Julia Ärzte zum Verlieben Band 205

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WAS DEIN HERZ SUCHT, WIRD ES FINDEN von JANICE LYNN

Ein Neuanfang in Florida: Unbeschwert lässt sich die hübsche Dr. Hailey Easton auf einen Flirt mit dem attraktiven Kardiologen Cayden ein. Doch leider träumen sie von ganz unterschiedlichen Dingen: Hailey will nichts Festes – während Cayden die Frau fürs Leben sucht …

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  • Erscheinungstag 28.06.2025
  • Bandnummer 205
  • ISBN / Artikelnummer 8031250205
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Janice Lynn, Alison Roberts, Tina Beckett

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 205

Janice Lynn

1. KAPITEL

Endlich Sonne! Dr. Hailey Easton hatte genug von der Kälte und war nach Florida gezogen, um die eisigen Winter in Ohio, ihr Leben dort und ihre toxische Beziehung hinter sich zu lassen. Hier in Venice wartete warmes Wetter auf sie und ein Neuanfang. Was sie jedoch nicht erwartet hatte: dass sie Dr. Cayden Wilton begegnen würde.

Als sie ihn auf dem Krankenhausflur sah, reagierte ihr Körper sofort. Und zwar so intensiv, dass es sie selbst verblüffte – insbesondere nach den letzten zehn Jahren, in denen sie nach und nach den Glauben an die Männer verloren hatte.

Manchmal hatte das Leben noch Überraschungen zu bieten. Oft waren das keine guten, aber vielleicht würde sich das hier in Florida ändern.

Sie selbst hatte sich jedenfalls schon vorher verändert – von Kopf bis Fuß hatte sie sich selbst ein Umstyling gegönnt, und die äußerlichen Veränderungen machten sich auch innerlich bemerkbar: Sie fühlte sich leichter und freier und wollte die Vergangenheit endgültig hinter sich lassen.

Ihr neues Leben sollte von der freundlichen Floridasonne beschienen werden, die ihr Selbstbewusstsein stärken würde. John hatte sie immer glauben lassen, dass sie nicht mehr verdiente als das, was er ihr gab, und nachdem sie es so lang in dieser Beziehung ausgehalten hatte, immer in der Hoffnung, dass er sich ändern würde, war sie irgendwann selbst davon überzeugt gewesen.

Fast.

Denn dann hatte sie ihr Medizinstudium beendet und sich gedacht: Jetzt oder nie. Sie hatte ihr altes Ich in Ohio zurückgelassen, genauso wie John, genauso wie falsche Träume. Und nun war sie hier in Florida und eine ganz andere Hailey.

„Ich sehe ganz genau, wo du hinschaust“, sagte Renee, „und muss dir leider sagen, dass das Zeitverschwendung ist.“

Ihre Kollegin bestätigte ihren eigenen Verdacht: Dr. Wilton war eine ganz andere Liga, zu der sie keinen Zugang hatte.

Nein, lass das, schimpfte sie mit sich selbst. Johns Stimme würde keinen Einfluss mehr auf sie haben.

Aber auch ohne negative Einflüsterungen ihres Ex blieb Hailey realistisch: Sie war wirklich keine Schönheit.

Dafür hatte sie ein gutes Herz, mochte Menschen … und zumindest waren ihre Zähne und ihre Augen nicht ganz hässlich. Und Augen galten doch als Fenster zur Seele. Deswegen hatte sie sich auch selbst ein Geschenk zum Ende ihres praktischen Jahrs gemacht und sich die Augen lasern lassen. Jetzt brauchte sie also keine Brille mehr – sah aber trotzdem noch recht durchschnittlich aus und war ein wenig übergewichtig. Niemand drehte sich je nach ihr um. Cayden Wilton in all seiner Pracht war hingegen bestimmt häufig die Ursache eines Schleudertraumas.

„Er ist vergeben“, sagte Renee, während sie zwischen Hailey und dem Kardiologen hin- und hersah.

Sie saßen zu zweit in dem kleinen Büroraum im hinteren Bereich der Schwesternstation. Die Wände des Krankenhauses waren hellgrau gehalten, die Decken und Zierleisten weiß. Die gefliesten Böden, ebenfalls weiß, trugen zu einer ruhigen, sauberen Atmosphäre bei. Ein Duft nach frischer Bettwäsche zog durch die Räume und sprach für die Reinlichkeit der Einrichtung.

Vergeben? Umso besser. Sie war hier, um an sich selbst zu arbeiten, mit sich selbst glücklich zu werden. Eine neue Beziehung interessierte sie nicht. Und wenn sie irgendwann doch wieder bereit sein würde für Männer, dann würde sie erst einmal ganz locker ausgehen und das genießen. In jeder Liga.

„Vergeben?“, fragte sie dennoch – und überraschte sich damit selbst. Sie war meist so zurückhaltend, dass sie keine Fragen stellte. Vielleicht waren die ganzen Selbsthilfebücher, die sie in letzter Zeit verschlungen hatte, doch für etwas gut.

Dass Dr. Wilton keinen Ehering trug, hatte sie schon bei ihrer letzten Begegnung bemerkt, aber das bedeutete natürlich nicht, dass er alleinstehend war. Wie John war Dr. Wilton ein wunderschöner Mann, und bestimmt stürzten sich alle Frauen auf ihn, ohne dass er dafür etwas tun musste.

„Vielleicht wäre beansprucht das bessere Wort“, sagte Renee. „Wenn er irgendwann bereit sein sollte, sich zu binden, wird er sich wohl für Leanna Moore entscheiden. Zumindest glauben das alle. Vor allem Leanna selbst. Sie sind unsere Celebritys. Wir nennen sie Caydna.“

Caydna, das Promi-Pärchen des Venice General Hospital. In ihrem alten Krankenhaus in Ohio hatte es niemanden gegeben, der einen eigenen Hollywood-Pärchennamen erhalten hatte, so wie Bennifer, Brangelina oder Tayvis.

Hailey hatte Dr. Wilton schon zweimal gesehen. Einmal am anderen Ende der Krankenhaus-Cafeteria, wo ihre Einführungsveranstaltung stattgefunden hatte. Ein zweites Mal gestern während ihrer ersten Schicht als neue Stationsärztin. Und heute war das dritte Mal. Jedes Mal fragte sie sich, ob sie schon vor ihrem dreißigsten Geburtstag in die Wechseljahre kam, so verrückt, wie ihr Körper mit Hitzewallungen reagierte.

Es war ihr einfach unmöglich, den Blick von diesem großen, sportlichen Kardiologen zu lösen, der gerade den Flur der Chirurgie heruntergelaufen kam. Er hatte wunderschöne grünbraune Augen und braunes, leicht welliges Haar. Er schien ihr regelrecht zu befehlen, ihn anzustarren.

Als er auf die Schwesternstation zusteuerte, kam plötzlich Sharla Little aus dem Krankenzimmer ihres Ehemannes geschossen und rief nach ihm, sodass er stehen blieb. Melvin Little hatte sich gestern Abend einer Blinddarm-Notoperation unterziehen müssen. Heute früh hatte Hailey ihn sich während der Visite angesehen und in seiner Akte den Herzchirurgen markiert, damit er sich um die ziemlich ausführliche Vorgeschichte einer Herzinsuffizienz kümmerte.

Mrs. Little sah müde aus und wischte sich erschöpfte Tränen aus dem Gesicht. Hailey konnte nicht hören, was die beiden beredeten, aber Dr. Wilton legte Sharla tröstend einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich. Hailey war verblüfft, wie einfach es für ihn schien, Mitleid zu zeigen. Er war also nicht nur gut aussehend und intelligent, sondern auch noch empathisch.

Ihre Gedanken kehrten zu dem zurück, was Renee ihr gerade erzählt hatte.

