Du küsst meine Tränen fort

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Ihren Noch-Ehemann wiederzusehen raubt der schönen Chirurgin Fiona fast den Atem. Noch genauso charismatisch wie damals ist Tom, sein Lächeln noch genauso charmant - doch in seinen Augen steht eine Traurigkeit, die ihr fast das Herz bricht. Denn sie ist schuld daran …


  • Erscheinungstag 17.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717254
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

­­Fiona Saville zitterte. Es war nicht nur die ungewohnte Kälte auf der kleinen Landebahn von Hammer Springs, die sie erschauern ließ. Ein weiterer Grund war der klapprige Jeep, der auf sie zugefahren kam. Oder genauer, der Mann am Steuer.

Sie lehnte sich Halt suchend an den Rumpf der Cessna, mit der sie hergeflogen war. Es fehlte noch, dass sie vor Toms Augen zusammenklappte. Nimm dich zusammen. Du hattest zehn Tage Zeit, um dich auf diesen Moment vorzubereiten. Aber auch alle Zeit der Welt konnte nicht verhindern, dass sich ein nervöses Flattern in ihrem Magen ausbreitete und ihr die Knie weich wurden. Sechs Jahre war es her, seit sie Tom zuletzt gesehen hatte. Sechs lange, schwierige Jahre.

Tu wenigstens so, als wärst du ganz ruhig. Sie schob die Hände in die Jackentaschen und atmete tief durch. Würde Tom auf ihre entspannte Pose hereinfallen? Wahrscheinlich nicht.

Der Jeep kam wenige Meter vor dem Flugzeug zum Stehen, und die Tür wurde geöffnet. Nicht eine Sekunde ließ ­­Fiona den Mann, der langsam aus dem Auto stieg, aus den Augen.

Ihr wurde leicht schwindelig, und sie drückte den Rücken enger an den Flugzeugrumpf. Tom war immer noch … umwerfend. Eben Tom. Groß und schlank, muskulös und dennoch lässig. Wie früher trug er einfach Jeans und ein offenes Hemd unter der dicken Daunenjacke. Die zerzausten schwarzen Locken waren einem strengen Kurzhaarschnitt gewichen, aber seine grauen Augen übten noch immer die gleiche Anziehungskraft aus wie einst. Auch wenn er ­Fiona in diesem Moment kühl und kritisch musterte.

Sie seufzte leise auf. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie tat einen Schritt auf ihn zu. „Hallo, Tom. Schön, dich zu sehen.“ Das war die Untertreibung des Jahres. „Danke, dass du mich selbst abholst.“

Er hielt ihren Blick für ein paar Sekunden fest, und sofort war da diese Spannung zwischen ihnen. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, ­Fiona.“ Mit zwei Schritten war er bei ihr und schloss sie für einen kurzen Moment in die Arme.

Sie zuckte zusammen. Er roch genau wie früher. Dieser frische und dennoch männliche Duft war in ihrem Kopf für alle Zeiten mit Tom verbunden. Nur mühsam brachte sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle.

„Ist eine Weile her“, meinte er.

­Fiona brauchte einen Augenblick, bis sie ihm antworten konnte. „Stimmt. Und wie ich höre, hast du die Zeit gut genutzt. Eine eigene Kinderfachklinik. Nicht schlecht.“

„Wir haben wahrscheinlich beide viel zu erzählen“, sagte Tom. „Wie war der Flug von Auckland hierher?“

„Ein paar Turbulenzen über der Cookstraße und der Südinsel. Ein Sturm zieht auf, wahrscheinlich wird er bis heute Abend hier sein.“

„Ja, das habe ich bereits auf der Wetterkarte gesehen. Nichts Neues mitten im Winter.“ Tom schaute sie an. „Danke, dass du einspringst. Ich bin etwas in Sorge gewesen nach Jeromes Unfall und habe schon befürchtet, ich müsste die Operationen für die ganze Woche absagen.“

Er wirkte völlig entspannt, so als wäre ihr Wiedersehen nichts Besonderes. Wie schaffte er das nur? Nach ihrer schrecklichen Trennung? Das konnte doch nicht sein. Sie war gekommen, um in seiner Klinik zu arbeiten, und es schien Tom nicht im Geringsten zu berühren.

