Dieser Kuss verändert alles

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Anna träumt jede Nacht davon, den attraktiven Dr. Davenport zu küssen. Als er eines Tages unter Schock steht, verfolgt von dunklen Erinnerungen, kann Anna nicht anders: Sie gibt dem neuen Leiter der St. Piran's-Chirurgie einen Kuss - einen Kuss, der alles verändert ...


  • Erscheinungstag 01.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729387
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wenn Blicke töten könnten …

Dr. Anna Bartlett geruhte endlich, im OP zu erscheinen, und wirkte alles andere als begeistert, dass Luke ohne sie angefangen hatte.

Natürlich hatte er ihre Nachricht erhalten, dass sie in der Notaufnahme aufgehalten wurde, weil sie bei einem schwer verletzten Unfallopfer eine Thorakotomie durchführen musste. Aber was erwartete sie? Dass er die Operation verschob, bis sie hier auftauchte?

Bestimmt nicht. Sein Patient wartete schon zu lange darauf. Außerdem hatte Luke nicht ahnen können, wie lange Dr. Bartlett mit dem Notfall beschäftigt sein würde. Deshalb hatte er das einzig Logische getan – und sich einen anderen Assistenten besorgt. Kinderherzchirurg James Alexander hatte Zeit gehabt und war gern bereit gewesen, dem zurückgekehrten leitenden Chefarzt der Abteilung zur Seite zu springen.

Luke war achtzehn Monate weg gewesen, und in der Zeit hatte James am Krankenhaus St. Piran angefangen. Er wohnte ganz in der Nähe, seine Frau Charlotte arbeitete als Oberärztin in der Kardiologie. Das war nur eine von vielen Veränderungen, die Luke bei seiner Rückkehr vorgefunden hatte … schwer vorstellbar, dass er einmal Teil dieser Welt gewesen war. Aber er hatte auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, dass sich das Leben von einer Minute zur anderen schlagartig veränderte.

Erschüttert durch den Tod seines jüngeren Bruders hatte Luke beschlossen, als Arzt zur Armee zu gehen. Damals war ihm klar, dass nichts mehr so sein würde, wie es war, und doch war er wieder da, am selben Platz, im selben Job.

Um die Scherben seines alten Lebens aufzusammeln und zu kitten?

Wenn es ihm selbst schon merkwürdig vorkam, so war es kein Wunder, dass Anna Bartlett in ihm einen Störenfried sah. Jeder hier im Krankenhaus hatte gewusst, dass seine Stelle nur vorübergehend neu besetzt worden war, doch augenscheinlich hatte niemand damit gerechnet, dass er schon so bald aus dem Kriegsgebiet zurückkehren würde. Vielleicht hatte Anna insgeheim gedacht, er käme vielleicht gar nicht wieder?

Obendrein war es nicht das erste Mal, dass Luke ihr einen Posten wegschnappte. Vor drei Jahren, als es um die Leitung der Herzchirurgie ging, hatte man sich gegen sie und für ihn entschieden.

Oh ja, das könnte den tödlichen Blick erklären, mit dem sie ihn bedachte, als sie nun den OP betrat. Einen Schritt vom Team entfernt, das sich um den OP-Tisch versammelt hatte, blieb sie stehen. Sie trug Mundschutz und sterile Kleidung und hielt die Hände sorgsam vom Körper weg.

Anna Bartlett war schlank und für eine Frau sehr groß. Und auch wenn ihre grünen Augen ihn im Moment an harte, ungeschliffene Smaragde erinnerten, so waren es Augen, die ein Mann nicht so schnell vergaß. Das Gleiche galt für ihre Haltung. Dr. Bartlett stand vollkommen ruhig da, eine Ärztin, die sich ihrer Kompetenz bewusst und zu eiserner Disziplin fähig war.

Das hatte James vorhin im Waschraum auch zu ihm gesagt. Die Chirurgin galt als erfahren und nahezu penibel, eine Frau, die keine Kompromisse machte, wenn es um das Wohl ihrer Patienten ging. Single, und das freiwillig. Wahrscheinlich, weil kein Mann mit dem Beruf mithalten konnte, dem sie sich mit Leib und Seele verschrieben hatte.

