Diese Woche ist nicht mein Tag - Was uns täglich irre macht

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Der Hutzelzwerg sieht aus wie ein in die Jahre gekommener Vorstandsvorsitzender eines Kleingartenvereins.

Zugegeben: Mein Leben ist ein Chaos. Und das nicht nur, weil mein Internet grade MAL WIEDER nicht funktioniert und man mir MAL WIEDER einen unfähigen Techniker geschickt hat. Doch ab heute wird sich zum Glück alles ändern - und dieser Wicht bekommt es als Erster zu spüren. Ich lasse mich nämlich nicht mehr vertrösten, werde auch mal Nein sagen und außerdem alles erledigen, was ich jahrelang aufgeschoben habe.

In einer Woche ist alles anders - auch wenn mein Mann mich nur belächelt. Pah, dem werde ich es zeigen! Ich habe schließlich eine ganze Woche Zeit - und eine Liste. Was soll da schon schiefgehen?

  • Erscheinungstag 01.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494536
  • Seitenanzahl 300
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Steffi von Wolff

Diese Woche ist nicht mein Tag

Was uns täglich irre macht

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Zimmermann + Preiss

ISBN eBook 978-3-95649-453-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

MONTAG

3 Uhr 30

Ich setze mich im Bett auf, weil ich von einem Schrei wach geworden bin. Es ist halb vier am Montagmorgen, und mein Mann ist mal wieder auf dem Weg zum Klo mit dem Fuß gegen ein Paket geknallt. Das tut weh, vor allen Dingen, wenn die Zehen schon überstrapaziert und eigentlich ständig halb verstaucht sind.

„Warum kann sich dieser Schwachkopf die Pakete nicht zu einer Packstation schicken lassen?“, fragt mein Mann böse und baut sich vor mir auf. Es waren mal wieder die Weinkartons von Schlossers. Die Schlossers bestellen den Wein wie wir im Internet, so spart man sich die Schlepperei. Leider holt der muffige Herr Schlosser die Kisten nur ab, wenn es ihm gerade passt. Und ihm passt es recht oft „gerade nicht so gut“. Wenn ich ihn drauf anspreche, sagt er: „Passt gerade nicht so gut. Ich komme vielleicht am Wochenende runter. Unter der Woche will ich mir die Wohnung nicht so vollstellen, weil ich keine Zeit zum Auspacken habe.“ Ja, das sagt er.

„Schlossers sind nicht bei einer Packstation angemeldet“, erkläre ich meinem Mann zum hundertsten Mal. „Das ist zu umständlich. Es sind ja doch schwere und sperrige Pakete. Das findet Herr Huber auch. Also der Paketbote, du hast ihn schon mal gesehen, er hat immer so eine Schirmmütze auf. Für ihn ist es bequemer, sie bei uns abzugeben, weil Schlossers ja ganz oben wohnen. Herr Huber hat’s im Rücken. Wir halten oft ein Schwätzchen, wenn er was fürs Haus hat. Er erzählt mir viel von sich. Er ist …“

„Das ist mir doch egal.“ Mein Mann legt sich wieder ins Bett. „Es sind ja nicht nur die Weinkartons von Schlossers. Es werden auch Pakete für Anwohner der Querstraßen sowie aus anderen Stadtteilen bei uns abgegeben. Und aus Halstenbek-Krupunder war auch schon mal eins dabei. Das geht doch nicht.“

Ja, es ist ein Problem.

Ich kann unter anderem eben nicht Nein sagen. Wer kann das schon, wenn ein Paketbote vor einem steht, der 49 ist, schon vier Bandscheibenvorfälle hatte und seine chronische Parodontose nicht in den Griff bekommt, obwohl er schon zweimal den Zahnarzt gewechselt hat? Der nichts mehr hat außer einer Einzimmerwohnung mit Laminatboden. Er hat das Laminat aus Kostengründen selbst verlegt, aber nicht fachgerecht, und nun ist es aufgequollen und Herr Huber kann sich kein neues leisten. Womit wir beim größten Problem wären, nämlich bei Herrn Hubers gescheiterter Ehe. Davon will er eigentlich gar nicht erst sprechen, tut es aber trotzdem. Laut Herrn Huber hat seine Frau ihn ausgesaugt wie ein Blutegel. Der Mann ist vom Schicksal gebeutelt. Er verträgt kein Bier, hat eine Dattelallergie und fährt seit dreißig Jahren Pakete aus, obwohl er mal Lehrer werden wollte. Hinnerk Huber hätte sooo gern wieder eine Beziehung, aber er kriegt es nicht hin, die Richtige zu finden. Er ist ein gebranntes Kind. Und im Internet wird er nicht suchen, sagte er mal, das sei ja was für Versager und Männer, die sich nicht aus dem Haus trauen. Das findet Hinnerk unmöglich, weil die da ja auch alle lügen in diesen Partnersuchportalen. Absolut indiskutabel sei das. Er regte sich über diese Portale so auf, als würden sich dort Menschen darüber austauschen, wie man am besten Welpen ertränkt. Er würde sich natürlich niemals mit so einer potenziellen Verbrecherin aus dem Internet treffen. Das käme ja so was von gar nicht infrage, eher würde er im ewigen Zölibat leben. Und überhaupt: Wäre er doch nur Lehrer geworden!

„Warum sind Sie denn dann nicht Lehrer geworden?“, habe ich ihn mal gefragt, als er sich im Winter bei einem Schneesturm kurz bei mir ausruhte. Die Kälte steckte ihm in den Knochen. Und dann die ganzen Treppen immer und nie Trinkgeld. Ich gab ihm pflichtbewusst manchmal was, natürlich. Der arme Mann.

„Wenn ich das wüsste“, hatte Herr Huber leidend gesagt, und ich hatte mich nicht getraut, weiterzubohren.

„Bitte hör damit auf, die Pakete von ganz Hamburg anzunehmen“, sagt mein Mann müde und dreht sich um.

„Du drohst mir?“, frage ich wütend.

„Nein, ich bitte dich. Es geht ja auch nicht nur um die Pakete. Es geht um alles. Hier ist immer Chaos.“

Ich werde giftig. Das werde ich oft, wenn ich mich ungerechtfertigterweise kritisiert fühle. Dann stelle ich auf der Stelle alles infrage. So wie jetzt: „Du willst dich also scheiden lassen?“

„Meine Güte“, sagt mein Mann. „Du verdrehst auch alles.“

„Was denn?“, frage ich böse.