Nimm dir ein Beispiel daran. Zeig ihm nicht, wie es in dir aussieht. ­Fiona straffte die Schultern und hob den Kopf. Obwohl ihr nicht danach zumute war, zwang sie sich ein Lächeln auf das Gesicht.

„Ja, es war ein glücklicher Zufall, dass ich mich gerade jetzt bei der Agentur gemeldet habe.“ Nachdem sie nach Neuseeland zurückgekehrt war, hatte ­Fiona sich bei der Vermittlungsagentur für medizinisches Personal in Auckland nach Vertretungsstellen erkundigt. Nicht im Traum allerdings hatte sie damit gerechnet, dass ihr erster Job sie ausgerechnet in Toms Klinik führen würde.

„Ja, das war es wohl.“

Sie konnte seinen Tonfall nicht deuten. Hätte er lieber einen anderen plastischen Chirurgen engagiert? Wahrscheinlich. Aber es gab eben nur sie.

„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und bin gespannt darauf, mehr über die Klinik zu erfahren. Und zu hören, was du gemacht hast, seit ich fortgegangen bin.“

Jetzt verzog Tom das Gesicht. „Vielleicht halten wir das Ganze lieber auf einer professionellen Ebene, dann können wir diese Woche ohne Schwierigkeiten über die Bühne bringen.“

„Wir können doch nicht einfach ignorieren, dass wir ein gemeinsames Leben gehabt haben.“

Die fast flehende Anspannung in ihrer Stimme konnte ihm unmöglich entgangen sein, aber dennoch erwiderte Tom: „Nein, das können wir nicht. Aber wichtiger ist, warum du hier bist – nämlich um meinen kleinen Patienten mit deinen Chirurgiekünsten zu helfen.“

Schon klar, ich habe verstanden. Fürs Erste würde sie nachgeben, aber ­Fiona hatte sich fest vorgenommen, mit Tom über ihre gemeinsame Vergangenheit zu sprechen. Schließlich waren sie auf dem Papier noch immer verheiratet. „Bist du bei den Operationen deiner Fachärzte im OP dabei?“

„Nicht nur das. Ich assistiere sogar oft. So weiß ich am besten, wie es den Kindern geht. Außerdem sparen wir das Gehalt für einen weiteren Chirurgen.“

„Ich verstehe.“ Die Zusammenarbeit mit Tom würde also noch enger werden, als sie ohnehin gedacht hatte.

Er schaute auf seine Uhr. „Fast vier, wir sollten losfahren. Hier wird es früh dunkel.“

„Gut. Ich muss nur noch das Flugzeug sichern.“ ­Fiona ging zur Ladeluke der Cessna. Sie holte die Seile und Heringe heraus, um die leichte Maschine am Boden zu befestigen, damit der Sturm sie nicht beschädigte.

Tom würde es ihnen beiden nicht leicht machen, so viel stand fest. Aber wenn er meinte, dass er ­Fiona so einfach abwimmeln konnte, dann hatte er vergessen, wie stur sie war. Sie würde nicht abreisen, ehe sie nicht über ihre Beziehung gesprochen hatten. Sie mussten sich der Vergangenheit endlich stellen.

­Fiona warf die Ausrüstung auf den Boden. Plötzlich verspürte sie Angst. War es ein Fehler gewesen hierherzukommen?

Sie hörte Toms Stimme hinter sich. „Warte, lass mich das machen.“ Er griff nach dem Gummihammer und begann, die Haken in die harte Erde zu treiben. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie es geht.“

­Fiona nahm ihr Gepäck und trug es hinüber zu Toms Jeep. Ihre Ankunft schien ihn wirklich nicht aus der Fassung zu bringen. Nun gut, sie würde damit fertigwerden. Wie lang konnte eine Woche schon werden? Verdammt lang, wenn sie an die vergangenen zehn Minuten dachte.

­Fiona hatte nicht erwartet, dass Tom sie freudig begrüßen würde, aber seine „Lass uns professionell bleiben“-Haltung hatte sie dennoch erschüttert. Dabei war es eine typische Reaktion für ihn. Genauso hatte er immer auf Konflikte reagiert – er war ihnen aus dem Weg gegangen.