„Leanna Moore?“, fragte sie. Warum auch immer – an Klatschgeschichten wollte sie sich eigentlich nicht beteiligen. Und doch sah sie die blonde Frau mit dem makellosen Gesicht vor sich, die sie von der Plakatwerbung kannte. „Die Radiomoderatorin?“

„Genau die.“

Hailey versuchte, sich wieder auf den Computer und die vielen Nachrichten zu konzentrieren, die dort auf sie warteten.

Aber Renee unterbrach sie gleich wieder. „Leanna ist hier geboren und aufgewachsen und der Liebling von ganz Venice. Sie ist hinter Dr. Wilton her, und dabei ist es ihr egal, was die Leute sagen. Die beiden haben sich auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt, und sie hat ihn überredet, einmal pro Woche in ihre Morgenshow zu kommen und über Herzgesundheit zu reden. Eigentlich geht er nie öfter als ein paarmal mit Frauen aus, aber mit Leanna hat es mehrere Monate gedauert, und sie sind wohl immer noch in Kontakt. Sie scheint ihm also wirklich etwas zu bedeuten. Oder er findet es einfach gut, Geld für Bedürftige zu sammeln und Werbung für einen guten Zweck zu machen. Ich glaube, er ist Mitglied in allen Freiwilligenkomitees, die das Krankenhaus so hat.“

„Das ist bewundernswert.“

„Er ist bewundernswert. Und das gilt nicht nur für sein Lächeln. Er hat zwar den Ruf, ein Frauenheld zu sein, aber wir bewundern ihn alle, und ganz ehrlich: Die meisten von uns haben irgendwann einmal für ihn geschwärmt.“

Hailey zog die Augenbrauen hoch. Gestern hatte Renee noch erzählt, dass sie glücklich verheiratet war. „Du etwa auch?“

Renee grinste und lehnte sich zurück. „Ich habe schließlich Augen im Kopf, auch wenn ich schon über fünfzig bin. Er ist … jammi …“

Sie fächerte sich mit einer Hand Luft zu, und Hailey musste lachen. „Du meinst also, ich sollte ihn fragen, wenn ich mir in netter Begleitung diese Tiki-Bar in Manasota ansehen will, die du mir empfohlen hast?“

Nicht dass sie das vorhatte. Sie hatte noch nie einen Mann nach einem Date gefragt. Aber es machte Spaß, sich mit Renee zu unterhalten. Allein der Gedanke, jemals so etwas machen zu können, war verrückt. Sie war schon immer zurückhaltend gewesen und hatte John über sie und ihre Beziehung bestimmen lassen. Ihr war es wichtiger gewesen, alles harmonisch zu halten.

Gut ausgegangen war das nicht.

Renee machte große Augen. „Ich sag dir was, du Neuling – mach das unbedingt! Vergiss alles, was ich dir erzählt habe, und hab Spaß. Aber pass auf dein Herz auf, damit es nicht gebrochen wird.“

Das war ohnehin schon passiert – in der einzigen Beziehung, die sie je gehabt hatte. Und es war besonders schmerzhaft gewesen, weil es sich so in die Länge gezogen hatte.

Sie atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe nur einen Witz gemacht, aber Augen im Kopf habe ich genauso wie du. Dr. Wilton sieht aus, als gehöre er ins Fernsehen statt in ein echtes Krankenhaus. Aber erzähl mir doch von diesen Freiwilligenkomitees und welche Wohltätigkeitsorganisationen es gibt. Ich würde mich in meiner neuen Heimatstadt gern einbringen.“

Es ging ihr nicht nur darum, sich selbst zu helfen, sondern auch der Welt. In Ohio hatte John nicht gewollt, dass sie sich um mehr kümmerte als ihre Arbeit und ihre Beziehung. Im Nachhinein schämte sie sich, wie er ihr so viel Freude hatte nehmen können. Sie hatte schließlich etwas zu geben, und Ehrenämter waren zudem immer eine gute Möglichkeit, um Menschen kennenzulernen und vielleicht sogar Freundinnen zu finden.

Renee kam nicht dazu, ihr zu antworten.

Denn plötzlich stand Dr. Wilton vor ihnen.

„Guten Morgen, Dr. Wilton“, sagte Renee. „Alles in Ordnung mit Mrs. Little? Soll ich etwas in die Akte eintragen?“ Dann zeigte sie mit dem Daumen auf Hailey. „Und Dr. Easton hier möchte sich gern an Venice Has Heart beteiligen. Könnten Sie ihr helfen?“

Haileys Mund stand offen. Es war anscheinend nicht ganz ungefährlich, mit Renee zu scherzen.

Dr. Wilton sah zuerst Renee an, dann wanderte sein Blick zu Hailey. Ein belustigtes Funkeln war in seinen schönen Augen zu sehen, und er lächelte, sodass sich Grübchen in den Wangen bildeten, die zu dem am Kinn passten. Der Mann hatte strenge und dennoch freundliche Gesichtszüge.

„Sie möchten uns bei der ehrenamtlichen Arbeit unterstützen?“, fragte er.

Hailey wusste nicht einmal, was genau Venice Has Heart war, aber sie sagte: „Renee meint, dass es passen könnte.“

Sie warf ihrer Kollegin einen Blick zu, aber die tat ganz unschuldig.

„Vielleicht könnten Sie mir sagen“, fuhr Hailey fort, „wo ich mehr Informationen finde.“

„Gern“, sagte Dr. Wilton. „Wir suchen immer nach helfenden Händen.“

In seiner Tasche pingte sein Telefon, und er sah auf seine Smartwatch, die die Nachricht ebenfalls anzeigte. „Entschuldigung, eine Sekunde.“

Er zog das Handy heraus und tippte mit gerunzelter Stirn eine Antwort. Dann sah er hoch und lächelte Hailey an, sodass ihr Herz rumpelnd den Takt verlor. „Was die Informationen angeht, da erzähle ich gern mehr. Ich muss noch ein paar Patienten besuchen und dann zurück in die Praxis, aber vielleicht können wir uns heute Abend zusammensetzen.“

Hailey lief rot an. Heute Abend? Wie lang würde es dauern, ihr ein paar Informationen zu geben? Oder versuchte er, sich mit ihr zu verabreden?

Aber nein, trotz ihres drastischen Umstylings war er bestimmt nicht auf diese Weise an ihr interessiert. Er war einfach nur nett, wie er auch zu Mrs. Little nett gewesen war. Es ging ihm darum, eine neue Kollegin für sein Komitee zu gewinnen.

Renee stieß ihr in die Seite und strahlte Dr. Wilton an. „Hailey meinte gerade noch, dass sie diese berühmte Tiki-Bar in Manasota ausprobieren und das Nachtleben von Florida kennenlernen will. Sie könnten etwas essen gehen, sich die Live-Musik anhören, den Sonnenuntergang ansehen und sich über Venice Has Heart unterhalten. Zeigen Sie Ihr einfach, dass es eine großartige Entscheidung von ihr war, in die Sonne zu ziehen.“

Wenn sich doch nur der Boden unter ihren Füßen auftun würde, damit Hailey sofort und mitsamt ihrem Stuhl darin verschwinden könnte …

Aber Dr. Wilton schien die Situation gar nicht so peinlich zu finden.

„Das klingt gut.“ Er sah Hailey an, und die vergaß zu atmen. Seine Augen waren ein dunkles Grün mit goldenen Flecken und einem Strahlenkranz aus intensivem Blau. „Soll ich dich um sechs abholen?“

Panisch versuchte sie sich selbst zu sagen, dass es sich nur um ein harmloses Treffen mit einem Kollegen handelte, der sich mit ihr über Wohltätigkeit unterhalten wollte.

„Meine Schicht ist erst um sechs zu Ende, Dr. Wilton, aber wir können uns um sieben dort treffen.“

Schau an: Sie brachte selbst einen Vorschlag an. Eine Winzigkeit, aber nach all den Jahren, in denen sie immer nur John gefolgt war, war sie richtig stolz, nicht einfach zugestimmt zu haben.

