NOX Band 6

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HALLOWEEN – SEX ZUR GEISTERSTUNDE von JO LEIGH

Halloween-Urlaub mit Gänsehaut – Erotik inklusive! An Geister glaubt Comic-Autorin Carrie nicht, eigentlich begleitet sie auch nur ihre Freundin. Aber dann ist da Sam, der sexy Besitzer des Gruselhotels, der sie einhüllt in die unfassbar aufregende Dunkelheit der Nacht …

NUR DU WEISST, WOVON ICH TRÄUME von MARY ANNE WILSON

Schutzengel Angelina hat es geschafft. Endlich ist Melanie mit Mr. Perfect zusammen! Aber jetzt behauptet der himmlische Boss, dass ein Irrtum vorliegt: Melanie ist nicht für Mr. Perfect, sondern für dessen unbezähmbaren Bruder bestimmt. Der Schutzengel steht vor einer Herausforderung …


  • Erscheinungstag 26.10.2024
  • Bandnummer 6
  • ISBN / Artikelnummer 8098240006
  • Seitenanzahl 320

Leseprobe

Jo Leigh

PROLOG

An: SororitySisters4ever@egroups.com

Von:

Okay, Ladies, ich hab’s getan. Morgen früh wird das Reisebüro „Fantasy Escapes“ eröffnet. Bei meinen besten Freunden rühre ich kräftig die Werbetrommel. Vielleicht findet ihr es etwas aufdringlich, aber ich bin der Meinung, dass ihr alle eine nette kleine Auszeit verdient!

Für diejenigen von euch, die nicht auf dem neuesten Stand sind: Meinen Job bei „Premiere Properties“ habe ich verloren. Deshalb habe ich im vergangenen Jahr schwer geschuftet, um etwas ganz Neues aufzubauen. Dank meiner eigenen vielseitigen Reiseerfahrungen kann ich meinen Kunden ganz individuelle und unvergessliche Urlaubserlebnisse bieten.

Eine Massage am Strand von Miami? Ich buche garantiert die geschicktesten Hände von South Beach – und weiß, wo die luxuriösesten Umkleidehäuschen stehen.

Vielleicht ein Skiurlaub – inklusive einer romantischen Fahrt im Pferdeschlitten?

Oder mit dem Fahrrad auf Hawaii einen Berggipfel erstürmen? Von mir gibt es gratis dazu die Zeitangabe für einen spektakulären Sonnenuntergang.

Ich biete das einzigartige Urlaubserlebnis, von dem Du seit Langem träumst.

Voller Energie warte ich nur darauf, für eine meiner liebsten Freundinnen eine außergewöhnliche Reise zu planen. Schicke mir eine E-Mail, wenn Du bereit dazu bist. Du hast es Dir verdient. Ja, ich meine Dich, Carrie Sawyer!

Carrie schloss lächelnd Marnies Mail und öffnete ihre eigene Homepage. Aber irgendwie fehlten ihr heute die Ideen. Statt weiter an ihrer Comicserie „Cruel, Cruel World“ zu arbeiten, wanderten ihre Gedanken zu ihrer alten Freundin. Toll, dass Marnie sich jetzt selbstständig gemacht hatte, sie musste sie unbedingt mal anrufen. Früher waren sie ständig zusammen gewesen: Marnie, Erin und sie. Seitdem Marnie in Miami wohnte, war der Kontakt zu ihr ein bisschen eingeschlafen. Dagegen traf sie sich regelmäßig mit Erin, die wie sie in Los Angeles lebte.

Sie war überglücklich, dass sie hier vor fünf Jahren dieses luftige, sonnendurchflutete Loft gefunden hatte. Die Nachbarschaft war ein wenig heikel, aber das Licht, das durch die riesigen Fenster der umgebauten Fabrik fiel, dafür spektakulär. Leisten konnte sie sich diese fantastische Wohnung dank ihrer Comicserie, die sie unter dem Pseudonym Carrie Price veröffentlichte.

Ursprünglich war die „Cruel, Cruel World“ nur ein
Experiment gewesen. Doch ihre Zeichnungen waren ein voller Erfolg geworden und wurden inzwischen in mehreren Zeitschriften veröffentlicht. Im Laufe der Jahre hatte sie sich eine respektable Internetpräsenz aufgebaut – mit eigenem Forum, Comicgeschichten und dem Online-Verkauf von T-Shirts und Postern zu ihrer „Cruel, Cruel World“-Serie. Damit war sie fast rund um die Uhr beschäftigt.

Wahrscheinlich hätte sich ihr ganzes Leben nur noch online abgespielt, wenn da nicht Erin gewesen wäre: ihre beste Freundin, die nur ein paar Blocks entfernt wohnte. Nur ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie hin und wieder ausging und am wahren Leben teilnahm.

Das Telefon klingelte. Ohne auf die Anruferkennung zu schauen, nahm Carrie ab und sprudelte gleich los: „Hallo Erin, ich nehme an, du hast auch die E-Mail von Marnie bekommen?“

„Mittagessen im Deli. In spätestens zehn Minuten!“

„Jawohl, Madam“, seufzte Carrie und fragte sich, was Erin wohl diesmal für verrückte Pläne hatte.

1. KAPITEL

Schon wieder stieß dieser Kerl mit seinem Ellbogen gegen ihre Brust. Carrie hatte keine Ahnung, ob das Absicht war oder nicht. Wahrscheinlich nicht. Denn der Shuttlebus, der sie vom Flughafen in Denver zum Crider Inn bringen sollte, war so voll, dass sie noch nicht einmal einen Sitzplatz neben Erin bekommen hatte. Eigentlich durfte sie sich nicht beklagen. Immerhin wurde sie auf der einen Seite nur gegen die Gepäckablage gequetscht, während ihre Freundin zwischen zwei Horrorgestalten eingekeilt saß. Der Typ rechts, so um die 30, hatte eine unmögliche Vokuhila-Frisur und schob ständig mit dem Mittelfinger seine Brille hoch – es sah aus, als ob er allen den Stinkefinger zeigte. Auf der linken Seite ein etwas jüngerer Mann, der gar nicht mal so übel gewesen wäre, wenn er nicht alle zwei Sekunden laut und vernehmlich geschnieft hätte.

Carrie fing den Blick ihrer Freundin auf und starrte finster zurück. Erin lächelte so heiter, als wäre dies die schönste Busfahrt ihres Lebens. Vielleicht war sie das – für Erin. Denn alle hier, außer ihr selbst und dem Busfahrer, sprachen über Geister. Geister!

Leise seufzend gestand Carrie sich ein, dass Erin ihr nicht die Pistole auf die Brust gesetzt und sie gezwungen hatte mitzufahren. Vollkommen freiwillig hatte sie über 1000 Dollar bezahlt, um an diesem Spektakel teilzunehmen: eine Woche Geisterjagd. Nie hätte sie sich dazu überreden lassen, wenn es nicht ihr letzter gemeinsamer Urlaub gewesen wäre. Danach würde Erin von Los Angeles nach New York ziehen und dort ihre neue Karriere als Architektin beginnen.

Sie hatten beide in Louisville studiert und waren immer gemeinsam in den Urlaub gefahren. Im vergangenen Jahr hatten sie zusammen den Bryce Canyon erkundet. Das war ihr großer Traum, und Erin hatte klaglos mitgemacht, obwohl sie Camping hasste. Dafür durfte sie das nächste Urlaubsziel bestimmen: eben diese Geisterjagd. Ohne auf ihren Protest zu hören, hatte Erin bei „Fantasy Escapes“ gebucht und ihr empfohlen, den Urlaub als einwöchige Forschungsreise zu betrachten. Schließlich sei sie als Cartoonistin immer auf der Jagd nach angesagten Trends, über die sie sich lustig machen könne. Und wenn ihr eine Geisterjagd nicht jede Menge neuer Ideen liefere, könne sie ihren Job gleich an den Nagel hängen. Außerdem hatten sie mit dieser Fahrt ihre gemeinsame Freundin Marnie glücklich gemacht, die ihr Reisebüro gerade erst eröffnet hatte.

