NOX Band 10

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DIE HEXE VON CLIFF POINT von HELEN R. MYERS

Roanne hat eine Vision: Ein Mann stürzt in seinem Wagen die Klippen hinunter! Sie muss ihn warnen! Und so rettet sie den Anwalt Hunter Thorne, auch wenn sie selbst ihre Visionen für dunkle Magie hält. Doch davon will Hunter nichts wissen: Er glaubt an seine schöne Retterin und ist überzeugt, dass sie den Kampf gegen das Böse in sich gewinnen wird ...

WIEDERGEBURT von BARBARA FAITH

Verliebt wie noch nie, heiratet Nicky den Italiener Carlo Santini, obwohl sie ihn kaum kennt. Erste Schatten fallen auf das Glück, als sie auf seinem Besitz in Florenz eintreffen. Die Dienerschaft erschrickt bei ihrem Anblick! Entsetzt erfährt Nicky kurz darauf, dass sie Carlos Frau Isabella, die einen mysteriösen Tod fand, frappierend ähnlich sieht ...


  • Erscheinungstag 15.02.2025
  • Bandnummer 10
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532686
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

HELEN R. MYERS

1. KAPITEL

Endlich war es geschafft! Roannes Finger waren zwar aufgeraut, und ihr Rücken schmerzte von der anstrengenden Arbeit, aber schließlich hatte sie alle Spuren des blutroten Pentagramms von ihrem kleinen Briefkasten abgerieben. Sie hatte ihn dafür sogar von seinem Zaunpfahl abmontieren müssen. Sie ließ den Schwamm aus Stahlwolle in das Becken mit Seifenwasser fallen und bemerkte, dass sie sich einen ihrer ohnehin schon ziemlich kurzen Fingernägel eingerissen hatte.

„Lausejungen“, sagte sie leise.

Sie war sicher, dass die Garrett-Jungen für diesen neuerlichen Akt von Vandalismus verantwortlich waren. Zugegeben, es gab noch mehr Leute in der Stadt, die ihr Ärger machten, aber diese zwei waren die ärgsten Unruhestifter. Es war kein Geheimnis, dass Roanne, das „Stadtoriginal“, ihr bevorzugtes Ziel war. Zudem ähnelte die Farbe des Lippenstifts, mit dem das Zeichen gemalt worden war, auffällig der, die die Mutter der beiden zu tragen pflegte. Er passte zwar überhaupt nicht zu der blassen Haut der Frau, aber ihr Geschmack war genauso schlecht wie die Manieren ihrer Jungen.

Roanne lächelte über sich selbst und beschloss, die Sache erst genau zu prüfen, bevor sie sich angemessen rächte. Es musste etwas Vernünftiges sein, etwas, was wirkte und trotzdem raffiniert war. Natürlich musste sie an mögliche Rückschläge denken und außerdem aufpassen, dass sie nicht zu viel Aufmerksamkeit bei den Erwachsenen der Gemeinschaft erregte. Nein, nur die beiden Jungen, Casey und Tim, mussten begreifen, dass sie zu weit gegangen waren, und dass sie, Roanne, überhaupt nicht erfreut darüber war, dass sie ihre Harmonie gestört und sie in eine düstere Stimmung versetzt hatten …

Ein tiefes Stöhnen erregte Roannes Aufmerksamkeit. Sie lauschte einen Moment dem veränderten Geräusch des Sturms, der kurz nach Einbruch der Dämmerung aufgekommen war. Er klang fast wie ein keifendes Weib, wie immer zu dieser Jahreszeit. Es war nicht mehr lang bis zum Winter, und bald würde man die volle Kraft des Sturms an der ganzen Nordküste hören können. Bis dahin heulte er so wie jetzt, als die Böen den dichten Regen gegen das Cottage drückten.

Bei einem anderen Wetter hätte Roanne gern einen Spaziergang an den Strand gemacht, um ihre steifen Muskeln ein wenig zu entspannen. Sie hatte den ganzen Tag damit verbracht, ihren Kräutergarten gegen den zu erwartenden Frost zu schützen. Die Ruhe des Meeres hätte ihr auch geholfen, ihre Lebensgeister wiederzubeleben. Aber es herrschte Sturm, und sie war praktisch in ihrem Haus gefangen. Das machte es schwierig für sie, Erinnerungen, Zweifel und auch ihre Ängste unter Kontrolle zu halten. Letztere verfolgten sie sogar bei schönem Wetter.

Trotz des dicken Wollpullovers, der ihr bis über die Schenkel reichte, erschauerte sie und schaute zu dem steinernen Kamin an der Wohnzimmerwand. Kein Wunder, dass mir kalt ist, sagte sie sich, als sie sah, dass das Feuer, das sie zuvor entfacht hatte, fast erloschen war.

Sie stand von dem Esstisch auf und ging zu der Feuerstelle hinüber, hockte sich davor und stocherte mit dem Schürhaken in den zerbröckelnden Scheiten herum. Dann nahm sie zwei neue von dem Stapel, den sie früher am Tag hineingebracht hatte, und legte sie auf die Glut. Roanne genoss die wohltuende Wärme auf ihrem Gesicht und schloss die Augen. Wie eine Liebkosung, dachte sie. Es war schon lange her, dass sie ähnlich zärtlich berührt worden war. Und noch länger, dass sie sich überhaupt nach Zärtlichkeiten gesehnt hatte. Dank Drew.

Roannes Miene verfinsterte sich. Erst die Garrett-Jungen und jetzt er! Es war nicht gut für ihre Gefühle, solange negativen Gedanken nachzuhängen. Es war zu gefährlich.

Sie holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe, bevor sie die Augen wieder öffnete. Die Flammen züngelten rasch an den neuen Scheiten hoch. Hohe, flackernde Flammen tanzten und wanden sich orange und gelb und verführten sie dazu, weiter zuzusehen.

Roannes Pulsschlag erhöhte sich. Eine Vision erschien zwischen den Flammen. Sie konnte sie deutlich sehen. Es waren Lichter … Scheinwerfer, wie die von einem Fahrzeug. Es war ein Wagen! Sie erkannte seine undeutlichen Umrisse, und dann bemerkte sie die Straße. Die Gegend kam ihr bekannt vor. Es war die alte Küstenstraße, kaum eine halbe Meile von ihrem Haus entfernt.

Das Fahrzeug näherte sich einer Kurve, und Roannes Herz schlug noch schneller. Es war die Letzte vor Cliff Point. Aber irgendetwas stimmte nicht. Der Wagen wurde nicht langsamer, wie er es gemusst hätte. Sie wusste, dass der Fahrer gar nicht erst versuchte, die Kurve zu schaffen!

Der schwere Wagen durchbrach das Geländer, als wäre es aus Papier. Sie hörte, wie das Material brach. Das Geräusch peinigte ihre Trommelfelle und schien ihren Körper schmerzhaft zu durchdringen. Voller Entsetzen schaute sie unverwandt zu, wie der Wagen hoch durch die Luft über die Klippen segelte, bevor er sich langsam nach unten neigte, tiefer, immer tiefer stürzte, und schließlich weit unten auf den Felsen im Meer aufschlug.

„Nein!“, flüsterte sie, stand auf und wich vor dieser schrecklichen Vision zurück. „Das kannst du nicht tun. Du darfst es nicht!“

Obwohl der Regen langsam nachließ, glitzerten immer noch dicke Tropfen im Fernlicht des BMWs auf und klatschten gegen die Windschutzscheibe. Die größten kamen von den Ästen, die vom Nordwind geschüttelt wurden. Der Sturm zwang auch Hunter Thorne dazu, das Steuerrad fest umklammert zu halten.

Gezackte Bäume, schroffe Kliffs und ein rauer Septembersturm … Er war wahrhaftig in Maine, und in ein paar Minuten würde er Cliff Point erreichen. Wenn er sich bei seiner Rückkehr in seine alte Heimatstadt nur besser fühlen würde! Aber ihm taten die Kiefer weh, weil er seit Stunden die Zähne zusammengebissen hatte, seine Augen brannten vom angestrengten Starren durch die verschmierte Windschutzscheibe. Doch am meisten nahm er wahr, wie sehr seine Hände beim Anblick des wenig sicher wirkenden Geländers zitterten, das ihn von einem Kopfsprung in den Atlantik trennte.