„Cayden bitte, nicht Dr. Wilton“, sagte er lächelnd, und ihr Herz war kurz davor aufzugeben. „Ich dachte, das hätte ich gestern bei der Visite schon gesagt.“ Erneut pingte sein Telefon. „Tut mir leid, die Pflicht ruft. Ich muss mich um Mr. Little und die anderen Herzpatienten kümmern. Dann sehen wir uns um sieben, Hailey, ich freue mich.“

„Okay.“ Sie konnte ihn nicht Cayden nennen, obwohl sie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen duzte. Aber Cayden … das klang nicht wie etwas, was man nebenbei sagte oder vor Renee.

Was stimmt nicht mit mir?

Er verließ das Schwesternzimmer. Renee drückte Haileys Arm und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da drehte Dr. Wilton, nein, Cayden sich noch einmal um, und das Gold in seinen Augen funkelte. „Wir sollten Telefonnummern austauschen, falls jemand von uns spät dran ist.“

„Oder etwas dazwischenkommt.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Hast du dich schon wieder anders entschieden?“

„Ich meinte nur, dass du vielleicht zu beschäftigt bist. Dann könnten wir auch einfach am Telefon sprechen.“

„Aber nein, warum glaubst du das?“ Er klang, als wäre allein der Gedanke unverschämt.

Sie räusperte sich unsicher. „Du bist Kardiologe. Da kann doch immer etwas dazwischenkommen.“

„Das stimmt“, sagte er und grinste, während er ihr sein Telefon gab, damit sie ihre Nummer einspeicherte. „Aber heute Abend habe ich frei, also sollte das kein Problem sein. Ich hoffe nur, dass die Übergabe nach deiner Schicht nicht länger dauert als geplant.“

Das könnte durchaus passieren, dachte sie, während sie mit zittrigen Fingern auf die Speichertaste drückte und ihm das Gerät zurückgab. Er betätigte die Anruftaste, sodass ihr eigenes Handy vibrierte.

„Jetzt hast du auch meine Nummer“, sagte er. „Ich freue mich auf einen Abend mit gutem Essen, Live-Musik, einem schönen Sonnenuntergang und netter Begleitung. Bis nachher!“

Als er dieses Mal ging, war es Hailey, die nach Renees Arm griff, um sich festzuhalten.

„Ich dachte, du hast heute Abend frei“, sagte Hailey. Sie saß Cayden schräg gegenüber an einem Tisch vor dem Manasota Mango. Nachdem er ihr einen Stuhl herausgezogen und ihr beim Hinsetzen geholfen hatte, hatte sie gedacht, er würde sich gegenüber niederlassen, aber stattdessen hatte er sich für den Stuhl ums Eck entschieden, sodass sie beide die Band am anderen Ende der Terrasse sehen konnten. Sie hatten den perfekten Tisch – nicht so nah, dass die Musik zu laut war, aber nah genug, um die Bühne gut im Blick zu haben.

„Ja, habe ich auch.“ Cayden steckte das Telefon zurück in die Tasche. „Das war trotzdem das Krankenhaus. Du weißt, wie das ist. In unserem Beruf ist man immer irgendwie bei der Arbeit. Ich bin gern auf dem neuesten Stand.“

Sie nahm einen Schluck ihres fruchtigen, alkoholfreien Drinks und nickte. Sie wusste, dass es vielen so ging. Weil sie aber nur für die stationären Aufenthalte verantwortlich war, hielten sich die Anrufe außerhalb ihrer Arbeitszeiten zum Glück in Grenzen.

Als sie im Restaurant angekommen war, war sie nervös gewesen, aber dann hatten sie etwas gegessen und sich unterhalten, und sie hatte sich immer wieder gesagt, dass Cayden wirklich nur hier war, weil er ihr etwas über Venice Has Heart erzählen wollte. Aber er lachte gern und oft, hatte ihr bereits mehrere Komplimente gemacht und hörte ihr ganz offenbar fasziniert zu, wenn sie etwas sagte – davon konnte einem ganz schön der Kopf schwirren.

„Das war gerade Dr. Bentley, der nach deiner Schicht übernommen hat“, erklärte Cayden. „Melvin Little hat immer stärkere Atemnot, und Dr. Bentley hat eine Röntgenaufnahme des Brustbereichs und weitere Bluttests angeordnet. Er wollte nur wissen, ob er noch etwas anderes tun soll, bevor ich morgen früh wieder nach Mr. Little sehe.“

„Atemnot ist nicht gut.“ Das hatten weder Mr. Little selbst noch seine Ehefrau erwähnt, als Hailey zum Ende ihrer Schicht noch einmal nach ihnen gesehen hatte. „Ich bin morgen früh ja auch wieder da.“

„Ah, falls ich dich dann dort nicht sehe, weiß ich, dass du einen furchtbaren Abend mit mir hattest und mir aus dem Weg gehst.“ Seine Augen glitzerten fröhlich.

Sie machte ein peinliches Geräusch irgendwo zwischen einem Grunzen und einem Lachen. „Du weißt doch schon längst, dass du ein großer Erfolg bist. Es beeindruckt mich, wie wichtig es dir ist, die Menschen über Herzgesundheit aufzuklären, und das im Rahmen eines schönen Events. Jetzt fehlt dir nur noch meine Unterschrift auf einem Blatt Papier, und schon stehe ich für einen ganzen Tag kostenloser medizinischer Beratung bereit.“

„Den Knebelvertrag bringe ich dir morgen früh vorbei“, witzelte er und wurde dann ernst. „Weißt du, mein Opa ist an einem Herzinfarkt gestorben, als ich noch ganz klein war, und ich habe mich immer gefragt, wie lang er gelebt hätte, wenn er sich besser ernährt und mehr bewegt hätte. Aber du hast recht – der heutige Abend ist wirklich ein großer Erfolg. Ich freue mich, dass wir uns besser kennengelernt haben.“

Denk dran, was Renee gesagt hat: Genieß die Zeit, aber nimm es nicht so ernst.

Ihre Wangen brannten, und sie trank einen weiteren Schluck ihres Ananas-Kokos-Drinks. Vielleicht hätte sie doch einen Cocktail mit Alkohol nehmen sollen – aber nein, dann war die Gefahr nur noch größer, dass sie etwas Dummes sagte oder tat.

Die Leute drehten sich ohnehin schon nach ihnen um und fragten sich bestimmt, warum dieser wunderschöne Mann mit einer Frau wie ihr hier saß.

Lass das, ermahnte sie sich selbst. Cayden hat dich eingeladen, lächelt dich an und scheint Spaß zu haben. Es ist auch eine gute Übung, falls du jemals wieder mit Männern ausgehen willst.

Für Samstagabend hatte sie schon Pläne für eine weitere Übung, die sie mit ihrem Nachbarn Ryan geschmiedet hatte. Sie war ihm schon mehrfach im Viertel und im Fitnessstudio begegnet, und nun hatte er sie eingeladen, Samstag mit ihm und seinem Freundeskreis zu grillen. Wenn sie so weit war, wieder mit jemandem auszugehen, konnte sie all die Unterstützung gebrauchen, die sie kriegen konnte.

Sie und John hatten ihre Beziehung bereits drei Monate, bevor Hailey aus Ohio weggezogen war, offiziell für beendet erklärt, und Hailey war ins Gästezimmer gezogen. Aber trotzdem hatte sie in der Zeit niemanden Neues kennengelernt. Das hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht, und sie hatte ohnehin genug von Männern gehabt.

Aber die Sonne in Florida schien etwas in ihr zum Schmelzen zu bringen. Ihr Körper jedenfalls sagte ihr sehr genau, dass er an Cayden Interesse hatte.

„Danke noch mal, dass du bei Venice Has Heart dabei bist“, sagte er lächelnd, und wieder zeigten sich seine unwiderstehlichen Grübchen.