„Also, ich schlief ganz fest. Ich meine, ich war wie ausgeknipst. Nichts hätte mich wecken können, nicht nach diesem verdammt harten Arbeitstag. Aber dann hörte ich dieses Kreischen. Es war laut. So laut wie – ich weiß nicht …“

Carrie zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu, als der Kerl mit dem Ellbogen-Problem sich die Lunge aus dem Leib schrie. Ein spitzer, hoher Schrei, irgendwie unheimlich. Viel gruseliger als jede Geistererscheinung.

„So, ja, genau so“, stellte der Mann zufrieden fest.

Ein Wunder, dass bei seiner Darbietung nicht sämtliche Fensterscheiben zersprungen waren. Erstaunlicherweise war der Bus nicht von der Spur abgekommen – der Fahrer war noch nicht einmal zusammengezuckt. Wahrscheinlich ist man an merkwürdige Schreie gewöhnt, wenn man für Amerikas Spukhotel Nr. 1 arbeitet, vermutete Carrie.

„Das Irre ist, dass die Leute im Wohnzimmer, nur drei Meter weiter, nichts gehört haben. Aber ich hatte mein EMF-Messgerät unter dem Kopfkissen, und das Ding ist völlig ausgeflippt. Wirklich. Voll im roten Bereich. Kein Quatsch!“

Erin hatte ihr eine Liste mit den gängigen Begriffen für die Geisterjagd gegeben. Viel zu lang, um sie auswendig zu lernen, aber sie wusste, dass die Abkürzung EMF „elektromagnetisches Feld“ bedeutete.

Bis dahin hatte Carrie überhaupt keine Ahnung gehabt, dass man für die Geisterjagd so viel Ausrüstung brauchte: EMF-Messgeräte, ultraempfindliche Thermometer, Nachtsicht-Brillen und -Kameras und noch eine Menge anderen Kram. Erin hatte etliche Teile eingepackt. Dafür hatte Carrie nicht nur ihren Laptop mitgenommen, sondern auch ihren Scanner, diverse Dateien und ihre Zeichenutensilien.

Carrie betrachtete ihre Mitreisenden und wünschte, sie wäre eine von ihnen. Jemand, der an Geister und Erscheinungen glaubte. Denn anscheinend bedeutete es diesen Leuten sehr viel mehr als nur Spannung und Nervenkitzel. Zum Beispiel Erin. Irgendetwas an ihrem Glauben an Geister wirkte beruhigend auf sie. Es machte ihre Welt leichter verständlich. Wissenschaftliche Beweise gab es nicht – trotzdem zweifelte Erin keinen Augenblick an der Existenz des Übernatürlichen. Im Gegensatz zu ihr selbst.

Ob Gespenster, Aliens, Verschwörungstheorien oder satanische Botschaften in Rocksongs: Die Menschen suchten immer nach Erklärungen, nach einem tieferen Sinn.

Schon immer hatten sie irgendwelche Geister beschworen. Ein harmloses Vergnügen, auch wenn Carrie es für unsinnig hielt. Fast eine Woche lang unter diesen Gespenster-Experten zu leben, würde ziemlich anstrengend sein. Denn nie würde sie begreifen: Wieso hielten diese Leute so unbeirrbar an ihrem Glauben an das Übernatürliche fest? Jahrelang hatte man versucht, die Existenz dieser Wesen zu beweisen. Ein ganzer Industriezweig hatte sich daraus entwickelt. Trotzdem war es nie jemandem gelungen, eine solche Erscheinung eindeutig zu dokumentieren – aber selbst das brachte die Geisterjäger nicht von ihrer Überzeugung ab.

Gegenüber Erins Freunden behielt sie ihre Meinung für sich, obwohl es ihr manchmal schwerfiel. Wenn intelligente, gebildete Leute ihre persönlichen übersinnlichen Erlebnisse schilderten, musste sie sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. Ob sie nach der kommenden Woche weiterhin die ruhige Beobachterin spielen konnte, war allerdings fraglich.

Ein Blick aus dem Busfenster auf die traumhaft schöne Landschaft von Colorado brachte sie auf andere Gedanken. Sie würde die kommenden Tage überwiegend mit ihrer Freundin verbringen. Bloß nicht daran denken, dass Erin schon bald Los Angeles verlassen würde …

In den nächsten zehn Minuten würde noch eine Busladung Geisterjäger ankommen. Sam Crider, der gegenwärtige Besitzer des „Crider Inn“, hielt sich bereit. In dieser Halloween-Woche fand die größte Versammlung von Spuk-Besessenen statt, seit er das Hotel übernommen hatte. Bei der Dekoration hatte er sich viel Mühe gegeben. Eine gespenstische Atmosphäre zu schaffen, gelang ihm mühelos. Es war sozusagen eine alte Familientradition, seitdem das „Alte Hotel“ nach einem Feuer mysteriösen Ursprungs zwar nicht mehr bewohnbar war, aber auch nicht abgerissen wurde.

Sam war begeistert über das wiederbelebte Interesse an Geisterjagden – und den entsprechenden TV-Shows, die über diesen „Sport“ gar nicht genug berichten konnten. All diese übersinnlichen Legenden über den Crider-Besitz füllten seine Kasse und steigerten den Wert des Grundstückes. Zwei Unternehmen überboten sich gegenseitig. Das eine war vor allem an dem Spuk-Hotel interessiert, das andere nur an dem dazugehörigen Land. Was letztlich daraus wurde, war Sam herzlich egal – er würde an den Meistbietenden verkaufen.

Die Verhandlungen waren in aller Stille verlaufen. Niemand ahnte, dass er den Besitz so schnell wie möglich loswerden wollte. Denn bisher war es immer ein Crider gewesen, dem das Land gehörte und der das Hotel führte. Doch er wollte wieder in sein eigenes Leben zurückkehren.

Sein Vater war gestorben, während er gerade seinen fünften Dokumentarfilm drehte. Zehn Monate war das jetzt her, und er vermisste den alten Herrn. Sie hatten sich sehr nahe gestanden, seitdem Sam mit dreizehn seine Mutter verlor. Doch die Liebe zum Hotel und den Wunsch, die Familientradition fortzusetzen, hatte sein Vater ihm nicht vermitteln können.

Wenn er das Hotel verkaufte, könnte er weiterhin Filme drehen – ohne die Einschränkungen eines viel zu knappen Budgets. Endlich könnte er zu jedem Ort reisen, den das Drehbuch vorschrieb, und so lange bleiben, wie er wollte.

Aber vorher musste er sich eine Woche lang ganz auf Gespenster einstellen. Nicht nur für die Hotelgäste, sondern auch, um die möglichen Käufer zu beeindrucken. Denn die würden alles genau unter die Lupe nehmen, bevor sie ihre Angebote machten. Die Vertreter der zwei Firmen hatte er gemeinsam eingeladen. Das war zwar nicht üblich, doch Sam hatte keine Lust, die Tour zweimal zu machen. Inzwischen kamen ihm allerdings Zweifel. Wenn nach dem Rundgang nun beide Interessenten abspringen würden …

Er hatte sichergestellt, dass die beiden potenziellen Käufer gewillt waren, das Stammpersonal zu übernehmen. Also musste er sich in dieser Hinsicht nicht schuldig fühlen. Selbst für seine Tante Grace hatte er in Denver eine wunderschöne Wohnung in einer Seniorenresidenz gefunden. Denn wenn es ein Haar in der Suppe gab, so war es Tante Grace. Seit vielen Jahren bewohnte sie das Apartment, in dem früher seine Eltern gelebt hatten.