Er musste doch etwas empfunden haben, als er von ihrer Bewerbung für die Vertretung erfahren hatte? Wut oder Freude? Angst oder Hoffnung? Aber vielleicht war es ihm wirklich egal. Nach allem, was geschehen war.

­Fiona fühlte sich noch immer schuldig. Sie hatte Tom schrecklich behandelt, als sie ihn einfach so verlassen hatte. Damals hatte sie nicht mehr klar denken können. Durch ihren Anwalt hatte sie Tom eine Nachricht übermittelt, damit er wusste, dass ihr nichts zugestoßen war. So verhielt sich keine liebende Ehefrau, aber es war der einzige Ausweg für sie gewesen, um nicht völlig den Verstand zu verlieren.

Sie hatte sich oft gefragt, wie er mit ihrem Verschwinden umgegangen war. Zumindest hatte er sich keine große Mühe gegeben, nach ihr zu suchen. Hatte er sie vermisst? Oder war er auch erleichtert gewesen, dass sie ihn endlich nicht mehr drängte, über die Tragödie zu sprechen, die sie durchlitten hatten? Er wirkte heute ruhig und gelassen, aber Tom hatte seine Gefühle schon immer gut verbergen können. Gerade ­Fiona, der Frau, die ihn verlassen hatte, würde er kaum zeigen, wie es wirklich in ihm aussah. Hoffentlich würde er ihr wenigstens bei der Arbeit vertrauen, damit sie ihm beweisen konnte, dass sie wie er nur das Beste für die Patienten wollte.

Würde Tom ihr jemals vergeben oder sich auch nur ihre Erklärung anhören? Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Ihn in den ersten Minuten ihres Wiedersehens mit tausend Fragen zu bombardieren war vermutlich nicht die Lösung, egal, wie schwer es ihr fiel, nichts zu sagen.

Es hatte sie viel Überwindung gekostet, heute Morgen in Auckland ins Flugzeug zu steigen und sich auf den Weg zu machen. Aber sie musste endlich mit Tom sprechen. Die große Lücke in ihrem Leben würde sie nur schließen, wenn sie das, was geschehen war, endlich verarbeiten konnte. Sie musste aufhören davonzulaufen.

­Fiona befürchtete jedoch, dass Tom auch diesmal nicht bereit wäre, sich mit dem Ende ihrer Ehe auseinanderzusetzen. Sie würde viel Geduld brauchen – in der Vergangenheit war das nicht gerade ihre Stärke gewesen. Die erste Hürde hatte sie immerhin schon genommen. Als sie ihn sah, hatte sich ihr Herz zusammengezogen, so sehr schmerzte die Erinnerung an die Liebe, die sie für diesen Mann empfunden hatte. Ihren Ehemann, den Vater ihres Sohnes.

Den Mann, den sie verlassen hatte.

Vielleicht musste sie erst einmal sich selbst vergeben, bevor sie das Gleiche von Tom erwarten konnte.

­Fiona nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Es war unnötig zu kontrollieren, ob Tom die Cessna richtig sicherte. Sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.

Dennoch beobachtete sie ihn bei der Arbeit. Dachte er manchmal auch an die guten Zeiten, die sie miteinander erlebt hatten? Würden diese Erinnerungen zurückkehren, wenn sie die nächsten Tage zusammenarbeiteten? Ihn nach dieser langen Zeit wiederzusehen und ihm dennoch nicht wirklich nah zu sein würde sehr schmerzhaft werden. So durfte es nicht enden.

­Fiona wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Tom die Wagentür öffnete und sich neben sie setzte. Er schnallte sich an, drehte den Schlüssel im Zündschloss und hielt dann inne.

„Du zitterst ja“, sagte er und schaltete die Heizung an.

„Es liegt ja auch ziemlich viel Schnee.“ Mit dem Kopf deutete ­Fiona hinaus auf die weiß überzuckerten Berge, die die Landebahn umgaben.

„Ich habe mich wohl daran gewöhnt“, erwiderte Tom.