Und was ist, wenn es passiert? fragte Hunter sich. Er atmete schnell. Wenn er einfach dem Ruf des Schicksals nachgab und sich dem Wind überließ, der seinen Wagen mit einer allmächtig scheinenden Faust rüttelte, und sich von ihm über die Klippen treiben ließ? Es war nicht mehr wichtig, was er sich in Boston vorgenommen hatte, wo seine Partner ihn zu dieser Fahrt gedrängt hatten. Hunter war klar, dass er das Verhältnis zu seinem Vater nicht ändern konnte. Er war nur hier, weil er nicht wusste, wo er sonst hätte hingehen sollen. Wäre es nicht eine endgültige Lektion für alle, wenn er sich entschied, für immer zu verschwinden, nicht nur aus der Firma, sondern auch aus dem Leben?

Vielleicht wäre es eine Erleichterung, endlich alles hinter sich zu haben, und außerdem … Wer würde ihn schon vermissen? Sicher, Hunter war verärgert über seine Partner, doch wenn er sich sein Benehmen in den letzten vierzehn Monaten vor Augen führte, wusste er, dass Cal und Evan wesentlich besser ohne ihn auskommen würden. Von seinen Freunden hatte er sich ohnehin schon isoliert. Und was seinen Vater betraf: Brauchte er wirklich einen weiteren Beweis von Lelands Gleichgültigkeit ihm, Hunter, gegenüber? Nein, niemand würde über seinen Tod wirklich betroffen sein, und wenn er dann noch bedachte, wie das all seine Probleme lösen konnte …

Sein Tod würde ihn davon befreien, ständig an diese Nacht denken zu müssen, als er von einem späten Geschäftstermin zu seinem Backsteinhaus zurückgekehrt war. Die Straße war von Feuerwehr und Krankenwagen blockiert gewesen. Er müsste die plötzliche Panik nicht immer wieder erleben, die er unterdrückt hatte, während er sich durch die Menge der Schaulustigen gezwängt hatte. Dann hatte er erkannt, dass der Rauch aus seinem eigenen Haus kam. Sein Tod würde die Albträume beenden, die er seitdem erlebte, und in denen er die beiden mit Tüchern verhüllten Leichen sah, die in den Notarztwagen gehoben wurden. Und das Schuldgefühl würde aufhören, weil er so gleichgültig an Mrs. Olivers Körper vorübergegangen war, um nach seinem Baby zu sehen, seiner Cady.

Doch das Wichtigste war, dass er nicht länger um seine kleine Tochter trauern musste, um Cady, die niemals ihren vierten Geburtstag erleben, niemals Schlittschuh laufen würde oder segeln, sich verabreden und verlieben oder das Wunder erleben konnte, selbst ein Kind zu bekommen.

Ja, ein schnelles Ende würde endlich das Gefühl beenden, dass sein Leben langsam aus ihm herausrann. Und er müsste nicht länger die Leere ertragen, die sich in ihm ausgebreitet hatte. Das war das Schlimmste. In solchen Momenten fragte er sich manchmal, ob die flüsternden und spöttischen Stimmen, die er hörte, ihm sagen wollten, dass er verrückt wurde.

Hunter zwinkerte, um wieder klar sehen zu können, als ihm bittere Tränen in die Augen traten. Wenn du das willst, dann mach es! sagte er sich herausfordernd. Hör auf zu jammern und mach es einfach!

Er umklammerte das Steuerrad so fest, dass seine Hände verkrampft zitterten, und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Kurve, die vor ihm auftauchte. Hinter dem Lichtkegel der Scheinwerfer seines Wagens lag das Vergessen, der große Abgrund, nach dem er sich so sehnte. Dort konnte er den Gespenstern seiner Kindheit Gesellschaft leisten, den Geistern der toten Seeleute, von denen er als Junge endlose Geschichten gehört hatte. Sie waren Opfer der Sirenen geworden, die mit ihrem Gesang die Schiffe auf die Felsen unten am Strand gelockt hatten. Aber im Gegensatz zu ihnen brauchte er, Hunter, keine Versuchung …

„Was zum …?“

Es erschien wie aus dem Nichts, und so plötzlich, dass Hunter sich fragte, ob seine Augen ihm einen Streich spielten. Ein Schatten, nein, das war unmöglich in der Dunkelheit. Eine Figur erschien sprichwörtlich aus der Schwärze und kletterte über das Geländer. Er war sich zwar sicher, dass er halluzinierte, betätigte aber trotzdem den Scheibenwischer und trat gleichzeitig auf die Bremse. Sein Magen revoltierte, als er merkte, dass Letzteres ein schrecklicher Fehler gewesen war.

Der Wagen drehte sich, und Hunter bemühte sich fluchend, die Kontrolle wiederzuerlangen. Doch jetzt schleuderte der Wagen auf einen anderen Teil des Geländers zu.

Hunter riss das Lenkrad nach links und verfehlte nur knapp die Gestalt, die ihn zu dieser Überreaktion veranlasst hatte. Der Wagen rutschte auf den Seitenstreifen, und einen Moment tauchte die verhüllte Figur in Hunters Blickfeld auf. Er bemerkte flüchtig das bleiche Gesicht und geballte Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Dann sah er nur noch einen hohen Baum.

Der Aufprall war so plötzlich, dass Hunter noch nicht einmal mehr Luft holen konnte.

Alles, was im Wagen lose herumlag, flog umher. Hunter wurde so heftig nach vorn geschleudert, dass der Sicherheitsgurt sich in seine Schulter und seinen Magen grub und ihm den Atem aus den Lungen presste. Dann schleuderte er nach links und schlug mit dem Kopf gegen die harte Karosserie. Seine Trommelfelle drohten zu platzen, und im nächsten Augenblick leuchtete ein weißes grelles Licht vor seinen Augen auf.

Obwohl Hunter eben noch ernsthaft mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt hatte, fluchte er laut, als sein Kopf zu schmerzen begann. Er tastete ihn ab und fand an der linken Seite eine Beule, die bereits die Größe eines Golfballes hatte. Hunter hatte Glück gehabt, ob er es wahrhaben wollte oder nicht. Er wusste nur nicht, ob er dankbar sein sollte oder sich betrogen fühlte.

Der Wagen stand schräg, und die Maschine klang so, als würde sie zermahlen werden. Er wollte sich diesen Krach nicht anhören, griff nach dem Zündschlüssel und stellte den Motor ab. Die Stille war wohltuend. Hunter ließ sich auf dem Sitz zurücksinken und wartete, bis alles zur Ruhe gekommen war.

Was um Himmels willen hatte er vorhin gesehen? Er öffnete den Sicherheitsgurt und drehte sich vorsichtig herum, um durch die Seitenscheibe zu schauen. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Es kam auf ihn zu!

Hunter zwinkerte heftig und rieb sich die Augen. Irgendetwas konnte nicht mit ihm stimmen. Er glaubte nicht an Gespenster. Das hatte er noch nicht einmal als Kind getan, auch wenn er es genossen hatte, sich die unheimlichen Geschichten anzuhören, die die alten Leute in der Stadt erzählten.

Doch jetzt war das alles gleichgültig. Irgendetwas kam tatsächlich auf ihn zu, zielstrebig und unbeirrt von dem Wind, der an dem Umhang der Gestalt zerrte. Hunter musste sich entscheiden, ob er sitzen bleiben und darauf warten sollte. Was es auch immer sein mochte.

Er packte den Türgriff, betätigte ihn und stellte fest, dass der Wagen sich so verbogen hatte, dass er nicht mehr aussteigen konnte. Blieb als einziger Ausgang die Beifahrertür, doch an der stand bereits die verhüllte Gestalt.

Sie riss die Tür auf. Hunter wehte der kalte Septemberwind ins Gesicht, und seine Augen schmerzten, als die Innenraumbeleuchtung das Wageninnere erhellte. Gleichzeitig war er seltsam erleichtert, fast schon überrascht.

