnern musste, sie nicht zu zerquetschen. Galen schritt ihnen eilig voraus, während Areas hinter ihnen hertrödelte. Rhias Beine schmerzten, aber wenn sie sich beschwerte, machte Mayras Aufregung alles nur noch schlimmer. So sah sie sich nach einer Ablenkung um.

Stille legte sich über das Dorf Asermos, auch wenn noch ein paar Dutzend Menschen über die breite Hauptstraße eilten, die an dem schläfrigen Fluss vorbeiführte. Ponys und Esel zogen ratternde Karren, auf denen Säcke voller Wolle, Korn oder frühem Frühlingsgemüse lagen. Die Tiere trotteten die sandige Straße hinab bis dorthin, wo die Boote im Hafen dümpelten. Kleine Gruppen aus Zechern gingen ihren Weg von einer Taverne zur nächsten, und einige von ihnen scherzten in Dialekten, die Rhia zuvor kaum gehört hatte. Jetzt, da der Fluss genug aufgetaut war, um eine Uberfahrt zu garantieren, erweckte das im Winter aufgestaute Bedürfnis nach Waren und Gesellschaft das Dorf zum Leben.

Nahe dem Eingang zur Taverne „Zum Fangzahn” lehnte ein großer, breitschultriger Mann am Gebäude aus Stein und Putz und rauchte eine Pfeife. Ein scharfer holziger Geruch ließ Rhia die Nase rümpfen, als sie vorbeigingen. Sie sah sich noch einmal nach ihm um. Sein glattes blondes Haar war im Nacken zu einem kurzen Knoten gebunden, und seine Augen funkelten im Licht der Laterne, während er die Stadt missbilligend betrachtete. Eine maßgeschneiderte Weste aus Brokatsamt und das lange, elegante Schwert an seiner Hüfte ließen ihn nicht nur in Asermos, sondern in der ganzen Gegend fehl am Platz wirken. Die grobe, einfache Kleidung ihrer eigenen Leute passte zu ihrem ländlichen Leben, und niemand würde es sich einfallen lassen, eine Waffe so leichtfertig wie ein Taschentuch zu tragen. Außerdem trug der Fremde keinen Fetisch, den Rhia erkennen konnte. Missbilligend runzelte sie die Stirn.

Die Alten sprachen oft von Männern aus dem fernen Süden – Nachfahren nannte man sie -, denen es an magischen Kräften fehlte und die menschengemachte Götter verehrten. Die Erinnerung an die imposante Gestalt des Mannes blieb, bis sie die schmale Straße erreichten, in der Dorius lebte.

Sie hatte Dorius mehrere Monate lang nicht gesehen. Er hatte schon über ein Jahr unter Muskelzuckungen und Schwäche gelitten, ehe er letzten Herbst bettlägerig geworden war. Als sie noch ein Kind gewesen und mit Areas gekommen war, um mit seinen Vettern zu spielen, hatten Dorius und seine Frau Perra immer dafür gesorgt, dass die Jungen Rhia bei ihren Spielen nicht ausschlössen.

Ihre Schritte wurden langsamer, als sie sich der Tür des blassgrün verputzten Hauses näherten. Was, wenn sie Dorius’ Tod sah? Wie konnte sie diesem freundlichen Mann, der vorzeitig gealtert war, in die Augen sehen und ihm sagen, dass keine Hoffnung bestand? Sie sprach ein stummes Gebet zu Krähe, dass er sein Leben und ihren Verstand beschützen möge.

Galen klopfte an die dunkle Holztür, die sich sofort öffnete. Perra nickte jedem von ihnen zu, ohne ein Wort zu sagen. Ihre großen grauen Augen waren voller Sorge. Es schien ihr schwerzufallen, ihre Gesichtszüge neutral zu halten, als sie Rhia ansah.

Das Bett stand an der gegenüberliegenden Wand auf einem geschnitzten Holzrahmen. Eine dürre Gestalt zeichnete sich unter der Decke ab. Galen führte Rhia ans Bett und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter.

Dorius erwachte schnaufend und sah sich um. Sein Blick aus trüben braunen Augen ruhte auf Rhia, und sie ließ den Atem, den sie seit ihrem Eintreten angehalten hatte, aus. Der schwache Klang von Flügelschlagen war nicht zu überhören. Der Tod des Mannes stand weder kurz bevor noch war er unumgänglich.

„Wir warten draußen”, flüsterte Galen.

Nachdem sie gegangen waren, schob Rhia einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. Dorius sah ihren Bewegungen zu, ohne ein Wort zu sagen. Seine blasse Haut und seine tiefen Augenringe ließen ihn so zerbrechlich wirken wie seinen Geist, den Schmetterling. Jetzt, da sein Sohn Jano verheiratet war und ein eigenes Kind hatte, hätten Dorius’ Gaben der Verwandlung in die dritte und letzte Phase eintreten sollen, bis zu dem Punkt, an dem er seinen geschundenen Körper erneuern konnte. Doch die Krankheit schwächte ihn zu sehr, als dass seine Magie wirken könnte, weder für sich selbst noch für andere.

„Ich habe Galen gebeten, dich zu bringen.” Die Stimme von Dorius war kaum mehr als ein Flüstern, als wäre sie ihm auf die andere Seite vorausgegangen und hätte nur einen Geist ihrer selbst zurückgelassen. „Es tut mir leid, wenn es dir Angst macht.”

Rhia schüttelte den Kopf, aber sie merkte selbst, wie leicht ihre Lüge zu durchschauen war.

Er legte eine schlaffe Hand auf ihre. In ihr war nur noch eine Spur Wärme, so wie in abgestandenem Badewasser. „Mein Bruder sagt, du wüsstest es.”

Tat sie das? Eine Wolke legte sich über ihr Bewusstsein. „Was glaubt Ihr, was mit Euch geschehen wird?”, fragte sie ihn.

Er lehnte seinen Kopf zurück. Graues und braunes Haar breitete sich über das Kissen aus und berührte seine Schultern. „Ich werde nie mehr sein, was ich war”, sagte er und sah an die Decke.

Rhias Herzschlag beschleunigte sich. Die Tiere, die sie besuchte, beschwerten sich nie darüber, alt oder krank zu werden. Sie hatten nur vor Schmerzen Angst, nicht vor dem Tod. Während ihrer eigenen Krankheit hatte sie mit aller Macht um das Leben gekämpft. Jeder erfolgreiche Atemzug erfüllte sie mit unsicherem Dank. Hier lag ein Mann vor ihr, der den Willen zu leben verlor. Nicht weil er leiden musste, sondern aus Stolz.

„Natürlich nicht!” Sie versuchte, nicht allzu hart zu klingen, aber die Worte flössen aus ihr heraus wie eisiges Wasser. „Wir sind nie, was wir einst gewesen sind. Wir werden geboren. Wir leben, und wenn wir Glück haben, werden wir alt. Dann sterben wir.” Ein anderer schien durch sie zu sprechen.

Schockiert starrte Dorius sie an, doch sie fuhr fort. „Versteht Ihr nicht? Jedes Mal, wenn wir uns verändern, ist es wie sterben, selbst wenn unsere Körper kräftig bleiben. Manchmal müssen wir die Person, die wir gewesen sind, hinter uns lassen.” Sie drückte seine kalten Finger. „Dorius, Ihr solltet das vor allen anderen verstehen. Wir können nicht ewig Raupen sein.”

Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass ich kein junger Mann mehr bin. Ich bitte nicht darum, wieder jung zu sein. Ich will nur nicht ...”

„Nutzlos sein?”

Als er sie ansah, blitzten seine Augen verständig auf. „Ich bin Perra eine Last. Ich kann mich nicht um die Schafe kümmern, ich kann nicht einmal meinen eigenen Enkel hochheben. Und meine Magie ist fort.”

„Aber Ihr seid es nicht.”

„Was meinst du damit?”

„All diese Dinge – Ehemann, Großvater, Schäfer, Magiebeschwörer -, sie sind wie ... die Biegungen eines Flussufers.”

„Das verstehe ich nicht”, sagte Dorius.

„Sie geben dem Fluss Form und bestimmen seinen Weg. Aber das Wasser selbst bleibt gleich, egal, woran es vorbeifließt und was es zurücklässt. Unter allem, was man anzieht und ablegt, bleibt eine Sache immer unverändert: die Seele.” Sie berührte seinen Arm. „Die Seele des Schmetterlings.”

Rhia setzte sich in dem Stuhl zurück und fragte sich, was die Quelle dieser Worte gewesen sein mochte. Sie dachte schon seit Jahren über diese Dinge nach, besonders während ihrer Krankheit hatte sie das getan, doch bis jetzt hatte sie sie niemals ausgesprochen.

Endlich erwiderte Dorius: „Dann liegt es also an mir, nicht wahr?”

„Ja.” Rhia stand auf. Ihr zitterten die Beine. „Jetzt erhebt Euch.”

Er sah sie fassungslos an. „Das kann ich nicht.”

„Tut es.” Ihre Stimme bebte. Sie war es nicht gewöhnt, Erwachsenen Befehle zu erteilen, aber das war der einzige Weg, ihm das Leben zu retten.

Er deutete auf seine Beine. „Ich bin seit Monaten nicht gegangen.”

„Dann kriecht.”

Dorius begann, die Bettdecke zurückzuschlagen, doch dann zögerte er. „Wie lange bleibt mir noch?”

Rhia improvisierte, um ihre Unsicherheit zu überspielen. „Wenn Ihr im Bett bleibt, höchstens noch einige Tage. Wenn Ihr jetzt aufsteht, weiß ich es nicht. Diesen Pfad kann ich noch nicht sehen, weil Ihr nicht getan habt, worum ich Euch bat.” Innerlich erschauerte sie ob der eigenen Unverschämtheit, aber sie hielt ihr Kinn erhoben. „Ich helfe Euch, wenn Ihr Hilfe braucht.”

Er winkte ab und hievte seine Beine, die von monatelangem Nichtstun abgemagert waren, stöhnend über die Bettkante. Rhia schob ihren Stuhl in seine Reichweite. Er legte den Arm, auf dem bereits der Schweiß glänzte, auf die Sitzfläche. Sie legte sich seinen anderen Arm um die Schultern und ignorierte sein stolzes Flehen.

Einen Augenblick saß er still da. Und dann erhob sich Dorius unter großer Anstrengung. Während sie gemeinsam unsicher schwankten, atmete Rhia durch.

Die Krähe war davongeflogen.

Sie stieß einen Freudenschrei aus. Die Tür sprang auf, und die anderen eilten herein. Perra nahm Rhias Platz ein, und Galen ergriff den anderen Arm seines Bruders.

„Bringt ihn nach draußen”, sagte Rhia.

Langsam näherten sie sich der Tür. Rhia ging vor, um sie weiter zu öffnen. Sie drehte sich um und sah, wie Dorius sie dankbar anblickte. Ihr Herz schwoll an. Er würde leben, er würde heilen, er würde ...

Bei allen Geistern, nein. Er würde sterben.

Sie schlug die Hand vor den Mund und konnte den Schrecken über die Vision in ihren Gedanken nicht verbergen.

Dorius wand sich in einem Laubhaufen auf dem Boden, der mit Blut befleckt war, Blut, das in sein Hemd gesickert war und zwischen seinen Fingern hervorquoll, als er versuchte, es aufzuhalten. Mit seinem letzten rasselnden Atemzug rief er den Namen seiner Frau.

Er starb allein.

Rhia hörte in dem Lärm der Schlacht kaum den eigenen Schrei. Jemand zerrte sie aus der Tür, aus Dorius’ Blickfeld.

Die Vision verschwand, und die Welt um sie herum verdunkelte sich.

Schaudernd erwachte Rhia. Der Boden unter ihrem Rücken war hart. Ihre Mutter entfernte etwas, das einen bitteren Geruch ausströmte, von ihrer Nase.

„Sie ist wach”, sagte Mayra.

Uber sich sah Rhia das Gesicht von Areas, das von tiefen Sorgenfalten durchzogen war. Feuer beleuchtete sein Haar und seine Haut.

Eine grobe Decke lag über ihr und juckte auf ihrer Haut. Rhia schlug sie zurück und spürte die Kühle des Abends. „Wo bin ich?”

„Im Haus meines Onkels und meiner Tante”, antwortete Areas.

Sie setzte sich sofort auf, und ihr schwindelte. „Dorius?”

„Es geht ihm gut.” Ihre Mutter lehnte sich gegen Rhias Schulter, um sie zu stützen. „Er ist draußen, mit Perra, und genießt die Nachtluft.”

„Wie spät ist es? Wie lange war ich ...”

„Nicht lange, vielleicht eine Stunde.” Mayra legte eine Hand auf Rhias verschwitzte Stirn. „Wie fühlst du dich?”

„Das ist nicht wichtig. Dorius – ich habe gesehen ...” „Nein!”

Vom Licht des Feuers in Schatten gehüllt, tauchte Galen hinter ihrer Mutter auf. „Sprich nie vom Tod, wenn er nicht kurz bevorsteht. Verstehst du?”

„Aber da war ...”

„Niemals!”

Sie schloss den Mund.

Areas kniete sich neben sie und sah zu seinem Vater hinauf. „Das hättest du ihr sagen sollen, bevor wir hineingegangen sind.”

Galens Augen blitzten auf. Dann blinzelte er einmal fest und seufzte. „Das war ein Fehler. Ich dachte, Dorius bliebe keine Hoffnung und sie würde nichts weiter sehen.”

„Dann ist es eine gute Sache, dass sie die Krähe ist und nicht du.” Rhia sah, wie Areas blass wurde, als ihm aufging, dass er zu weit gegangen war.

Galen sah ihn kalt an. „Warte draußen auf mich.”

Nach einem letzten Blick auf Rhia gehorchte Areas. Die Tür schlug zu.

Galen setzte sich mit verschränkten Beinen auf den Boden zu ihnen. „Es tut mir leid”, sagte er zu Rhia. „Es tut mir leid, dass du leiden musstest, dass du den wahren Tod meines Bruders sehen musstest. Deine Gabe ist die, mit der es sich fast am schwersten leben lässt.”

Angesichts dieser Untertreibung verkniff Rhia sich eine Antwort.

„Die Zeit ist gekommen”, fuhr Galen fort, „deine Gabe anzunehmen, ehe sie dich überwältigt.”