„Um es auf den Punkt zu bringen: Du bist inkonsequent und chaotisch. Du fängst was an, dann hörst du damit auf, dann fängst du was Neues an, dann ist das wieder doof und so weiter. Du sagst nicht Nein, aber beschwerst dich über Schlossers. Du sagst, du kümmerst dich um irgendwas …“

„Um was denn?“

„Herrje, um irgendwas, und dann ist was anderes wichtiger.“

„Du kannst also noch nicht mal ein Beispiel nennen!“

„Ich führe nicht Buch darüber.“

„Wenn du mir kein Beispiel nennen kannst, kann ich dich nicht ernst nehmen.“

„Es sind viele Dinge.“

„Gut. Nenn mir eine Sache. Nur eine. Was stört dich? Dass ICH deine dreckige Wäsche wegräume? Dass ICH die Betten abziehe? Dass ICH aus jeder deiner Hosentaschen Papiertaschentücher ziehe, obwohl ich dir schon tausendmal gesagt habe, dass es ein Drama ist, wenn die Scheiß-Taschentücher mitgewaschen werden. Das gibt Fussel auf jedem Kleidungsstück. Hast du die schon mal abgeknibbelt? Nein, aber ich! Ich knibbele die Fusseln ab! ICH!“

„Es geht nicht um Taschentücher.“ Mein Mann setzt sich wieder auf. „Es geht darum, dass überall Baustellen sind. Alles ist halb fertig oder wird vergessen und dann muss wieder irgendwas auf den letzten Drücker geschehen. Dann wird gemeckert über den und das, Carlotta geht dir auf die Nerven, weil sie keinen Typen abkriegt, und du hörst dir das immer wieder an, sagst dann zu mir, du machst das nicht mehr, aber nichts wird geändert. Herrje, ich will doch auch nur in Ruhe und Frieden leben. Das geht mir alles auf den Sack! Kannst du das nicht verstehen?“

Ich habe keine Lust auf Streit und ich weiß ja eigentlich, dass er recht hat. Wirklich. Meine beste Freundin Carlotta ist tatsächlich ein Problemfall. Sie ist alleinerziehend und sucht verzweifelt einen Mann. Ein Drama!

Ich sage: „Gib mir eine Woche Zeit. In einer Woche ist alles anders.“ Keine Ahnung, warum ich das sage, vielleicht weil ich es mir selbst beweisen will. Auch das ist eine dumme Angewohnheit. Ich neige zu Übersprungshandlungen und nehme mir Dinge vor, die ich sowieso nicht ein- oder durchhalte. In drei Tagen zwölf Kilo abnehmen zum Beispiel.

„In einer Woche kann man das alles doch gar nicht schaffen“, sagt er und gähnt.

„Doch.“

„Ach Unsinn. Fang doch erst mal mit dem Lampenschirm an.“

Ich rufe: „Doch, das wirst du schon sehen, verlass dich drauf. Das wird toll, weil alles anders wird. Ich erledige all die Sachen, die erledigt werden müssen, und ich verbiete Herrn Huber, wegen fremder Pakete bei mir zu klingeln. Ich gehe zu Schlossers und drohe ihnen Schläge an, und ich rede mit Carlotta und so. In spätestens einer Woche leben wir wie ein normales Ehepaar. Wirklich. Glaub mir bitte. Sonst nenn ich dich wieder Frodo.“

Er sagt: „Auf gar keinen Fall nennst du mich Frodo.“ Ich gebe ihm manchmal blöde Namen, um ihn zu ärgern. Er hieß auch schon mal Hulk wie Hulk Hogan. Ich finde das witzig. Er nicht: „Die Leute denken doch, wir sind bekloppt in der Birne.“ Und damit könnte er durchaus recht haben. Aber Frodo ist doch handfest. Vielleicht sollte ich ihn mal wieder öfter Frodo nennen, damit er sich ärgert und wir deswegen aneinandergeraten. Das bringt frischen Wind in eine Beziehung. Apropos: Eine gute Streitkultur ist natürlich wichtig. Die muss ich womöglich ebenfalls überdenken.

Zum tausendsten Mal nehme ich mir vor, mal alles zu hinterfragen und so richtig ordentlich Ordnung in mein Leben zu bringen. Ich tue das immer mit einer Grundaggressivität und letztendlich mache ich dann doch nichts. Wenn’s hochkommt, bringe ich alle paar Monate die PET-Pfandflaschen weg, und das auch nur, weil ich mich immer erschrecke, wenn sie knacken, was sie eigentlich ständig tun.

Aber heute ist es anders. Es muss sich was ändern! Muss es? Oder doch nicht?

Unser Leben ist doch normal. Oder nicht?

„Ich beginne wirklich mit dem Lampenschirm“, sage ich. „Wenn dieser Schritt getan ist, wird alles besser und geht von selbst. Du wirst schon sehen.“

„Jaja, mmhmm …“, brummt mein Mann schläfrig.

Ich schlafe noch mal ein, denke im Dahindämmern noch kurz darüber nach, was alles geändert und aufgeräumt werden muss, ob und warum und wieso oder nicht, und erwache gegen sechs wieder. Mein Mann ist schon aufgestanden, ich setze mich auf und beschließe, dass ich heute, an diesem Montagmorgen, beginne, mein Leben zu straffen und neu zu organisieren. Ich werde mir wirklich auf den Tag eine Woche Zeit geben, mal klar Schiff zu machen, und werde eine Liste erstellen. Gleich nachher.

Punkt 1: Lampenschirm.

Und dann nicke ich wieder ein. Bis der Wecker klingelt, dauert’s ja noch ein halbes Stündchen.

6 Uhr 30

Morgens befinde ich mich grundsätzlich in einer Habachtstellung. Ich besitze nämlich einen Radiowecker, der aus den 70er Jahren stammt und orange ist. Nicht etwa augenfreundlich pastell. Fies orange. So orange wie die Küchen, die es damals gab. Mein Wecker hat Klappzahlen, und bevor er anfängt loszududeln, hüpft er zweimal auf dem Nachttisch hoch; wenn es gut läuft, fällt er dabei runter. Dann, so hat es die Vergangenheit gezeigt, wird es ein guter Tag!

Es sind schon viele orange Plastikteile beim Kontakt mit dem Dielenboden abgeplatzt, aber der Wecker funktioniert immer noch einwandfrei und hat eine Wurfantenne, was es ja so heute auch nicht mehr überall gibt. Egal ob er runterfällt oder nicht, die Musik dudelt los, und das mit dem Geräusch einer Kreissäge, die zu hoch eingestellt wurde. Natürlich hätte ich mir schon längst einen neuen Wecker kaufen können, aber er funktioniert ja noch. Ich bin da sparsam. Ich bedrucke auch Papier immer zweiseitig.

Die Klappzahlen nerven, weil sie klacken, meistens jedenfalls.