„Ist das der Ort?“ Sie schaute durch die Windschutzscheibe. „Die Lichter dort vorn am Fuß der Berge?“

„Ja. Und dahinter ist Jack’s Pass, die Straße führt hinauf in die Berge.“

Der Unterschied zur Landschaft, in der ­Fiona die letzten Monate verbracht hatte, hätte größer nicht sein können. Schnee statt Sand. Frostige Kälte statt glühender Hitze. Sie zog die Jacke fester um sich. „Gefällt es dir hier?“

„Meine Klinik ist nun mal hier.“ Tom zuckte mit den Schultern. „Der Ort ist mir ans Herz gewachsen.“ Seine Stimme wurde weicher, fast schien es, als hätte er zum ersten Mal über die Frage nachgedacht.

„Es ist ganz anders als Auckland.“ Eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern ließ sich mit einem Dorf kaum vergleichen.

„Ja, es ist freundlicher. Manchmal zu freundlich. Hier will jeder wissen, was die Nachbarn so tun. Aber ich fühle mich wohl.“ Tom schaute sie noch immer eindringlich an.

Was genau wollte er von ihr? Und hatte es nicht Zeit, bis sie irgendwo im Warmen waren?

„Wollen wir fahren?“, fragte sie mit leiser Stimme.

„Ja, sicher.“ Doch er fuhr noch immer nicht los.

Mit einem Anflug von Ungeduld griff ­Fiona nach seinem Arm und schüttelte ihn leicht. Gleich darauf bereute sie diese Geste. Ihn zu berühren strapazierte ihre ohnehin angespannten Nerven weiter. Er war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Sie konnte die Gefühle, die sie früher für ihn gehabt hatte, nicht einfach vergessen.

Abrupt zog sie die Hand zurück und sah aus dem Fenster. Am liebsten wollte sie sich einfach in Toms Arme werfen und an seine Brust schmiegen. Dort, wo sie sich immer geborgen und geliebt gefühlt hatte. Könnten sie doch nur die Zeit zurückdrehen.

„Gibt es noch einen anderen Grund, warum du hier bist, ­Fiona?“ Während er die Worte aussprach, fuhr Tom endlich los.

Sie blinzelte verwirrt. Plötzlich hatte er die professionelle Maske abgelegt. Jetzt durfte sie ihn mit ihrer Antwort nicht gleich wieder verschrecken.

„Ich habe mich schon lange wieder bei dir melden wollen, aber ich bin einige Jahre lang nicht in Neuseeland gewesen. Nachdem ich dann wieder zu Hause war, habe ich mich nach Vertretungsstellen umgeschaut. Als ich die Stelle in deiner Klinik gefunden habe, war ich sofort interessiert. Um dich zu sehen und um dir zu helfen“, sagte ­Fiona nachdrücklich.

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Der Job war nur ein Vorwand. Sie wäre auch ohne diese Vertretung nach Hammer Springs gekommen. Sie hatte Tom über alles geliebt und ihn dann von einem Tag auf den anderen verlassen. Es war Zeit für Wiedergutmachung, für eine Erklärung und eine Entschuldigung, falls er sie denn annehmen würde.

Tom umfasste das Lenkrad fester. Seine Hände waren verkrampft. „Erwarte nicht zu viel von mir, ­Fiona. Ich habe zu tun und wenig Zeit für private Gespräche.“

„Ich bin froh, wenn ich helfen kann“, erwiderte sie.

Bei dem Gedanken, wieder abreisen zu müssen, ohne wirklich mit ihm gesprochen zu haben, durchfuhr sie Angst. ­Fiona wollte alles tun, damit Toms kleine Patienten nicht länger als nötig auf eine Operation warten mussten, aber welchen Preis würde sie selbst für die Woche in Hammer Springs zahlen?

Die starken Gefühle, die sie für ihn hatte, waren nicht einfach verschwunden: das Vertrauen, die Zusammengehörigkeit und Nähe zwischen ihnen. Sie waren das Fundament ihrer Ehe gewesen – und ­Fiona vermisste sie schmerzlich.

„Einige deiner Patienten sind bereits eingetroffen“, erklärte Tom jetzt. „Sie freuen sich schon darauf, dich zu sehen.“ Er bog auf eine schmale Schotterstraße.