Aber langsam kam sie in die Jahre, und dieser Ort war viel zu abgelegen, meilenweit entfernt von jeder medizinischen Versorgung. Was er tat, war völlig richtig. Für ihn selbst, für die Angestellten und für Tante Grace. Sam hatte sie für einige Wochen zu ihrer Freundin nach Miami geschickt, und dort genoss sie die Wärme. Hoffentlich würde sie später wenigstens halb so begeistert nach Denver umziehen …

Sam hörte, wie die Tür hinter ihm aufging. Seine alte Freundin Jody Reading brachte ihm Kaffee und etwas, das verdächtig nach einer echten Kalorienbombe aussah. Jody war eine erstklassige Köchin und würde diese Woche für ihn arbeiten. Ihre himmlischen Menüs und die verführerischen Kuchen und Torten würden die Gäste begeistern. Die Reue käme erst später – nach einem Blick auf die Waage …

„Ich dachte, vor dem Andrang der Massen möchtest du das vielleicht mal probieren!“

Begehrlich blickte Sam auf das riesige Stück Napoleontorte, üppig gefüllt mit Buttercreme, sein absoluter Favorit.

„Du machst mich fertig! Irgendwann ende ich auf der Straße – irgendwo hinter einer Konditorei und bettele verzweifelt um ein Stück Kuchen!“

„Solange es nicht meine Konditorei ist!“, antwortete Judy schlagfertig, bevor sie wieder in der Küche verschwand.

Kaum hatte Sam den letzten köstlichen Bissen verspeist, da wurde die Hoteltür geöffnet. Ein kalter Windstoß wirbelte durch die Lobby – und im Anschluss daran erschienen die Gäste.

Diskret ließ Sam Kuchengabel und Teller unter einer Zeitung verschwinden und klingelte nach Patrick. Der Hotelmanager würde sich um die Anmeldung kümmern, während er selbst locker mit den Gästen plauderte.

„Sie sind Sam Crider? Der Mann, dem das Ganze hier gehört?“

Sam nickte dem Gast zu, der gerade sein Anmeldeformular ausfüllte. Liam O’Connell war einer der Koordinatoren der Veranstaltung.

„Ich wette, Sie haben hier schon ein paar aufregende Sachen gesehen.“

„Oh, ja. Dinge, bei denen Ihnen die Haare zu Berge stehen würden.“

Liam lachte schallend – denn er war fast kahl. „Und was war das Grässlichste, das Ihnen jemals begegnet ist?“

„Verrate ich nicht. Ihr Jungs werdet schon finden, was ihr sucht. Da solltet ihr völlig unbelastet rangehen, sozusagen jungfräulich.“ Scheinbar besorgt runzelte Sam die Stirn. „Sie haben doch keine Probleme mit dem Herzen?“

Liam schüttelte den Kopf.

„Das ist gut“, erklärte Sam ernsthaft und überlegte gleichzeitig, ob er nicht zu weit gegangen war. Ein kurzer Blick in die Runde genügte: offensichtlich nicht. „Obwohl wir natürlich Riechsalz bereithalten – sicherheitshalber!“

„Hervorragend!“ Liam hatte seine Karte ausgefüllt, und Sam musterte interessiert das Gepäck. Je engagierter ein Geisterjäger, desto umfangreicher war seine Ausrüstung. Diese Leute waren eindeutig sehr engagiert. Im Hotel gab es für die zahllosen Koffer nur vier Gepäckkarren und zwei kräftige Studenten. Deshalb sollte er besser den Small Talk beenden und stattdessen den Gästen helfen, auf ihre Zimmer zu kommen.

In diesem Augenblick entdeckte er eine große, auffallend attraktive Blondine. Eine Schönheit. Ob ihr klar war, dass sie mit ihrem Aussehen auf dieser Tagung ein ziemliches Chaos anrichten könnte? Aber vielleicht war sie ja nicht allein gekommen, das wäre hilfreich.

Die schöne Blonde war tatsächlich in Begleitung – einer Frau. Bei ihrem Anblick blieb Sam plötzlich stocksteif stehen. Sie war nicht sehr groß, höchstens 1,65 m, schlank, und ihre Augen waren ebenso dunkel wie ihr langes, schimmerndes Haar. Er hatte sie schon einmal gesehen, wusste aber nicht mehr, wo. Dafür konnte er sich an seine Reaktion um so besser erinnern: Unwillkürlich hatte er den Atem angehalten, sein Herz hatte wie verrückt in der Brust gehämmert – als ob er eine längst verloren geglaubte Geliebte wiedergefunden hätte. Warum hatte er sich damals nicht mit ihr verabredet? Egal, das spielte jetzt keine Rolle mehr. An so etwas wie Wiedergeburt oder Schicksal hatte er noch nie geglaubt. Aber ganz bestimmt würde er es kein zweites Mal zulassen, dass diese Frau einfach wieder aus seinem Leben verschwand …

2. KAPITEL

„Siehst du das?“

Carrie warf ihrer Freundin einen genervten Blick zu, weil sie wegen Erins Riesenkoffers die Letzten in der Reihe waren. Na ja, nicht ganz die Letzten, vier Leute warteten noch hinter ihnen. Aber sie war müde und hungrig, und sie wollte die Internetverbindung testen. „Ja. Der Gasthof ist nett. Großer Kamin, sehr charmant.“

„Lieber Himmel, du bist die schlechteste Reisende, die ich kenne. Warum fahre ich bloß immer mit dir in Urlaub?“

„Keine Ahnung!“

Erin drehte Carrie in Richtung Rezeption. „Siehst du das?“, wiederholte sie leise.

Alles, was Carrie sah, waren zwei Typen, die sich um die Anmeldungen kümmerten. Einer hatte beeindruckend silbernes Haar, und sie hoffte, dass er aufschaute, damit sie sehen konnte, ob sein Gesicht zum Haar passte. Der andere brauchte nicht erst aufzuschauen – er starrte sie an. Ganz ohne Zweifel. Sie spürte, wie die Röte ihr ins Gesicht stieg, bis ihr klar wurde, dass er wohl Erin fixierte. Jeder Mann starrte Erin an. Sie drehte sich zu ihr um: „Du solltest dich geschmeichelt fühlen!“

„Wieso ich? Dich verschlingt er mit den Augen, Schätzchen!“

Carrie schaute noch einmal. Tatsächlich: Der Mann starrte sie an. „Was zum Teufel?“, flüsterte Carrie.

„Keine Ahnung“, murmelte Erin, ohne die Lippen zu bewegen. „Okay, jetzt schaut er woanders hin.“

„Seltsam“, Carrie riskierte noch einen kurzen Blick, „er muss mich mit jemandem verwechseln, den er kennt.“

„Oder deine Schönheit hat ihn umgehauen, und er hat sich rettungslos in dich verliebt!“

„Klar doch! Das ist genauso wahrscheinlich, als wenn hier plötzlich ein Geist auftaucht!“

Die Leute vor und hinten ihnen in der Schlange blickten sie empört an. Carrie zuckte zusammen. „Nur ein kleiner Scherz!“

„Mit dir kann man nirgendwo hingehen“, seufzte Erin kopfschüttelnd.