Hailey musste schlucken. Sie hatte ja wirklich nicht viel Erfahrung mit Männern, aber es konnte doch nicht normal sein, dass sie Angst haben musste, innerlich zu explodieren, wenn dieser Typ sie so ansah, oder?

„Ich freue mich schon auf die Freiwilligenarbeit, und es ist eine tolle Idee, die Lernschwestern für Blutdruck- und Blutzuckermessung hinzuzuziehen.“

Konnte sie sich noch blöder ausdrücken? Sie hatte einfach keine Erfahrung darin, mit umwerfend schönen, flirtenden Männern zu Abend zu essen. Das hatte auch in keinem ihrer Selbsthilfebücher so gestanden.

„Für die ist es hilfreich“, sagte er, „in einem praktischen Umfeld zu üben. Über die Kursleitung erfahren wir eigentlich jedes Jahr, dass es ihnen gefallen hat.“

„Praktische Übungen sind immer gut. Die Band übrigens auch.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Gefällt dir Classic-Rock?“

Das aktuelle Lied kannte sie zwar irgendwoher, aber wie es hieß, wusste sie nicht.

„Mir gefällt die meiste Musik“, sagte sie ehrlich. „Aber selbst wenn es nicht meine Lieblingsmusik ist – die Band ist doch wirklich talentiert, oder nicht?“

Sie lächelte. Das stand in ihren Büchern: Lächeln konnte viele Situationen retten.

„Doch, du hast recht.“ Aber er klang so, als hätte er vorher gar nicht richtig hingehört. „Was ist denn sonst deine Lieblingsmusik?“

Hailey hatte jahrelang Rap gehört, weil John es ständig hörte. Was ihr tatsächlich gefiel, wusste sie gar nicht unbedingt, und das galt nicht nur für die Musik. Auch das würde sie also in Zukunft herausfinden müssen. Nun fiel ihr jedoch ein, was sie an ihrem ersten Tag hier gehört hatte, als sie die Umzugskisten ausgepackt hatte.

„Wenn ich allein bin“, sagte sie, „höre ich eigentlich meist Pop.“

„Du meinst: Wenn du dir keine Sorgen machst, dass jemand zuhören könnte, hörst du Pop“, sagte er.

Das traf den Nagel so auf den Kopf, dass sie rot anlief.

Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche und stellte sie wieder auf dem Tisch ab. „Wer ist dein Lieblingssänger oder deine Lieblingssängerin?“

„Elvis“, sagte sie sofort und musste lächeln. Den Schnulzensänger hatte sie oft zusammen mit ihren Adoptiveltern gehört, die sie aus dem ewigen Hin und Her des Pflegesystems geholt hatten. Auch andere Musik aus den Sechzigern und Siebzigern war bei ihnen gelaufen, einem älteren Ehepaar, das keine eigenen Kinder gehabt und sie aufgenommen hatte, als sie elf war. Für Hailey stand Elvis für ein Zuhause und für die Familie, die sie zuvor nie gehabt hatte.

Cayden lachte. „Das hätte ich nicht erwartet. Elvis war doch König des Rock ’n’ Roll, nicht King of Pop. Warum also Elvis?“

„Warum nicht? Du sagst es doch selbst, er war der König. Aber wenn du etwas Moderneres willst, dann nehme ich eben Ed Sheeran.“

„Ah, den habe ich mal im Konzert gesehen“, sagte er. „Er ist wahnsinnig talentiert.“

„In meinem ersten Studienjahr hat er in Columbus gespielt“, sagte Hailey. „Ein paar meiner Kommilitoninnen haben eine Niere gespendet oder so, um genug Geld zusammenzukratzen und ihn zu sehen, und mich haben sie netterweise mitgenommen.“

Sie lächelte, als sie daran zurückdachte. Und dann hatte sie es zugelassen, dass John sie von solchen Erlebnissen immer mehr abgeschnitten hatte. Weil sie in ihrer Kindheit so oft von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschickt worden war, hatte sie nie enge Freundschaften schließen können und sich sehr gefreut, als sie eingeladen worden war. Es hatte sich gut angefühlt – Freundinnen zu haben und dazu noch ihren ersten festen Freund.

Allerdings hatte John einen Wutanfall bekommen, genauso wie viel später, als sie sich von ihm getrennt hatte und nach Florida gezogen war. Er hatte gemeint, das würde sie schon bald bereuen und wieder nach Hause gekrochen kommen. Sie würde ihn anbetteln, ihr ihre Dummheit zu verzeihen.

Aber sie konnte nie im Leben jemals so einsam sein, dass sie wieder zu ihm zurückkehren würde. Mit ihm war sie viel einsamer gewesen als allein. Zehn Jahre Einsamkeit. Zum Glück hatte sie nie ihren Traum aufgegeben, Ärztin zu werden, ansonsten wäre sie wohl vollends verzweifelt.

„Du bist also willens, das eine oder andere Körperteil zu opfern, um gute Musik zu hören“, witzelte Cayden und brachte sie zurück in die Gegenwart.

In eine Gegenwart, in der aus ihrem Traum Wirklichkeit geworden war. Sie war ausgebildete Ärztin und half den Menschen. Mit einer festen, sicheren Stelle im Rücken hatte sie jetzt genug Zeit, ihre Wunden zu heilen. Sie ging zur Therapie, würde sich selbst besser kennenlernen und versuchen, gut zu sich zu sein. Sie brauchte niemanden anders.

„Du hast also in Columbus studiert?“, fragte Cayden.

„Für das Grundstudium habe ich ein Stipendium für die Ohio State University bekommen, und dann bin ich für die Fachausbildung auch geblieben.“

Weil John dort lebte. Wenn sie ihn nicht gehabt hätte – so hatte er es ihr zumindest ständig eingeredet –, hätte sie niemanden. Ihre Eltern und Adoptiveltern gab es ja nicht mehr.

Heute fragte sie sich, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie schon viel früher aus Ohio weggezogen wäre. Aber so hatte sie zumindest wertvolle Lektionen gelernt. Niemals wieder würde sie sich in solch eine Beziehung einsperren lassen, die ihr wie ein Käfig vorgekommen war.

„Und du?“, fragte sie. „Kommst du ursprünglich aus Florida?“

„Ja, ich bin in der Nähe von Gainesville aufgewachsen und dann für mein praktisches Jahr nach Kentucky und für eine erste Stelle nach Kansas gegangen. Aber mir hat das Meer so sehr gefehlt, dass ich zurückgekommen bin. Nirgendwo gibt es so schöne Sonnenuntergänge wie hier am Strand.“

Hailey hatte sich auch schon in den Ozean verliebt. Es war ein Wunder, dass man hier leben konnte. Sie fuhr mit einem Finger über das kühle Kondenswasser an ihrem Glas, und in diesem Moment schlich sich eine leichte Brise über die Terrasse der Bar.

„Renee hat mir ja praktisch befohlen, mit dir den Sonnenuntergang anzuschauen“, sagte er und grinste.

Hailey musste schlucken. Vielleicht war er einfach so und flirtete mit jeder Frau, die ihm über den Weg lief. Allerdings war ihr das bei der hübschen Kellnerin, die sie bediente, nicht aufgefallen.

„Wir können gern hier sitzen bleiben und Musik hören“, sagte er, „oder wir gehen über die Straße und sehen uns den spektakulären Sonnenuntergang vom Strand aus an. Es sind ein paar Wolken am Himmel, die uns ein paar tolle Farben bescheren könnten.“

Ein spektakulärer Sonnenuntergang mit einem spektakulären Mann an der Seite. Das klang fast beängstigend. Aber Hailey war nach Florida gekommen, um ihre Komfortzone zu verlassen und ein aufregendes Leben zu leben.

