Ein Engel für Charlie

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"Ein Engel", freut sich die kleine Meredith, als sie die schöne blonde Starla erblickt. Und sie tut alles, um Starla mit ihrem Papi zu verkuppeln. Denn nur ein Engel kann sein Herz heilen - und Meredith zu Weihnachten eine neue Mami schenken ...


  • Erscheinungstag 31.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773229
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Weihnachten war ganz eindeutig die Zeit der Familie. Charlie McGraw sah sich in dem liebevoll geschmückten Restaurant um. Auf der Theke neben der Kasse stand ein künstlicher Tannenbaum. Über der Durchreiche zur Küche waren beleuchtete Girlanden befestigt worden, und im Hintergrund konnte Charlie die Stimme des Wirts vernehmen, der irgendeine Melodie summte, die sich wie eine Mischung aus Jingle Bells und Yellow Submarine anhörte. Er musste lächeln und ließ seinen Blick über die Gäste schweifen.

In seiner Nähe saßen Kevin und Lacy Bradford mit ihren zwei Kindern. Gesprächsfetzen, die zu ihm herüberdrangen, verrieten ihm, dass die Familie von einem Einkaufsbummel gekommen war. Gerade noch rechtzeitig, denn das Wetter schien sich von Stunde zu Stunde zu verschlechtern. Es hatte bereits den ganzen Tag geschneit, aber erst in der letzten halben Stunde hatte es zu stürmen begonnen. Wenn Charlie nicht seinen Jeep mit Vierradantrieb gehabt hätte, wäre er mit Meredith niemals bei diesem Wetter hinausgefahren.

An einem anderen Tisch waren Forrest und Natalie Perry damit beschäftigt, den Löffel aufzuheben, den ihre kleine Tochter mit Begeisterung immer wieder auf den Boden warf, während sie dem munteren Geplapper ihres Sohnes Wade lauschten.

Charlie warf einen Blick auf seine fünfjährige Tochter. Heute Morgen hatte er ihre Haare mit einem Gummiband zusammengebunden, aber einige Locken hatten sich bereits wieder gelöst. Falls das Wetter wider Erwarten doch noch besser werden sollte, könnte er mit ihr einen Einkaufsbummel machen und versuchen, die Kleine in Weihnachtsstimmung zu bringen. Sie könnte einige Geschenke für die Großeltern aussuchen.

Da in der Vorschule die Weihnachtsferien bereits begonnen hatten, war es Meredith langweilig. Sie war ihm heute Vormittag in seiner Werkstatt auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte ihn mit Fragen bombardiert.

„Wenn ein Arzt deinen Hals aufschneidet, könnte er dann deinen Schluckauf sehen?“, fragte sie jetzt.

„Wahrscheinlich sieht er nur, wie die Muskeln sich bewegen. Ich glaube, dass ein Schluckauf aus dem Brustraum kommt“, antwortete Charlie.

„Und wenn er deine Brust aufschneidet, könnte er dann den Schluckauf sehen?“

„Vielleicht. Aber das würde ein Arzt nicht tun. Wegen eines Schluckaufs schneidet man keinem Menschen die Brust auf.“

„Wo wachsen Pommes frites?“

„Pommes frites werden aus Kartoffeln gemacht, und Kartoffeln wachsen in der Erde. In Idaho werden viele Kartoffeln angebaut.“

„Ist Idaho weit weg?“

„Es liegt in den Vereinigten Staaten.“

Sie ertränkte ein weiteres Pommes frites in Ketchup. „Wann werden wir einen Baum kaufen, Daddy?“

„Hm? Na, bald. Wir werden bald einen kaufen.“

„Das hast du schon oft gesagt, und jetzt ist bald Weihnachten.“

Charlie lehnte sich vor und wischte den Mund seiner Tochter mit der Serviette ab. „Ich weiß, Liebling, aber ich habe noch einen ganzen Haufen Aufträge, die meine Kunden zu Weihnachten verschenken wollen. Erst das eine, dann das andere.“

Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen ernst an. „Als Mommy noch bei uns und ich noch ein Baby war, hatten wir da auch einen Baum?“

Charlie wappnete sich gegen einen endlosen Strom von Mommy-Fragen. „Ja, natürlich hatten wir einen.“

„Hatten wir auch einen Engel auf der Tannenbaumspitze?“

„Wir hatten einen Stern. Den gleichen, den wir immer haben.“

Meredith steckte ein weiteres Pommes frites in den Mund und griff zu dem Buch, das neben ihr lag und ohne das sie in den letzten zwei Wochen nicht mehr das Haus verließ. Charlie hatte es ihr gekauft, und sie war so in die Geschichte vernarrt, dass er sie ihr mehrmals am Tag vorlesen musste.

„Wir könnten in die Bücherei gehen und uns ein paar Bücher ausleihen“, schlug er vor. Dieses hier kannte er bereits auswendig.