„Gott sei Dank, ich bin noch rechtzeitig gekommen!“

Hunter starrte sie an. Er musste sie missverstanden haben! „Sie sind was?“

„Es geht Ihnen gut.“

Nein, dachte er, während er in die faszinierenden Augen der verblüffendsten Frau schaute, die er je gesehen hatte. Das kann nicht sein. Andererseits, wie war es sonst zu erklären, dass sie in einer solchen Nacht hier draußen herumging?

Sie schob die Kapuze des altmodisch geschnittenen Capes zurück, das ihre Silhouette so unscharf hatte erscheinen lassen. Hunter bemerkte, dass ihr Haar lang, wellig und genauso schwarz war wie ihr Wollmantel. Ihre Haut wirkte im Kontrast dazu fast durchscheinend. Das allein war schon genug, um seine Vorstellungskraft anzuheizen. Und sie war auch alles andere als der Geist, den er erwartet hatte.

Ihr ovales Gesicht war ein Traum für jeden Fotografen, ihr Mund war groß und dabei verführerisch weich. Sie hatte eine scharf geschnittene und doch feminine Nase. Doch am meisten fesselten ihre Augen Hunters Interesse. Sie waren mehr als nur faszinierend. Sie schienen ihn aufzusaugen, bis er sein Unbehagen, seine Probleme, ja fast alles vergaß.

Hunter hätte sie verführerisch gefunden, wäre da nicht der mitfühlende und erschreckend traurige Ausdruck in ihnen gewesen. Sie waren graugrün und erinnerten ihn an die Farbe eines Waldes an einem sonnigen Morgen. Sie wurden von samtigen schwarzen Wimpern umrahmt, deren Länge und Dichte auch ohne Mascara zur Geltung kam.

Hunter hatte in den letzten Monaten vor Trauer und Schuldgefühlen nicht auf seine körperlichen Bedürfnisse geachtet, und auch jetzt versuchte er, die erotische Anziehung zu dieser Frau zu abzuwehren. Aber er konnte nicht verhindern, dass sein Körper mit jeder Faser reagierte.

Die Frau griff besorgt nach seiner Stirn, zog ihre Hand jedoch sofort wieder zurück. „Sie könnten sich eine Gehirnerschütterung zugezogen haben“, sagte sie. „Ich bringe Sie lieber zu einem Arzt. Glauben Sie, dass Sie gehen können, oder wollen Sie lieber hier warten, bis ich Hilfe geholt habe?“

Ihre Stimme war weich und hatte trotz ihrer sachlichen Worte eine Wärme, in die Hunter gern eingetaucht wäre, wenn er schon nicht mehr ihre Finger auf seiner Haut fühlen durfte. Ein seltsamer Gedanke für einen Mann, der sosehr darauf achtet, jeden menschlichen Kontakt zu meiden, dachte er.

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht jemanden mit einem Zauberspruch so auftauchen lassen können, wie Sie selbst gerade erschienen sind?“, fragte er.

Ihr Blick wurde noch undeutbarer, und etwas von der ursprünglichen Wärme darin verschwand. „Beschwörungen sind gefährlich. Man sollte nicht mit ihnen spielen. Sie sollten wissen, was Sie tun und worum Sie wirklich bitten.“

„Ich wollte nur einen Scherz machen.“

„Das will jeder.“ Sie wich zurück. „Rühren Sie sich nicht von der Stelle.“

„Ich kann gehen!“

Sie zögerte. „Sind Sie sicher?“

Überhaupt nicht, dachte er. Und das würde ein Problem werden. Abgesehen davon, dass ihm schwindlig war, fühlte er sich auch so schwach wie ein Baby. Und er misstraute seiner Denkfähigkeit. Hatte sie es ernst gemeint mit ihrer Bemerkung über Zaubersprüche? Und warum konnte er nicht aufhören, sie anzuschauen? Eins war sicher, er würde sie nicht aus den Augen lassen, jedenfalls nicht, bis er wusste, wer von ihnen die schwerwiegendere Kopfverletzung hatte.

„Lassen Sie mich erst einmal aus diesem Chaos hier herausklettern.“

Hunter wusste, dass er unnötig grob klang, aber seine widerstreitenden Reaktionen auf diese Frau machten ihm Sorgen. Mit einem Seufzer sah er zu, wie sie die Kapuze wieder über den Kopf zog. Als sie rückwärts aus dem Fahrzeug kletterte, schaltete er die Scheinwerfer des Wagens aus und folgte ihr.

Überrascht stellte er fest, wie steif er war, dann trat er auch noch in eine Pfütze und zu allem Überfluss drang der kalte Wind durch den Regenmantel und den Anzug, den er darunter trug. Hunter schlug den Kragen des Mantels hoch, um sich vor der Kälte und den nadelscharfen Regentropfen zu schützen. Dabei hätte er fast das Heulen überhört, das irgendwo hinter der Frau ertönte, die ihn kritisch beobachtete.

„Was war denn das?“

„Der Wind. Das Meer.“

„Das glaube ich nicht. Es klang eher wie ein Wolf.“

„Sie sind noch benommen.“

Das stimmte zwar, aber es beeinträchtigte Hunters Gehör nicht. Dennoch musste er sich herabbeugen, um sie durch das Tosen der Natur zu verstehen. Sie war zwar durchschnittlich groß, wirkte aber im Vergleich zu ihm klein. Das ließ ihn erneut an ihr seltsames Auftauchen und die verrückte Situation denken. „Erklären Sie mir, was Sie hier draußen machen!“, rief er und versuchte, ihr dabei ins Gesicht zu sehen, das beinah vollständig von der Kapuze verborgen wurde.

„Ich gehe spazieren.“

„Das ist verrückt. Ist Ihnen klar, dass ich Sie hätte töten können?“

„Wäre es besser gewesen, wenn Sie sich selbst umgebracht hätten?“

Hunter überlief es kalt. Seine Beine schienen unter ihm nachzugeben, und er lehnte sich gegen den Wagen. „Was sind Sie? Lesen Sie Gedanken, wenn Sie nicht gerade damit beschäftigt sind, Menschen gegen Bäume fahren zu lassen?“

„Glauben Sie wirklich, dass man Gedanken lesen muss, um zu merken, was Sie vorhatten?“

„Das geht Sie nichts an!“ Hunter schaute weg, mehr aus Verlegenheit als aus Zorn, und blickte auf den Baum, gegen den er gefahren war. Verwirrt stellte er fest, dass er heute mehr als einmal dem Tod entgangen war.

„Vielleicht wollte Ihnen jemand klarmachen, dass Ihre Zeit noch nicht gekommen ist.“

Hunter erschauerte und hüllte sich tiefer in seinen Mantel. „Oder dass ich vielleicht an einer Lungenentzündung sterben soll.“

Seine Retterin trat nach dieser Bemerkung sofort neben ihn. Sie forderte ihn auf, seinen Arm um ihre Schultern zu legen, und schlang dann ihren Arm um seine Taille. „Stützen Sie sich auf mich.“

Er hätte gelacht, wenn er es nicht verlernt hätte. „Ist das Ihr Ernst?“

„Ich bin stark.“

Seine Enttäuschung milderte sich etwas, nicht aber seine Niedergeschlagenheit und sein Sarkasmus. „Im Vergleich zu wem?“

Sie hob den Kopf, und einen Moment glaubte Hunter, erneut in dem Blick ihrer Augen zu versinken. Er erkannte Wachsamkeit darin, gemischt mit noch verwirrenderen Geheimnissen. Plötzlich spürte er das kalte Wasser und den Matsch nicht mehr, der in seine Schuhe drang. Er fühlte …

„Lassen Sie mich Ihnen helfen“, drängte sie ihn. „Es ist in Ordnung. Wirklich.“

Sie drückte mit der anderen Hand gegen seine Brust. Obwohl seine Vernunft ihm sagte, dass sie durch seine Kleidung nichts fühlen konnte, fragte er sich, ob sie ahnte, welchen Effekt ihre unschuldigen Worte auf seinen Herzschlag hatten. Wie sehr er sich danach sehnte, dass alles in Ordnung war.