Rhia musste schlucken. „Ich muss in den Wald ziehen?” „Nicht nur das.” Er hob seinen Kopf und sprach mit Mayra. „Rhia muss bei jemandem lernen, der ebenfalls die Magie der Krähe besitzt. Ich habe eine Nachricht an eine Frau namens Coranna geschickt, die in Kalindos lebt, einige Tagesmärsche entfernt vom Ort der Weihung.” Er wendete sich wieder an Rhia. „Sie wird dich in der Kunst der Krähe unterweisen.”

Rhia schlang die raue Decke enger um sich, um das Zittern zu unterdrücken. „Wie lange werde ich dortbleiben?”

„Die Magie ist kompliziert, und niemand hier in Asermos hat Erfahrung damit.”

„Wie lange?”, wiederholte Rhia.

„Vielleicht ein Jahr oder länger, für die erste Phase. Später in deinem Leben, wenn deine Gaben sich weiterentwickeln, wird Coranna dir mehr beibringen.”

Mayra umfasste den Saum von Rhias Decke mit zitternden Händen. „Ist sie nicht zu jung?”, fragte sie Galen. „Ihr habt nur gesagt, Ihr wollt sie prüfen. Es war nie die Rede davon, dass sie sofort gehen muss.”

„Andere sind noch jünger gewesen.” Galen berührte Mayra an der Schulter. „Asermos braucht sie. Denk daran, wie ihre Gaben deiner Arbeit als Heilerin nützlich sein könnten.”

Rhias Mutter wandte sich ab und drehte sich ein Stück, damit er sie nicht mehr berühren konnte. „Ihr sprecht die Wahrheit, wie gewöhnlich.” Ihr Mund zuckte, als wollte sie noch mehr sagen.

Beim Gedanken daran, noch einmal dem Tod eines Menschen beizuwohnen, egal, ob er kurz bevorstand oder nicht, kam es Rhia so vor, als würde ihr Herz zu Stein.

„Zwei Generationen sind vergangen”, sagte Galen zu ihr, „seit jemand dem Prozess des Sterbens beigewohnt hat. Es ist schwer für jemanden, der so nah am Anfang des Lebens steht, sich seinem Ende zu verschreiben, aber willst du nicht in Betracht ziehen, die Reise auf dich zu nehmen, um mehr zu lernen?”

Durch die Vordertür hörte Rhia, wie Perra schluchzte, entweder aus Freude darüber, ihren Mann zurückzuhaben, oder aus Trauer bei dem Gedanken daran, dass sein Leben wie das aller anderen eines Tages enden würde. „Wann muss ich gehen?”, fragte sie Galen.

Er stand auf. „Wir können mit den Vorbereitungen beginnen, sobald du bereit bist.”

Rhia stellte sich das Herz eines dunklen Waldes vor, erinnerte sich an die Augen sterbender Tiere und an die Vision von Dorius’ blutendem Körper, der sich in den Blättern wand. Entschlossen schob sie den Unterkiefer vor und sah zu Galen auf.

„Ich bin noch nicht bereit.”

3. KAPITEL

Zweieinhalb Jahre später war Rhia noch immer nicht bereit. Nachdem sie den Tod von Dorius in einer Vision gesehen hatte, hatte sie sich vorgenommen, ihre Wahrnehmung des Todes auszuschalten. Doch in ganz Asermos flüsterte man immer noch, man flüsterte leise Worte, die sie für ihre Feigheit rügten. An ihrem sechzehnten und siebzehnten Geburtstag hatte Galen wieder versucht, sie zu überzeugen, ihre Ausbildung in Kalindos zu beginnen, und sie hatte sich weiterhin geweigert. Selbst ihre Brüder hatten sie für ihr Zögern geneckt.

Insgeheim wünschte sie sich, dass ihre Ablehnung von Krähe vielleicht einen anderen Geist dazu brachte, seinen Platz einzunehmen, einen, der in anderen und ihr selbst Anerkennung weckte statt Angst. Aber kein Geist kam, um mit ihr zu sprechen. Tatsächlich schienen sie sich alle weiter von ihr zu entfernen. Alle bis auf Krähe, der im grauen Raum zwischen Schlaf und Wachen flog und dessen Flügel ein warmes, weiches Geheimnis versprachen, dessen Blick die dunkelsten Winkel ihrer Seele erkannte und verstand.

In jedem Herbst, wenn die Blätter sich golden färbten und zur Erde fielen, suchte Rhia Dorius auf und untersuchte seine Umgebung nach irgendetwas oder irgendjemandem, von dem er die Wunde zugefügt bekommen konnte, die sie in ihrer Vision gesehen hatte. Schon die beiläufigste Bemerkung über Spannungen zwischen Asermos und seinen Handelspartnern raubte ihr für Wochen den Schlaf.

Jetzt war Spätsommer, und die Blätter rauschten grün und saftig an den Bäumen am Rande der Lichtung, auf der Rhia und Areas dicht nebeneinandersaßen. Die kleine Schafherde seiner Familie graste ein kurzes Stück entfernt von ihnen. Einige wanderten davon, um von dem breiten trägen Bach zu trinken, der sich vor der Lichtung um sich selbst schlang, ehe er sich im Herzen von Asermos mit dem Fluss vereinte. Selbst das kleinste Handelsschiff konnte diese flache Wasserstraße nicht befahren, deshalb waren Rhia und Areas glücklicherweise, herrlicherweise, allein.

Kleine Grashalme klebten an ihren ausgestreckten Füßen, die noch feucht vom Waten waren. Sie wackelte mit den Zehen und ließ die Sonne ihr nach oben gestrecktes Gesicht wärmen. Rhia genoss diesen seltenen Nachmittag fern von der Farm. Ihr Bruder Lycas hatte für einige Stunden ihre Aufgaben übernommen, und sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, um welchen Gefallen er sie bei ihrer Rückkehr bitten würde. Darüber würde sie sich am Abend oder am folgenden Tag Sorgen machen. Jetzt war sie hier, und es war gut.

Ein weißes Tuch voll reifer Himbeeren, die sie auf ihrem Weg zu Areas gesammelt hatte, lag in ihrem Schoß. Er ließ sich viel Zeit dabei, sie sich auszusuchen, berührte die Haut unter ihrem dünnen Rock jedes Mal, wenn er sich eine Beere nahm, und versuchte damit schamlos, sie dazu zu bringen, selbst so rot wie die Früchte zu werden.

„Ich kann mich nicht entscheiden”, sagte er, „ob ich sie essen oder dir in die Haare schmieren will.”

„Sind dir meine Haare nicht rot genug?” Wie immer hatte die Sommersonne ihre dunklen Locken mit einem rostigen Schimmer überzogen.

„Dein Haar ist vollkommen, aber es wäre lustig, dich kreischen zu hören.”

Rhia nahm selbst eine Handvoll Beeren und zerdrückte sie in ihrer Hand. „Großartige Idee.” Sie schmierte den Matsch von den Wurzeln bis zu den Spitzen in seine Haare.

Sein Aufschrei hallte vom gegenüberliegenden Ufer des Baches zurück. Er packte ihr Handgelenk und drückte zu, bis ihre Hand sich öffnete und den roten Saft freigab, den er über die Vorderseite ihres Kleides schmierte, bis ein kleiner verschwommener Handabdruck zu sehen war. „Da. Erklär das mal deiner Mutter.”