Carrie verfluchte ihr loses Mundwerk. Ganze zwei Stunden hatte es gedauert, bis sie sich über diese Leute lustig machte – und sie hatten noch nicht einmal eingecheckt. Verdammt! Also hielt sie sich vorläufig zurück und lauschte stattdessen den Bemerkungen von Mr. Starrender-Blick. Natürlich ging es um Gespenster – was sonst? Wahrscheinlich weilte auch die Person, mit der er sie verwechselt hatte, nicht mehr unter den Lebenden. Der Mann schien jedenfalls ziemlich enthusiastisch und davon überzeugt, dass die Geisterjagd in seinem Hotel eine todsichere Sache war. Trotzdem: Der Mann war ein verdammt heißer Typ.

Eine Bemerkung hinter ihr über Leute, die zu solchen Konferenzen reisen, obwohl sie gar nicht wahrnehmen, was um sie herum geschieht, ließ sie ihre Impulsivität verfluchen. Bis zum Essen hatte sich ihre dumme Bemerkung wahrscheinlich herumgesprochen. Als sie endlich am Empfang angelangt war, sah sie sich schon geteert, gefedert und davongejagt. An den sexy Typen hinter dem Tresen dachte sie nicht mehr. Mindestens zwei Sekunden lang …

Sam Crider war etwa 1,85 m groß und trug enge Jeans, dazu ein Holzfällerhemd. Er sah absolut nicht so aus wie die Kerle, die sie sonst schon mal traf. Meistens andere Cartoonisten und Technikfreaks in T-Shirts mit dämlichen Logos und Baggyhosen. Criders dunkelbraune Haare waren etwas zu lang und ein bisschen verstrubbelt, seine Augen haselnussbraun und freundlich. Kein bisschen unheimlich, der Typ – abgesehen von seinem Hang, sie anzustarren und seinem Geisterglauben …

Ohne erkennbaren Grund ließ er ihre Anmeldung von seinem Kollegen bearbeiten und kam stattdessen um den Tresen herum auf sie zu.

„Ist das Ihr Gepäck?“

Carrie musterte ihre Ausrüstung und konnte sich gerade noch bremsen, darauf hinzuweisen, dass nichts davon mit Geisterjagd zu tun hätte. „Ja, das ist meins!“

„Warten Sie einen Moment, ich hole einen Gepäckkarren.“

Inzwischen gab Erin dem silberhaarigen Mann ihre Anmeldung und flüsterte Carrie verschwörerisch ins Ohr: „Die Sache wird langsam interessant. Der Typ ist einfach perfekt!“

Carrie brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Einer der Gründe, weshalb sie sich auf dieses zweifelhafte Urlaubsvergnügen eingelassen hatte, war ihre Urlaubsregel Nr. 1. Nach ihrer ersten Reise hatten sie beschlossen, dass bei ihren gemeinsamen Trips Männer einfach zum Programm gehörten. Solange sie keine feste Beziehung hatten, konnten sie einen One-Night-Stand genießen, wann immer sie wollten. Kein Risiko, kein Stress, nur Spaß und Vergnügen. Und wenn Carrie etwas dringend brauchte, war es unkomplizierter Spaß. Denn sie trauerte immer noch ihrem Exfreund nach. Einfach lächerlich und blöd! Höchste Zeit, wieder auf andere Gedanken zu kommen und sich Armand gründlich aus ihren Hirnwindungen zu kehren. Sam Crider schien dafür durchaus geeignet.

„Meinst du?“

„Ja, aber vermassel es bloß nicht. Dem Kerl gehört das Hotel, er ist einer von den wahren Gläubigen.“

Das war der Haken, aber es war sowieso viel zu früh, um sich darüber Gedanken zu machen. Vielleicht hatte er eine Frau und sieben Kinder. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. „Wenn er mir bei dem Gepäck hilft, muss ich ihm dann ein Trinkgeld geben?“

„Frag mich nicht, ich gebe jedem sowieso doppelt so viel, wie ich sollte. Du bist die Vernünftige.“

„Das hilft mir jetzt auch nicht viel!“

„Wenn du dich hier nicht gleich so unbeliebt gemacht hättest, könntest du jemand anders fragen.“

„Stimmt, ich glaube, ich werde mehr Zeit in meinem Zimmer verbringen, als ich dachte.“

„Oh nein, damit kommst du nicht durch! Heute Abend steigt nach dem Essen das große ‚Meet und Greet‘, um uns besser kennenzulernen. Und du kommst mit!“

Erin übersah die finsteren Blicke ihrer Freundin und rückte beiseite, als Sam mit dem Karren kam.

Zuerst schnappte er sich ihren Koffer, aber Carrie stoppte ihn. „Nehmen Sie lieber als Erstes dieses Monstrum, Mr. Crider.“ Sie zeigte auf Erins gigantischen Rollenkoffer, in dem ein bis zwei Personen bequem Platz gefunden hätten. Carrie wusste, dass darin mindestens 28 verschiedene Outfits verpackt waren, komplett mit jeweils passenden Schuhen, Schals, Ohrringen, Make-up und allem anderen, was ihre Freundin in den nächsten acht Tagen unbedingt brauchte.

„Einfach nur Sam“, korrigierte sie der Hotelbesitzer, während er den Monsterkoffer erstaunlich locker auf die Karre lud. Fasziniert malte Carrie sich aus, welche Muskeln sich unter dem Flanell verbargen. Der Gedanke an Urlaubsregel Nr. 1 schien ihr zunehmend erfreulicher.

Sam türmte das Gepäck sorgfältig auf. Als er fertig war, stellte er sich neben Carrie, legte ihr wie beiläufig die Hand auf den Rücken – und eine glühende Hitzewelle überflutete sie. Plötzlich verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, ihn zu küssen. Lieber Himmel, wohin würde das noch führen?

„Sollen wir?“, fragte er.

Carrie konnte ihn nicht anschauen. Verdammt noch mal! Sie zwang sich dazu, sich zu konzentrieren. Diese Berührung hatte nichts zu bedeuten. Wenn es aber doch der Beginn von etwas Größerem sein wollte, so musste das von ihm ausgehen – und das würde ganz sicher nicht in der Lobby passieren. Außerdem wusste sie nicht mehr über ihn, als dass er verdammt sexy war. Die Urlaubsregeln besagten nicht, dass sie sofort über jemanden herfallen musste. Der Typ müsste ihr auf jeden Fall sympathisch sein, und dazu musste sie ihn schon etwas besser kennen als gerade mal fünf Minuten.

Auf dem Weg zu den Zimmern fiel es Carrie schwer, Crider nicht anzusehen. Der Flur sah nicht so motelmäßig aus, wie sie angenommen hatte. Auch nicht besonders gespenstisch – eher beruhigend durch einen dunklen malvenfarbigen Teppich und Schwarz-Weiß-Fotos der örtlichen Attraktionen. Sie blieb vor dem Foto eines Adlers stehen, der am klaren Himmel kreiste, im Hintergrund ein hoher, schneebedeckter Berg. Dabei hatte sich ihr irrsinniges Herzklopfen beruhigt, und sie war beinahe wieder sie selbst.