„Sie ist gut“, hatte James hinzugefügt. „Sehr gut. Sie können sich freuen, dass sie als Ihre Assistentin dableibt. Mit dem Ruf, den sie sich hier erworben hat, könnte sie überall hingehen.“

Jetzt begrüßte James sie als Erster. „Anna! Das ging aber schnell.“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu und runzelte die Stirn. „Nichts mehr zu machen, hm?“

„Nein.“ Der Versuch, einen Notfallpatienten zu retten, war fehlgeschlagen. Mit einem einzigen Wort hakte Anna Bartlett das Thema ab und wandte sich dem nächsten zu. „Möchten Sie, dass ich übernehme?“

„Wenn Luke nichts dagegen hat, gern. Eigentlich hätte ich längst Visite machen müssen, und heute Nachmittag habe ich eine volle OP-Liste.“ James verschloss mit dem Elektrokauter ein Blutgefäß und blickte dann auf. „Luke? Haben Sie Anna schon kennengelernt?“

„Nein.“ Seine Antwort war genauso lakonisch wie ihre.

Er fuhr mit der langen, vertikalen Inzision in der Brust des Patienten fort und sah nicht auf, bis James sich vorbeugte, um die Blutung zu kontrollieren.

Anna stand jetzt näher am Tisch. Der Mundschutz bedeckte ihre untere Gesichtshälfte, und ihre Haare waren von der grünen Kappe verborgen. Luke sah nur diese ausdrucksvollen grünen Augen – und den vorwurfsvollen Ausdruck darin.

Okay, schon verstanden, dachte er grimmig. Gestern hätte er sie kennenlernen sollen, die Frau, die ihn anderthalb Jahre lang vertreten hatte. Aber er musste sich mit einem Wasserrohrbruch herumschlagen und hatte außerdem Probleme mit dem Stromanschluss, nachdem sein Haus so lange leer gestanden hatte. Deshalb konnte er sein Handy nicht aufladen, als der Akku den Geist aufgab.

Dr. Bartlett hatte nicht gewartet, obwohl er höchstens eine Dreiviertelstunde später kam als verabredet. Stattdessen war sie nach Hause gegangen, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, von seiner OP-Liste für heute einmal abgesehen.

Und jetzt erdolchte sie ihn mit Blicken, obwohl sie zu spät war! Hätte er ihr den roten Teppich ausrollen sollen? Nun, für solche Mätzchen hatte er keine Zeit.

„Wenn Sie assistieren wollen, sollten Sie jetzt anfangen“, sagte er scharf. „Ich unterbreche meine Operationen nicht gern, und ich ziehe es vor, dann anzufangen, wann ich es für richtig halte.“

Betretenes Schweigen breitete sich aus, als James zurücktrat und Anna seinen Platz einnahm. Luke wandte sich an die Instrumentierschwester, die neben dem Rollwagen stand.

„Sternumsäge, bitte.“

Sie zuckte unter dem herrischen Ton zusammen, reichte ihm aber schnell das Gewünschte. Gleich darauf zerstörte das hohe Sirren der Säge die Stille im OP.

Das also war Luke Davenport.

Der Kriegsheld, von dem sie in den letzten Tagen so viel gehört hatte. Nicht genug damit, dass sie als bisherige Leiterin der Abteilung ins zweite Glied zurücktreten musste, so rieb nun jeder Salz in die Wunde, indem er ihr erzählte, wie großartig Luke war. Ein hoch talentierter Chirurg. Ein tapferer Soldat. Ganz allein hatte er seine Kameraden aus tödlicher Gefahr gerettet, nachdem sie unter Beschuss geraten waren. Hatte sie aus dem brennenden Fahrzeug gezerrt und trotz seiner komplizierten Beinfraktur Erste Hilfe geleistet, bis Verstärkung kam.

Anna zweifelte nicht daran, dass er dazu fähig war. Ein Blick in seine Augen hatte ihr gezeigt, dass Luke Davenport genauso ehrgeizig und willensstark war wie sie. Zwei feine senkrechte Falten zwischen den dunklen Brauen verstärkten noch den intensiven Ausdruck dieser unglaublich blauen Augen. Unwillkürlich hatte Anna kurz den Atem angehalten.