„Heute muss ich ihr überhaupt nichts erklären”, erwiderte Rhia.

„Was meinst du?”

Sie sah sein verwirrtes Gesicht einen Augenblick an, ehe sie den Mut verlor. „Egal.” Sie suchte nach einem Thema, das seine Neugierde ablenken würde. „Deine Weihung letzten Monat. Wie war sie?”

Seine dunklen blauen Augen wurden unnahbar und kalt. Die Ablenkung war gelungen. „Du weißt, dass ich dir das nicht erzählen darf.”

„Kannst du mir sagen, ob du Angst hattest?”

Areas verzog das Gesicht. „Ich dachte, ich muss sterben.” Er sah ihr in das erschütterte Gesicht. „Aber das tut nie jemand.”

„Niemand? Kannst du dir da sicher sein?”

„Mein Vater hat es mir gesagt. Er bereitet dich auf alles vor, was du wissen musst.”

„Aber nicht auf die Angst. Darauf bereitet er einen nicht vor?”

Areas seufzte ungeduldig. „Jeder, der sich so viele Gedanken um seine Angst macht wie du, ist so vorbereitet, wie man nur sein kann.”

Sie versuchte, ihr Gesicht abzuwenden, aber er hielt sie mit den Fingerspitzen auf und drängte sie sanft, seinen Blick zu erwidern.

„Rhia, Liebste, du musst gehen. Deine Zeit ist längst gekommen.”

Sie schüttelte den Kopf. „Dann müsste ich dich verlassen.” „Für kurze Zeit. Dann kehrst du mit deiner Gabe zurück.” Sie dachte an den Krieg, dem Dorius zum Opfer fallen würde. „Aber was ist, wenn, während ich weg bin ...”

„Schsch.” Er küsste sie, und sie löste sich von ihm.

„Du verstehst das nicht”, sagte sie. „Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.”

„Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst und dass du dir nur auf eine Art Erleichterung verschaffen kannst, nämlich indem du lernst, dich deinen eigenen Gaben zu stellen.” Er legte seine Hand auf ihre Hüfte und schmiegte die Nase an der Stelle, an der ihr Hals in ihre Schulter überging. Sie schloss für einen Augenblick die Augen, um das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut zu genießen, nahm dann all ihren Mut zusammen und kam wieder auf das Thema zu sprechen, von dem sie zuvor abgelenkt hatte.

„Ich habe ein Geheimnis”, sagte sie.

Er hob den Kopf und runzelte die Stirn, sagte aber nichts. „Meine Mutter hat gemerkt, wie nah wir uns sind, du und ich”, fuhr Rhia fort, „deshalb hat sie mich zu Silina geschickt.”

„Silina? Die Schildkrötenfrau? Ich dachte, sie hilft den Frauen dabei, Kinder zu bekommen.” Er lehnte sich zurück und starrte ihren Bauch an. „Bist du ...”

„Natürlich nicht. Silina hilft den Frauen wirklich dabei, Kinder zu bekommen. Oder eben, sie nicht zu bekommen.”

Areas neigte den Kopf zur Seite. „Wie? Wie, keine bekommen?”

Amüsiert über seine Unschuld und sein Stammeln, grinste Rhia. „Mit Kräutern natürlich.” Sie deutete auf die feinen weißen Blüten, die ihre Köpfe über die ganze Lichtung neigten. „Wilde Möhre. Ich ernte jeden Spätsommer die Samen für meine Mutter, schon seit ich ein kleines Mädchen war. Sie nennt sie die ,Freiheitsblüte’ der Frauen, aber das hat sie mir nie erklärt.”

„Bis jetzt.”

„Bis jetzt. Und unser ... unser Zusammensein muss zur richtigen, ähm, Mondphase stattfinden.”

Er ließ den Blick über den blauen Himmel schweifen, bis er die Sichel des zunehmenden Mondes entdeckte. „Ist das ein guter Mond?”

„Für mich ist er gut.” Sie nahm seine Hand und küsste die samtige Haut innen an seinem Handgelenk, eine der wenigen Stellen an seinem Körper, die nicht durch seine Arbeit als Schäfer hart und gebräunt war. „Für uns ist er sehr gut.”

Ohne ein weiteres Wort zogen sie einander aus. Sie zitterten dabei mehr als sonst. Dann streckten sie sich auf dem weichen Gras aus. Sie hatten schon vorher so gelegen und ihre Körper entdeckt und genossen, doch dieses Mal würde es nicht mit Sehnsucht enden, sondern mit Erfüllung.

Rhia folgte mit den Fingern einem kleinen Schweißtropfen, der über Areas’ breite Brust und seine Schultern lief. Plötzlich zögerte sie. Wenn sie sich erst vereint hatten, wie konnte sie ihn dann je wieder verlassen? Jetzt verstand sie, warum sie warten sollten, bis sie beide ihre Gabe bekommen hatten. Sie war noch nicht vollständig.

Areas’ Miene verdunkelte sich. „Was ist los?”

„Wenn ich fortgehe, wartest du dann auf mich?”

„Das werde ich.” Mit dem Daumen strich er ihr über die Unterlippe, was sie zugleich verführerisch und tröstend fand. „Und was ist mit dir?”

Rhia versuchte zu antworten, versuchte, die richtigen Worte für diese Liebe zu finden, die in ihrem Herzen leben würde, bis es aufhörte zu schlagen. Es gelang ihr nicht.

Stattdessen küsste sie ihn lang und tief und drängte sich ihm entgegen, damit seine Hitze die Sorgen und Zweifel in ihren Gedanken verbrannte. Areas stöhnte, und er ließ die Arme ihren Rücken hinabgleiten, um sie ihr um die Taille zu schlingen. Rhia spreizte die Beine und gewährte seinen suchenden Fingern Einlass. Eine vertraute Wärme breitete sich in ihr aus und entzündete ein noch vertrauteres Verlangen in ihr.

Er zog sie auf sich und drang vorsichtig, wenn auch etwas ungeschickt in sie ein.

So bereit sie auch war, ihn zu empfangen, mit so viel Schmerzen hatte Rhia nicht gerechnet. Die Schärfe ihres Aufschreis ließ Areas erstarren. Aus weit aufgerissenen Augen sah er sie an.

„Es tut mir leid”, sagte er. „Oh mein Liebling, es tut mir so leid.” Zärtlich streichelte er ihr Haar und die Schläfe. „Sollen wir aufhören?”

Sie wollte Ja sagen, wollte sich anziehen, vielleicht sogar in den kühlen Fluss springen, um den Schmerz zu lindern. Stattdessen atmete sie tief durch und schüttelte den Kopf.

Danach bewegte er sich langsamer in ihr, und als sie die Augen öffnete, sah sie, wie er auf ihrer Miene Anzeichen von Schmerz, den sie vielleicht verbarg, suchte. Endlich lag er still und legte seine Handflächen neben sich auf den Boden.

„Du”, sagte er.

Rhia hielt inne und fragte sich, ob sie das konnte, ob sie sich weiter solchen Schmerzen aussetzen konnte. Sie schloss die Augen und sprach ein Gebet um Stärke zu jedem Geist, der ihr zuhören mochte.