„Hat jemand Bedenken, weil so kurzfristig eine neue Chirurgin eingeteilt wurde?“

„Einige Eltern sind etwas nervös, aber das liegt eher daran, dass sie sich Sorgen wegen der Operation machen.“ Tom zögerte, bevor er weitersprach. „Dich erwartet wirklich viel Arbeit.“

„Ja, ich hab den OP-Plan ja schon gesehen. Es gibt viel zu tun.“ Und ihr würde wenig Zeit für ihre persönliche Mission bleiben. Aber sie war bereit, viel zu arbeiten, um so ihre Schuldgefühle zu bekämpfen. Und vielleicht würde es ihr auch gelingen, Tom davon zu überzeugen, dass sie ihn zu seinem eigenen Besten verlassen hatte.

Fast musste ­Fiona über sich selbst lachen. Den Mount Everest ohne Sauerstoff zu besteigen wäre vermutlich ein leichteres Unterfangen.

Tom schenkte ihr ein breites Lächeln. „Denk an die Kinder, denen du helfen kannst, ein besseres Leben zu führen.“

Es war verrückt, aber der bloße Anblick seines so vertrauten Lächelns machte ihr Hoffnung. Vielleicht konnte sie über ihre gemeinsame Sorge für die Kinder einen Weg finden, die Mauern zu durchbrechen, die Tom um sich errichtet hatte.

Wenn ihr das gelang und sie ihre gemeinsame Vergangenheit verarbeitet hatten, dann konnte sie endlich in die Zukunft schauen.

2. KAPITEL

Es war seltsam, neben Tom zu sitzen, während sie zur Klinik fuhren. Für einen Moment kam es ihr vor, als wären die vergangenen Jahre wie ausgelöscht. Aber anders als früher fehlten ihr die Worte, sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte.

Während der Fahrt vorbei an den hübschen Holzhäusern des Ortes war sie immer angespannter geworden. Tom schwieg, und sie fragte sich, was ihm durch den Kopf ging. Nach seiner verkrampften Körperhaltung zu schließen, fühlte er sich ähnlich unwohl wie sie. Sein Lächeln war wieder verschwunden.

Vielleicht würde ein wenig Small Talk ihnen beiden helfen. „Was …“

„­Fiona …“

„Du zuerst …“

„Nein, du …“, entgegnete Tom, während er den Jeep in eine breite, von Bäumen gesäumte Auffahrt lenkte.

Mit offenem Mund starrte ­Fiona auf das Krankenhaus. Sie war so überrascht, dass sie vergessen hatte, was sie sagen wollte.

„Willkommen in meiner Kinderklinik.“

„Wow! Das ist sehr beeindruckend. Und es sieht wunderschön aus.“ Vor ihnen erhob sich ein großes dreistöckiges Backsteingebäude auf einer gepflegten Rasenfläche. An den Fassaden des imposanten Baus rankte sich Efeu empor.

„Ja, nicht wahr?“ Tom entspannte sich. Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Ich hatte eher einen funktionalen Neubau erwartet, aber das sieht aus wie ein alter englischer Landsitz. Wie hast du das denn gefunden?“ Bei ihrer Trennung hatten sie auf der Nordinsel im weit entfernten Auckland gewohnt.

„Es hat den Eltern eines Kollegen gehört. Sie haben hier lange gelebt, ihre Kinder großgezogen. Und sie wollten es nicht einfach an irgendjemanden verkaufen, als sie zu alt waren, um sich um das Haus und den Garten zu kümmern. Die Idee einer Fachklinik für Kinder hat sie überzeugt, deswegen haben sie mir einen guten Preis gemacht.“

„Aber es muss trotzdem ein Vermögen gekostet haben.“

„Ja, allerdings.“

Ja, allerdings. Mehr sagte er nicht, aber ­Fiona erkannte an seinem Tonfall, dass Tom nicht weiter darüber sprechen wollte. Natürlich ging es sie auch nichts an, woher er das Geld hatte, aber sie war neugierig. Er hatte hier etwas Besonderes aufgebaut, einen Traum verwirklicht, von dem ­Fiona nicht einmal gewusst hatte. War sie zu sehr mit ihren eigenen Plänen beschäftigt gewesen, dass sie ihm nicht richtig zugehört hatte?