Heute fällt der Wecker nicht runter und ich versuche, den nahenden Depressionsschub zu unterdrücken (Kein Therapeut der Welt würde mich freiwillig behandeln wollen: „Was fehlt Ihnen denn?“ „Ich bekomme Depressionen, wenn mein oranger Wecker morgens beim Hüpfen nicht auf den Boden fällt.“ „Ach tatsächlich. Was machen Sie denn da? Nein, nein, ziehen Sie Ihren Mantel nicht aus, da ist die Tür.“)

Ich schweife ab. Der normale Tag also. Heute.

Ich glotze an die Decke. Eine nackte Glühbirne glotzt zurück. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich gestern in einer Wohnzeitschrift gelesen habe, dass ein schön eingerichtetes Schlafzimmer gut für die Psyche ist und man auch mehr und besseren Sex hat, wenn das Ambiente stimmt. Gute Beleuchtung gehört natürlich dazu.

Bestimmt haben die Redakteure der Zeitschrift recht. Und alle Mitarbeiter haben toll eingerichtete Schlafzimmer. Mit dimmbaren Kronleuchtern, Nachttischlampen im Jugendstil (natürlich mit schönen farbigen Glaselementen) und Überdecken aus Cashmere oder Fell. Wie zufällig dahindrapierte Kissen, leicht, aber definitiv nicht zu sehr tropfende Kerzen in silbernen Haltern, ein leicht knarzender Parkettboden, und an zwei Wänden sind Brotkattapeten in Grün, Rot und Gold angebracht. Selbstredend nicht an allen vier Wänden, das würde den Raum erdrücken.

Und ich liege hier und glotze auf die Glühbirne.

Ich wohne nun schon viele Jahre in Hamburg. Warum hängt da immer noch das nackte Ding? Wenn ich stark Richtung Decke puste, bewegt sie sich sachte hin und her. Manchmal rieselt feiner Staub hinab. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann und der Mond durchs Fenster scheint, puste ich auch nach oben, dann sieht man den Staub noch besser. Mein Mann hat behauptet, nachts schon mal von herunterfallenden Fliegen geweckt worden zu sein. Er sagte, die würden tagsüber auf der Birne einschlafen und dann, wenn man das Licht einschaltet, von der heißen Birne abrupt getötet. Sie blieben dann kleben und durch mein Pusten würden sie hinabpurzeln.

„Das ist doch Blödsinn. Wo sind denn die Kadaver?“, habe ich meinen Mann gefragt.

„Ich hatte den Mund offen. Die habe ich heruntergeschluckt. Reflexartig“, lautete die Antwort. Natürlich wollte ich das nicht. Fliegen, das weiß nun jeder, können Krankheiten übertragen. Beispielsweise verunreinigen Fliegen, die mit Fäkalien in Berührung gekommen sind, Lebensmittel und Getränke, auf denen sie sich anschließend niederlassen. Auf diese Weise ziehen sich Menschen schwächende und teilweise tödlich verlaufende Krankheiten wie Typhus, Ruhr und sogar Cholera zu. Fliegen verbreiten außerdem das Trachom, weltweit die häufigste Erblindungsursache. Tsetsefliegen übertragen den Einzeller, der die Schlafkrankheit verursacht. Noch Fragen?

Ich überlegte daraufhin, unser Bett in ein Himmelbett umzuwandeln. Diese Himmel waren ja früher unter anderem dazu da, um herunterfallendes Viehzeug vom Menschen fernzuhalten. König Ludwig XIV. wollte bestimmt nicht, dass ihm vielleicht eine Kakerlake in den zum Schnarchen geöffneten Mund plumpste.

Mein Mann aber wollte kein Himmelbett. „Das fehlt noch. Ich bin doch nicht schwul. Als Nächstes soll ich wohl Cola light trinken. Es gibt Grenzen.“

„Es gibt ja jetzt Cola Zero“, hatte ich gesagt. „Viele Hetero-Männer wollen keine Cola light. Weil viele Schwule Cola light trinken.“

„Ich trinke auch keine Cola Zero“, hatte Frodo geantwortet. „Das ist ungesund.“

Ich entgegnete: „Weißwein ist auch ungesund.“

Er sagte leicht genervt: „Aber du bestellst doch immer diesen Bio-Wein wie die Schlossers. Eigentlich könnten wir erst mal deren Wein trinken. Als Schmerzensgeld für meine angebrochenen Zehen.“

„Dieser Bio-Kram ist doch die letzte Volksverarsche.“ Gerade am Tag zuvor hatte ich einen Artikel darüber gelesen. Abzocke ohne Ende. Und der Wein war schweineteuer!

„Und warum kaufst du dann Biowein?“

„Weil ich damit ein besseres Gefühl habe.“

Er hatte mich angesehen, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun. War mir egal. Ich habe nun manchmal meine eigene Logik.

So. Jetzt aber zurück zur nackten Glühbirne.

Es ist nicht so, dass unser Schlafzimmer unschön wäre. Nein, ganz und gar nicht. Aber ich finde oft, dass es anderswo schöner ist. Ich habe in der Hinsicht Komplexe. Wir haben eine tolle Wohnung, die aber mal renoviert werden könnte. Andere haben viel kleinere Wohnungen, aber die sind wenigstens renoviert. Es geht also immer noch besser. In meinem Arbeitszimmer befinden sich Billy-Regale, die Nachbarn haben maßangefertigte aus Mahagoni oder Teak.

Andere haben keine nackten Glühbirnen da hängen.

Also wirklich, dass man sich an so was gewöhnen kann. Das Blöde ist, dass ich sehr oft hier liege und darüber nachdenke, wieso wir noch keine Lampe angebracht haben, anstatt dass ich einfach mal aufstehe, Frodo aus dem Bett schubse und anklagend auf die Birne deute. Dann würde sich ja auch mal was ändern. Aber ich tue es nicht. Mir fällt gerade auf, dass ich schon wieder „Frodo“ gedacht habe und dass ich es mag, meinen Mann Frodo zu nennen. Es klingt lustig. Warum hab ich das so lang nicht getan?

Da fällt mir ein, dass Carlotta überhaupt keine Beleuchtung im Schlafzimmer hat, weil sie und ihr Sohn zu klein sind, um in deren Altbauwohnung mit ausgestreckten Armen Lampen anzubringen. Auf eine Leiter können beide nicht klettern, weil Carlotta Höhenangst hat und sie ihren Sohn nicht zur Kinderarbeit zwingen will. Zusätzlich fürchtet Carlotta sich panisch vor Strom. Einen Elektriker lässt sie nicht ins Haus, weil man bei einem Elektriker nie weiß, „wo der herkommt“. Was, wenn der Vielleicht-Elektriker sich was dazuverdient, indem er Wohnungen ausspioniert? Und mir nichts, dir nichts ist die Bude ausgeräumt, wenn Carlotta auf der Arbeit ist oder sich mit einem dubiosen Typen aus einem Single-Internetportal trifft, was in letzter Zeit häufiger der Fall war. Apropos, ich muss sie nachher anrufen und fragen, ob der eine Typ sich gemeldet hat. Er nennt sich „Der Bestimmer“, und ich frage mich, was es damit auf sich hat. Ist er ein Sado-Maso-Typ, der Carlotta beim ersten Treffen an einen Baum bindet, weil er das so bestimmt? Aber vielleicht ist er auch ganz harmlos.