„Der Strand wäre toll. Ich war noch gar nicht abends am Strand, seit ich hergezogen bin.“

„Wie hast du das denn hinbekommen?“, fragte er mit gespielt schockiertem Gesichtsausdruck. „Das sollte man am besten immer gleich sofort machen.“

„Ich wollte gern“, sagte sie und sah zur Band hinüber, die mit einem Lynyrd-Skynyrd-Klassiker begann. „Aber ich wusste nicht, wie sicher es ist, allein am Strand zu sein und dann im Dunkeln zurück zum Auto zu müssen. Man hört zwar nichts davon, dass es hier gefährlich ist, aber ich kenne mich nicht aus und möchte mich ungern in unangenehme Situationen bringen.“

„Ich glaube, das sollte wirklich kein Problem sein“, sagte Cayden, „aber natürlich ist es immer besser, vorsichtig zu sein.“

Er winkte nach der Kellnerin, um zu bezahlen. Hailey zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche, aber Cayden schüttelte den Kopf. „Ich lade dich ein.“

Sie umklammerte den Geldbeutel und sah ihm in die Augen, in der Hoffnung, dass ihr Gesicht nicht ganz so rot war, wie es sich anfühlte. „Du sollst doch nicht für mein Essen bezahlen.“

Er runzelte die Stirn. „Wenn dich ein Mann zum Essen einlädt, sollte er auch bezahlen. Wenn er das nicht macht, solltest du dich schnell von ihm verabschieden.“

Sie war von John so daran gewöhnt, alles zu bezahlen, dass sie es hier ganz genauso hatte machen wollen. John hatte ihr immer das Gefühl gegeben, sie solle dankbar dafür sein, ihn unterstützen zu dürfen. Wenn sie ihn gelassen hätte, hätte er sie finanziell genauso ruiniert wie emotional. Zum Glück war das Geld ihrer Adoptiveltern bis vor ein paar Monaten sicher angelegt gewesen. Sie räusperte sich wiederholt und musste noch einen Schluck ihres süßen Getränks nehmen, um die Bitterkeit aus der Kehle zu bekommen.

„Wenn wir es genau nehmen“, sagte sie, „hat uns allerdings Renee dazu gebracht, zusammen essen zu gehen.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie hat es vorgeschlagen, aber ich hab dich eingeladen. Also möchte ich auch gern bezahlen. Bitte.“

„Okay, ich danke dir.“ Sie steckte ihr schmales Portemonnaie zurück in die Tasche und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihr die Einladung war. „Und was wäre, wenn ich einen Mann zum Essen einlade? Wer bezahlt dann?“

Das hatte sie zwar noch nie getan, aber die neue Florida-Hailey war ja noch in Arbeit. Niemals wieder würde sie die langweilige Ohio-Hailey sein, die alles mit sich hatte machen lassen.

Cayden zuckte mit den Schultern. „Dann ist beides in Ordnung. Wenn er darauf besteht, lass ihn zahlen. Aber in dem Fall verliert er keine Punkte, wenn er es nicht macht.“ Er hielt kurz inne und sprach dann weiter. „Zumindest nicht beim ersten Mal. Wenn er beim zweiten Mal auch nicht zahlt, sieht es schon wieder anders aus. Auch wenn ich vielleicht altmodisch klinge.“

Nein, altmodisch wirkte er wirklich nicht, aber irgendetwas an ihm ließ sie denken, dass er eine alte Seele hatte. Das mochte sie.

„Ich lerne wirklich viel heute Abend“, sagte sie. „Falls ich Hilfe bei meinen nächsten Verabredungen brauche, sollte ich wohl dich fragen.“

Aber das war nur ein Witz: Sie hatte nicht vor, sich zu verabreden. Sie würde noch eine ganze Weile allein bleiben. Es gab viel Schlimmeres, als allein zu sein.

2. KAPITEL

Cayden und Hailey überquerten die Straße. Er holte noch schnell eine Decke aus seinem SUV, dann gingen sie zum Strand. Als sie den Sand erreichten, zog er sich die Schuhe aus, und Hailey tat es ihm nach. Ihre Zehennägel waren pink angemalt, und die Nägel der großen Zehen waren mit jeweils einer Palme verziert. Cayden grinste über diese kleine Schrulligkeit.

Die Brise vom Golf schlich sich in ihr langes blondes Haar und ließ es um ihr hübsches Gesicht tanzen. Im Krankenhaus trug sie die Haare in einem Zopf, für das Abendessen hatte sie sie offengelassen. Auch die Kleidung hatte sie gewechselt und trug nun eine weiße Caprihose, ein hellblaues Oberteil und schlichte weiße Stoffschuhe.

Die Augen unter ihren schweren Wimpern schienen unsicher, als ob sie überlegte, ob er wirklich gerade ihre Zehennägel angeguckt hatte. Aber da musste sie sich keine Sorgen machen – er war kein Fußfetischist. Zumindest war er es bis gerade nicht gewesen, aber diese pinken Zehennägel waren sexy. Ihre ganze kurvige Figur war sexy. Sie faszinierte ihn, seine neue Kollegin.

Er mochte Frauen und machte auch kein Geheimnis daraus, aber mit Kolleginnen ging er niemals aus. Es war viel zu kompliziert, wenn daraus nichts wurde, und es wurde niemals etwas daraus. Das wollte er nicht mehr. Er hatte ein tolles Leben, war niemals allein, wenn er sich nach Gesellschaft sehnte, und war gern und zeitlich unbegrenzt Junggeselle. Mit Frauen verbrachte er seine Zeit nur, wenn er über einen sicheren Fluchtplan verfügte.

Und wie gesagt: niemals mit Kolleginnen.

Hailey war wohl die große Ausnahme. Er hätte ihr schließlich nicht vorschlagen müssen, essen zu gehen, um über Venice Has Heart zu sprechen. Er hätte ihr einfach die Adresse der Website geben können.

„Ich dachte, hier wäre viel mehr los“, sagte Hailey, als sie, mit den Schuhen und der Decke in der Hand, über den warmen Sand liefen.

„So spät an einem Wochentag ist es meist ruhig.“ Mitten auf dem Strand blieb er stehen. „Ist es hier gut?“

Sie nickte, und er legte die Decke auf den Sand. Sie setzten sich so, dass sie in Richtung der untergehenden Sonne blickten. Er musste sehr darauf achten, nicht zu nah neben sie zu rücken.

In der Ferne kreischte eine Möwe, und dort, wo die Wellen auf den Strand trafen, huschten ein paar Wasserläufer umher. Das Licht spiegelte sich im Wasser und vergoldete den Abend, der auf vielerlei Weise zu den interessantesten Abenden gehörte, die er seit Langem erlebt hatte.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal wegen einer Frau an seiner Seite so aufgeregt gewesen war. Jedes Mal, wenn er sie sah, fuhr ihm ein aufgeregtes Summen durch den Körper. Er hatte sie bereits einmal in der Cafeteria gesehen, und gestern während der Visite war er fast über seine eigenen Füße gestolpert, um sich ihr vorzustellen.

Hailey blickte hinaus auf die kleinen Wellen, die sich gegenseitig an den Strand jagten. Sie legte die Arme um ihre angezogenen Knie und schien die entspannenden Geräusche der See zu genießen. Ihm ging es am Wasser immer selbst so, und er freute sich, dass sie genauso reagierte.

Dann drehte sie sich zu ihm. Die Sonnenstrahlen tauchten ihr Gesicht in unwirkliches Licht, und das Blau ihrer Augen schien fast elektrisch zu leuchten. „Bist du immer so nett?“

„Nö.“ In diesem Moment fühlte er sich überhaupt nicht nett, sondern eher ungezogen. „Die Netten werden die Letzten sein …“

Wie er es erhofft hatte, grinste sie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du jemals der Letzte bist.“

„Manchmal ist das schon passiert.“ Auch wenn er sich noch so angestrengt hatte.

„Du bist erfolgreicher Kardiologe und umw…“ Sie hielt inne, und ihre Wangen leuchteten heller als die untergehende Sonne.