„Unter einer Bedingung“, sagte er mit belegter Stimme, während er beobachtete, wie ihr Blick über seinen Schnurrbart zu seinen Mund glitt. Hunter fühlte sich fast wie hypnotisiert. „Nennen Sie mir Ihren Namen.“

Sie betrachtete forschend sein Gesicht, und Hunter empfand das fast wie eine zarte Berührung. Was sieht sie hinter der Fassade eines zunehmend mehr durchnässten, konservativen Anwalts? dachte er. Erkannte sie den tiefen Schmerz, der ihn quälte? Sah sie all die zerstörten Träume und die Schuld, die seine Seele zu verzehren drohte?

„Roanne. Roanne Lloyd Douglas.“

Sie sprach ihn nicht geziert oder pathetisch aus, aber dennoch auf eine Art, dass Hunter sich fragte, warum der Regen nicht aufhörte oder warum die Wolken sich nicht teilten, um einen schönen Vollmond zu enthüllen. Er holte tief Luft und wiederholte in Gedanken genüsslich die drei Worte. Ihr Namen klang alt, weise und barmherzig. Ob sie ihn für verrückt hielt, wenn er zugab, wie sehr er Barmherzigkeit brauchte?

„Ich war unterwegs zum Besitz der Thornes.“ Er betrachtete ihr bleiches Gesicht. „Wissen Sie, wo das ist?“

„Leland Thornes Haus? Das kennt jeder. Er empfängt nicht oft Gäste.“

„Ich bin kein Gast. Ich bin sein Sohn.“

„Wie seltsam … Ich habe nie gesehen, dass er einen Sohn hatte.“

Hunter schüttelte verwirrt den Kopf. „Gesehen?“

„Ich habe mich versprochen. Ich wollte sagen gehört.“

„Wir gehen uns seit einiger Zeit aus dem Weg.“

„Warum?“

Hätte jemand anders Hunter gefragt, hätte er vermutlich gesagt, dass es ihn verdammt noch mal nichts anginge. Aber Roanne Lloyd Douglas brachte ihn seltsamerweise dazu, ehrlich zu antworten. „Wir können offenbar nicht lernen, miteinander zu reden. Es ist eine lange Geschichte.“

„Und eine schmerzhafte.“

Sie waren weitergegangen. Hunter sah sich um und bemerkte, dass sie bereits die Straße erreicht hatten. Wie und wann hatte sie ihn dazu gebracht loszugehen? „Ist das so offensichtlich?“, fragte er. Die Frau verwirrte ihn zunehmend und machte ihn immer neugieriger.

„Schmerz spricht eine universelle Sprache, Mr. Thorne.“

„Nennen Sie mich Hunter.“

Sie antwortete nicht auf diese Aufforderung, aber Hunter hatte von dieser eigenartigen Frau auch nichts anderes erwartet. Stattdessen führte sie ihn weiter, und kurz darauf hatten sie die Kurve passiert, an die Hunter sich immer erinnern würde. Kurz darauf erblickte er die verstreuten Lichter von Cliff Point.

Es wäre nur fair, wenn ich sie loslassen würde, dachte Hunter. Seine Benommenheit hatte ein wenig nachgelassen, doch er war immer noch in einem eigenartigen Bewusstseinszustand, in dem Roanne sein Anker zu sein schien.

„Sorgt sich denn niemand, weil Sie zu spät kommen?“, fragte er. Er konnte seine Neugier nicht länger zurückhalten.

„Nein. Ich bin Witwe.“

Ihre Offenheit beschämte ihn, weil er bei seiner Frage einen ganz bestimmten Hintergedanken gehabt hatte. Er versuchte, das wenigstens dadurch wieder gutzumachen, dass er ihr kein leeres Mitleid vorheuchelte. „Ist es lange her?“

„Zwei Jahre. Und wann haben Sie Ihren Verlust erlitten?“

Erneut überlief es Hunter kalt. Die Lady war so treffsicher, dass es schon unheimlich war. „Ich habe nicht meine Frau verloren. Ich meine, das auch, aber durch eine Scheidung, einige Jahre zuvor. Es war für keinen von uns eine große Tragödie. Meine Tochter war diejenige, die …“ Wie immer schnürte ihm die bloße Erwähnung von Cady den Hals zu.

„Das erklärt es.“

„Das erklärt was?“

„Es muss schrecklich für Sie gewesen sein.“

Sie sprach so überzeugt und mitfühlend, dass in Hunter alle Dämme zu brechen schienen. Sie sollte alles erfahren. „Es ist jetzt vierzehn Monate her, und seitdem werde ich langsam verrückt. Ich sah keinen Grund mehr, noch weiterzuleben.“

„Genau dann müssen Sie sich festhalten und abwarten.“

„Woran?“

„An Grundvoraussetzungen. Zum Beispiel daran, dass das Leben trotz schlimmer Erfahrungen lebenswert ist.“

„Können Sie das?“

„Ich versuche es. Mit wechselndem Erfolg.“

„Ich fürchte, dass nette Gemeinplätze bei mir nicht funktionieren.“

„Aber die einfache Lösung funktioniert? Sie sind viel zu stark, um sich selbst zu zerstören, Hunter Thorne.“

Hunter spürte eine blinde Wut in sich aufsteigen, die alles wegfegte und einen Drang zur Gewalttätigkeit weckte. Er hatte es satt, dass die Leute ihm sagten, was er fühlte oder nicht fühlte, und was er denken sollte. Er wirbelte herum und packte Roanne an den Oberarmen. „Sie haben nicht die geringste Ahnung von …!“ Ein dunkles Grollen aus nächster Nähe ließ ihn innehalten. „Mein Gott! Ist es das, für was ich es halte?“, wollte er wissen und spähte in die Dunkelheit und den Regen.

„Nein.“

„Nein? Verdammt! Der Wind, ja?“, sagte er leise und erinnerte sich daran, wie sie vorhin seiner Frage ausgewichen war. „Wie bezeichnen Sie es dann?“

„Es ist ein Freund. Ruhig, Pontus“, sagte Roanne beruhigend zu der vierbeinigen Kreatur, die Hunter kaum erkennen konnte. „Wenn Sie sich nicht unvermittelt bewegen, greift er nicht an. Er beschützt mich nur. Kommen Sie weiter.“

Obwohl er dem Biest nur ungern den Rücken zuwandte, gehorchte Hunter. „Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie einen Hund haben?“, wollte er wissen.

„Er ist genau genommen kein Hund, und er gehört ganz bestimmt nicht mir.“

„Was meinen Sie damit?“

„Das heißt, dass er zum Teil Wolf ist, wie Sie schon erraten haben, und nur sich selbst gehört.“

„Er … Das wird ja von Minute zu Minute schlimmer.“

„Sie brauchen etwas Ruhe, das ist alles.“

Konnte es sein, dass ihre Stimme amüsiert klang? Hunter fragte sich, ob er nicht schon schlief und gleich in seinem eigenen Bett aufwachte, um festzustellen, dass alles nur ein Traum gewesen war.

Sie gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Schließlich seufzte Hunter. „Ich wollte Sie nicht so anfahren.“

„Das weiß ich.“

„Ich fange langsam an, Ihnen das zu glauben. Und nicht nur das. Die Frage ist nur, wie Sie das machen.“

„Intuition ist eine mächtige Kraft. Sie sollten lernen, der Ihren mehr zu vertrauen.“ Roanne blieb stehen und zwang ihn damit, ebenfalls anzuhalten. „Wir sind da.“

Sie hat recht, stellte Hunter verblüfft fest. Sie standen vor dem Außentor des Besitzes seines Vaters. Nicht weit dahinter konnte er das zweistöckige, bescheidene Ziegelgebäude sehen, in dessen oberem Stockwerk ein Licht brannte. Sein Vater war also noch wach. Plötzlich packten Hunter Zweifel, ob er überhaupt willkommen sein würde.