Also. Zurück zur Glühbirne. Sie bietet uns gleißendes Licht, sodass wir uns auch um drei Uhr morgens, wenn wir aufstehen und uns ein Glas Wasser holen oder aufs Klo müssen, stets fühlen wie bei einem Stasi-Verhör. Es fehlt nur noch jemand, der schreit: „Vermissen Sie Bananen, ein schönes Stadtbild und die Möglichkeit, einfach so in die Karibik zu reisen?“

Ich muss eine Lampe anbringen. Damit sich etwas ändert. Dann ist der Anfang gemacht. Der Anfang zu einem normalen Leben. Einem Leben, in dem man nicht der Depp von vielen ist, Nein und Ja an den wirklich richtigen Stellen sagt und System in seinen Tagesablauf bringt. Das kann schön sein. Und ich finde, eine Lampe anbringen ist ein guter Start.

Nur welche Lampe? Wir haben ja gar keine.

Also Lampe kaufen.

Das wird mir schon wieder alles zu viel.

Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf.

Was will Frodo eigentlich? Okay, mit Carlotta ist das so eine Sache, und der neunjährige Sohn ist wirklich grenzwertig. Er heißt Aurelius und ist mein Patenkind. Der Junge hat kaum Freunde.

Carlotta behauptet, Aurelius sei hochbegabt, weil er Schwierigkeiten mit dem kleinen Einmaleins hat. Das hat nicht jeder in dem Alter! Und es sei doch klar, dass er deswegen nicht so wirklich mitmacht im Unterricht. Dass sie mit dieser Meinung alleine dasteht, interessiert sie nicht. Carlotta ist vernarrt in ihren Sohn. Sie sagt immer: „Spätgebärende haben eine besondere Bindung zu ihren Kindern. Und ich bin ja Spätgebärende. Ich war schon über vierzig, als ich endlich mit Aurelius schwanger war. Ach, war das schön.“

Der Kindsvater fand das nicht so schön, der hatte nämlich schon drei Kinder aus drei Beziehungen und eigentlich gar keine Lust auf ein viertes, hat das aber noch einige Zeit mitgemacht und Carlotta dann letztendlich doch verlassen … wegen einer Frau, die fünf Kinder hatte. Unterhalt zahlt er nicht, weil er wegen der Kinder nicht arbeiten kann. Einer muss ja aufpassen und er ist gern Hausmann, während seine neue Frau arbeiten geht. Ein geschickter Schachzug, wenn man mich fragt.

Und seitdem sucht Carlotta einen neuen Mann für sich und Aurelius.

6 Uhr 45

Ich stehe auf und gähne. Es ist noch dunkel draußen. Aber ich muss endlich anfangen, etwas zu ändern. Zuerst gehe ich in die Küche, um Kaffee zu machen. Frodo muss heute früher los und hat schon im Stehen gefrühstückt.

„Ab heute wird alles anders“, sage ich euphorisch und er grinst.

„Dann wünsch ich dir viel Erfolg.“ Er gibt mir einen Kuss und geht, und ich bediene erst mal die Kapselmaschine und setze mich dann mit einem Heißgetränk an den Küchentisch.

Wenn der Musikredakteur des einzigen Senders, der sich in meinem Küchenradio – auch ein altes Stück, das ich von Oma geerbt habe – rauschfrei einstellen lässt, mal wieder ein cleveres Kerlchen sein will, singen um halb acht die Boomtown Rats I don’t like Mondays. (Oft sind die Musikredakteure aber auch so verwegen, das Lied unter der Woche zu spielen, das wird dann auch mal vom Moderator entsprechend kommentiert, weil das so lustig ist, ein Lied, in dem es um einen Montag geht, am Freitag zu spielen, höhöhö, uiuiui!) Und dann, ich kann die Uhr danach stellen, geht es los: „Guten Morgen zusammen, es ist genau fünf nach halb acht am Montag. Das Wochenende ist vorbei, die neue Arbeitswoche beginnt, und wir sind bei Ihnen. Wenn Sie heute rausgehen, nehmen Sie den Schirm mit, es regnet, ist doch so, oder, Susi/Babsi/Michi?“ Dann sagt Susi/Babsi/Michi nicht etwa: „Du spinnst wohl, Thorsten/Moritz/Bernd, es scheint doch die Sonne, was redest du denn da für einen Scheiß?“, sondern sie ist ein Stück weit betroffen, weil man einen Schirm mitnehmen muss. „Ja, es regnet wirklich. Und Besserung ist auch nicht in Sicht. Ziehen Sie sich warm an. Es ist nämlich kühl draußen.“ Dann lacht Thorsten/Moritz/ Bernd und sagt: „Am besten, wir ziehen alle Gummistiefel an, hahahaha“, und ich frage mich, was daran so witzig sein soll, dass man bei Regen Gummistiefel trägt.

Während Moderator und Wetterfee noch eben Kindheitserlebnisse austauschen („Früher bin ich bei Regen immer in Pfützen gesprungen“, „Ich hatte einen Regenmantel, auf dem waren lauter lachende Sonnen und Bienchen“) und während die beiden im Radio „ganz spontan“ beschließen, dass die Hörer bei ihnen im Studio anrufen und ihre witzigsten oder lustigsten Regenerlebnisse erzählen sollen (Mobilfunkpreise können abweichen), schalte ich die Kaffeemaschine wieder ein und stecke eine Kapsel ins Fach, natürlich eine nachgemachte (ich weigere mich, George Clooneys Hochzeit mit dieser schönen und auch noch erfolgreichen und dünnen Frau rückwirkend mitzufinanzieren. Und ich gehe auch in keinen Nespresso-Store, da denkt man ja, man wäre bei Cartier, die sind doch bekloppt in der Birne. Es fehlt nur noch, dass da Security im Eingang steht und kontrolliert, ob man vom Äußeren her auch ins Geschäft passt. Ich kaufe die Kapseln bei Lidl – manchmal gibt es Aktionen, da kosten zehn Stück nur 1,69 Euro!), und denke darüber nach, warum Radiomoderatoren so sind, wie sie sind.