Er konnte ahnen, was sie hatte sagen wollen, und musste grinsen. „Wie bitte?“

Eigentlich lag ihm nichts an Komplimenten, aber von ihr wollte er es doch gern hören.

Ihre Lippen zuckten. „Ich wollte sagen, dass du nicht ganz übel aussiehst, aber ich will nicht, dass du dir darauf etwas einbildest.“

Ihr Kompliment hatte seltsame Auswirkungen auf seinen Brustkorb und das Herz, das sich darin zusammenzog. Was hatte sie nur an sich, dass er sich fühlte wie in der achten Klasse?

„Ich sehe nicht ganz übel aus?“, sagte er und hoffte inständig, dass sie mehr sagen würde als das.

„Tu doch nicht so, als ob du das nicht wüsstest. Du hast doch wohl schon mal in einen Spiegel geguckt.“

Wie interessant, dass das fast wie eine Anschuldigung klang.

„Nun, das kann ich nur zurückgeben“, sagte er.

Sie war eine schöne Frau, die sich um ihr Aussehen bemühte, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass sie das gar nicht musste. Ihre natürliche Schönheit strahlte unter dem Puder und Make-up hervor.

Sie verdrehte die Augen so, dass er sich fragte, ob sie, wenn sie in den Spiegel blickte, dieselbe Person sah, die er vor sich hatte. Falls nicht, würde das erklären, warum sie immer rot anlief, wenn er ihr Komplimente machte. Ob sie wirklich nicht wusste, wie hübsch sie war?

„Gutes Aussehen hält eh nicht ewig, Hailey. Meins nicht, deins nicht. Alles, was zählt, sind die inneren Werte.“

„Das sehe ich natürlich auch so. Aber im Alltag schauen sich die Menschen das Innere nur an, wenn ihnen das Äußere gefällt.“ Das klang ernst. Wer hatte ihr denn so weh getan? Und warum wollte er ihr diesen Schmerz so unbedingt nehmen? Dabei hatten sie sich gerade erst kennengelernt, er war kein Ritter in glänzender Rüstung. Das wollte er auch gar nicht sein.

„Ich bin nicht wie die meisten, Hailey.“ Als ihr Gesicht ernst blieb, fügte er hinzu: „Frag ruhig meine Mutter, sie wird dir das bis ins Detail bestätigen.“

Endlich wurde ihr Gesicht wieder fröhlicher. „Ich weiß nicht, ob deine Mutter da besonders neutral ist. Aber ich muss sie gar nicht fragen, ich glaube dir auch so.“

„Danke?“ Er fragte sich, ob seine eigenen Wangen wohl genauso rot waren wie ihre. Und wie der Himmel. „Ich frage mich nur, ob das ein Kompliment oder eine versteckte Beleidigung ist.“

„Ein Kompliment.“ Sie lächelte, und es war ein so aufrichtiges Lächeln, dass ihm die Luft wegblieb. Dann wandte sie sich wieder Richtung Wasser. Ihr Profil wirkte im schwächer werdenden Licht wie ein Gemälde.

„Danke“, wiederholte er leise.

Sie blickte auf den Horizont, wo die Sonne versank, aber er konnte den Blick nicht von Hailey lassen. Der leichte Wind fuhr ihr durchs Haar, und sie wirkte fast durchscheinend – als wäre sie nicht echt. Und das würde ihn nicht wundern, so wenig real, wie ihm seine eigenen Gefühle schienen.

„Ich hätte wirklich schon eher herkommen sollen“, sagte sie. „Ich wohne ja gleich um die Ecke. Es ist so friedlich und wirkt ganz sicher … Jetzt ist es deine Schuld, dass ich jeden Abend hier sein will“, sagte sie.

„Wir können jederzeit wieder herkommen. Ich bin so oft wie möglich am Wasser und freue mich über Gesellschaft.“ Zumindest heute. Sonst war er lieber allein am Strand.

„Nach so vielen Jahren im Inland habe ich noch viel aufzuholen“, sagte sie und lachte. „Aber keine Sorge, ich wollte damit nicht sagen, dass wir zusammen herkommen müssen … Der Klang der Wellen ist hypnotisierend, oder?“

Ihr Lachen war genauso hypnotisierend, und gerade das sollte ihn eigentlich warnen, dass eine engere Freundschaft mit ihr keine gute Idee war.

„Sag mir einfach Bescheid, wenn du Lust auf einen Sonnenuntergang am Strand oder einen gemeinsamen Spaziergang hast“, sagte er so unverbindlich wie möglich. „Oder wir fahren zum Caspersen Beach und suchen nach Haizähnen. Das ist nur ein Stück die Küste herunter.“

Sie machte große Augen. „Haizähne?“

Er musste über ihren Gesichtsausdruck lachen. „Wusstest du nicht, dass du hier in der Hai-Hauptstadt der Welt lebst?“

„Das stand nicht in der Stellenbeschreibung. Heißt das, dass es hier mehr Haie gibt als sonst wo?“

„Ich weiß nicht, wie es mit lebendigen Haien ist“, gab er zu, „aber es gibt jede Menge Fossilien von Haizähnen. Wenn du noch nie auf Fossiliensuche am Strand warst, hast du wirklich etwas verpasst.“

„Ich komme aus Ohio“, sagte sie. „Da habe ich noch nie einen Haizahn gefunden, aber ich habe auch noch nie danach gesucht.“

Er schnalzte mit der Zunge. „Du kannst hier nicht leben, ohne mindestens einmal auf Suche zu gehen.“

Sie sah ihn verwundert an. „Liegen die wirklich einfach so im Sand?“

Er lachte. „Manchmal schon, vor allem nach einem Sturm. Aber die besten findet man im Wasser. Manchmal ist sogar ein Megalodon-Zahn dabei!“

„Ich soll im Wasser nach Haizähnen suchen?“

Er konnte es sich nicht verkneifen, sie aufzuziehen. „Solange du dich von den Zähnen fernhältst, die noch im Maul eines lebendigen Hais stecken, musst du dir keine Sorgen machen.“

Sie zog eine süße Grimasse. „Nein, da mache ich mir keine Sorgen. Von denen halte ich mich definitiv fern. Andererseits hast du mich jetzt wirklich neugierig gemacht. Würde ich wirklich etwas finden? Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein einziges vierblättriges Kleeblatt gefunden.“

„Dann wird sich dein Glück hier ändern.“

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, unschuldig und gleichzeitig verführerisch. „Allein aus Neugier würde ich gern Ja sagen, aber man weiß ja, was mit neugierigen Katzen passiert.“

„Zum Glück bist du keine Katze.“

„Angst habe ich trotzdem.“

„Dann verspreche ich dir, dich zu beschützen.“

„Ich kann mich selbst beschützen.“ Ihr Lächeln war verschwunden, und sie reckte ihr Kinn in die Luft, wie um ihn herauszufordern, ihr zu widersprechen. Gleichzeitig sah er etwas Gezwungenes in ihren Augen. Was oder wer hatte sie so empfindlich werden lassen?

Cayden sehnte sich nach der Leichtigkeit von vorhin zurück. „Auch vor Haien?“

Sie atmete tief ein, schluckte und entspannte sich wieder ein bisschen. „Die Haie überlasse ich dir.“

„Gut. Konnte ich dir also wieder mit einem hilfreichen Ratschlag zur Seite stehen.“

Dumm nur, dass er selbst nicht auf die Warnglocken in seinem Kopf hörte, sondern mit einer Kollegin am Stand saß und mit ihr flirtete.

„Auf andere hören konnte ich immer gut. Nur dass das nicht immer hilfreich ist.“ Sie seufzte und ließ ihr Kinn auf ihre Knie sinken. Sie starrte in den Sonnenuntergang. „Hier ist es so viel schöner als in meinem Auto.“

Cayden wollte gern wissen, was sie erlebt hatte, aber wahrscheinlich würde sie es ihm nicht erzählen. Es tat ihm fast weh zu hören, dass sie allein im Auto gesessen hatte.