Dass er sie wie eine Medizinstudentin behandelte, passte ihr zwar nicht, aber es überraschte sie auch nicht. Dieser Mann hatte Dinge gesehen, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.

Alle waren glücklich, dass er wieder da war. Anna hingegen hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber sie lächelte und tat, als wäre sie heilfroh über die Chance, einem solchen Helden assistieren zu dürfen.

Kein Wunder, dass der Kerl ein Ego von hier bis zum Mond hatte. Er hatte es gestern nicht einmal für nötig gehalten, sich persönlich vorzustellen. Sie war wenigstens so höflich gewesen und hatte ihn benachrichtigt, dass sie nicht pünktlich zur OP kommen konnte. Und wie reagierte er darauf? Mit einem Tadel, vor dem gesamten Team! Ich unterbreche meine Operationen nicht gern. Anna hörte wieder seine tiefe Stimme und die scharfen, fast feindseligen Worte. Luke Davenport war es nicht nur gewohnt, Befehle zu geben, sondern auch, dass sie ausgeführt wurden!

Anna war schon niedergeschlagen gewesen, weil sie trotz aller Anstrengungen das Leben des Notfallpatienten nicht hatte retten können. Aber jetzt sank ihre Stimmung auf den Nullpunkt. Aus früherer Erfahrung mit schwierigen Situationen wusste sie, dass es nur eins gab, um wieder aus diesem Tief zu kommen: Sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Ausschließlich auf ihre Arbeit.

Was in diesem Fall nicht schwer war. „Du meine Güte“, entfuhr es ihr, als die Rippenspreizer positioniert waren und den Grund für diese Operation freilegten. „Sehen Sie sich das an.“

Das Perikard, die Membran, die das Herz wie ein Beutel umschloss, war zu einem dicken weißen Panzer geworden. Diese Vernarbung, Folge einer Virusinfektion, hinderte das Herz daran, normal zu schlagen, und Luke würde eine Perikardektomie vornehmen, um die harte Schicht vom Herzgewebe zu entfernen. Es war ein hoch komplizierter Eingriff, den Anna schon oft gesehen, aber noch nie selbst durchgeführt hatte.

Sie hätte es vorgezogen, erst einen Bypass zu legen, um den Eingriff am ruhenden Herzen vorzunehmen. Luke hingegen ersparte dem Patienten die Risiken, die mit dem Anschluss an eine Herz-Lungen-Maschine verbunden waren. Das bedeutete jedoch, dass er das Skalpell am schlagenden Herzen führen musste.

„Ihre Untersuchungen haben das Ausmaß der Verkalkung gezeigt.“ Luke klang erstaunt nach ihrem überraschten Ausruf. „Es ist ein Wunder, dass das Herz überhaupt funktioniert.“

„Vor drei Wochen ist er bei der Arbeit zusammengebrochen. Vorher gab es nicht die geringsten Anzeichen, wie ernst sein Zustand ist.“

Anna beobachtete, wie Luke das Skalpell ansetzte. Das scharfe Instrument verschwand fast in seiner großen Hand, aber er kontrollierte es meisterhaft, übte gerade so viel Druck aus, dass er das harte weiße Gewebe durchschnitt, ohne dem darunter pochenden Herzen zu nahe zu kommen.

Der undefinierbare Laut, den er ausstieß, konnte ein Ausdruck der Zufriedenheit sein beim Anblick des gesunden rosigen Gewebes, das nun sichtbar wurde. Aber Anna wurde das dumme Gefühl nicht los, dass Kritik dahintersteckte. Eine kaum verhohlene Kritik daran, dass es so lange gedauert hatte, den Patienten zu diagnostizieren und lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen.