Das geht nicht nur mir so, viele in meinem Bekanntenkreis sind von den meisten Moderatoren genervt. Freitags ab neun Uhr morgens reden die nur noch vom Wochenende, das ja bald beginnt („Halten Sie durch, noch sieben Stunden, dann läuten wir offiziell das Wochenende ein!“) und tun dabei so, als ob man dann endlich aus Guantánamo entlassen wird – wenn auch nur für zwei Tage. Und dauernd sagen sie einem, was man tun soll. Also einen Schirm mitnehmen oder keinen, vorsichtig soll man sein, wenn man die Straße überquert, und das Wichtigste: Nur mit der Musik vom Sender XY kommt man gut durch den Tag. Wir sind bei Ihnen. Blabla. Der Typ ist nicht bei mir, der hockt im Sendestudio. Aber ich soll denken: „Danke, dass du bei mir bist. Dass ich nicht alleine einkaufen gehen oder im Vorraum der Notaufnahme warten muss, weil Aurelius oder wer auch immer die Treppe runtergefallen ist und sich das Steißbein angebrochen hat. Danke, dass ich nicht alleine mit meiner Steuererklärung dasitze. Du bist bei mir. Danke, danke.“

Da ist nichts mehr live, nichts Unvorhergesehenes passiert. Als ich noch beim Radio war – oh, das waren schöne Zeiten. Es gab zwar auch böse Beschwerdebriefe, aber das war noch richtiges Radio!

Jetzt ist Timo aus Norderstedt zugeschaltet und erzählt gleich sein persönliches, in diesem Fall schlimmes Regenerlebnis. Ein verregneter Montag kann nicht besser anfangen als mit so etwas, wirklich nicht. Was für ein Schwachsinns-Dialog (und natürlich auch vorher aufgezeichnet):

„In der Leitung ist jetzt Timo aus Norderstedt. Guten Morgen!“

„Morgen.“

„Timo, warum sind Sie denn schon so früh wach, es ist ja gerade mal halb acht.“

„Och, ich muss ja arbeiten.“

„Mensch, das ist ja nicht so toll bei dem Wetter, es regnet ja seit Stunden … (jetzt der nahtlose Übergang zum eigentlichen Thema) … und da passt ja Ihre Geschichte bestimmt zum Wachwerden. Was ist Ihnen denn schon mal Schlimmes bei Regen passiert?“

„Ich hab den Schirm vergessen daheim.“

„Ja, und was war denn da schlimm?“

„Na ja, ich bin nass geworden.“

Das war also die Geschichte.

Ich denke gern mal über Dinge nach, die mich intellektuell nicht wirklich weiterbringen, zum Beispiel warum es Menschen gibt, die Hummelfiguren und gekachelte Couchtische gut finden. Im Zuge dessen denke ich auch mal darüber nach, wie es wäre, wenn das ein Live-Interview wäre und der Moderator das sagen würde, was er von Timo aus Norderstedt wirklich denkt. Oder wenn der Moderator einfach nur ein Arschloch wäre, ungebildet, selbstverliebt und ungezogen:

„In der Leitung ist jetzt Timo aus Norderstedt. Guten Morgen!“

„Morgen. Ich will …“

„Wie, Morgen? Das heißt ja wohl ‚Guten Morgen‘. Schon mal was von Benehmen gehört?“

„Äh …“

„Nix äh. Schon aufgestanden?“

„Nee, noch nicht richtig, ich …“

„Faule Sau. Raus aus dem Bett. Oder bist du arbeitslos und glotzt den ganzen Tag Gerichtsshows und schaust Dicken dabei zu, wie sie abnehmen, hm?“

„Nein, ich will eigentlich …“

„Dann erzähl uns mal was, du kleine Schwuchtel. Was hat der kleine Timo denn Schlimmes bei Regen erlebt?“

„Was ich schon mal Schlimmes bei Regen erlebt habe?“

„Red isch türkisch? Bin isch Mustafa? Also los.“

„Ja, also ich bin mal aus dem Haus gegangen und da hatte ich meinen Schirm vergessen. Und weil ich meinen Schlüssel auch im Haus vergessen hatte, konnte ich ja nicht mehr rein und ihn holen. Da bin ich nass geworden, das war nicht so toll, weil ich auch erkältet war. Aber eigentlich …“

„Och, da hat das Bübchen sich einen Schnupfen geholt. Du Weichei. Wärst du beim Bund gewesen, hättest du bei Regen mit dreißig Kilo Marschgepäck losgemusst. Bei Schnee auch. Meinst du, das hättest du hingekriegt, oder bist du so ein Fetter, der den ganzen Tag nur bei Burger King hockt?“

„Warum sind Sie denn so gemein zu mir?“

„Warum bist du denn so blöd wie ein Toast? Wer ist überhaupt so blöd, hier anzurufen, weil wir sagen, dass wir Regenerlebnisse hören wollen.“

„Ich wollte auch gar nicht bei euch anrufen.“

„Ja, wo denn dann?“

„Das war wohl die falsche Durchwahl. Ich wollte meinen Vater sprechen.“

„Dein Vater soll hier arbeiten? Hilfe, in welcher Abteilung denn? Bei so einer Nullnummer wie dir gibt es da kaum Möglichkeiten.“

„Er ist der Intendant.“

9 Uhr

Man kann es kaum glauben, aber ich habe mit der Liste angefangen.

Lampe steht jetzt auf dem Zettel und da klingelt das Telefon.

„Der Bestimmer hat angerufen!“, brüllt Carlotta.

„Nein!“, rufe ich zurück.

„Doch!“, schreit sie.

„Und?“ Jetzt schreie ich auch.

„Eine unglaublich sympathische Stimme.“ Carlotta ist ganz außer Atem. „So tief und melodisch. Wie der Sprecher in dieser romantischen Werbung für Gebäck. Weißt du, die, in der das kleine Kind Kekse will.“

„Und?“

„Wie und?“

Meine Güte! „Wie ging es weiter?“

„Das Kind bekommt natürlich die Kekse.“

Carlotta ist, seitdem ihr Freund sich aus dem Staub und auf zur Mutter mit fünf Kindern gemacht hat, bei sämtlichen Internetportalen angemeldet, bei denen die Möglichkeit besteht, online einen Partner zu finden. Und damit meine ich nicht nur einen Partner fürs Leben, sondern auch für Sex. Carlotta sagt: „Dann ergibt sich vielleicht trotzdem was auf Dauer. Wenn der Anfang im Bett gemacht ist. Man weiß ja nie.“ Tatsache aber ist, dass ziemlich viele Irre im Netz unterwegs sind. Wenn man es genau nimmt, nur Irre.

Oder die normalen Männer lesen Carlottas Anzeigen nicht.