„Werden Sie auch bestimmt einen Arzt anrufen?“, fragte Roanne. Sie blieb zurück, als Hunter weiterging und nach dem Klingelknopf griff. „Die Verletzungen sollten behandelt werden.“

„Mein Vater würde Ihnen sagen, dass mein Kopf zu dick ist, um ernsthaft verletzt zu werden“, erwiderte Hunter, der zögerte, den Knopf zu drücken. Ob sie geheimnisvoll war oder nicht, er schuldete der Frau etwas. Zumindest etwas Heißes zu trinken und einen warmen Platz, um sich zu trocken. Aber sie hatte es nicht verdient, der gespannten Atmosphäre zwischen ihm und seinem Vater ausgesetzt zu werden. Und Hunter wusste, dass es unausweichlich dazu kommen würde, sobald dieses Tor sich geöffnet hatte.

Schließlich siegte sein Egoismus. Er konnte sich nicht verabschieden, noch nicht. „Ich glaube, was wir beide brauchen“, begann er, während er den Knopf drückte, „ist ein kräftiger Schluck Brandy und …“ Er drehte sich zu ihr herum und vergaß, was er hatte sagen wollen. Sie war fort. Aber wohin? Und wie? Er hatte kein Geräusch gehört. „Roanne? Hallo!“

Hunter ging ein paar Schritte die Straße hinunter, wurde aber von der Kreatur aufgehalten, die Roanne Pontus genannt hatte. Das Tier verschmolz so perfekt mit der Dunkelheit, dass nur seine blassen Augen sichtbar waren. Es stieß erneut ein tiefes Grollen aus, wirbelte dann herum und verschwand in der Nacht.

„Was wollen Sie?“

Die grimmige Stimme ließ Hunter zusammenzucken. Er schaute kurz über die Schulter zu der Wand, an der die Lautsprecherbox angebracht war, und spähte dann wieder die Straße herunter.

„Was ist da draußen los? Verdammte Kinder. Ich warne euch! Wenn ihr mich weiter ärgert, rufe ich die Polizei!“

Hunter war verwirrter, als er zugeben wollte. Er hatte längst nicht die Erklärungen bekommen, nach denen es ihn verlangte. Er trat wieder an das Tor. Als er die Hand nach dem Knopf der Gegensprechanlage ausstreckte, bemerkte er, dass sie zitterte.

Er schluckte. „Ich bin’s, Leland. Lass mich rein!“

2. KAPITEL

Er kommt.

Roanne hielt inne. „Verschwinde!“, stieß sie hervor. Sie hatte absolut keine Lust, sich mit inneren Stimmen auseinanderzusetzen, vor allem, wenn es nicht ihre eigenen waren. Sie hatte praktische Dinge zu erledigen, die besondere Aufmerksamkeit erforderten.

Sie war bereits mit ihren täglichen Arbeiten im Rückstand, und so, wie sie vorwärtskam, würde sie es nie schaffen. Wenn sie mit dem Teil ihres Kräutergartens fertig war, zu dem sie gestern nicht mehr gekommen war, musste sie noch getrocknete Ringelblumenblüten pulverisieren, die sie als Ersatz für Safran an einen Naturladen in Bangor lieferte. Und das war erst der Angang der Aufträge, die Roanne für ihr kleines Geschäft erledigen musste.

Nein, sie konnte ihre Zeit nicht mit unsinnigen Gedanken verschwenden, die Stimme musste sich irren. Hunter Thorne würde nicht kommen. Er war bestimmt genauso beschäftigt wie sie selbst. Und es war auch überflüssig, darüber nachzudenken, wie wohl das Wiedersehen mit seinem Vater verlief. Es ging sie nichts an. Genauso wenig wie die Höhe des Schadens an seinem Wagen. Sie sollte lieber mit einem Zauberspruch dafür sorgen, dass eine Reparatur sich lohnte. Das allein sollte Hunter schon einige Tage beschäftigen.

Aber man hat ihm von dir erzählt, flüsterte die Stimme hartnäckig. Man hat ihn vor dir gewarnt. Fühlst du es nicht? Wie soll er sich jetzt von dir fernhalten? Ein Mann wie er.

Roanne stieß resigniert die Luft aus und zog so fest an den Hopfenbüscheln, dass getrocknete Hopfendolden auf den Arbeitstisch herunterrieselten. „Da! Bist du jetzt zufrieden?“, fragte sie und schob die Büschel missmutig zur Seite. So würde sie niemals genug zusammenbekommen, um die handbestickten Kissen für die Kundin damit auszustopfen, die schwor, dass die duftenden Kräuter gegen ihre Schlaflosigkeit halfen.

Das hatte sie jetzt davon, dass sie sich eingemischt hatte! Sie hätte die Vision gestern Abend nicht beachten sollen. Sie hatte nicht das Recht dazu, sich einfach in das Leben eines anderen Menschen einzumischen und ihm ihren Willen aufzuzwingen. Hast du die Warnungen vor möglichen Komplikationen vergessen, die deine Mutter und selbst Tante Lilith dir in einem ihrer vernünftigen Momente gegeben haben? fragte sie sich. Genauso eindeutig stand es in den Büchern, die Roanne aufstöberte und las, um sich und ihre Rolle in dieser Welt zu begreifen. In ihnen stand, dass jeder Mensch letztendlich seinen Weg selbst bestimmen musste.

Aber sie musste auch die möglichen Folgen bedenken, wenn sie nicht so gehandelt hätte. Hunter Thorne wäre vielleicht in einem schwachen Moment seinem Impuls gefolgt und jetzt schon tot.

Roanne legte die Hände flach auf den Arbeitstisch vor sich. „Gut“, sagte sie zu dem Eindringling in ihrem Kopf. „Es ist passiert. Er hat eine zweite Chance bekommen. Aber jetzt will ich, dass du und er aus meinem Kopf verschwinden.“

Zu spätzu spätzu spät.

Mit einem wütenden Laut streifte Roanne die Haushaltshandschuhe ab und warf sie auf den Holztisch. Sie verließ den Schuppen, umgeben von einem staubigen, duftenden Nebel.

Die späte Morgensonne war ein willkommener Kontrast zu dem böigen Wind, der sofort an ihrem Haar, ihrem dicken, weiten Pullover und an ihrer Jeans zerrte. Ein besonders kraftvoller Windstoß blies ihr schwarze Strähnen ihres Haars in die Augen, die ihr die Sicht nahmen. Sie strich sie weg und atmete tief die frische Luft ein. Das belebte ihre Lebensgeister und erfüllte sie mit neuer Energie. Wie ein trockener Schwamm sog sie alles auf. Doch dann hörte sie das ewige Rauschen des aufgewühlten Meeres. Sie gab sich seiner Anziehungskraft hin, ging an dem alten Gewächshaus vorbei und wanderte zum Rand des Kliffs.

Soweit Roanne sehen konnte, wogten schäumende Wellen, obwohl der Sturm schon seit Stunden vorbei war. Ganze Scharen von Seevögeln waren draußen und genossen das aufklarende Wetter. Ihre Schreie wurden manchmal vom Wind herangetragen, je nachdem, in welche Richtung er wehte. Einige Vögel kamen näher und begrüßten sie mit ihren Schreien, wie sie es üblicherweise taten, wenn Roanne ihnen Brothappen und Kekse brachte.

Roannes Ärger über sich selbst ebbte gerade ab, als ein Schnauben ihre Träumerei unterbrach. Sie schaute nach links und sah den schwarzgrauen Wolf. Sie hatte gewusst, dass er da war, ihn aber nicht beachtet, seit sie die Scheune verlassen hatte. Pontus legte sich auf den Bauch, barg die Schnauze zwischen seinen Vorderpfoten, die beinah ebenso groß waren wie Roannes Hände, und schaute sie mit seinen unheimlichen, rauchblauen Augen an.

„Du hast nicht den geringsten Grund, mir Vorwürfe zu machen“, meinte sie spöttisch. „Weißt du nicht, dass auch du ihn neugierig gemacht hast? Wie oft muss ich dich daran erinnern, dass du Menschen sowohl nervös als auch neugierig machst?“

Die Antwort war ein unbeeindrucktes Grollen. Dann schaute Pontus aufs Meer, als wollte er Roanne nachmachen. Aber sie wollte weder seinem Charme erliegen, noch fühlte sie sich von seinem Tadel angesprochen, sondern fuhr fort, das Meer zu betrachten.