Das fand sie unfair. Colin Herbert war seit Jahren nicht zum Arzt gegangen und hatte seine Atemnot dem Umstand zugeschrieben, dass er keinen Sport trieb und daher nicht besonders fit war. Die Müdigkeit erklärte er damit, dass er und seine Frau zwei kleine Kinder hatten und oft nicht genug Schlaf bekamen. Auch bei den ersten Untersuchungen gab es keine Hinweise, dass der Siebenunddreißigjährige herzkrank war. Erst nach einem CT und einer Herzkatheteruntersuchung konnte man den recht seltenen Zustand zweifelsfrei feststellen. Danach stand Anna vor der Entscheidung, selbst zu operieren oder Colin an einen Kollegen zu überweisen, der über mehr Erfahrung verfügte.

Dann machte die Nachricht von Luke Davenports Rückkehr die Runde, sodass das Team nach sorgfältiger Abwägung beschlossen hatte, den Eingriff noch etwas aufzuschieben. Wenn Colin im St. Piran, in der Nähe seiner Familie, bleiben konnte, würde das seine Genesung beschleunigen. Und auch für seine Frau bedeutete das weniger Stress, da sie ihren Mann jederzeit besuchen konnte, ohne erst lange fahren oder eine Betreuung für ihre Kinder organisieren zu müssen.

Luke hatte begonnen, das Perikard vom Herzmuskel zu schälen. Wie alle anderen blickte auch der Anästhesist fasziniert auf das Operationsfeld.

„Sieht aus wie Plastik“, meinte jemand.

Wieder dieser fast mürrische Laut, der alles Mögliche bedeuten konnte, dann herrschte erneut Schweigen im OP. Wenn Luke Instrumente verlangte oder Anweisungen gab, dann knapp und präzise. Dass Anna ihm assistierte, schien er kaum wahrzunehmen.

Sie seufzte stumm. Operieren mit diesem Mann dürfte alles andere als entspannt sein. Nicht dass er sich nicht voll konzentrieren sollte, nein, das meinte sie nicht. Aber Anna bezog ihr Team immer mit ein, wenn sie operierte. Sie bat um Meinungen und gab ihr Wissen weiter, so wie es von ihren früheren Lehrmeistern gewohnt war.

Als Dr. Davenports Assistentin würde sie karrieretechnisch auf der Stelle treten. Immer die Zweitbeste sein, die neue Verfahren und Methoden nur durch Zusehen lernte. Anna spürte, wie die vertraute Frustration sie packte. Selbst wenn sie sich auf eine andere Chefarztstelle bewarb, würden die meisten Mitbewerber Männer sein und das entscheidende Gremium aus Männern bestehen. Aus hoch angesehenen, mächtigen Alphatieren wie der Mann auf der anderen Seite des OP-Tisches, die sich nicht so leicht davon überzeugen ließen, dass eine Frau das Gleiche leisten konnte wie sie.

Diese Unzufriedenheit, auf dem Weg an die Spitze immer wieder gegen eine Wand zu laufen, hatte Anna während ihrer gesamten Laufbahn begleitet. Wie ein störendes Kratzen im Hals, das inzwischen chronisch geworden war. So war es auch jetzt, und trotzdem nahm unerwartet ein anderer Gedanke Gestalt an, während sie Luke bei der Arbeit zusah.

Von diesem Mann konnte sie allein durch Beobachtung tatsächlich etwas lernen. Mit einem exzellenten Timing nutzte er die Momente, in denen sich das Herz mit Blut füllte, und löste wieder ein Stückchen des Panzers. Schlug es, um Blut in den Kreislauf zu pumpen, hielt Luke das Skalpell still.

Ausrüstung und Personal standen bereit, um den Patienten, falls nötig, jederzeit an die Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Luke wollte kein Risiko eingehen, denn der schwierigste Teil der Operation, nämlich das verhärtete Gewebe von der Unterseite des Herzmuskels zu entfernen, stand noch bevor.

Bisher ging jedoch alles glatt. Das Team arbeitete sehr effizient, und über Dr. Bartlett konnte er sich auch nicht beschweren. Sie war gut, hatte sich seiner Vorgehensweise so perfekt angepasst, dass es ihm vorkam, als hätte er plötzlich zwei Hände mehr. Kleinere zwar, aber auch sehr geschickt. Vielleicht wäre es besser, wenn sie die Arbeit an der Unterseite übernahm.