Oder Carlotta ist eine Irre.

„Ich suche doch einfach nur einen Mann“, jammert sie immer in meiner Küche und Frodo verlässt dann die selbige, weil er es nicht mehr hören kann und vielleicht auch Angst davor hat, dass sie sich auf ihn stürzen könnte. „Aber das sind doch keine Männer, die mir schreiben, das sind … ach ich weiß auch nicht.“

Ich erinnere mich noch an einen Oliver, das war einer der Ersten, mit denen sie sich getroffen hatte. Er hatte natürlich ein falsches Foto von sich ins Netz gestellt und war gar nicht einen Meter fünfundachtzig groß, sondern zwei Meter zwölf. Oliver hatte Schuhgröße 54. Beim ersten Date hat er Carlotta mit zitternder Stimme erzählt, dass er in Therapie sei, weil er versehentlich mit seinen großen Latschen schon zwei mittelgroße Hunde totgetreten hatte. Aber am schlimmsten fand Carlotta: „Er mag Filme mit Veronica Ferres. Kann man das glauben?“

Dann erinnere ich mich noch an André. Carlotta sagte: „Also so was Negatives! Er verträgt überhaupt keine Kritik, und dabei habe ich ihn eigentlich gar nicht kritisiert. Es war so, dass ich auf der Straßenseite ging, und er drängte mich immer weiter Richtung Fahrbahn. Ich sagte irgendwann: ‚André, geh doch bitte etwas weiter rechts, sonst befinde ich mich gleich auf der Straße und werde beim Feierabendverkehr überfahren.‘ Und er hebt beide Hände hoch, so wie Jesus, und ruft: ‚Natürlich! Ich bin schuld, wenn du überfahren wirst, ich bin SCHULD, wenn der Autofahrer sich auch dabei verletzt, ich bin SCHULD daran, dass die Straße dann gesperrt wird und Verkehrschaos herrscht, natürlich! Ich bin SCHULD, wenn das Auto dann einen Totalschaden hat! Natürlich ICH! WER SONST?‘ Und so ging das ständig!“ Zwei Tage später sagte Carlotta: „André wollte, dass ich beim Sex jodle“, und dann wollte ich gar nichts mehr über André und die anderen Männer wissen. Das mit André war dann auch schnell vorbei, Carlotta bekam das mit dem Jodeln nicht richtig hin, und das hat ihn abgetörnt.

Eine Zeit lang hatte Carlotta auch pausiert, weil sie neue Kraft schöpfen musste. Außerdem zerrte Aurelius’ Hochbegabung an ihren Nerven. Er hatte Probleme mit der Rechtschreibung, was sie als weiteres Indiz für seine Genialität sah. Aurelius prügelte auch gern mal auf Klassenkameraden ein. Carlotta fand das ganz normal: „Raufereien sind wichtig für die Entwicklung. Und Aurelius lässt sich eben nicht die Butter vom Brot nehmen. Er sagt, was er denkt, und er handelt goldrichtig. Ist das zu fassen, die Klassenlehrerin sagte zu mir, ich und alle anderen müssten Aurelius Grenzen setzen. Wo sind wir denn hier?“

Jetzt sagt sie: „Ich treffe mich heute Abend mit dem Bestimmer, und du musst mitkommen.“

„Warum?“ Ich stelle mir vor, wie ich im Restaurant mit einem Glas stillem Wasser zwischen den beiden sitzen würde, wie so eine Gouvernante aus dem 19. Jahrhundert. So eine, die noch nie Sex, geschweige denn sich untenrum rasiert hat, verstaubt wirkt und es auch ist.

„Der Bestimmer mag es außergewöhnlich“, sagt Carlotta. „Er will sich in einem Schlachthof mit mir treffen.“

Ich denke, ich höre nicht richtig. „Das ist ja eine nette Idee“, lautet meine sarkastische Antwort.

Carlotta ist aufgeregt. „Was soll ich nur anziehen?“ Offensichtlich hat sie wohl den Schuss nicht gehört!

„Halt! Ich lasse nicht zu, dass du dich mit diesem Mann in einem Schlachthof triffst“, sage ich böse. „Und um acht ist es auch schon dunkel. Das kommt nicht infrage.“

„Das kann auch romantisch sein.“ Carlotta ist manchmal ein bisschen naiv. „Wenn der Mond durch die Fenster scheint und …“

„… sein silbernes Licht auf dich wirft, wenn du kopfüber an einem Fleischerhaken zum Ausbluten hängst“, vervollständige ich den Satz giftig. Letztendlich stellte sich glücklicherweise heraus, dass der Bestimmer das Restaurant Schlachtross meinte.

Weil ich keine Lust hatte, mit Carlotta zu diskutieren, sagte ich schließlich zu und versprach, auch um acht im Schlachtross zu sein und an einem Nebentisch zu sitzen. Mit Frodo, dem ich natürlich nichts davon sagen würde, dass Carlotta mich gebeten hatte, dahinzukommen. Nein, ich würde so tun, als seien wir rein zufällig auch heute da. Carlotta reserviert zwei Tische für je zwei Personen.

Eine halbe Stunde später sitze ich am Rechner, öffne ein Word-Dokument und bin bereit für meine Liste. Einen Erledigungspunkt habe ich ja schon handschriftlich fixiert und tippe dieses Wort nun ein:

Lampe.

Ich überlege und überlege. Eigentlich fällt mir nichts ein. Doch:

Pfandflaschen zurückbringen.

Ich überlege und überlege. Nein. Es gibt eigentlich gar nichts Gravierendes, das ich ändern könnte. Okay, das mit den Schlossers.

Also. Drittens:

Schlossers auf den Topf setzen.

Und natürlich Herrn Huber mal sagen: So geht es nicht.

Auch das tippe ich ein. Dann lehne ich mich zurück und lächle vor mich hin. Das war’s nun wirklich. War ja gar nicht so schwer. Die paar Aufgaben werden mir leicht von der Hand gehen. Die Liste ist überschaubar. Das heißt, mein Leben ist bald geregelt. Mein Mann spinnt. Und ich mache mir viel zu viele Gedanken.

Carlotta ruft an und sagt: „Es hat geklappt mit der Reservierung. Ich habe etwas auseinanderstehende Tische reserviert. Setz dich bitte so hin, dass du uns beobachten kannst.“

Ich antworte: „Ist gut. Ich muss dich mal was fragen.“

„Was denn?“

„Wie findest du mich?“

„Hä?“

„Okay, anders gefragt: Findest du, dass ich eine bodenständige Person bin, die alles im Griff und immer eine Antwort parat hat, die mit wachen Augen durchs Leben geht und gut und böse perfekt voneinander unterscheiden kann, die nichts vor sich herschiebt, normale Menschen kennt und der alles gelingt? Findest du das?“

Carlotta schweigt kurz. Dann sagt sie: „Ich komm mal kurz vorbei. Ich bin froh, dass du das endlich mal angesprochen hast.“

13 Uhr

Carlotta hat meine Liste ergänzt. Ich glotze auf den Monitor. Und noch mal und noch mal. Es hat sich nichts verändert.