Vorsichtig bewegte sie die Hüften, bis sie spürte, dass sie etwas weiter wurde. Der Schmerz ließ langsam nach, und stattdessen spürte sie etwas, das dem ähnlich war, was Areas sie sonst mit Händen und Lippen spüren ließ. Doch dieses Gefühl, wurde ihr bald klar, würde sie noch viele Meilen weiter tragen.

Die Hitze zwischen ihnen wurde fast unerträglich, und Rhia hob den Oberkörper, um sich abzukühlen. Dabei gewährte sie Areas noch tieferen Einlass. Sie beide schrien vor Überraschung auf. Sein Rücken bog sich durch, seine Muskeln waren angespannt, und sein Blick flehte: Lass mich ...

„Ja”, sagte sie, und er ließ sich gehen.

Immer wilder streichelte er sie, als versuchte er, sie überall zugleich zu berühren. Sie wiegte seinen Kopf an ihrer Brust, und er nahm eine ihrer Brustwarzen in den Mund, als seine Hüften sich unter ihr aufbäumten. Sie hatte sich noch nie so mächtig gefühlt – und zugleich so hilflos. Der Schrei, der aus ihrer Kehle drang, war der einer Frau, der sie erst noch begegnen musste.

Das Letzte, was sie sah, ehe sie auf Areas’ Brust zusammensank, war der leuchtend blaue Himmel, der sich in seinen erstaunten Augen spiegelte.

Sie lagen schweigend zusammen und warteten, bis ihr Atem sich verlangsamte. Areas fuhr mit den Fingern durch Rhias Haare und löste vorsichtig die Kletten. „Es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe.”

„Nächstes Mal wird es besser.”

„Besser kann ich es mir nicht vorstellen.”

Rhia lächelte, drehte sich dann auf den Rücken und zuckte zusammen, als sie merkte, wie wund sie war. Sie verspürte plötzlich das Bedürfnis, sich zu baden, erhob sich auf unsicheren Beinen und löste sich aus seinen Armen. Sie gratulierte sich selbst, ein seltenes Mal Mut gezeigt zu haben, und stakste langsam zum Fluss. Das Rascheln des Grases verriet ihr, dass Areas ihr folgte.

Kleine Fische stoben mit silbern blitzenden Flossen auseinander, als ihre Füße durch die warmen Untiefen wateten. Nach einem Dutzend Schritten erreichte der Bach ihre Hüfte. Sie nahm Wasser in ihre hohlen Hände und streckte die Arme weit aus. „Segne die Schildkröte, die Leben schenkt”, murmelte sie, als das Wasser durch ihre Finger tropfte.

An ihrer Seite antwortete Areas: „Und segne die wilde Möhre, die es verhindert.”

Sie grinste ihn an und beugte sich dann vor, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Mit einem sanften Stoß brachte er sie zum Umfallen. Sie zappelte einen Augenblick, ehe er ihren Arm gerade rechtzeitig ergriff, um sie vor dem Untergehen zu retten.

„Hey!” Mit der freien Hand schlug sie ihm gegen die Brust. „Nach dem, was gerade passiert ist, könntest du aufhören, mich als kleines Mädchen zu sehen, das du ärgern kannst.”

„Erwachsene Frauen beschmieren andere nicht mit Beeren.” Er beugte sich vor, um die klebrige Masse aus seinem Haar zu waschen. „Außerdem macht es mir Spaß, dich zu ärgern. Würdest du mir das nehmen wollen ...” Plötzlich richtete er sich auf und blickte hinüber zum Ufer. „Da kommt jemand.”

„Ich kann nichts hören.”

„Sie sind noch weit entfernt.” Er horchte noch einen Augenblick, seine Bärensinne angespannt. „Aber sie kommen schnell.”

Sie planschten durch das Wasser zurück zur Lichtung und rannten den Hügel hinauf bis dorthin, wo sie ihre Kleidung zurückgelassen hatten. Areas half ihr, ihr Kleid zu schließen, und beeilte sich dann, seine Hosen und sein Hemd anzuziehen. Rhia hörte das Donnern sich nähernder Hufe.

Areas wandte sich dem anderen Ende der Lichtung zu und schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab. Zwei Punkte näherten sich, einer weiß, der andere kastanienbraun.

„Ist das da dein Bruder, auf der grauen Stute?”, fragte Areas sie. „Er treibt sie furchtbar hart an.”

„Das tun die beiden immer.” Rhia saß im Gras, um sich die Schuhe anzuziehen. „Besonders Lycas. Er kann nicht auf den Markt gehen, um Milch zu kaufen, ohne so zu tun, als wäre ihm ein Lauffeuer auf den Fersen.” Sie lachte in sich hinein, selbst als eine undefinierbare Angst ihr Herz zum Klopfen brachte.

„Das ist er. Und ... mein Vetter Gorin?” Er drehte sich zu ihr um. „Sie mögen einander nicht mal. Warum sollten sie ...”

Rhia hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie sah ihren Bruder, der sich tief über den Hals seines weißen Pferdes beugte. Sein Haar, genauso schwarz und glänzend wie das ihrer Mutter, wehte hinter ihm im Wind. Sie begann zu rennen.

Sie trafen rasch aufeinander. Die hinteren Hufe von Lycas’ Pony rutschten, als er es zum Stehen brachte. Sein Gesicht war nass vor Schweiß, jedenfalls hoffte Rhia, dass es nur das war, und seine dunklen Augen sahen sie lodernd an.

„Es ist Mutter”, sagte er. „Ich glaube, sie stirbt.”

4. KAPITEL

Rhia klammerte sich an die Hüfte ihres Bruders und versuchte, den Schmerz, der ihren Körper entzweizuspalten schien, nicht zu beachten. Die Gangart des Ponys war schnell, aber nicht gleichmäßig – jeder Galoppsprung drohte sie in der Mitte zu zerreißen.

Und doch machte es ihr kaum etwas aus. Ihre Mutter lag im Sterben. Rhia hatte keine Zeit gehabt, Lycas Fragen zu stellen, ehe Areas sie hinter ihren Bruder gesetzt und sie sich auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Jetzt würde der Wind, der Lycas’ Haare in ihr Gesicht schlug, ihre Stimme davontragen – ganz zu schweigen vom Trommeln der Hufe und dem schweren Atem der Stute. Das arme Tier war verausgabt, aber es hielt sich tapfer.

Rhia wandte den Kopf und bemühte sich, die Hufschläge von Areas’ Pony zu hören, dem Pony, das Gorin gebracht hatte, der geblieben war, um auf die Schafe aufzupassen. Aber der Wind verschluckte alle Geräusche, und selbst diese kleine Bewegung drohte sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht, dachte sie, sollte ich mich auf den Schmerz konzentrieren. Lieber auf das als auf die Szene, die vor mir hegt. Was werde ich sehen, wenn ich nach Hause komme? Werden die schweren Flügel sich heben oder davonrauschen? Sie hatte sich noch nie einem Menschen gestellt, dessen Tod kurz bevorstand. Jetzt wünschte sie, sie hätte es getan, damit der erste Mensch nicht die Person war, die Rhia über alles hebte, die Person, die ihr wieder und wieder das Leben geschenkt hatte, nicht nur bei ihrer Geburt, sondern in jedem darauffolgenden Jahr erneut.