Es blieb bei dem flüchtigen Gedanken, Luke widmete sich seiner Aufgabe. Während Anna die Ränder des Perikards hielt, setzte er feine Schnitte, immer möglichst dicht an dem beengenden Panzer. Kaum ein Millimeter Spielraum. Luke war sich der angespannten Atmosphäre im Raum bewusst. Er hätte sie ein bisschen auflockern können, indem er gelegentlich etwas sagte, aber daran lag ihm nichts.

Alle beobachteten ihn genau, fast mit angehaltenem Atem, so schien es. Es war seine erste Operation, seit er die Leitung der Abteilung wieder übernommen hatte. Man würde ihn beurteilen und sich wahrscheinlich fragen, ob ihn die Zeit im Kriegsgebiet verändert hatte … als Chirurg und persönlich.

Sicher. Er hatte viel gelernt. Die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, egal, was um ihn herum vorging, gehörte auch dazu. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, was andere, Anna Bartlett eingeschlossen, über ihn dachten. Entscheidend war einzig und allein ein gutes Ergebnis für den Patienten. Luke konzentrierte sich auf sein Skalpell, genau auf die feine Spitze, den einzigen Teil der Klinge, den er benutzte.

Das Blut kam wie aus dem Nichts. Bisher hatte es kleinere Blutungen gegeben, die Anna sofort wieder gestoppt hatte, aber jetzt ergoss sich ein Schwall der roten Flüssigkeit über das Skalpell, strömte über Lukes Fingerspitzen und bildete eine Lache. Der Herzmuskel pumpte weiter, wurde kurz sichtbar, dann verschwand er wieder unter dem Blutstrom, der Luke die Sicht nahm.

Rot.

So rot.

Und warm. Er spürte die Wärme auf der Haut. Unaufhörlich strömte das klebrige Blut, war überall.

Leben, das im Sand versickerte.

Er hörte Schreie, Schüsse, und plötzlich roch es verbrannt.

Er musste etwas tun.

Aber er konnte sich nicht bewegen.

Anna sah, wie die Skalpellspitze die kleine Arterie anritzte. Mit dem Elektrokauter würde sie hier nichts ausrichten können. Abklemmen und abbinden sollte aber nur einen Moment dauern. Sie griff zu einer Klemme, bereit, sie Luke zu reichen, und warf einen Blick auf das Nahtmaterial, das er brauchen würde.

Doch er verlangte keine Klemme. Die Hand, die das Skalpell hielt, bewegte sich nicht … wie zu Stein erstarrt.

Und dann blickte er auf, und Annas Herz setzte einen Schlag aus. Luke sah sie zwar an, aber er nahm sie nicht wahr, so als hätte er etwas völlig anderes vor Augen, das nichts mit diesem Raum zu tun hatte und auch nicht mit dem Patienten, dessen Herz er operierte.

Luke Davenport sah etwas … Schreckliches?

Anna handelte sofort. Sie klemmte das Gefäß ab und stillte die Blutung. Für die anderen musste es so aussehen, als hätte Luke sie nur mit einem Blick stumm aufgefordert, das lästige Leck zu schließen. Da er bisher ziemlich wortkarg gewesen war, würde sich niemand darüber wundern.

Doch Anna hatte das Entsetzen in seinen Augen gelesen und buchstäblich gespürt, dass er unfähig war, sich zu rühren. Einen so verstörenden Moment wie diesen hatte sie im OP noch nicht erlebt.

Die Arterie war schnell geflickt, und eine Schwester saugte das Blut aus dem Operationsfeld. Anna hörte, wie Luke einatmete, und blickte auf. Er blinzelte, und es war, als würde ein Schalter umgelegt. Die Operation ging weiter, als wäre nichts geschehen.

Trotzdem hatte sich etwas verändert. Vielleicht war ihm bewusst, dass Anna die Situation gerettet hatte. Oder es stellte sich allmählich die Verbindung her, die ein gutes Team zusammenschweißt.