Warum versuchte sie überhaupt, mit Pontus zu streiten? Sie würde ihn ebenso wenig ändern können wie sich selbst. Es war einfach so, dass ihre Beziehung zu Pontus genauso schwierig zu erklären war wie alles andere in ihrem Leben.

Roanne war Pontus zum ersten Mal in einer kleinen Höhle unten am Strand begegnet. Er hatte eine Wunde von einer Kleinkaliberkugel in seinem Hinterlauf gehabt, die ihn behindert hatte. Die Dorfleute schossen gelegentlich auf wilde Hunde, und bei seinem Aussehen war es keine Überraschung, dass ihm das zugestoßen war. Es war schrecklich gewesen, ihn leiden zu sehen, und sie hatte sich darangemacht, sein Vertrauen zu gewinnen, damit sie ihm helfen konnte.

Obwohl sie mit beidem Erfolg gehabt hatte, blieb er auch nach drei Jahren immer noch unabhängig und schlief in der Höhle unterhalb des Gewächshauses. Außer im Winter und bei stürmischem Wetter. Bei solchen Gelegenheiten akzeptierte er den Unterschlupf in ihrer gemütlichen Scheune. Er konnte sie durch das lederverhangene Schlupfloch betreten und verlassen, das Roanne extra zu seiner Bequemlichkeit eingebaut hatte. Trotzdem lief er nie sehr weit fort und blieb besonders in solchen Nächten in ihrer Nähe, wenn sie zum Kliff oder an den Strand gezogen wurde. An diesen Orten spürte Roanne oft das Wirken übersinnlicher Kräfte. Aus Dankbarkeit dafür fütterte sie Pontus und ermöglichte es ihm so, weniger jagen zu müssen.

Erneut schaute der Wolf in ihre Richtung, und Roanne dachte an die vergangene Nacht und an zwei andere Augen, die sie ähnlich direkt gemustert hatten. Aber Hunter Thornes Augen waren braun wie sein Haar und sein Schnurrbart gewesen und so dunkel, dass Roanne kaum den Unterschied zwischen Pupille und Iris hatte erkennen können. Sein Blick war intelligent und forschend gewesen, und das machte ihr immer noch Sorgen. Der ganze Mann störte sie.

Er hatte ein Kind verloren. Diese Enthüllung hatte Roannes Abwehr gegen ihren Willen geschwächt, genauso wie der Anblick seiner strengen, männlichen Gesichtszüge. Sie hatte gemerkt, dass er gebildet war, aber diese Bildung schien ebenso angeschlagen gewesen zu sein wie sein von der Reise mitgenommene Anzug. Roanne hatte ihn zunächst für einen dieser gehetzten Geschäftsmänner gehalten, die vor lauter Ehrgeiz vergessen hatten, wie man entspannt. Und auch jetzt, nach einer unruhigen Nacht, hätte sie gern weiter an dieser Einschätzung festgehalten. Aber sie konnte es nicht.

Wenn er wirklich so jemand war, dann wäre ihre Vision niemals so lebendig gewesen und ihr auch nicht so nahegegangen. Nein, sie hatte gespürt, dass sein Schmerz und seine quälende Verzweiflung daher kamen, dass er jemand ganz anderes war. Und genau davor fürchtete sie sich. Jetzt musste sie sich ausschließlich auf sich besinnen, um sich vor den vielschichtigen Gefühlen zu schützen, die er in ihr ausgelöst hatte.

Es gab in ihrem Leben keinen Platz dafür. Er hatte ihr schon letzte Nacht die Ruhe geraubt, und er störte auch heute Morgen ihre Konzentration. Das musste aufhören.

Sie drehte sich zu Pontus um. „Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang an den …?“

Bevor Roanne zu Ende reden konnte, sprang das Tier auf und verschwand. Beinah gleichzeitig spürte sie den Grund dafür. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht herumzuwirbeln. Es gelang ihr nur deshalb, weil sie sich sagte, dass sie damit ihre Anspannung verraten würde. Stattdessen lauschte sie auf die Schritte, die immer näher kamen, und beobachtete währenddessen die endlosen Reihen der Wellen, die weit unten gegen die Felsen schlugen. Ihr Dröhnen schien Roanne ebenso unerbittlich wie ihr eigener Herzschlag.

Als ihr unwillkommener Gast hinter ihr stehen blieb, fragte sie: „Waren Sie schon solange nicht mehr in Cliff Point, dass Sie vergessen haben, dass die Stadt in der anderen Richtung liegt, Mr. Thorne?“

„Ich habe gefunden, was ich suchte.“

Hunter klang gespannt, fast abweisend, und es war nicht schwierig, den Grund zu erraten. Roanne seufzte. „Sie hätten nicht herkommen sollen.“

„Ich brauche eine Erklärung.“

„Haben Sie gestern Nacht nicht genug bekommen?“

„Vermuten Sie das nur, oder haben Sie das, was passiert ist, vorausgesehen wie alles andere auch?“

„Verschwenden Sie Ihren Sarkasmus nicht an mich, Mr. Thorne“, erwiderte Roanne. Ihr wurde kalt, äußerlich und innerlich, und sie musste sich beherrschen, um nicht zu erschauern. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sie die Arme um ihren Körper schlang. „Ich habe das alles schon gehört.“

„Und wie oft haben Sie gehört, dass man Sie eine …“

Roanne wartete auf das Wort, aber es fiel nicht. Sie spürte die widerstreitenden Gefühle, die Hunter ausstrahlte, und war neugierig darauf, hinter welcher Miene er sie verbarg. Flüchtig schaute sie ihn an. „Ich glaube, Hexe ist das Wort, das Sie suchen.“

Hunter Thornes Verlegenheit hätte sie nicht beeindrucken sollen. Aber unter der Vielzahl von Wahrnehmungen, die sie letzte Nacht gesammelt hatte, hatte sie auch seinen ausgeprägten Sinn für Fairness gespürt. Als er den Blick abwandte, betrachtete sie die Schatten unter seinen rotgeränderten, gehetzt blickenden Augen und sein bleiches Gesicht. Ihre Nacht mochte ruhelos gewesen sein, doch seine musste schlimmer gewesen sein. Aber sie wollte es gar nicht wissen. Es war ein großer Fehler, wenn ihr das wichtig wurde.

Hunter presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Es ist nur … Nein. Nein, es ergibt keinen Sinn. Es muss an meinem Vater liegen. Er lebt schon zu lange hier. Vielleicht beeinflusst das sein Urteilsvermögen.“

„Sind Sie hierhergekommen, um sich selbst davon zu überzeugen, oder wollen Sie sich bei mir entschuldigen?“

Er schaute sie wieder an, und Roanne bemerkte Empörung und Zweifel in seinem Blick. „Ich versuche nur zu verstehen, was hier eigentlich vorgeht. Als ich gestern Abend Ihren Namen erwähnte, wurde er weiß wie ein …“

„Gespenst“, schlug Roanne ruhig vor.