Sie blickte zur Seite und sah ihn an. „Danke, Cayden. Fürs Essen, für die Ratschläge, für den Sonnenuntergang. Dafür, dass du mit mir Haizähne suchen gehen willst und mir so einen schönen Abend machst. Es ist schön, einen neuen Freund gefunden zu haben.“

„Ich meinte das ganz ernst – wann immer du einen Sonnenuntergang am Strand anschauen willst, ruf mich an. Dann musst du keine Angst haben, allein zu sein.“

Aber wer nahm ihm die Angst, sich immer mehr zu ihr hingezogen zu fühlen?

„Erzählst du mir von gestern Abend?“

Schon bevor Hailey einen Fuß ins Krankenhaus gesetzt hatte, hatte sie gewusst, das Renee sie nach dem Abend mit Cayden fragen würde. Sie war sich nur nicht sicher, was sie erzählen wollte. Wie konnte sie etwas erklären, was sie selbst nicht verstand?

Trotz seines Rufs als Frauenheld war Cayden der reinste Gentleman gewesen. Sie hatten Spaß gehabt, und sie hatte ihm sogar versprochen, Haizähne suchen zu gehen. Warum auch nicht? Die neue Hailey hatte keine Angst vor Abenteuern und war offen für neue Erfahrungen.

Sie fand neue Freunde, hatte ein Sozialleben und würde sich in der Nachbarschaft einbringen. Dass Cayden dabei eine Rolle spielte, war nur sinnvoll, oder? Aber was wollten diese Schmetterlinge, die wie wild in ihrem Bauch herumflatterten?

Renee würde sich nicht abspeisen lassen, und so lächelte Hailey. „Wir haben etwas gegessen, der Band gelauscht und über Venice Has Heart gesprochen. Danke, dass du das vorgeschlagen hast. Es klingt wirklich nach einem tollen Programm.“

„Ja, das ist es auch.“ Renee rieb sich die Hände. „Erzähl mir mehr. Ich bin leider glücklich verheiratet und bin, was Cayden angeht, völlig von deinen Geschichten abhängig.“

Hailey zuckte die Schultern. „Das war’s.“

Ungläubig sah Renee sie an. „Komm schon. Du warst mit dem berüchtigtsten Junggesellen des Krankenhauses essen, und so, wie er dich gestern angeschaut hat, wollte er dich am liebsten bei lebendigem Leib verspeisen. Da muss es doch noch etwas zu berichten geben.“

Hailey musste sich anstrengen, Renee nicht mit offenem Mund anzustarren. So hatte Cayden sie definitiv nicht angeschaut. Ja, ab und zu hatte er mit ihr geflirtet, aber so erfolgreich konnte ihr Umstyling gar nicht sein, dass jemand wie Cayden sich für sie interessierte.

Und sein Angebot, mit ihr Haizähne zu suchen? Nein, das war auch nicht als romantische Verabredung gedacht, sondern als freundschaftliche.

Sie war selbst überrascht gewesen, wie leicht es ihr gefallen war, sich mit Cayden zu unterhalten. Ständig hatte er sie zum Lachen gebracht, und sie hoffte wirklich, dass sie Freunde werden konnten. Dass er der attraktivste Mann der Welt war, hatte darauf keinen Einfluss. Dass ihr Körper so auf ihn reagierte, erst recht nicht.

„Du weichst mir aus“, sagte Renee. „Jetzt sag schon.“

Hailey blickte von der Akte der Patientin auf, nach der sie heute früh bereits gesehen hatte, und lächelte ihre Kollegin an, so breit, wie ihre aufgespritzten Lippen es zuließen.

„Wie du weißt, haben wir uns in der Bar getroffen, die du empfohlen hast. Das Essen war gut, die Musik auch. Er hat mir von Venice Has Heart erzählt. Ich werde bei dem Event dabei sein.“

Renee runzelte die Stirn. „Und was ist aus Drinks und einem Sonnenuntergang mit dem beliebtesten Kardiologen der Stadt geworden? Bitte sag mir nicht, dass ihr den ganzen Abend nur über die Arbeit gesprochen habt.“

„Du hast mir doch gesagt, dass schon Ansprüche auf ihn gemeldet sind, sobald er sich entscheidet, sich zu binden.“

Ob er wirklich eine Beziehung mit der Radiomoderatorin hat? Hailey hatte nicht den Eindruck gehabt.

Unbewusst tastete sie nach der Stelle, wo die Extensions an ihre Haare angebracht waren. Er hatte so ernst geklungen, als er meinte, dass Äußerlichkeiten viel zu schnell keine Rolle mehr spielten, und sie fragte sich, was er sagen würde, wenn er wüsste, was sie alles hatte machen lassen. Ob ihm die Ohio-Hailey überhaupt aufgefallen wäre? Und warum war es wichtig, dass er die Florida-Hailey bemerkte? Sie wollte keinen Mann. Sie war nicht bereit für eine Beziehung.

Renee zog die Brauen zusammen. „Ja, aber das mit Leanna wird noch lange nicht passieren. Da kannst du doch jetzt ein wenig Spaß haben.“

„Er scheint jedenfalls ein toller Kerl zu sein, so, wie er sich für die Veranstaltung einsetzt. Es war nett, mit ihm zu reden, aber ich komme gerade aus einer langen, sehr ungesunden Beziehung und will nichts anderes als Freundschaft.“

So. Vielleicht würde die Wahrheit helfen. Hailey mochte Renee und hoffte, dass aus ihrer neuen Kollegin auch eine Freundin werden würde. Mehr würde sie aber nicht verraten, damit daraus kein Krankenhausklatsch wurde.

„Jetzt muss ich nach Melvin Little sehen. Ist Sharla bei ihm?“

Renee seufzte. Sie war ganz offensichtlich enttäuscht, dass Hailey ihr nicht mehr erzählte. „Sie weicht ihrem Mann kaum von der Seite. Die beiden sind schon seit über fünfzig Jahren zusammen.“

„Da kann er sich glücklich schätzen.“

Wie es sich wohl anfühlte, jemanden zu haben, der einen so liebte? Sharla vergötterte ihren Mann, und er sie offensichtlich auch. Auf gewisse Weise erinnerte sie das an ihre Adoptiveltern. Die Eastons hatten sich auch geliebt und Hailey echte Zuneigung entgegengebracht, die sie aus ihren vorherigen Unterbringungen nicht gekannt hatte. Hailey hatte oft die Familien wechseln müssen, nachdem ihre biologische Mutter an einer Überdosis gestorben war. Falls sie selbst gewusst hatte, wer Haileys Vater war, so hatte sie das zumindest auf der Geburtsurkunde nicht vermerken lassen.

Als dann ihre Adoptivmutter an Brustkrebs gestorben war, hatte ihr Adoptivvater kaum noch ein Jahr durchgehalten. Wieder einmal hatte Hailey sich völlig allein gefühlt und sich an John geklammert, ganz egal, wie er sich verhielt. So ungesund die Beziehung auch gewesen war – sie war länger gewesen als jede Beziehung, die sie sonst in ihrem Leben gehabt hatte, und vielleicht konnte sie sich deshalb selbst dafür vergeben, dass sie sie so lang nicht hatte aufgeben wollen.

„Mir wurde gesagt“, meinte Renee, „dass Dr. Wilton sich heute morgen um Mr. Little kümmern wollte, genauso wie um den Patienten in der 204 mit dem Sinusknotensyndrom.“

Sie sah Hailey an, als würde die bestimmt mehr über Caydens Pläne wissen. Doch Hailey war so in ihre Erinnerungen versunken, dass sie ihre Kollegin eine Weile nur wortlos ansah.