„Wenn ich das Herz ankippe“, sagte Luke kurz darauf, „dann sind Sie in einer besseren Position, den Teil an der Unterseite abzulösen. Sie haben meine Technik gesehen, kommen Sie damit zurecht?“

„Ja.“

Dass ihr Puls in die Höhe ging, hatte nichts mit Furcht zu tun. Sie liebte Herausforderungen, und jetzt bekam sie die Chance, etwas Neues auszuprobieren, etwas zu lernen, das niemand ihr so gut beibringen konnte wie er. Plötzlich verschwand ein wenig von dem Groll gegen den Mann, der sich seinen Job wiedergeholt hatte – eine Position, die Anna zu gern behalten hätte.

Trotz der Aufregung war ihre Hand ruhig, als sie das Skalpell übernahm. Noch viel schöner waren allerdings seine ermunternden Worte.

„Ausgezeichnet“, lobte er. „Machen Sie weiter so. Je mehr wir entfernen können, umso besser für unseren Patienten.“

Es sah gut aus für Colin Herbert, als sie die Operation schließlich beendeten. Luke trat vom Tisch zurück, streifte sich die Handschuhe ab und bedankte sich beim Team. Während er sich abwandte, um den Raum zu verlassen, zog er an seinem Mundschutz, die Bänder rissen, und zum ersten Mal bekam Anna mehr von seinem Gesicht zu sehen als seine durchdringend blauen Augen.

Es war ein ernstes Gesicht, mit kantigen Zügen und tiefen Furchen von der Nase bis zu den Mundwinkeln. Luke Davenport war kein klassisch schöner Mann, aber es fiel schwer, den Blick von ihm abzuwenden. Die harte, raue Männlichkeit, die er ausstrahlte, war faszinierend. Die beiden steilen Falten zwischen den Brauen hatten sich nicht geglättet, was den düsteren, grüblerischen Ausdruck noch verstärkte.

Mit energischen Schritten ging Luke auf die Schwingtüren zu und entledigte sich dabei seines blutbefleckten Kittels. Anna sah gebräunte, muskulöse Männerarme und hatte kurz den Eindruck, als öffneten sich die Türen allein durch seine Willenskraft. Was natürlich Unsinn war, aber allein mit seiner stattlichen Größe und der geschmeidigen Art, sich zu bewegen, beherrschte Luke seine Umgebung.

Sichtlich beeindruckt folgte ihm auch jedes andere weibliche Wesen im OP-Saal mit Blicken. Anna war jedoch die Einzige, die mehr als verwirrt war.

Ja, Luke Davenport war seinem Ruf, ein begnadeter Chirurg zu sein, gerecht geworden. Mit bewundernswerter Technik und außerordentlichem Geschick … aber, was zum Teufel war mit ihm los gewesen, als die Blutung auftrat?

Hatte er überhaupt gemerkt, dass er kurzzeitig wie gelähmt gewesen war? Mit keinem Wort, nicht einmal mit einem Blick hatte er erkennen lassen, dass sie die Situation gerettet hatte. Er war im Kriegsgebiet verwundet worden, anscheinend schwer genug, um aus der Armee ausscheiden zu müssen. Vielleicht betrafen die Verletzungen nicht nur sein Bein? Wenn er nun wegen einer Kopfverletzung epileptische Anfälle bekam? Krampfzustände, in denen der Betroffene nichts um sich herum wahrnahm, einfach erstarrte, bis zu einer Minute, und sich später nicht mehr daran erinnerte. Wenn das der Fall war, durfte er auf gar keinen Fall mehr operieren!

Die Erklärung war jedoch nicht ganz stimmig. Bei einem Krampfanfall war der Blick leer, wie tot. Doch so hatte es bei Luke nicht ausgesehen. Im Gegenteil, er wirkte … gehetzt, wie unter Schock, gefangen in einer persönlichen Rückblende, der er nicht entkommen konnte.

Aber selbst wenn, so war es genauso unverzeihlich.

Nicht auszudenken, wenn er die Lungenarterie getroffen hätte. Oder schlimmer noch, die Aorta! Selbst eine um nur wenige Sekunden verzögerte Reaktion hätte katastrophale Folgen haben können.