Lycas lenkte das Pony plötzlich nach rechts, um einem kleinen grauen Stein auszuweichen, der aus dem langen Gras der Lichtung hervorragte. Sie begannen den Hügel zu erklimmen, doch ihr Tempo wurde nicht langsamer, ehe sie die Wälder erreichten, wo sogar Lycas nicht so leichtsinnig war, blindlings voranzustürzen. Das Pony verlangsamte seine Schritte und schüttelte den Kopf. Als Rhia wieder zu Atem gekommen war, rang sie sich die Worte ab, die sie sagen wollte – und auch nicht. „Was ist passiert?”

„Sie ist zusammengebrochen.” Lycas’ Stimme war deutlich und seine Atmung von ihrem harten Ritt kaum beschleunigt. „Sie hat gesagt, sie hat Schmerzen in der Brust.”

Rhias Herz schien sich zusammenzuziehen. Sie wartete darauf, dass er fortfuhr.

„Als ich gegangen bin ...” Seine Schultern bebten. „Als ich gegangen bin, um dich zu holen, konnte sie kaum atmen.” Er fluchte leise vor sich hin. „Mögen die Geister dieses Gestrüpp holen.” Er fasste hinab und drückte einen langen Zweig wilder Himbeeren fort von der Brust seines Ponys. Blut sickerte aus kleinen Schnitten an seinem Arm, aber er zuckte nicht einmal zusammen.

„Hat jemand einen Heiler geholt?”

„Silina war gerade dabei, Kräuter mit ihr zu trocknen, als es passiert ist. Sie konnte nicht viel tun, außer es Mutter bequem zu machen. Nilo hat sich auf die Suche nach Galen gemacht, nur für den Fall ...”

„Den Fall?”

„Den Fall, dass sie stirbt. Jemand muss ihren Geist vorbereiten.” Er sprach durch zusammengebissene Zähne. „Weil wir keine Krähe haben.”

Rhia brannte das Gesicht. Ihre Stimme brach, als sie versuchte zu antworten. Aber dann lag die Lichtung vor ihnen, und Lycas schlug dem Pony die Hacken in die Rippen. Das Pferd, wieder zu Kräften gekommen, preschte vor, und Rhia musste sich am Hemd ihres Bruders festklammern, um nicht zu fallen.

Das Licht der Sonne blendete sie, als sie auf die Lichtung hinausbrachen. Ihr Haus tauchte auf dem Hügel auf. Niemand war auf der Koppel oder in den Zwingern zu sehen. Als sie in Rufweite kamen, rannten drei Hunde aus dem Zwinger, streckten sich, beugten sich nieder und wedelten ihnen hinter dem Zaun mit den Schwänzen entgegen.

Als Lycas das keuchende Pony endlich vor dem Haus zum Stehen brachte, öffnete sich die Tür sofort. Ihr Bruder Nilo kam heraus und griff nach den Zügeln.

„Es ist alles in Ordnung”, sagte er zu ihnen. „Sie ruht sich jetzt aus.”

Er legte seine Hände um Rhias Taille und hob sie vom Pony. Ihr Körper schien zu ächzen, als sie sich über die verstaubte, verschwitzte Haut strich. Auch wenn er sie sanft absetzte, fühlte es sich an, als hätte jemand zwei spitze Zaunpfähle in ihre Hüfte getrieben, als sie mit den Füßen den Boden berührte.

„Geht ihr zwei schon rein”, forderte Nilo sie auf, „ich kühle die Ponys ab.” Er zog der Stute die Zügel über den Kopf und führte sie mit raschen Schritten davon. Rhia sah sich um und war dankbar, dass sein Blick sie nicht anklagend durchbohrt hatte wie der seines Zwillings. Auch wenn sie gleich aussahen und manchmal sogar zur gleichen Zeit sprachen, schienen Nilos Gedanken und Gefühle sich nach innen zu richten, statt nach außen Funken zu schlagen und die Umstehenden zu verbrennen.

Ihre Hand wurde warm, und sie sah hinab und fand Lycas’ lange, kräftige Finger um ihre geschlungen. Ihr Griff machte ihr genug Mut, um das Haus zu betreten.

Ihr Vater kam auf sie zu, aber sie sah an ihm vorbei zu dem kleinen Bett, in dem ihre Mutter lag. Tereus sprach Rhias Namen, und seine Lippen bewegten sich noch weiter, aber der Rest seiner Worte ging auf dem Weg zu ihr verloren.

Verloren im Rauschen von Flügeln.

Das Geräusch steigerte sich, bis sie das Wimmern aus ihrer Kehle nur noch spüren, aber nicht mehr hören konnte. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie versuchte, auf den Boden -sogar durch den Boden – zu sinken, aber Lycas schloss seinen Griff fester und zog sie wieder auf die Beine. Sie riss sich los und bedeckte ihre Ohren, kniff die Augen zusammen, als käme das Gefühl, die Sicherheit, von der Außenwelt und als könnte sie es abschirmen und sich davon abwenden. Aber sie konnte sich nirgends hinwenden. Krähe würde bleiben.

Rhia wich gegen die Tür zurück und tastete ungeschickt nach dem Riegel.

„Was machst du da?” Lycas schüttelte sie bei den Schultern. „Sie kann dich hören, du dummes Ding.”

Scharf atmete sie ein und erstickte die eigenen leiderfüllten Schreie. Ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie beinah weiß wurden. Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie ihr Vater vor Lycas trat. Er zog sie fest an sich.

„Papa, es tut mir leid”, flüsterte sie gegen seine Brust.

Er streichelte ihr Haar. „Ich weiß. Ich wusste, schon ehe du gekommen bist, dass wir nichts tun können. Dennoch habe ich gehofft ...” Tereus schnitt sich selbst das Wort ab und trat ein Stück zurück, um sie anzusehen. Er strich ihr eine Haarsträhne, die nass vor Tränen war, von der Wange. „Ich wünschte nur, du müsstest es nicht so deutlich sehen.”

„Ich sehe es nicht nur, Papa. Ich fühle es.” Ihre Seele schien so schwer zu sein wie ein Sack voll nasser Saat, und sie wollte zusammenbrechen, wollte sich dem Gewicht des bevorstehenden Todes ihrer Mutter ergeben.

Der große Vogel, den sie auf ihrer Schulter spürte, war nicht echt. Sie konnte ihn nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Händen berühren. Aber er berührte sie, seine Krallen drückten sich in ihre Haut, und in diesem Augenblick war er die wirklichste Sache im ganzen Raum.

„Geh zu ihr”, sagte Tereus. „Und Lycas hat recht, du musst stark sein. Trockne dir die Augen.”

Rhia atmete tief ein und spannte jeden Muskel an, um die Kontrolle zu bewahren. Ihr Ausatmen war schon weniger bebend. Entschlossen wischte sie sich die Wangen und die Höhlen unter ihren Augen trocken.

Ihre Beine trugen sie wie von selbst durch den Raum, und sie war ihnen dankbar dafür. Zum ersten Mal bemerkte sie Galen, der zu Mayras Füßen auf dem Boden saß. Er betrachtete sie mit einem undurchdringlichen Blick, als sie an ihm vorbeiging.