„Es ist wirklich großartig. Ein echtes Symbol für deine Arbeit. Etwas, was Bestand hat.“ Denn es war nicht einfach nur ein ­Gebäude, sondern eine echte Zukunft, die Tom hier aufgebaut hatte. ­Fiona selbst hingegen war in den letzten Jahren von Ort zu Ort gezogen, je nachdem, wo man sie hinschickte. Ihre Arbeit war vielleicht nicht weniger wichtig, aber sie war etwas ganz anderes als das, was Tom tat. Was sagte das über ihre gemeinsame Geschichte? Waren sie schon immer völlig verschieden gewesen, auch wenn sie doch immer das gleiche Ziel verfolgt hatten – nämlich ihren Patienten zu helfen?

Tom warf ihr einen überraschten Blick zu. Sie hatte vielleicht zu viel gesagt. „Ja, ich mag Stabilität“, erwiderte er.

Stabilität, die sie zerstört hatte. Aber Tom hatte sich davon erholt. Er hatte hier ein neues Zuhause gefunden, während ­Fiona keine Ahnung hatte, wo sie die nächsten Monate verbringen würde. Sie wusste nur, dass sie als plastische Chirurgin arbeiten würde, aber das konnte sie überall auf der Welt.

Sie warf noch einen Blick auf das Gebäude vor ihnen. Wie hatte Tom den Kauf möglich gemacht? Er hatte während des Medizinstudiums gearbeitet, um es zu finanzieren, und seine Eltern waren auch nicht sehr vermögend. Anders als ihre Familie.

„Ich hätte dich finanziell unterstützen können, wenn ich davon gewusst hätte.“ Wenn er sie um Hilfe gebeten hätte.

„Nein, ­Fiona. Das hätte nicht funktioniert.“

Er hatte ihre Hilfe nicht gewollt, natürlich. Das hier war sein Projekt, und ihr Geld hätte das zerstört. Sie hatte bereits einen großen Fehler begangen, das war genug.

„Ja, ich verstehe“, gab sie zu.

„Wirklich?“

­Fiona nickte. „Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, nur mit dem auszukommen, was ich selbst erreiche, und mich nicht mehr auf den Reichtum meines Vaters zu verlassen. Ich kann inzwischen verstehen, wie wichtig das ist.“

Mit einem Kopfschütteln erwiderte er: „Sei nicht zu streng mit dir selbst. Dass du eine gute Ärztin geworden bist, hat nichts mit dem Geld deiner Familie zu tun. Das hast du ganz alleine erreicht.“

„Danke, aber das hier …“ Sie wies auf die Klinik. „… das ist etwas ganz anderes.“ Dennoch spürte sie eine kleine Freude in sich aufsteigen. Er hatte ihr ein Kompliment gemacht.

Tom konnte nicht wissen, dass sie in den letzten Jahren gelernt hatte, wie wertvoll die Kunst des Gebens war und wie viel man zurückbekam, ohne es erwartet zu haben. Das war ihr oft passiert, und es hatte ­Fiona tief berührt. Wie die Eltern des kleinen pakistanischen Mädchens, die ihr die Hühner der Familie schenken wollten, nachdem sie das verbrannte Gesicht des Kindes operiert hatte. Bei der Erinnerung daran musste ­Fiona lächeln. Es war nicht einfach gewesen, die Hühner, die zum Lebensunterhalt der Familie beitrugen, auszuschlagen, ohne die Eltern zu beleidigen.

„Und seit wann gehört dir das Gebäude?“

„Seit fast fünf Jahren“, erklärte Tom. „Andy hat eine Stiftung ins Leben gerufen und unglaublich viel Geld aufgetrieben. Nicht nur für den Kauf, sondern auch für den Unterhalt der Klinik.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wie er das genau gemacht hat, aber es hat funktioniert.“

„Andy? Du meinst deinen Bruder Andrew?“ Der Unternehmer in Toms Familie hatte sich mit ­Fionas Vater immer blendend verstanden. In seinen Augen hatte sie vermutlich den falschen Bruder geheiratet.