Anna befand sich in einem Dilemma. Anscheinend hatte außer ihr niemand etwas bemerkt. Allerdings wusste jeder am St. Piran, dass sie den Chefarztposten der Abteilung seinetwegen nicht bekommen hatte. Mit der Rüge vor dem Team, nachdem sie zu spät zur Operation erschienen war, hatte er noch Öl ins Feuer gegossen. Wenn sie jetzt den Vorfall meldete, könnte man ihr unterstellen, dass sie ihm eins auswischen wollte. Sich auf diese Art zu rächen, wäre höchst unprofessionell, und Anna wusste, wie schnell ein guter Ruf am Krankenhaus dahin war.

Ihr blieb nur eins übrig, wenn sie fair bleiben wollte: Sie musste Luke darauf ansprechen. Vielleicht hatte er ja eine plausible Erklärung und konnte ihr versichern, dass so etwas nicht wieder vorkommen würde.

Anna hatte sowieso geplant, ihre Mittagspause zu nutzen, um Luke eine ausführliche Visite vorzuschlagen, damit er sämtliche Patienten der Abteilung kennenlernte. Es wäre eine gute Gelegenheit, den Vorfall zur Sprache zu bringen. Schließlich musste sie dem Mann, mit dem sie zusammenarbeiten würde, auch weiterhin vertrauen können.

Doch plötzlich verspürte sie eine ungewohnte Scheu, ihren grantigen Chef auf etwas Persönliches anzusprechen.

Betrachte es als professionelle Herausforderung, sagte sie sich. Du kannst es weder unter den Tisch fallen lassen noch beschönigen, also trau dich! Anna nickte entschlossen, als sie dem Bett mit Colin Herbert zur Intensivstation folgte. Luke an ihrer Stelle würde nicht zögern, sie auf einen gravierenden Patzer aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich sofort, nachdem es passiert war, ohne ihr die Demütigung vor den Kollegen zu ersparen.

Vielleicht konnte sie ihm auf diese Weise zu verstehen geben, dass sie nicht nur eine gute Chirurgin, sondern vor allem menschlich feinfühliger war als er.

Auf einmal war die Aussicht auf ein Gespräch unter vier Augen mit Dr. Davenport nicht mehr beängstigend.

Im Gegenteil, Anna konnte es kaum erwarten.

2. KAPITEL

Der Drang, zu entkommen, war überwältigend.

Und doch konnte er ihm unmöglich nachgeben.

Luke riss sich im Umkleidetrakt die OP-Kleidung vom Körper und ging unter die Dusche. Was hätte er darum gegeben, sich auch die Erinnerung an jene wenigen Sekunden während der Operation an Colin Herbert von der Seele zu waschen … Das warme Wasser brachte nicht die gewohnte Entspannung, und selbst der eiskalte Strahl zum Schluss, mit dem er sonst seine Albträume vertrieb, half nicht.

Gereizt zog er sich an. Sogar die Hose und das Hemd fühlten sich falsch an, zu weich an seiner Haut, die den dicken, rauen Stoff von Tarnkleidung gewohnt war. Wenigstens brauchte er sich keine Krawatte umzubinden – wie die Schleife an einem hübschen verpackten Geschenk! Es wäre ihm lächerlich vorgekommen, hätte er es doch vorgezogen, die Bänder einer kugelsicheren Weste straff zu ziehen, das Gewicht der Panzerung und der ausgebeulten Taschen zu spüren, in die er alles gestopft hatte, was er an der Front jederzeit schnell zur Hand haben musste.

Luke fühlte sich zu leicht, als er mit langen Schritten den OP-Trakt verließ, fast, als würde er schweben.

Haltlos.

Verloren.

Die Flure waren voller Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen, aber es kam ihm unendlich langsam, beinahe wie in Zeitlupe vor. Keine drängende Eile, niemand hetzte von einem Punkt zum anderen, während er Betten und Rollstühle bewegte oder sich auf den Weg zu einer neuen Aufgabe machte. Die Leute hatten Zeit, stehen zu bleiben, kurz miteinander zu reden. Er sah manche lächeln, hörte sogar Gelächter. Jemand grüßte ihn, und Luke zwang sich zu einem Lächeln, aber es war anstrengend.

Autor

Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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