„Diese Stelle mit dem fantastischen Ausblick ist etwa 18 Meilen von hier entfernt. Wenn Sie Lust dazu haben, kann ich sie Ihnen zeigen.“

Sie blickte Sam an – und da war es wieder: Schmetterlinge im Bauch, Gedanken an Küsse, Hitze, zerwühlte Laken. Aber diesmal hatte sie sich besser im Griff. Normalerweise war sie nicht der nervöse, schnell errötende Typ. Zugegeben, es war schon eine Weile her, dass sie zum letzten Mal Sex hatte, aber das allein konnte doch nicht ihre Persönlichkeit verändern. „Ein sehr freundliches Angebot, vielen Dank.“

„Zum Skilaufen liegt noch nicht genug Schnee, aber ein Ausritt dorthin ist sensationell. Ich nehme meine Gäste ab und zu mit. Es gibt dafür keine festen Termine. Sagen Sie einfach, wann, und wir fahren gemeinsam los.“

„Das ist echt nett von Ihnen, aber ich bin nicht gerade ein Cowgirl. Ich habe immer nur in Großstädten gelebt.“

„Wie schade! Nicht, dass ich etwas gegen Großstädte hätte. Wenn ich nicht hier arbeite, lebe ich selbst in der Stadt. Aber es ist tatsächlich beeindruckend, dieses Land auf dem Rücken eines Pferdes zu erkunden.“

„Entschuldigung!“

Carrie drehte sich zu Erin um, die gerade ihre Zimmertür öffnete.

„Ich muss unbedingt jemanden anrufen, könnten Sie bitte mein Gepäck reinbringen?“

Ganz sicher musste Erin niemanden anrufen. Sie wollte nur schnell auspacken und dann zum Wesentlichen kommen: der Jagd. Oder sie will mich mit Sam alleine lassen, dachte Carrie. Ja, wahrscheinlich war das der Grund.

Mühelos hatte Sam den Monsterkoffer aufs Bett gehievt, ging dann weiter ins benachbarte Zimmer, das sich nur durch die Farbe unterschied. Das üppige Bett mit der kuscheligen Daunendecke war so verlockend, dass Carrie am liebsten gleich hineingesprungen wäre – vorzugsweise mit dem Mann, der neben ihr stand. Außerdem gab es einen schönen großen Schreibtisch, einen kleinen Kühlschrank und sogar eine Mikrowelle. Alles in allem, besonders für den Preis, war es ein ausgezeichnetes Zimmer. „Sehr schön!“

„Wir geben uns Mühe.“ Sam legte ihren Koffer aufs Bett und bemerkte: „Wie ich sehe, sind Sie bestens für die Geisterjagd ausgestattet.“

Sie erinnerte sich an ihre Rolle und lächelte. „Aber sicher. Ich bin ganz verrückt auf Geister, je mehr, desto besser. Schaffen Sie sie heran!“

Er lachte in sich hinein und musterte sie verstohlen von der Seite. Seine Nase war etwas zu groß, aber sie passte zu ihm. Außerdem hatte er ein sexy Grübchen im Kinn, das sie erstaunlicherweise bisher noch nicht bemerkt hatte. Insgesamt sehr männlich, sehr sexy – mit einem Wort: umwerfend!

„Sie kommen aus L. A.?“

„Ja“, antwortete sie und runzelte die Stirn. „Woher wissen Sie …?“

„Ihr Akzent, als Sie sich angemeldet haben. Ich habe selbst eine Zeit lang dort gearbeitet.“

„Und was haben Sie dort gemacht?“

„Dokumentarfilme gedreht. Wohnen Sie in einem der Hochhäuser?“

„Nein, in einer umgebauten Brotfabrik. In einem Loft mit einer grandiosen Aussicht auf den Blumenmarkt.“

„Klingt fantastisch!“

„Sie leben hier?“

Er presste die Lippen zusammen, und ein Schatten flog über sein Gesicht. „Eigentlich nicht. Ich habe das Hotel geerbt, als mein Vater starb.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Das ist schon in Ordnung. Hier bin ich aufgewachsen, das ist mein Zuhause.“

„Es ist gemütlich hier, wunderschön!“

„Ja, das ist es.“ Es gab noch einiges abzuladen, aber das war schnell getan. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sich in dem Zimmer um, als ob er nicht besonders vertraut damit wäre.

Carrie fragte sich, was er da tat. Für sie war es eine völlig neue Situation. Sonst hatte sie ihre angehenden Urlaubsaffären in der Bar oder am Pool kennengelernt, immer waren es Mitreisende gewesen. Nicht, dass es besonders viele waren. Und noch nie hatte jemand schon nach wenigen Minuten in ihrem ganzen Körper eine solche Glut ausgelöst. Vielleicht hatte sein Herumtrödeln überhaupt nichts mit Sex zu tun. Wahrscheinlich wollte er ihr nur ein paar Tipps geben.

Tipps? Ach du lieber Himmel! Sollte sie ihm jetzt ein „Tip“ geben, ein Trinkgeld? Hastig zog sie einen Zehner aus ihrem Portemonnaie, viel zu viel, und wollte ihm den Schein reichen. „Vielen Dank!“

Völlig entgeistert starrte er auf das Geld – und dann auf sie. „Oh nein! Nein, Sie müssen nicht …“

„Ich möchte aber gern. Ehrlich!“

Er errötete zwar nicht, aber sein Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass die Sache mit dem Trinkgeld eine ziemlich blöde Idee von ihr war. Und was sollte sie jetzt mit dem Geld machen? Wie zufällig ließ sie den Schein auf den Nachttisch fallen, als ob sie das ohnehin vorgehabt hätte.

Natürlich funktionierte es nicht – Sam ging nicht und stand immer noch in ihrem Zimmer. Okay, sie hatte heute schon so viel Mist gebaut, also könnte sie auch gleich versuchen herauszufinden, ob er überhaupt an ihr interessiert war. „Erinnere ich Sie an jemanden, den Sie kennen?“

Statt des Zehndollarscheins blickte er jetzt sie an. „Wie bitte?“

„Als ich unten vor der Rezeption anstand. Sie haben mich angeschaut, als ob Sie glaubten, ich sei jemand anders.“

„Nein, bestimmt nicht!“

Carrie blinzelte und antwortete mit einem lang gezogenen „Okay“.

Er öffnete den Mund, zeigte dabei seine tollen weißen Zähne – und schloss ihn wieder. Nach einem kleinen Seufzer sagte er: „Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet, aber ich weiß nicht mehr, wo. Das macht mich ganz wahnsinnig.“ Er trat einen Schritt näher. „Ich nehme nicht an, dass Sie mich wiedererkennen?“

„Nein, nicht mal ein kleines bisschen.“

„Aha. Also dann …“ Er zog sich zur Tür zurück. „Vielleicht verwechsele ich Sie wirklich mit jemandem.“ Er blieb stehen, machte einen Schritt auf sie zu. „Waren Sie mal in San Diego?“

„Ja, war ich.“

„Aha!“

„Haben Sie in San Diego gewohnt?“, fragte Carrie.

Sam verneinte. „Nein. In New York. Bis jetzt.“

Sie wusste nicht so recht, was mit ihm los war. Eigentlich hätte sie sich in der Situation sehr viel unbehaglicher fühlen müssen, aber sie war an skurrile Gespräche mit hochintelligenten, aber sozial leicht gestörten Computerfreaks gewöhnt. „Sie machen Dokumentarfilme?“

„Ja.“

„Sollte ich die kennen?“

„Wohl kaum. Es sei denn, Sie gehen auf Schmalfilm-Festivals. Ich habe vier größere und einige kleine Filme gedreht. Meistens geht es um Menschenrechte.“

„Wow, eine gute Sache.“

Er nahm die Hände aus den Taschen, legte eine Hand auf ihren Koffer. Es war eine schöne Hand, stark, mit langen Fingern und kurzen, ordentlich geschnittenen Nägeln. Ein paar Sekunden verstrichen, plötzlich richtete er sich kerzengerade auf. „Sie wollen sicher auspacken, deshalb lasse ich Sie jetzt besser alleine.“

„Äh, nun …“, war ihre geistreiche Antwort, während sie ihn dabei beobachtete, wie er rückwärts zur Tür ging. Offenbar fand er sich in dem Zimmer blind zurecht.