„Ja, er ist in den letzten Jahren sehr erfolgreich gewesen.“

„Du aber anscheinend auch.“ Tom war es trotz der Tragödie, die sie beide getroffen hatte, gelungen, sich eine neue Existenz aufzubauen. „Ich freue mich für dich. Es sieht aus, als hättest du ein erfülltes Leben.“

„Danke. Auf jeden Fall ist es voll.“ Tom blickte über die weite Rasenfläche mit den alten Eichen.

Aber nicht erfüllt? Auch wenn ihre Ehe gescheitert war, hoffte ­Fiona, dass Tom glücklich war. Gleichzeitig stimmte es sie traurig, wenn sie an ihre eigene ungeklärte Zukunft dachte. Hör endlich auf mit dem Grübeln. Du musst nach vorn schauen.

„Und wann habt ihr den Klinikbetrieb aufgenommen?“ Es war nicht leicht, das Gespräch in Gang zu halten, aber sie würde nicht aufgeben.

„Unseren ersten Patienten haben wir vor etwas mehr als drei Jahren aufgenommen.“

„Das war sicher sehr aufregend.“ Zu gern hätte ­Fiona diesen Moment miterlebt und Toms Freude geteilt. Dieser Möglichkeit hatte sie sich jedoch selbst beraubt.

„O ja.“ Tom trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Das war der Lohn der vielen Arbeit. Manchmal habe ich geglaubt, wir würden niemals fertig werden. Ich habe damals noch eine Vollzeitstelle im Krankenhaus von Christchurch gehabt und mich daneben ständig mit den Handwerkern und Architekten beschäftigen müssen.“

„Klingt anstrengend.“ Tom war ein Mann, der sich immer voll auf seine Arbeit konzentrierte, auch wenn anderes darunter litt. Zweifellos war die Einrichtung der neuen Klinik ein Projekt, das er trotz aller Schwierigkeiten bis zum Ende durchgezogen hatte.

„Ich habe in einer Fachzeitschrift einen Artikel über deine Arbeit mit chronisch kranken Kindern gelesen“, fuhr ­Fiona fort. „Wenn sie hier Zeit mit anderen Kindern verbringen, hilft es offenbar allen. Und auch die Eltern scheinen von dem Austausch mit anderen Eltern zu profitieren. Es klang, als hättest du dir in der kurzen Zeit schon einen sehr guten Ruf erarbeitet.“

„Wir sind für die kommenden sechs Monate ausgebucht“, erklärte er stolz.

­Fiona nickte nur. Kindern zu helfen, das war immer genau das, was Tom gewollt hatte. Und wenn es ihm nach Liams Tod so ergangen war wie ihr, dann war dieser Wunsch noch größer geworden.

Er konnte nichts über die letzten Jahre wissen, die sie in fernen Ländern verbracht hatte, um Menschen in Bedrängnis und Not zu helfen. „Ich freue mich schon darauf, alles zu besichtigen.“

Tom wandte sich ihr zu. Was sah er wohl in ihr? Die Frau, die sie geworden war, oder die, die ihre Ehe beendet hatte? Würde sie ihm zeigen können, wie sehr sie sich verändert hatte? Sie wollte ihm beweisen, dass sie heute eine andere war. Nicht mehr die hilflose und egoistische Person, die ihn verlassen hatte, und auch nicht das verwöhnte Mädchen ihrer ersten Begegnung.

„Natürlich. Du bekommst eine Führung wie jeder andere auch.“ Er öffnete die Tür des Jeeps. „Hast du die Unterlagen bekommen, die meine Sekretärin für die OP-Konferenz morgen vorbereitet hat?“

Also zurück zum Dienstlichen. ­Fiona unterdrückte ihre Enttäuschung. „Ja, danke. Ich habe mir alles angesehen und gehe es heute Abend noch einmal durch. Ich glaube, ich bin auf die Fragen der Patienten oder ihrer Eltern vorbereitet. Aber den OP-Saal würde ich mir gerne vorher anschauen.“

Autor

Sue MacKay
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