„Das ist gut so“, sagt Carlotta milde. „Ab einem bestimmten Alter sollte man mal Ordnung in sein Leben bringen. Schau mich an.“

Ich schaue sie an und denke: Aha.

„Du verdrängst gern die unangenehmen Dinge“, meint Carlotta. „Arbeite alles einfach nach und nach ab.“

„Ja.“ Ich glotze wieder. Neben der Liste kann ich nach Erledigung ein Häkchen setzen. Noch ist da natürlich nirgendwo ein Häkchen. Habe Angst, dass nie eins zu sehen sein wird:

Lampe fürs Schlafzimmer kaufen

 

Pfandflaschen zurückbringen

 

Ilse und Bert Schlosser auf den Topf setzen

 

Hinnerk Huber klarmachen, dass ich nicht die Packstation für Hamburg bin

 

Zu Ikea fahren und die Bettwäsche, das Regal, den Topf und das Rollo zurückgeben bzw. umtauschen

 

Termin beim Arzt für ein großes Blutbild machen

 

Endlich ein Smartphone zulegen

 

Zugluftstopper, Tesamoll für die Fenster und dieses brandneue Wischsystem im Baumarkt besorgen (ohne Bücken, ohne schmutzige Hände, sondern mit Akku!)

 

Beschwerdebriefe an diverse Firmen schreiben, über die ich mich ärgere, aus unterschiedlichen Gründen

 

Tupperparty bei mir organisieren

 

Endlich eine andere Frisur und dem Friseur klarmachen, dass ich beim Friseur meine Ruhe will und nur meine Ruhe. Ich zahle nicht dafür, dass ich mir seine Leidensgeschichten anhöre.

 

Zu Mitarbeitern von Marktforschungsinstituten freundlich sein, aber auch mit fester Stimme sagen, dass man an der Umfrage nicht teilnimmt

 

Klempner bestellen wg. der tropfenden Wasserhähne überall und wegen der Waschmaschine, da ist was mit dem Zulauf nicht in Ordnung.

 

Mit Aurelius in einen Freizeitpark fahren

 

Die Mitgliedschaft im Sport-Studio kündigen

 

Carlotta auf den Elternabend am Mittwoch begleiten

 

Wohnung putzen und einkaufen für Besuch der Schwiegermutter am Wochenende

 

Ernsthaft mit meinem Mann über seine Kritik an meinem Fahrstil sprechen und einen Fahrlehrer aufsuchen

 

Endlich schwimmen gehen

 

„Das hat aber nun nicht alles damit zu tun, mein Leben aufzuräumen“, sage ich.

„Aber du sollst dir ja auch was Gutes tun“, sagt Carlotta. „Und hilfsbereit sein – das ist auch wichtig. Deswegen kommst du ja mit auf den Elternabend. Und denk mal an das Blutbild oder die Beschwerdebriefe oder was auch immer – das hast du dir schon so lange vorgenommen. Wenn es erledigt ist, dann musst du es nicht mehr mental mit dir rumschleppen.“

„Da hast du eigentlich recht.“ Ich drucke die Liste aus und schaue sie mir noch mal an. Himmel, ist das viel. Das werde ich nie in einer Woche schaffen.

Carlotta meint, bei einigen Sachen sei es ja so, dass nur erst mal ein Anfang gemacht werden müsste, und das würde ich hinkriegen. Carlotta meint auch, das sei alles gar nicht so viel und so schlimm, und wenn man erst mal angefangen habe, sei es ein Kinderspiel. „Das mit dem Fahrlehrer finde ich besonders gut“, sagt sie. „Hier, das ist die Nummer von Ingo Schacher, der wohnt bei mir im Haus. Ihm gehört eine Fahrschule. Ich sage ihm, dass du dich meldest, und er nimmt sich bestimmt auch mal kurzfristig Zeit. So, und jetzt muss ich los.“

Ich öffne meinen Internetbrowser, um erst mal zu schauen, was so in der Welt los ist, und da geht auf einmal nichts, nichts, nichts. Ich komme nicht ins Netz, auch nicht, nachdem ich den Rechner fünfmal neu gestartet und den Router an- und ausgeschaltet habe. Der Fernseher, der auch über den Router läuft, geht ebenfalls nicht. Ich will die Telekom anrufen, aber das Telefon geht auch nicht, weil es ebenfalls über den Router läuft. Nichts geht mehr, nichts.

Das, und ich übertreibe es jetzt wirklich nicht, ist für mich eine Katastrophe. Ich brauche Internet und Telefon. Fernsehen ist nicht so wichtig, notfalls kann ich auf meine DVDs zurückgreifen.

Aber: Das andere soll bitte einfach funktionieren. Was nützt mir eine blöde Liste, wenn ich kein Geld mehr verdiene? Wenn ich mir das Benzin zu Ikea und zum Baumarkt gar nicht mehr leisten und meine Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen kann? Verzweifelt nehme ich das Handy und gehe auf den Balkon. Es ist kalt, weil wir erst März haben, aber ich muss vom Balkon aus telefonieren, weil ich in der Wohnung keinen Handyempfang habe.

Anrufe bei der Telekom sind eine Belastungsprobe für meine Nerven und meine Gesundheit überhaupt. Es ist bei mir so, dass ich nach Auseinandersetzungen mit Hotline-Mitarbeitern lange Ruhepausen brauche und auch schon mal auf ein wirklich gutes Angebot mit günstigeren Tarifen verzichtet habe, weil ich einfach nicht mehr konnte.

Während ich also am Handy hänge und meine voraussichtliche Wartezeit über dreißig Minuten betragen wird, wie mir der Depp in der Warteschleife erklärt, denn natürlich sind alle Mitarbeiter im Gespräch, mache ich mir beruhigende Kopfbilder, um auf dem Balkon nicht durchzudrehen. Ich stelle mir vor, wie ich vor meinem Monitor sitze, während ein gut gelaunter Mitarbeiter am Telefon mit mir flirtet. Wie ich das Konfigurationsprogramm öffne und von ihm, der eine wirklich sehr sympathische Stimme hat, Schritt für Schritt wie von einem fürsorglichen Vater durch die einzelnen Arbeitsabschnitte geführt werde.

Ach, wäre das schön.

Dieses ausgedachte Szenario macht mich sehr glücklich, und ich träume noch ein bisschen. Wie könnte ein befriedigendes Gespräch ablaufen?