„Sie sollten das Essen in unserem Restaurant ausprobieren. Und den Kuchen. Ehrlich.“ Er fand die Türklinke hinter sich. „Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen angenehmen Aufenthalt.“

„Vielen Dank!“

Er blieb stehen. Noch einmal.

Das Ganze wurde immer merkwürdiger, trotzdem fühlte Carrie sich nicht unwohl. Im Gegenteil, sie genoss die Situation. Seine Anwesenheit. Seinen Anblick. Sehr sogar. Sie lächelte.

Er lächelte zurück. Dann öffnete er die Tür und trat in den Gang. Sie hörte das Schloss klicken und setzte sich aufs Bett. Ganz sicher war sie sich ihrer Sache noch nicht, aber voller Hoffnungen. Großer Hoffnungen.

Sam machte die Tür hinter sich zu und schloss die Augen. Es war ihm schon öfter passiert, dass er Leute wiedererkannt hatte, sich aber nicht mehr erinnern konnte, wann und wo er ihnen begegnet war. Aber niemals zuvor hatte er sich dabei so zum Idioten gemacht wie jetzt. Heftig zwinkernd versuchte er seinen Blick zu klären und traf gleichzeitig die Entscheidung, alles zu vergessen, was in Zimmer 204 geschehen war. Er hatte ein Hotel zu führen, das er demnächst verkaufen wollte. Basta!

Statt des Lifts nahm er die Treppen, und schon auf der zweiten Stufe dachte er wieder an Carrie. Er mochte ihr Aussehen, wie sie sprach – ihre ganze Art. Und er war sich ziemlich sicher, dass sie keine so enthusiastische Geisterjägerin war, wie sie ihn glauben machen wollte.

Äußerst merkwürdig, immerhin hatte sie für einen „Geister-Urlaub“ bezahlt. Also noch etwas, das ihn ziemlich neugierig machte.

Wo, zum Teufel, hatte er sie bloß vorher gesehen? Er versuchte, sie sich mit kürzerem Haar vorzustellen, mit einer anderen Haarfarbe, aber das half nichts. Nein, sie sah damals genauso aus wie jetzt, da war er sicher. Es war nicht nur ihr Aussehen, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie schien mehr Raum einzunehmen, als sie sollte. Nicht ihr Körper, sondern ihre Persönlichkeit. Er hatte es bemerkt, als sie in der Schlange vor der Rezeption stand. Unter allen Gästen war Carrie Sawyer etwas ganz Besonderes.

Sam sammelte geradezu starke Persönlichkeiten. Er machte jede Menge Fotos von völlig unbekannten Leuten und versuchte dabei, unter die Oberfläche zu gehen, das Wesen der Menschen einzufangen. Seine Kamera würde Carrie lieben!

In der Lobby angekommen, schaute er auf die Uhr. In wenigen Stunden würden die potenziellen Käufer hier sein.

Vorhin hatte er hatte Bev, den Hausmeister, losgeschickt, damit die Geisterjäger beim Fotografieren im „Alten Hotel“ keinen Unsinn trieben und versuchten, die morschen Stufen zu erklimmen.

Das „Alte Hotel“ war größtenteils ein Trümmerhaufen. Doch sein Vater hatte dafür gesorgt, dass der Boden im Erdgeschoss den Bauvorschriften entsprach. Alle Sicherheitsmaßnahmen waren jedoch geschickt verborgen. Nur ein sehr erfahrener Gebäudeprüfer würde bemerken, dass diese vermeintliche Ruine ein Erdbeben besser überstehen würde als jedes andere Gebäude auf dem Grundstück. Nicht, dass Sam sich besondere Gedanken über Erdbeben machte …

Sein Vater und seine ganze Familie hatten gewollt, dass sich die Geisterjäger gut unterhielten. Dass ein Fluch auf dem Gebäude lag, war ein Extrabonus. Im Tageslicht war es nicht furchterregender als ein Spukhaus in Disneyland. Und doch waren bisher alle Gäste, die ihre Ausrüstung hier aufgebaut hatten, befriedigt wieder abgereist, weil sie übersinnliche Erscheinungen wahrgenommen hatten. Dabei gab es keine Tricks. Der Wind, die Fußbodenbretter und das Ambiente gaukelten den Geisterjägern das vor, was sie sehen wollten. Eine typisch menschliche Eigenheit – nicht nur bei Geisterjägern.

Genau diese Eigenschaft brachte auch seine Gedanken wieder zu Carrie zurück. Er wollte sie unbedingt näher kennenlernen. Eine etwas delikate Angelegenheit, schließlich war er der Hotelbesitzer. Dem Personal war es streng untersagt, mit den Gästen zu schlafen. Eine Vorschrift, die mindestens von der Hälfte seiner Angestellten gelegentlich missachtet wurde. Aber Vorschrift hin oder her: Für eine heiße Affäre war es nicht gerade der optimale Zeitpunkt. Denn während der nächsten Tage sollte er sich nur auf eins konzentrieren: den Verkauf des Hotels.

Andererseits war eine Ablenkung vielleicht genau das, was er brauchte. Denn für den Verkauf konnte er im Moment nicht viel tun, und sein Hotelpersonal würde sich perfekt um die Bedürfnisse der Gäste kümmern.

Wie lange war es schon her, dass ihn eine Frau so erwischt hatte wie Carrie? Und wenn er sich nicht irrte, war auch sie durchaus interessiert. Flüchtige Blicke, ein sanftes Erröten. Ihr Erschauern, als er ihr die Hand auf den Rücken gelegt hatte. Sam grinste, während er auf den Ballsaal zuging. Dies könnte eine weitaus interessantere Woche werden, als er je geahnt hätte.

Carrie beendete ihr köstliches Essen und war ernsthaft in Versuchung, den Teller abzulecken. Kaum zu glauben, aber wahr: In diesem kleinen, unbekannten Hotel hatte man ihr heute die beste Mahlzeit ihres Lebens serviert! Das Restaurant sah eigentlich nach nichts aus. Viel Holz natürlich. Sehr rustikal – nicht ganz nach ihrem Geschmack. Aber wahrscheinlich erwarteten das die Leute in dieser Gegend. Es gab etwa 20 Tische, jeder mit einer hübschen Blumendekoration. Das Besteck passte zusammen, die Gläser funkelten, die Beleuchtung war angenehm dezent.

„Du lieber Himmel“, stöhnte Erin und blickte dabei sehnsüchtig auf ihren Teller, „das war unbeschreiblich gut!“

„Oh ja, ich weiß.“

„Ich bin restlos satt.“ Erin hatte Krustenbraten bestellt und ihre Portion bis zum letzten Bissen aufgegessen. „Das Essen muss alle mächtig beeindruckt haben. Niemand spricht. Und das ist bei diesen Freaks geradezu ein geisterhaftes Ereignis.“

Überrascht blickte Carrie ihre Freundin an. „Ich fasse es nicht. Hast du gerade einen Scherz gemacht? Über das Übersinnliche?“

„Natürlich mache mich manchmal darüber lustig“, antwortete Erin etwas mürrisch. „Ich bin nämlich nicht so kleinlich wie gewisse andere Leute.“

„Wer ist denn hier kleinlich?“

Ohne darauf zu reagieren, nickte Erin der Kellnerin zu. „Ich werde mal Kaffee bestellen, schönen starken Kaffee.“

„Wann willst du schlafen gehen?“

„Eine Minute, nachdem ich meinen ersten Geist gesehen habe.“

„Dann brauchst du garantiert literweise Kaffee!“

„Erin seufzte.“ Oh, du Kleingläubige. Schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts hat es hier Geistererscheinungen gegeben, vor allem im ‚Alten Hotel‘.