Sie konnte sehen, wie Hunter die Hände in den Taschen seines Regenmantels zu Fäusten ballte. „Er hat absurde Dinge gesagt und mich davor gewarnt, Ihnen zu nahe zu kommen.“

„Das ist überhaupt nicht absurd. Es klingt eher wie ein guter Rat. Warum befolgen Sie ihn nicht einfach?“

„Weil alles, was gestern Nacht passiert ist, ebenso unglaublich und bizarr war wie das, was mein Vater sagte.“

„Und jetzt wollen Sie von mir die beruhigende Versicherung, dass nichts so ungewöhnlich war, wie Sie es erinnern, und dass die Warnungen Ihres Vaters nur Übertreibungen eines alten Mannes sind?“

„So ist es.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und machte dann eine ausholende Geste. „Ich meine, es ist lächerlich. Die Sonne scheint, die Welt ist in Ordnung, und Sie stehen da und wirken …“ Er betrachtete ihren Körper. „… ganz normal auf mich. Also sollte ich das, was gestern Abend passiert ist, dem Stress und der Ermüdung zuschreiben, richtig? Wenn ich ernstlich behaupte, dass ich den Eindruck hatte, Sie wären wie aus dem Nichts vor meinem Wagen aufgetaucht, kann ich mich doch gleich bei einem Therapeuten auf die Couch legen, oder?“

„Ich schwebe nicht durch die Luft, nein. Ich bin auf einem Pfad heraufgekommen, der vom Strand durch die Klippen führt.“

„Gut. Und es war auch Zufall, dass Sie da waren und mich davon abgehalten haben, etwas zu tun, an das ich am helllichten Tag niemals auch nur gedacht hätte.“

„Es freut mich, dass ihr Überlebenswille offensichtlich wieder die Oberhand hat.“

„Beantworten Sie einfach meine Frage.“

„Nein, ich glaube nicht, dass ich das tun werde.“

„Warum nicht?“

„Weil Sie die Wahrheit nicht hören wollen.“

Es war kein Lachen, eher ein verächtlicher Laut, den Hunter von sich gab. Doch trotz der gewollten Missbilligung war die Veränderung in seiner Miene atemberaubend. Roanne erkannte den Mann, der er hätte sein können, wenn das Schicksal ihm nicht so übel mitgespielt hätte. Erneut spürte sie seine mächtige Anziehungskraft, gegen die sie schon vom Moment ihrer ersten Begegnung angekämpft und die sie vergeblich verleugnet hatte.

Doch die Veränderung verflog ebenso schnell, wie sie eingetreten war, und Hunter trat auf Roanne zu. „Die Wahrheit ist, dass ich es satt habe, mich wie in einer Zwangsjacke zu fühlen. Das Letzte, was ich brauche, ist eine schöne Verrückte, die meinen Vater zum Narren hält … oder auch mich!“

„Mr. Thorne, in den paar Jahren, die ich hier in Cliff Point lebe, haben Ihr Vater und ich kaum ein Dutzend Worte gewechselt. Der Grund dafür ist, dass ihm seine Privatsphäre ebenso wichtig ist wie mir. Und was Ihren Vorwurf betrifft, dass ich Sie zum Narren halten würde … Dazu kann ich nur sagen, dass ein solcher Zeitvertreib Energieverschwendung für mich wäre.“

„Ich würde gern glauben, dass Sie so ehrlich sind, wie Sie klingen. Unglücklicherweise passt da einiges nicht zusammen.“

Sie musste verrückt gewesen sein zu glauben, dass sie ihre Geheimnisse vor ihm bewahren konnte, vor allem, da er Verwandte in der Stadt hatte. Roanne fühlte sich plötzlich müde, und eine nur allzuvertraute Traurigkeit überfiel sie. „Dann fragen Sie“, lenkte sie resigniert ein.

Obwohl er jetzt im Vorteil war, ließ er sich Zeit. „Mein Vater sagt, dass Sie Visionen haben und Dinge voraussehen können. Stimmt das?“

„Es kommt vor.“

„Er behauptet, Sie könnten Gedanken lesen.“

„Manchmal.“

„Sagen Sie mir, was ich denke.“

Das wollte Roanne nicht. Seine Gedanken waren so offensichtlich, so eindringlich, dass ihr von der Intensität seiner Gefühle heiß wurde. Aber sie wusste, dass es der einfachste Weg war, das alles zu beenden. Sie hob ihr Kinn und erwiderte seinen auffordernden Blick. „Sie können sich nicht entscheiden, ob Sie die Wahrheit aus mir herausschütteln sollen oder …“

„Oder?“

„Oder mich küssen sollen.“

Hunter schaute auf ihren Mund. Sie sah, wie seine Brust unter einem tiefen Atemzug seinen burgunderfarbenen Rollkragenpullover dehnte. „Das war zu leicht.“

„Glauben Sie?“

„Das wissen wir beide. Jeder Mann, der fünf Minuten in der Nähe einer so bemerkenswerten Frau wie Sie ist, würde dasselbe denken. Versuchen Sie es noch einmal.“

Ja, dachte Roanne, ohne sich über seine Erklärung zu freuen, sie musste etwas tun, was dafür sorgen würde, dass er sie in Ruhe ließ. Und nicht nur, weil sie spürte, dass Hunter sie so tief verletzen konnte wie niemand sonst, sondern weil er sich irrte. Männer fühlten sich leicht zu ihr hingezogen, aber sie hatte noch niemals so viel Leidenschaft in einem Mann entfacht wie in Hunter Thorne. Es wäre selbstmörderisch, wenn sie diesem Gefühl nachgab oder gar Sehnsucht danach entwickelte. Konzentrier dich! ermahnte sie sich und sammelte sich. Erst danach wagte sie es, ihm tief in die Augen zu schauen.

Es tat weh. Und wie es schmerzte! Er hatte es zu gut gelernt, seinen Schmerz in sich hineinzufressen. Roanne fühlte sich, als würde sie in einen bodenlosen Abgrund gezogen und dabei die ganze Zeit über mit scharfen Dolchen durchbohrt werden.

„Nun?“, fragte Hunter drängend.

Ihr war nach Weinen zumute. Sie standen sich so dicht gegenüber, dass sie am liebsten ihre Arme um ihn geschlungen und Schmerz und Trauer von ihm genommen hätte. Sie hätte Hunter gern aus der düsteren Verzweiflung befreit, der er verfallen war. Aber das durfte sie nicht. Ihre eigene Welt konnte noch Furcht einflößender sein, und Roanne wagte es nicht, ihn zu dicht herankommen zu lassen.

„Sie … Sie wünschten, dass ich besondere Kräfte hätte“, begann sie. Sie musste sich zwingen, die Worte auszusprechen. „Sie glauben, wenn es das gäbe, dann könnte ich Ihnen versichern, dass Cady jetzt glücklich und in Sicherheit ist.“

Hunters ohnehin schon bleiches Gesicht wurde aschgrau. Er wich vor Roanne zurück, als wäre er von einem Dolch getroffen worden. Er schüttelte verbittert den Kopf. „Sie müssen ihren Namen schon gekannt haben“, erklärte er kalt. „Sie haben ihn von irgendjemandem gehört, nicht wahr? Geben Sie es zu!“

„Nein. Und ich wusste auch nicht …“ Irgendetwas störte sie. „Warum denken Sie immer an Feuer, wenn ich nur Rauch um Cady herum wahrnehmen kann?“

„Hören Sie auf!“

Hunter wandte sich ab, aber vorher sah Roanne noch seine glänzenden Augen und spürte seine Qual. Sie hatte die letzten Worte eigentlich nicht aussprechen wollen, sie wollte doch nur verstehen. Der arme Mann. Die arme Cady. Da war noch eine Gestalt, eine etwas ältere Person, aber das Bild war undeutlicher.

„Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber ich nehme Ihnen das nicht ab“, erklärte er und zwang Roanne damit, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. „Ich glaube nicht an diesen übersinnlichen Quatsch.“

„Hatten Sie nie ein übersinnliches Erlebnis? Ein Déjà vu?“, fragte sie. Sie war etwas benommen, wie immer nach einer solch tiefen Konzentration. „Haben Sie niemals einen Brief von jemandem erhalten, an den Sie gerade gedacht haben, oder haben jemanden angerufen, der Sie gerade ebenfalls anrufen wollte?“ 

„Natürlich. Das hat jeder schon einmal erlebt.“

„Aber Sie wollen die Tatsache nicht akzeptieren, dass es Menschen gibt, die mit mehr solcher Fähigkeiten ausgestattet sind als andere?“

„Ich denke, dass es Menschen gibt, die andere glauben machen wollen, dass sie diese Fähigkeiten haben, aus welchen Gründen auch immer. Die große Frage ist, was sind Ihre Gründe?“

3. KAPITEL

Roanne schaute Hunter an, als hätte er den Verstand verloren. Einen Moment dachte er, sie würde ihn schlagen, ihn vielleicht sogar über das Kliff stoßen. Das jedenfalls entnahm er ihrem funkelnden Blick. Doch stattdessen warf sie nur verächtlich das Haar über die Schulter. „Leben Sie wohl, Mr. Thorne.“