„Gibt es in der Bücherei auch Engelbücher?“

„Ich weiß es nicht. Wenn wir dort sind, werden wir Miss Fenton fragen. Das heißt, wenn die Bücherei überhaupt noch geöffnet hat. Nimm bitte auch einen Bissen von deinem Burger.“

Charlies Teller war bereits leer, während Meredith immer noch an den Pommes herumkaute und Fragen stellte. Er nahm ihren Hamburger und ließ sie abbeißen.

Sie kaute und schluckte brav, bevor sie eine neue Frage stellte. „Ist meine Mommy jetzt ein Engel?“

Charlie glaubte nicht daran, dass aus Menschen Engel werden konnten, aber er wollte keinen Glauben zerstören, der seiner Tochter Trost spendete. „Was glaubst du denn?“

„Ich finde, wir sollten eine neue Mommy für mich suchen. Du könntest Miss Fenton heiraten, Daddy. Dann könnte sie bei uns wohnen.“

„Meredith, ich kenne Miss Fenton doch kaum.“

„Und was ist mit meiner Lehrerin, Miss Ecklebe? Sie ist so hübsch und kann so schön singen.“

„Sie heißt Mrs Ecklebe. Sie ist bereits verheiratet.“

Meredith runzelte die Stirn und machte einen Schmollmund. „Oh.“

Sie schien sich offenbar in den Kopf gesetzt zu haben, eine neue Mutter zu finden. In der letzten Zeit sprach sie fast ständig davon. Aber obwohl Charlie bereits seit einigen Jahren Witwer war, hatte er keinerlei Wunsch, sich eine neue Frau zu suchen. Vielleicht würden es manche Leute nicht verstehen, aber er persönlich glaubte nun einmal nicht, dass wahre Liebe tatsächlich existierte. Er war schon einmal auf diese Legende hereingefallen, und er hatte keine Lust, dieses Desaster zu wiederholen.

Charlie legte eine Hand auf die zarte Schulter seiner Tochter. „Wir brauchen doch niemanden. Wir haben doch uns.“

Sie schlug die dichten dunklen Wimpern auf und sah ihn mit einem Blick an, der ihm zu sagen schien: Vielleicht brauchst du niemanden, ich schon.

Warum fühlte er sich auf einmal so schuldig? Es gab keinen Grund dafür. Ein Mann suchte sich nicht deshalb eine Frau, nur weil er ein einsames Kind zufriedenstellen wollte. Es wäre etwas anderes, wenn er sich selbst einsam fühlen würde.

Zugegeben, manchmal fühlte er sich einsam. Aber eben nicht einsam genug, um noch einmal den gleichen Fehler zu machen.

Aber was würde er tun, wenn Meredith fünfzehn wäre? Dieser Gedanke jagte ihm Angst ein.

Er wich Merediths prüfendem Blick aus und schaute zu den Bradfords hinüber. Sicher, sie wirkten wie die ideale Familie: Eine schöne Frau, ein Mädchen, das aussah wie seine Mutter, ein kleiner Junge, der das gleiche Kinn wie sein Daddy besaß, aber wer wusste, was zu Hause vor sich ging? Oder was nicht? Wahre und dauerhafte Liebe existierte nur in Filmen … und da sah man nie, was passierte, wenn der Alltag einbrach, Rechnungen zu bezahlen waren und Missverständnisse auftauchten. Nein, genug war genug!

Unwillkürlich schaute Charlie zu Forrest und Natalie Perry hinüber, die Händchen hielten. Falls er es nicht besser wüsste, könnte man annehmen, dass andere Paare tatsächlich glücklich waren.

Merediths Aufmerksamkeit richtete sich aufs Fenster, und er folgte ihrem Blick. Ein silberner Laster fuhr auf den Parkplatz. Die Schneeflocken wirbelten um den Truck, während er zum Halten kam. Die Worte Silver Angel waren in Metallicblau auf die Tür geschrieben. Gemalte Flügel zierten das S, ein Heiligenschein das A.

„Was heißt das, was da auf der Tür steht?“, fragte Meredith fast ehrfürchtig.

„Silver Angel. Silberengel“, erklärte er ihr.

Sie griff zu ihrem Buch. „Sieh nur! In meinem Buch sieht der Heiligenschein genauso aus!“

„Tatsächlich.“

Sie sahen zu, wie die Fahrertür sich öffnete, eine schmale Gestalt in einem Parka in den Schnee hinaussprang und dann auf das Restaurant zuging.

Die Tür öffnete sich, und der Lastwagenfahrer stampfte sich auf der Matte den Schnee von den Stiefeln ab und zog die Handschuhe aus. Ein eiskalter Windstoß zog in den Raum und drang bis zu dem Tisch vor, an dem Charlie mit Meredith saß.