Das Gewicht auf ihren Schultern und auf ihrem Gewissen wurde mit jedem Schritt schwerer. Es war eine Erleichterung, auf das Bett neben ihre Mutter zu sinken. Sie griff nach Mayras Hand, doch dann zögerte sie. Mayras Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war entspannt, ihre Haut bleich, ihr dunkles Haar behutsam auf dem Kissen zurechtgelegt. Sie sah friedlich aus – und vollkommen fremd.

Wer war diese Fremde? Eine zukünftige Leiche. Nicht ihre Mutter. Dann bestand doch keine Gefahr.

Sie berührte Mayras Hand, und ihre Mutter öffnete die Augen. Sofort verschwand die Distanz zwischen ihnen. Rhia fühlte sich wieder leicht, als wäre sie nur eine Tochter. Sie hielt ihre Tränen zurück, aber sie wusste, dass ihre Augen dennoch glänzten, als sie die sterbende Frau ansah.

Mayras Daumen zuckte an Rhias Handgelenk, als versuchte sie, ihre Hand zu drücken. Sie öffnete ihre trockenen Lippen, um zu sprechen, jedoch erfolglos.

„Schsch”, flüsterte Rhia. „Wir können später reden, wenn du dich ausgeruht hast.”

Mayra kniff ungläubig die Augen zusammen. Sie neigte das Kinn, um Rhia näher zu sich zu bitten. Rhia beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren.

„Ja?”, war alles, was ihre Mutter sagte. Rhia sah ihr in die Augen und nickte langsam. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern und fiel auf Mayras Lippen.

„Es tut mir leid, Mutter. Ich wünschte ...” Flehend sah sie Mayra an, erwartete von ihr Trost oder gutes Zureden, wie immer, wenn Rhia bekümmert war.

Stattdessen starrte Mayra nur mit großen, starren Augen an die Decke. Ihre Hand wurde kalt.

„Mutter?” Fast panisch schüttelte Rhia sie an der Schulter. „Mama?”

Mayra blinzelte und nahm einen langsamen Atemzug, der ihr Schmerzen zu bereiten schien. Ohne Rhia anzusehen, flüsterte sie: „Ich habe Angst.” Noch ein langer Atemzug. „Ich habe Angst, Rhia. Hilf mir.”

Rhias Blick fiel auf Galen. Der hielt den Blick auf Mayra gerichtet und seufzte.

Die Tür öffnete sich hinter ihr. Die massige Gestalt von Areas erschien neben Nilos muskulösem Körper. Die zwei Männer waren nur Umrisse im Sonnenschein, der von draußen hereinschien, also konnte sie ihre Gesichter nicht erkennen. Eine geflüsterte Unterredung mit Lycas gab die schlimmen Nachrichten weiter.

Rhia drehte sich wieder ihrer Mutter zu und fühlte in ihrem Rücken jeden Blick im Haus, das immer voller wurde und zunehmend erdrückend schien.

Mayras Lippen bewegten sich und formten ein einziges Wort. „Wann?”

Rhia sah zu Galen.

„Du kannst es wissen”, sagte er.

Sie wendete sich an ihre Mutter. „Warte einen Augenblick.” Rhia schloss die Augen und umklammerte Mayras kalte Hand. Sie richtete ihre Gedanken auf Krähe, dessen Anwesenheit schimmernd schwarz und violett über ihrer Schulter schwebte. Sein Geist vereinte sich mit ihrem, sein Wissen und seine Sicherheit breiteten sich über ihr Bewusstsein aus wie ein Paar schwarze Flügel.

Ihre Mutter hatte Kraft. Nicht genug, um zu überleben, aber noch genug, sich zu verabschieden.

„Einen Tag oder zwei”, sagte Rhia schließlich. „Ich wünschte, es wäre mehr, aber ...” Sie konnte den Satz nicht beenden: Du hast nicht genug Leben.

Mayra entspannte sich, und ihre Hand erschlaffte. „Ich kann schlafen.”

„Ja. Gut.” Ihr wurde klar, dass ihre Mutter gefürchtet hatte, nie wieder zu erwachen. „Brauchst du noch eine Decke?”

Mayra wiegte den Kopf fast unmerklich von einer Seite auf die andere und schloss die Augen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Rhia starrte ihre Mutter an und versuchte, sich jedes einzelne Detail ihres Aussehens einzuprägen.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Lass uns unter vier Augen sprechen”, sagte Galen.

Nur widerwillig ließ Rhia die Hand ihrer Mutter los und folgte ihm zur Tür. Als sie und Galen in den Sonnenschein hinaustraten, sah Rhia zurück und bemerkte ihren Vater, der mit geneigtem Kopf bei Mayra saß.

Der sonnige Tag schien ihre Stimmung und die Dunkelheit, die jetzt für immer in ihr sein würde, zu verspotten. Die Luft war so klar und rein, dass sie sogar das weit entfernte braune Gesicht des Berges Beros im Nordwesten unverhüllt von Sommernebeln sehen konnte.

„Ich hätte schon lange gehen sollen”, sagte sie zu Galen. „Reue hat keinen Sinn.”

„Wolltest du mir nicht genau das sagen, dass ich hätte gehen sollen, als du mich darum gebeten hast? Du hattest recht.”

„Wichtig ist nur, dass du deinen Frieden findest, Frieden in dir selbst, den du dann deiner Mutter in ihren letzten Stunden mit auf den Weg geben kannst.”

„Wo soll ich ihn finden?” Sie deutete auf ihre Umgebung. „Unter welchem Stein, in welchem Baum?” Wütend trat sie gegen einen kleinen Zweig, der im Sturm der vorhergehenden Nacht auf ihren Hof geweht worden war. „In mir ist kein Frieden, und es fühlt sich an, als käme er nie wieder.”

Galen zog seinen großen Lederbeutel hervor. Er lockerte den Knoten und nahm eine schwarze Feder, die so lang war wie seine Hand, heraus. Er hielt sie ihr an einem Lederband hin.

„Es wird Zeit für dich, dies zu bekommen.”

Sie wollte danach greifen, tat es aber nicht. „Ich war noch nicht einmal bei meiner Weihung.”

„Du wirst gehen”, sagte er, „nachdem du getrauert hast. In der Zwischenzeit hilft dir dies dabei, deine Kräfte zu konzentrieren. Deine Mutter braucht sie.”

Sie nahm ihm die Feder ab und strich über die glatte Oberfläche. „Was soll ich tun?”

„Das wirst du schon wissen.”

Rhia unterdrückte ein frustriertes Seufzen.

„Wie lange hat sie noch zu leben?”, fragte er sie.

„Sie wird noch einen Sonnenaufgang sehen, aber nicht mehr, denke ich. Ich will ... ich will die ganze Nacht bei ihr bleiben. Ihr helfen, obwohl ich nicht weiß, wie.”

„Krähe wird es dir zeigen, so gut er kann. Ich kehre morgen früh, sobald es geht, zurück. Jetzt braucht sie ihre Familie.” Er wandte sich dem Haus zu.

„Wartet”, sagte sie. „Was werdet Ihr für sie tun? Könnt Ihr ihr bei der Reise helfen? Machen, dass sie nicht so große Angst hat?”