Carrie hatte über das alte Gebäude gelesen, in dem es offenbar von Gespenstern nur so wimmelte. Einiges hatte sie auch über Google herausgefunden. Das Gebäude war um 1900 von den Criders erbaut worden, die gerade hierher gezogen waren. Die Spukgeschichten hatten angefangen, nachdem das kleine Hotel bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Vier Familien, die meisten von ihnen Criders, waren dabei umgekommen. Es hieß, sie wandelten noch immer durch die unteren Gänge auf der Suche nach einem Ausgang. „Sag bloß nicht, dass du heute Nacht noch rausgehst. Es ist verdammt kalt, und bestimmt ist das alte Gemäuer nicht geheizt.“

Erin grinste vielsagend. „Natürlich gehen wir da rein. Deswegen sind wir ja gekommen!“

„Wer ist wir?“

„Mike, Dean, Liam, die Jungs, die uns alle hier zusammengebracht haben.“

„Und du nennst sie beim Vornamen, weil …?“

„Weil ich kein unsozialer Einzelgänger bin. Wir haben gemailt, gechattet und uns über Messenger ausgetauscht.“

„Erin, hast du ihnen mal ein Foto von dir geschickt?“

„Nein!“

„Hast du sie auf die Website verwiesen?“

Sie zögerte. „Ja.“

Carrie seufzte. „Dachte ich mir. Du liebes, süßes Unschuldslamm. Die Männer schweigen nicht alle, weil das Essen so toll ist. Jeder von denen überlegt, mit welcher schmierigen Masche er dich am besten rumkriegen kann.“

Ungläubig blickte Erin sich in dem Saal um. Carrie dagegen stellte zu ihrer Befriedigung fest, dass die meisten Männer ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf den Teller oder die völlig uninteressante Decke richteten. Andere schlossen einfach die Augen nach dem Motto „Wenn ich nichts sehe, bin ich unsichtbar“.

„Niemand schaut in unsere Richtung.“

„Mein Gott, bist du naiv! New York wird dich lebendig auffressen. Glaub mir. Ich wette, dass du heute Nacht mindestens zehn mit Geistererscheinungen garnierte Anmachsprüche zu hören kriegst.“

„Du spinnst! Falls jemand guckt, dann wahrscheinlich deinetwegen.“

„Wollen wir wetten?“

Ihre Freundin errötete leicht. „Nein. Aber selbst, wenn du recht hast, wird es nicht lange dauern. Gespenster sind viel interessanter, als ich es jemals sein könnte.“

„Ich sag’s noch mal: Unschuldslamm!“

„Guck mal, wer da kommt!“, unterbrach Erin sie.

Verständnislos folgte Carrie ihrem Blick zur Ostseite des Restaurants. „Was ist los?“

„Sam Crider! Der dich anstarrt, als seist du seine lange verlorene Seelenfreundin.“

Sie entdeckte ihn, aber er blickte sie überhaupt nicht an, sondern rückte nur auf einem Tisch das Besteck gerade. Eine enttäuschende, aber durchaus plausible Tätigkeit für einen Hotelbesitzer. „Du lügst, weil ich recht habe. Aber das funktioniert nicht. Jeder männliche Single in diesem Raum will mit dir ins Bett springen. Die verheirateten Kerle wahrscheinlich auch. Und wer weiß, vielleicht zündet ja einer bei dir.“

„Das wäre nett.“ Erin schnappte sich die Dessertkarte. „Ich hätte nichts gegen einen flotten Quickie mit einem scharfen Geisterjäger. So eine nette kleine Nummer im Vorbeigehen, verstehst du?“

Scheinbar erschüttert murmelte Carrie: „So tief bist du gesunken? Traurig, einfach traurig.“

„Komm schon, das war nur ein Scherz. Immerhin hast du deinen Sam …“

„Ich weiß nicht so recht. Er war etwas seltsam vorhin bei mir im Zimmer.“

„Ach ja?“

„Nicht sexuell abartig oder so. Aber ich werde aus dem Mann nicht schlau. Außerdem ist er der Besitzer. Und Hotelbesitzer schlafen doch nicht mit ihren Gästen.“

Erin lachte. „Wer ist jetzt die Naive? Warum schafft man sich ein Hotel an, wenn man nicht mit den Gästen schlafen kann? Ich meine es ernst, meine arme, keusche Freundin: Die Dürrezeit scheint endlich vorbei.“

„Prima, ich glaub dir!“

„Tust du nicht, solltest du aber. Ich nehme die Haselnusstorte.“

Carrie überging den Gedankensprung. „Ich probiere den Kürbiskuchen.“

„Weil wir gerade davon sprechen: Morgen Abend ist großes Kürbisschnitzen angesagt. Du gewinnst garantiert.“

„Ich werde gar nicht mitmachen!“

„Aber das sollten Sie!“ Die tiefe männliche Stimme hinter ihr ließ Carrie auffahren.

Es war Sam. Aus unerklärlichen Gründen sah er jetzt noch umwerfender aus als vor drei Stunden. Lag’s an der Kleidung? Statt des Holzfällerhemdes trug er jetzt ein graues Retro-Seidenhemd, das seine Augen blau wirken ließ. Keine Krawatte. Dazu enge schwarze Jeans – Carrie verschlug es fast den Atem.

„Entschuldigung“, sagte er, „ich wollte gerade nachschauen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen. Dabei habe ich etwas von Kürbissen mitbekommen, und …“

„Ist schon okay“, meinte Erin, „ich hoffe, Sie können sie überreden. Sie ist wahnsinnig kreativ und hat schon etliche Riesenkürbisse fantastisch zurechtgeschnitzt.“

„Es gibt einen tollen Preis zu gewinnen: eine Massage auf Ihrem Zimmer.“

Carrie war nicht sicher, was sie darauf antworten sollte. Flirtete er oder nicht? Wieder spürte sie, dass sie errötete. Natürlich war es ganz normal, dass ein Hoteldirektor von Tisch zu Tisch ging und sich mit den Leuten unterhielt. Mit ihr persönlich hatte das überhaupt nichts zu tun. „Eine kostenlose Massage auf dem Zimmer? Wo kann ich mich einschreiben?“

„Du brauchst nur hinzukommen“, sagte Erin und lächelte Sam an: „Ganz ehrlich, das war eine der besten Mahlzeiten, die ich in meinem Leben je gegessen habe. Wieso ist Ihr Restaurant nicht auf den Titelblättern sämtlicher Gourmetzeitschriften dieser Welt?“

„Wir haben für diese Woche eine ganz besondere Köchin. Unser eigener Koch ist auch großartig, aber Jody ist unvergleichlich. Deshalb noch ein Tipp von mir: Essen Sie sich jetzt nicht zu satt. Im Konferenzraum servieren wir die Desserts. Und glauben Sie mir, das sind keine gewöhnlichen Desserts.“

„Gut zu wissen!“

Sam lächelte sie an und verfiel Sekunden später wieder in diesen besonderen Blick, der immer etwas zu konzentriert schien. Carrie wandte sich ab – sie hatte mit ihrer eigenen körperlichen Reaktion zu kämpfen …

Er räusperte sich kurz. „Also dann, gute Nacht, meine Damen. Wenn Sie noch etwas brauchen, geben Sie mir bitte Bescheid.“

„Vielen Dank!“ Erin klappte die Karte zu und legte sie beiseite. „Jetzt ist die Luft rein, er ist weg“, flüsterte sie eine Minute später.