„Hallo, auf einmal geht gar nichts mehr. Nichts. Weder Telefon noch Internet, nichts, nichts. Hilfe, Hilfe, Hilfe!“

„Ach, das haben wir heute schon den ganzen Tag.“ (Lacht beruhigend) „Da waren unsere Techniker schon am Werk. Warten Sie, ich klinke mich eben in Ihre Leitung ein … (drei Sekunden später) … so, nun öffnen Sie mal Ihren Browser, schalten den Fernseher ein und schauen, ob das Festnetz funktioniert.“

„Es funktioniert! Alles! Alles geht! Oh danke! Wollen Sie mich heiraten?“

(Verschmitzt und/oder geschmeichelt) „Hahahaha, höhöhö, das wollen heute alle!“

In Wirklichkeit würde das Gespräch so ablaufen:

„Hallo, auf einmal geht gar nichts mehr. Nichts. Weder Telefon noch Internet, nichts, nichts. Hilfe, Hilfe, Hilfe!“

„Tja, da müssen wir erst mal die Leitung durchmessen. Moment … da ist aber alles in Ordnung. Haben Sie den Router schon resettet?“

„Wie geht das?“

„Da müssen Sie mit einer Büroklammer hinten in das kleine Loch stechen.“

„Ich habe keine Büroklammer hier.“

„Das ist dumm.“

„Und jetzt?“

„Da müssen Sie mit einer Büroklammer hinten in das kleine Loch stechen.“

„Ich habe keine Büroklammer hier.“

„Das ist dumm.“

„Und jetzt? … Hallo? HALLO?“

Wahlwiederholung.

„… Ihre voraussichtliche Wartezeit beträgt …“

Manchmal würden auch einfache Sätze genügen. Kurze Sätze können auch glücklich machen. Beruhigen. Wenn sie ganz am Anfang eines Gesprächs gesagt werden. Man könnte die Telekom-Mitarbeiter doch so schulen, dass sie – egal wie es letztendlich weitergeht – erst mal Folgendes sagen. Vieles wäre so einfach:

Leider aber hörte ich bislang immer nur diese Sätze:

So ist das leider. Manchmal wünsche ich mir die Zeiten herbei, in denen das grüne Telefon mit Wählscheibe und Brokatbezug bei meinen Großeltern auf dem kleinen Tisch im zugigen Flur stand. Man musste „sich kurz fassen“ und alles Wichtige in acht Minuten besprechen, denn die „Einheit“ kostete 23 Pfennig. Wenn es ein Ortsgespräch war. Es gab keine Computer und kein Internet. Dafür gab es drei Fernsehprogramme. Im Ersten gab es samstags irgendeine Show mit Kulenkampff oder Wim Thoelke mit dem komischen Hund und der Aktion Sorgenkind, im Zweiten lief nachmittags Daktari und im Dritten kamen irgendwelche regionalen Dokus, oder die Sesamstraße wurde wiederholt. Wenn man sich mal überlegt, dass unter der Woche das Fernsehen überhaupt erst nachmittags anfing und um Mitternacht das Testbild kam und man sich den Rest der Zeit unterhalten musste, da ist es doch kein Wunder, dass sich heutzutage niemand mehr unterhält. Wenn sie nicht vor der Glotze hängen, surfen sie im Netz oder glotzen auf ihre bekloppten Smartphones. Apropos Smartphone. Darum muss ich mich dann auch noch kümmern. Aber nicht jetzt.

Zum Glück ist das hier eine 0800er-Nummer und kostenfrei, sonst würde ich ausrasten. Wer mit dem Handy schon mal Sonderrufnummern angerufen hat, weiß, wovon ich spreche.

Das sind richtiggehende Fallen, man muss sich vorher wirklich darüber informieren, wie viel man …

„Willkommen bei der Deutschen Telekom, mein Name ist Hans Schneider, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Hallo.“ Mir fällt gerade was ein. „Heißen Sie wirklich Hans Schneider?“

„Äh … ja.“

„Ich frage nur, weil Hans Schneider ja ein recht geläufiger Name ist.“

„Ja und?“

„Angenommen, Sie würden eigentlich, sagen wir, Angelino Stottermann heißen, wäre es leicht, Sie ausfindig zu machen.“

„Ich verstehe immer noch nicht …“ Herr Schneider ist irritiert.

„Was gibt es denn daran nicht zu verstehen? Angenommen, ich drehe gleich während unseres Gesprächs komplett durch, weil Sie mir nicht helfen können, ich aber darauf angewiesen bin, dass alles reibungslos funktioniert, weil ich auch jeden Monat eine Menge Kohle dafür hinblättere. Oder nehmen wir an, ich verstehe nicht, was Sie mir da erklären, weil ich keine Fernmeldetechnikerin bin, und Sie werden irgendwann pampig, und wir kommen definitiv zu keiner Lösung, und dann, angenommen, nur angenommen, ist unser Gespräch plötzlich unterbrochen und Sie sind nicht mehr in der Leitung, einfach so, zufällig, natürlich will ich Ihnen nicht unterstellen, dass Sie aufgelegt und mich mit meinem existentiellen Problem alleine gelassen haben. Was könnte dann passieren? Was?“ Ich bin präventiv schon so auf 180, dass ich immer lauter geworden bin.

Herr Schneider räuspert sich. „Äh, dann rufen Sie noch mal an?“

Nun bin ich kurz vorm Explodieren. „Oh nein! Ganz sicher rufe ich nicht noch mal an, um mir von einem weiteren grenzdebilen Hotliner erzählen zu lassen, dass das alles meine Schuld und mit der bekloppten Leitung alles in Ordnung ist, nachdem ich ihm die ganze Geschichte von vorn erzählen musste, weil nie, nie dieselben Personen dran sind, wenn man noch mal anruft. Ganz sicher werde ich das nicht tun. Wissen Sie, was ich dann mache?“

„Nein.“ Herrn Schneiders Stimme zittert.

„Ich würde Ihren Namen googeln! Angelino Stottermann. Was glauben Sie, wie viele Angelino Stottermanns es in Deutschland gibt?“

„Wahrscheinlich nicht so viele.“

„Richtig. Ich würde Ihre Adresse rausbekommen und mich dann auf den Weg zu Ihnen machen. Und Sie finden, Angelino Stottermann. Und dann gnade Ihnen Gott. In meinem kleinen Köfferchen werden sich nämlich nette kleine Mitbringsel befinden, die scharf sind oder in die man Patronen stecken kann.“ Nun hyperventiliere ich fast.

„Aber ich heiße doch gar nicht Stottermann“, klagt Herr Schneider.

Da hat er recht.

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