„Ich kann ihr helfen, ihr Gewissen zu erleichtern, was das Leben angeht. Der Rest hegt bei ihr. Und bei dir natürlich.” Er legte seine Hand wieder auf ihre Schulter. „Es tut mir leid, Rhia. Dazu hätte es nicht kommen sollen.”

Während er sich entfernte, fragte sie sich, ob er sie damit trösten oder rügen wollte. Wahrscheinlich beides. Galens Worte hatten niemals nur eine Bedeutung.

Nach wenigen Augenblicken trat Areas allein aus dem Haus. Ohne zu zögern, schlang er seine Arme um Rhias schmalen Körper und hielt sie fest, während sie weinte. Was sie ihm nicht sagen konnte, war, dass sie nicht nur um den Tod ihrer Mutter weinte, sondern auch um einen Teil von sich, der sich einmal vollkommen lebendig angefühlt hatte.

Auch wenn Areas’ Körper weit entfernt zu sein schien, klammerte sie sich an ihm fest, so als würde er allein sie in der Welt verankern.

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5.KAPITEL

Kerzen tauchten die Wände von Rhias Zuhause in honigfarbenen Glanz, als die Dunkelheit sich über den Himmel erstreckte. Rhia schloss die Vorhänge am Fenster und fragte sich, ob das der letzte Anblick der Außenwelt gewesen war, den ihre Mutter jemals sehen würde. Nein, dachte sie. Sie soll den Sonnenaufgang sehen, selbst wenn man sie nach draußen tragen muss.

Sie wandte sich wieder dem Tisch zu, wo ihre Brüder und ihr Vater schweigend beisammensaßen. Es wäre großzügig, die Mahlzeit vor ihnen als halb verzehrt zu bezeichnen, das Essen auf den Tellern war eher neu geordnet als verspeist worden.

Silina saß bei Mayra und beobachtete ihren Atem. Sie hatte angeboten, sich um Mayras körperliche Bedürfnisse zu kümmern, damit die Familie sich um die eigene Trauer kümmern konnte.

Rhia fragte sich, ob Silinas Hilfe es für sie nicht noch schwerer machte. Ihnen blieb nichts, als einander anzusehen. Sie hatten vorgehabt, sich abwechselnd zu Mayra zu setzen, während die anderen schliefen, aber Rhia hatte den Verdacht, dass nur ihre Mutter in dieser Nacht Schlaf finden würde.

„Sie ist wach”, zerschnitt Silinas sanfte Stimme das Schweigen, so als hätte sie geschrien und nicht geflüstert.

Die drei Männer standen auf. Lycas und Nilo setzten sich wieder und zollten damit ihrem Stiefvater grollend Respekt. Tereus trat an Mayras Seite.

Silina näherte sich dem Fenster, wo Rhia stand. „Sag mir, wie ich helfen kann. Ich könnte die Hunde füttern oder die Pferde oder Wasser holen.”

„Das ist alles erledigt”, beteuerte Rhia. „Wir haben schon mehrmals nach den Tieren gesehen. Es gibt nichts zu tun, außer zu warten.”

Silina sah über die Schulter zu Lycas und Nilo, die am Tisch vor sich hin grübelten. „Ich denke, die Familie könnte andere Dinge tun, außer zu warten.” Sie nahm eine Laterne und schlüpfte nach draußen.

Rhia dachte über ihren Rat nach. Uber ein Jahr war vergangen, seit sie das letzte Mal einen Abend mit ihren Brüdern verbracht hatte. Sie setzte sich an den Tisch neben Nilo.

„Erzählt mir eine Geschichte”, bat sie die beiden.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sahen sie einander an. Lycas sagte: „Wir kennen keine Geschichten, die, na ja ...”

„Passend wären”, vollendete Nilo den Satz.

„Es ist mir egal, ob sie passen oder nicht. Erzählt mir eine der Geschichten von der Jagd mit Rhaskos.”

Nilos Lippen drohten sich zu einem Lächeln zu verziehen. Jetzt?”

„Sie bringen dich zum Kichern”, sagte Lycas zu Rhia.

„Ich weiß.”

Er blickte in Richtung ihrer Mutter. „Glaubst du wirklich ...”

„Ich glaube, sie würde ihre Kinder hebend gern wieder zusammen lachen hören.”

„Wenn es sein muss.” Nilo beugte sich vor und machte eine dramatische Pause. „Wie du dich vielleicht erinnerst, ist Rhaskos, der Ziegenmann, etwas weniger intelligent als der durchschnittliche Jagdhund.”

„Etwas?”, fragte Lycas. „Du beleidigst unsere Hunde.” „Schäm dich.” Rhia setzte eine ernste Miene auf. „Für diese Beleidigung musst du ihren Zwinger morgen zweimal reinigen.”

Nilo hob die Hände. „Etwas weniger intelligent als die durchschnittliche linke Afterkralle eines Jagdhundes. Besser?”

„Dir sei vergeben.” Rhia blickte zu ihrer Mutter. Das Kerzenlicht warf verzerrende Schatten auf ihr Gesicht, aber sie glaubte, Mayra lächeln zu sehen.

„Auf jeden Fall”, fuhr Nilo fort, „sind wir eines Tages jagen gegangen, nachdem Rhaskos in der Nacht zuvor ein wenig zu viel Bier genossen hatte.”

„Er war nicht direkt verkatert”, fügte Lycas hinzu. „Er war immer noch betrunken. Verstehst du, er lebte in dem Glauben, dass es egal ist, wie viel man trinkt, solange man danach schläft. Selbst nach einer Stunde wacht man nüchtern wieder auf.”

Nilo lachte in sich hinein. „Er glaubte, an einem neuen Tag wäre man auch ein neuer Mensch. Sein Körper sah das allerdings anders.”

Sie fuhren mit der Geschichte fort, und Rhia half ihnen immer wieder, wenn sie Details vergaßen. Die drei nahmen sich vom kalten Brot, das vor ihnen lag, und vom Fleisch, bis fast alles Essen verzehrt war.

Endlich stand Tereus auf und trat an den Tisch. Er sah die Zwillinge an. „Sie möchte mit euch sprechen. Mit Lycas zuerst.”

Das war nur zu verständlich, Lycas war ein paar Stunden älter und wurde deshalb immer als der ältere Zwilling behandelt. Das bedeutete, Rhia kam zuletzt. Sie starrte angespannt zu Boden und betete zu Krähe, dass ihre Mutter lang genug wach sein möge, um noch mit ihr zu sprechen.

Tereus’ Körper fiel schwer auf den Stuhl neben Rhia. „Papa, warum gehst du nicht schlafen?”, fragte sie ihn. „Wir können dich wecken, falls ... wenn sie ...”

Er berührte die Wange seiner Tochter. „Nein, ich bleibe wach. Ich kann mir nicht vorstellen, einen dieser Augenblicke zu verschlafen.”

„Aber es könnte noch Tage dauern.”

„Bald genug muss ich ohne sie aufwachen. Ich will noch nicht damit anfangen.”

Aus Mayras Ecke kam ein ersticktes Schluchzen. Sie sahen hinüber, wo Lycas über den Körper ihrer Mutter gebeugt saß. Tereus ließ Rhias Hand fallen und beeilte sich, zu ihnen zu eilen.

Autor

Jeri Smith Ready
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