Carrie sah auf. „Also kein Kürbiskuchen, wenigstens heute Abend nicht.“

„Der Mann ist restlos in dich verknallt!“

„Hör auf damit!“

„Komm schon, du bist doch auch scharf auf ihn. Du wirst knallrot und spielst ständig an deinen Haaren herum. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dich jemals so erlebt habe. Ich war dabei, als du Armand kennengelernt hast, und da warst du nicht so mädchenhaft aufreizend.“

„Er ist nicht Armand!“

„Gott sei Dank! Trotzdem bist du momentan nicht ganz du selbst. Und ich bin sicher, dass du mit diesem Mann früher oder später zusammenkommen wirst. Eher früher!“

Carrie ignorierte die Vorhersage, ignorierte alles außer der Tatsache, dass Sam, der pflichtbewusste Hotelbesitzer, geradewegs zur Küche ging, ohne mit irgendwelchen anderen Gästen zu plaudern.

Bevor die Tür zuschwang, sah Carrie, dass er sie wieder anschaute – mit einem langen, durchdringenden Blick.

Leise vor sich hinfluchend eilte Sam durch die Küche auf die Hintertür zu – er brauchte jetzt dringend einen Moment Ruhe und etwas Privatsphäre. Diese ganze Angelegenheit war ernster, als er gedacht hatte. Das hatte er in dem Moment gewusst, als er ins Restaurant gekommen war und Carries Rücken gesehen hatte. Tatsächlich: ihren Rücken. Daran hätte er sie erkannt, auch wenn sie nicht gegenüber ihrer Freundin gesessen hätte.

Er trat hinaus in einen Hof und folgte dem dunklen Pfad in Richtung Wald. Je weiter er lief, desto mehr Einzelheiten konnte er erkennen. Der vage Umriss eines einzelnen Baums, mehr zwei- als dreidimensional, wirkte gespenstisch. Kein Wunder, dass sich um diese Gegend Legenden rankten. Schließlich wandte er seinen Blick zurück zum Hotel. Die Beleuchtung aus den Fenstern war einladend wie ein warmes Bett, eine heiße Mahlzeit. Carrie.

Er wollte sie.

Viel zu lange war er alleine gewesen. Aber er musste äußerst diskret vorgehen. Und er musste absolut sicher sein, dass sie einverstanden und ebenso diskret war. Ein Sexskandal war das Allerletzte, was er brauchte, während die potenziellen Käufer sich hier aufhielten. 

Allerdings war er ganz sicher, dass auch Carrie interessiert war. Allein die Art und Weise, wie sie ihn ansah …

Plötzlich spürte er seine Zähne klappern. „Scheiße!“ Was für ein Idiot war er bloß, er hatte nicht mal daran gedacht, ein Jackett mitzunehmen. So etwas konnte auch nur einem Mann passieren, der seit zehn Monaten keine Frau mehr gehabt hatte und dann auf jemanden traf – wie Carrie. Er wurde poetisch. Ihm war kalt. Wenn er nur einen Funken Verstand hätte, würde er schleunigst ins Bett gehen – mit Carrie.

3. KAPITEL

Der Ballsaal war größer, als Carrie ihn sich vorgestellt hatte – und wesentlich voller. Mindestens 60 Leute, die meisten standen beim Essen oder den Getränken an. Zwei Bars waren auf beiden Seiten des langen Raumes aufgestellt worden, und sie hatte drei Bons für sich gekauft.

„Oh Mann, das Essen sieht aber verdammt lecker aus.“

Carrie drehte sich um, als sie Erins begeisterte Stimme vernahm. Die Tische, auf denen die Delikatessen angerichtet waren, sahen eher nach einem exklusiven Brunch im „Four Seasons“ aus als nach einem unscheinbaren Restaurant am Ende der Welt. Die Früchte waren kunstvoll arrangiert, und in der Mitte des größten Tisches thronte eine eindrucksvolle Eis-Skulptur.

Mit dem Gebäck hatte Sam nicht übertrieben. Es gab eine erstaunliche Auswahl. Eclairs, Petit Fours, Torten, Käsekuchen, federleichtes Biskuitgebäck. Ein wahres Füllhorn an Köstlichkeiten, und Carrie konnte schon fühlen, wie die Pfunde sich über ihren Hüften ausbreiteten. Je mehr sie sich dem Tisch näherte, desto stärker wurde das Gefühl.

Nicht, dass sie allzu nah herangekommen wäre. Diejenigen, die nicht für Drinks anstanden, fielen wie ausgehungerte Wölfe über die Desserts her.

„Ich glaube, ich hole mir einen Drink“, beschloss Erin.

„Sollten wir nicht erst mal unser Territorium markieren?“

Beide wandten sich den Sitzreihen gegenüber der Bühne zu, die mit einer aufwendigen technischen Ausrüstung beeindruckte. Eine Leinwand, so groß wie im Kino, mehrere Monitore und ein Resonanzboden, der fast unheimlich war. Sie deutete auf die Bühne. „Was ist mit all den Monitoren?“

„Es können immer nur ein paar Leute gleichzeitig ins ‚Alte Hotel‘ gehen, alle anderen müssen es von hier aus beobachten.“

„Was beobachten?“

Erin bekam diesen besonderen Blick. „Erscheinungen. Lichtblitze. Außerdem werden alle Geräusche aufgenommen, Temperaturschwankungen gemessen und elektromagnetische Verschiebungen. Wirklich hochinteressante Dinge, wenn du dich darauf einlässt. Ich weiß, dass es hier solche Aktivitäten gibt. Ich habe schon etwas … gespürt.“

„Vielleicht Hände auf deinem Hintern?“

„Carrie, hör auf damit!“

„Entschuldigung, ich werde mir solche Bemerkungen verkneifen. Wann wirst du in das Spukhotel gehen?“

„Erste Schicht, morgen um Mitternacht.“

„Ich drücke dir die Daumen, dass es Erscheinungen und Gespenster und Blitze und alles gibt, was du willst, aber erst, wenn du es dort mit eigenen Augen sehen kannst. Ehrlich.“

„Sage es niemandem, aber das hoffe ich auch“, flüsterte Erin und marschierte mit ihrer Umhängetasche los. „Ich muss das Ding hier schon mal hinstellen, solange wir nicht selbst …“, sie deponierte die Tasche in der vorderen Reihe, „… in der ersten Reihe sitzen. Wir setzen uns ans Ende der Reihe. Kurzer Fluchtweg für dich“

Carrie bedeutete ihr, den Mund zu halten. Sie hatte schon einige böse Blicke geerntet. „Prima. Eigentlich wollte ich nichts Alkoholisches trinken, aber du hast meine Meinung geändert.“

„Was kann man denn mit Schokolade mixen?“

„So ziemlich alles.“ Carrie führte ihre Freundin zur Bar. „Aber ich nehme einen Kahlúa und Kaffee.“

„Oh ja, das klingt gut. Hast du schon auf das Programm geschaut?“

„Ja, hab ich!“

„Dann kennst du Marcia Williams.“

Carrie hatte keine Ahnung. „Natürlich!“

Erin verschränkte die Arme vor der Brust. „So oft, wie du lügst, solltest du es inzwischen eigentlich besser können.“

„Okay, also wer ist Marcia Williams?“

Autor

Mary Anne Wilson
<p>Mary Anne wurde in Toronto, Kanada, geboren und fing bereits im Alter von neun Jahren mit dem Schreiben kleiner Geschichten an. Über den Ausgang von Charles Dickens' berühmtem Roman "A Tale of Two Cities" ("Eine Geschichte zweier Städte") war sie so enttäuscht, dass sie das Ende kurzerhand nach ihren Vorstellungen...
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