Dann sagte sie: „Das ist doch prima. Der Blinddarmdurchbruch hat Mr. Little ganz schön mitgenommen, sodass wir sein Herz genau beobachten sollten.“

Dass Cayden ihr gestern schon gesagt hatte, dass er vorbeikommen würde, gestand sie Renee nicht.

„Kommst du mit mir?“, fragte sie.

Renee verschränkte die Arme. „Muss ich?“

Sie schien tatsächlich beleidigt zu sein, dass Hailey sich eine tolle Gelegenheit hatte entgehen lassen. Aber was hätte sie denn tun sollen? Mit Cayden unter dem Sternenzelt herumknutschen?

Bevor sie bei dem Gedanken wieder rot werden konnte, schüttelte sie schnell den Kopf. „Nein, du musst nicht. Ich wollte nur fragen.“

„Dann kümmere ich mich um den Papierkram, und vielleicht mache ich mir ein paar Notizen dazu, was du dir gestern Abend hast entgehen lassen. Nur weil ich gemeint habe, du sollst auf dein Herz aufpassen, heißt das doch nicht, dass du dir keinen Spaß gönnen kannst. Das Leben ist kurz. Manchmal muss man es einfach ein wenig genießen.“ Sie wackelte mit den Augenbrauen. „Oder auch ein wenig mehr, wenn du verstehst, was ich meine.“

Mit knallrotem Gesicht zog Hailey eine Grimasse. Tja, das hatte sie eigentlich niemals richtig genossen, weil es ihr eigentlich immer nur darum gegangen war, John zufriedenzustellen. Sie hatten immer gemacht, was er wollte, damit er glücklich war. Aber ihm war das auch nie genug gewesen, sodass er es im Grunde wahrscheinlich auch nicht genossen hatte.

Jetzt musste sie sich wirklich vor Renees neugierigem Blick verstecken und nach Melvin Little sehen.

Einige der Krankenzimmer auf dieser Etage waren Doppel-, einige Einzelzimmer. Ob auf Wunsch oder durch reines Glück war Mr. Little in einem Einzelzimmer gelandet. Hailey klopfte, bevor sie den Raum betrat. Der Patient bekam zwar immer noch Flüssignahrung, aber es roch nach Orangen, und Hailey entdeckte Schalenreste auf dem kleinen, beweglichen Schrank, der näher bei Sharla als bei ihrem Mann stand. Wenn die anstehende Untersuchung gute Ergebnisse brachte, konnte Melvin heute mit Schonkost zum Frühstück anfangen.

„Guten Morgen“, sagte sie und betrachtete den blassen Mann im Bett. Das Kopfteil war hochgestellt, und er hatte mehrere Kissen im Rücken. Er war Mitte siebzig, hatte dicke, weiße Haare und war viel zu dünn – mit Ausnahme seiner geschwollenen Füße und Knöchel. Gestern hatte sie ihm Kompressionsstrümpfe angezogen, was ihm gar nicht gefallen hatte, doch er war zu erschöpft gewesen, sich zu wehren.

Seine Frau Sharla saß neben dem Bett und ließ lächelnd ihre Häkelarbeit in den Schoß sinken.

„Wie geht es Ihnen heute, Mr. Little?“, fragte Hailey.

„Ich verhungere und will nach Hause.“ Er hustete, und es klang, als könnte sich Schleim in der Kehle nicht lösen.

„Was das Verhungern angeht, kann ich Ihnen hoffentlich helfen“, sagte sie. „Aber die Stationsschwester hat mir gesagt, dass Sie gestern Abend Herzflattern hatten und der Kardiologe informiert wurde.“ Als Hailey daran dachte, wo dieser Kardiologe gewesen war, als er die Nachricht erhielt, flatterte ihr eigenes Herz. „Ist das seitdem noch einmal aufgetreten?“

Mr. Little richtete sich noch ein wenig auf und schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich war das nur die Verdauung und ich ein bisschen übervorsichtig.“

„Verstehe.“ Sie hatten seinen Unterbauch chirurgisch öffnen und reinigen müssen, weil er seinen Schmerz zu lange versteckt hatte und die Entzündung sich ausgebreitet hatte. „Wie sieht die Operationswunde aus?“

Er zog die dünne Bettdecke zurecht. „Ganz gut, glaube ich. Verrückt, dass man einem so alten Mann noch den Blinddarm rausschnippeln muss. Das passiert doch sonst nur Kindern.“

„Nein, das passiert wirklich in jedem Alter.“

„Hätte ich das gewusst, hätte ich die Schmerzen besser verstanden“, murmelte er. „Ich dachte, ich würde einen Nierenstein loswerden.“

„Das tut ja auch sehr weh, deshalb verstehe ich genau, was Sie gedacht haben. Ich habe übrigens noch eine gute Nachricht, vom Frühstück abgesehen. Die Anzahl Ihrer weißen Blutkörperchen sinkt langsam, sodass Sie einer Entlassung zumindest näher rücken.“

Er sah erleichtert aus, grummelte aber trotzdem noch: „Kein Wunder bei den ganzen Medikamenten, die Sie mir verabreicht haben.“

„Sie scheinen ja zu funktionieren.“ Hailey blickte Sharla an. Sie sah müde aus, und Hailey machte eine Notiz, dass sie ihr auch ein Frühstückstablett bringen würden, damit sie mehr aß als nur die Apfelsine.

Die Farben ihrer Häkeldecke – ein warmes Rot, Orange, Goldtöne – erinnerten Hailey an den gestrigen Sonnenuntergang. „Das sieht ja toll aus.“

Sharla freute sich über das Kompliment und breitete die Decke so aus, dass Hailey sie noch besser bewundern konnte. „Meine Lieblingsfarben. Handarbeit hilft mir immer, wenn ich nervös bin. Häkeln ist die reinste Therapie. Das habe ich schon vor Jahren herausgefunden, als wir im Norden gelebt haben.“

Seit der Universität hatte Hailey keine Zeit mehr für Hobbys gehabt. Ab und zu las sie ein Buch. Ihre Adoptivmutter hatte gemalt, und Hailey hatte das auch eine Weile ausprobiert, aber in gewisser Weise war es ihr wichtiger gewesen, ihre Mutter zu beeindrucken, statt wirklich Spaß daran zu haben.

Ihre Talente hatten woanders gelegen: Sie lernte schnell, las viel, bekam Bestnoten. Aber sie hoffte, dass sie hier in Florida neue Interessen finden würde, die sie ausfüllten.

Sie untersuchte Melvin und war zufrieden mit seinem Fortschritt. Sie machte eine Notiz in der elektronischen Akte, dass er weiche Nahrung zu sich nehmen konnte, und schrieb dazu, dass morgen früh noch einmal Bluttests gemacht werden mussten. Dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zu ihrem nächsten Patienten, Larry Davis, der hoffentlich auch heute oder morgen entlassen werden konnte.

Am Spender im Flur desinfizierte sie sich die Hände und betrat dann das Krankenzimmer, wo der Patient wahrscheinlich, wie jeden Morgen, einen alten Western im Fernsehen anschauen würde. Doch stattdessen schien er fest zu schlafen.

„Guten Morgen, Mr. Davis“, sagte sie laut, um ihn nicht zu erschrecken.

Seine Brust hob und senkte sich, aber er reagierte nicht auf sie, als sie neben ihn ans Bett trat. „Mr. Davis? Ich berühre jetzt Ihren Arm.“

Sie rüttelte ihn ganz leicht, aber er wachte immer noch nicht auf. Sie fühlte nach seinem Puls. Er war da, aber schwach.

„Mr. Davis, ich bin’s, Dr. Easton. Ich höre Sie jetzt ab“, sagte sie und hoffte, dass er ihre Anwesenheit bemerkte. Sie legte den Kopf ihres Stethoskops auf seine Brust. Dann atmete sie scharf ein und zog ihr Telefon aus der Tasche, um nach Hilfe zu rufen.

Autor

Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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Tina Beckett
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