Erst als sie ein paar Schritte gegangen war, wurde ihm klar, dass sie ihn stehen ließ. „Heh!“, rief er ihr hinterher. „Wir sind noch nicht fertig!“

„Oh doch, das sind wir.“

„Ich habe aber noch einige Fragen.“

Sie wirbelte herum. Ihre grünen Augen schienen zu glimmen. „Nein. Sie äußern nur billige Anschuldigungen. Sie sind verbittert und wütend, Hunter Thorne. Sie glauben, Sie sind der Einzige, der jemals leid und Trauer erlebt hat und dass Sie deshalb das recht hätten, mit allen anderen Menschen nach Belieben umspringen zu können. Außerdem haben Sie für einen gebildeten Mann einen bedauerlich engen Horizont. Sie wollen die Wahrheit ja gar nicht hören, also ist unser Gespräch beendet. Suchen Sie sich jemand anderen, an dem Sie Ihre Selbstgerechtigkeit auslassen können. Ich bin schon mehr als genug von sogenannten ‚guten Menschen‘ belästigt worden. Ich habe Leute wie Sie satt!“

Sie stürmte davon, und diesmal ließ Hunter sie gehen. Er musste es tun, denn auch wenn er nicht alles von dem verstanden hatte, was sie gesagt hatte, eins war klar: Er drohte nicht nur den Verstand zu verlieren, nein, er entwickelte sich geradezu zu einem Monster.

Er stöhnte leise auf. Wann hatte er jemals zuvor jemanden so vorsätzlich und absichtlich verletzt, und noch dazu eine vollkommen Fremde? Er benahm sich, als wäre er vor Gericht. Dort hatte er keine Schwierigkeiten, einen Zeugen der Gegenseite beim kleinsten Anzeichen eines Betrugs gnadenlos zu verhören. Aber wenigstens ging er dort erst in die Offensive, wenn er alle Tatsachen kannte. Bei Roanne hatte er gar nichts in der Hand. Nur unbeantwortete Fragen und vage Behauptungen, die sein leicht angetrunkener Vater wiederholt hatte. Geheimnisse. Das machte sein Verhalten nur noch tadelnswerter.

Wer war Roanne, dass sie ihm so nahe kam und ihn zu solchen Ausbrüchen verleitete? Allein ihr Blick wühlte seine Gefühle auf, die alles andere als tröstlich waren. Sie förderte Empfindungen ans Tageslicht, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Sie faszinierte ihn. Und sie machte ihm Angst.

Hunter beobachtete, wie Roanne entschlossen wegging. Er nahm ihr nicht übel, dass sie ihn verließ, ohne wirklich versucht zu haben, sich zu erklären oder zu verteidigen. Außerdem war es auch nicht nötig, dass sie ihm eine vollständige Lektion erteilte. Ihr Blick beim Weggehen war schon Vergeltung genug gewesen. Hunter hätte schwören können, dass ein leichter Geruch von Rauch in der Luft hing. War das die Nachwirkung ihres kurzen Blicks in seine Seele? Außer Wut hatte auch viel Schmerz und Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick gelegen. Sie hatte recht gehabt. Er hatte blindlings und unfair um sich geschlagen. Aber warum hatte er das getan?

Die entscheidende Frage war jedoch, warum sie so liebenswert und gleichzeitig begehrenswert war. Ihre Schönheit war nicht nur körperlich, obwohl ein Blick auf sie reichte, um Hunters Sehnsucht zu wecken. Er fing an, eine Eigenschaft an ihr zu entdecken, die unbeschreibbar und rein war, und ihm zusammen mit ihrer natürlichen Sinnlichkeit keine Ruhe ließ.

Hunter war hierhergekommen, um Leland zu widerlegen. Und er glaubte immer noch, dass alles nur ein Missverständnis war, dass der reichliche Genuss von Scotch für das verantwortlich gewesen war, was sein Vater gesagt hatte. War nicht letztlich ihr ganzes Wiedersehen bis jetzt eine einzige Enttäuschung? Doch stattdessen hatte Roanne seinen Zorn nur verstärkt. Sie hatte einfach dagestanden, ihm in die Augen gesehen und verkündet, dass sie zu all den Albernheiten fähig war, die Leland ihr zugetraut hatte. Aber niemand konnte diese Fähigkeiten haben, die Roanne sich selbst zuschrieb. Oder doch?

Woher kann sie sonst so viel wissen, dachte Hunter. Cadys Namen, zum Beispiel … Dass sie und Mrs. Oliver nicht verbrannt, sondern an einer Rauchvergiftung gestorben sind? Und dass du bereit warst, dein Leben wegzuwerfen?

Es war verrückt, und Hunter wünschte sich, er wäre niemals nach Cliff Point zurückgekommen und hätte auch Roanne Lloyd Douglas nie getroffen. Am meisten aber wünschte er sich, er könnte die Erkenntnis ungeschehen machen, dass er mit seiner letzten Bemerkung einen verhängnisvollen Irrtum begangen hatte, einen Irrtum, den er den Rest seines Lebens bedauern würde.

Hunter war psychisch und körperlich erschöpft. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Doch selbst dort fand er keinen Frieden. Überall, wo er hinschaute, waren Wolken, aber sie bildeten nicht das wogende Muster, das Märchen und Fantasien anregte. Zu seiner Verblüffung wirkten die Wolken wie die verzerrten Gesichter von Wasserspeiern, und alle schienen mit spöttischer Wut, Verdammung und Abscheu auf ihn herabzublicken.

Hunter war sicher, dass er halluzinierte, und schloss fest die Augen. Dann schaute er noch einmal hin und sah … einfache Wolken. Es gab nichts zu sehen außer vom Wind getriebene Wolken.

Höhnisches Gelächter stieg in ihm hoch, ein Lachen, das lauter und lauter wurde, bis es unvermittelt in etwas vollkommen anderes umschlug. Es war etwas Unkontrollierbares, beinah Unmenschliches. Es brach endlos und erschreckend aus ihm heraus und schien ihn zu reinigen. Er schrie gegen die Ungerechtigkeit des Lebens an, gegen seine Trauer um Cady, seine Unfähigkeit, etwas anderes zu tun, als anderen Schmerz zuzufügen, einfach gegen alles, bis er schließlich nicht mehr konnte.

Dann stand Hunter schweigend da und schwankte in dem heftigen Wind. Er war erschöpfter als jemals zuvor in seinem Leben. Aber zum ersten Mal fühlte er sich auch leer … wundervoll leer.

Es hatte wie das Brüllen eines Löwen geklungen. Den Rest des Tages und der Nacht musste Roanne an diesen schrecklichen Schrei denken, den sie gehört hatte, nachdem sie Hunter Thorne verlassen hatte. Am nächsten Morgen war er immer noch so unvergesslich in ihrem Bewusstsein eingegraben wie die Beinah-Tragödie der letzten Nacht.

Das Wutgebrüll eines Löwen, dachte sie, als sie ihre Arbeit in der Scheune fortsetzte. Nur, dass kein Tier diesen Laut von sich gegeben hatte, sondern Hunter. Irgendwie überraschte es sie nicht. Sie wusste, wie Trauer funktionierte, und soweit sie es beurteilen konnte, war bei Hunter ein solcher Ausbruch schon längst überfällig gewesen. Das Problem war nur, dass ihr dieser Ausbruch naheging.

Roanne wollte Hunter hassen, ihn verachten und verschmähen. Hatte er das nicht auch nach all dem Spott und seinen Unterstellungen verdient?

Autor

Barbara Faith
Barbara Faith de Covarrubias wurde am 19. Februar 1921 geboren. Von 1978 bis zu ihrem Tod am 10. Oktober 1995 schrieb sie vor allem für Silhouette mehr als 40 Liebesromane. Die meisten ihrer Romane spielen in Mexiko, Spanien, USA oder Marokko, darum sind auch ihre Protagonisten häufig lateinamerikanischer Herkunft.
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