Dann trat der auffallend zierliche Fahrer ein, und die Tür fiel hinter ihm zu. Als er die Kapuze seines Parkas zurückschob, fiel schimmerndes silberblondes Haar auf die schneebedeckten Schultern des Parkas. Ein Parka, unter dem sich definitiv ein weibliches Wesen verbarg. Die Frau war fast ätherisch schön, und Charlie musste zugeben, noch nie im Leben so eine Lastwagenfahrerin gesehen zu haben. Ein zartes Pink lag auf den hohen Wangenknochen, die jedem Starmodel Ehre gemacht hätten. Jetzt steckte sie die Handschuhe in die Taschen ihres Parkas und rieb sich die feingliedrigen Hände.

Es war Meredith, die hörbar die Luft einzog, doch Charlie hatte das Gefühl, er wäre es selbst gewesen. Er konnte kaum noch atmen, und seine Lungen brannten.

Die Frau zog den Parka aus und hängte ihn an einen der Garderobehaken neben der Tür. Enge verwaschene Jeans betonten ihre langen Beine und die wohlgerundeten Hüften. Ein kurzer pinkfarbener Pullover brachte ihre schmale Taille und die sanften Rundungen ihrer Brüste zur Geltung. Als sie zur Theke hinüberging, folgte ihr jeder Blick im Raum.

Sie schaute sich fast verlegen um und nickte den Familien an den Tischen kurz zu, bevor ihr Blick auf Charlie und Meredith fiel.

Charlie wusste, dass er irgendwie Luft in seine Lungen bekommen musste, wenn er nicht ohnmächtig werden wollte. Also konzentrierte er sich darauf, langsam und tief durchzuatmen. Nie hätte er zugegeben, dass er darauf gewartet hatte, dass die Frau in seine Richtung schaute. Himmel, noch nie in seinem Leben hatte er derart strahlend himmelblaue Augen gesehen. Die Frau lächelte und winkte ihnen kurz zu.

Meredith winkte entzückt zurück. „Daddy, sie ist so hübsch!“

Die junge Frau wandte sich nun Shirley Rumford zu, die ihr eine Speisekarte reichte und ein Glas Wasser auf die Theke stellte. „Was möchten Sie, meine Süße?“

Die engelsgleiche Erscheinung steckte sich das Haar hinter ihr kleines hübsches Ohr, in dessen Ohrläppchen eine Perle steckte. „Etwas Warmes. Es ist bitterkalt draußen. Was für Suppen haben Sie?“

Shirley rasselte rasch die wenigen Suppen herunter.

Die Perrys riefen Shirley ein „Auf Wiedersehen“ zu und verließen das Café. Einige Minuten später zahlten auch die Bradfords und folgten ihnen. Charlies Blick wanderte wieder zu der jungen Frau an der Theke zurück.

„Daddy, darf ich aufstehen und sie mir aus der Nähe ansehen?“, flüsterte Meredith nicht allzu leise.

Charlie, der den blonden Engel immer noch anstarrte, zuckte zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit der Kaffeetasse zu, die vor ihm stand. „Nein, es ist unhöflich, jemanden anzustarren.“

„Aber …“

„Meredith, iss deinen Hamburger auf, damit wir endlich gehen und nachschauen können, ob die Bücherei noch geöffnet hat.“

Seine Tochter ließ sich nun in die Bank zurückfallen, verschränkte die Arme vor der Brust und verzog trotzig das Gesicht. Fünf Minuten später hatte sie den Hamburger immer noch nicht gegessen.

„Du hast erst zwei Mal abgebissen“, erklärte er. „Du wirst den Hamburger aufessen, während ich zur Toilette gehe und dann die Rechnung bezahlen werde.“

„Also gut.“ Sie seufzte und griff nach dem bereits kalten Hamburger.

Charlie stand auf und ging zu den Toiletten hinüber.

Meredith wagte einen verstohlenen Blick zu der engelsgleichen Frau, die eben hereingekommen war. Sie war der hübscheste Engel, den sie je gesehen hatte. Sogar noch schöner als der Engel, der in ihrem Buch als Tannenbaumspitze diente und dann zu leben begann.

Sie schlug die Seite auf, auf der der Engel Mommy und Daddy mit Wunderpulver bestäubte und die beiden sich dann unter dem Mistelzweig küssten. In dem Bild strahlte der bunt dekorierte Weihnachtsbaum in leuchtenden Farben und drei kleine Kinder in Plüschpantoffeln und mit glücklichem Lächeln schauten den Eltern durch die Streben des Treppengeländers zu.

Falls Meredith nur einen Engel hätte, der ihren Daddy mit Wunderpulver bestäubte! Dann wäre er endlich wieder glücklich. So glücklich, wie er einmal gewesen war. Glücklich genug, um eine neue Mommy für sie zu finden. Und dann wären sie wieder eine richtige Familie, genau wie die Familie in dem Buch.

Daddy war schon lange nicht mehr richtig glücklich.

Sie klemmte das Buch unter den Arm und wandte sich dann der Engelfrau zu, die gerade ihre Rechnung bezahlte.

Und da kam Meredith eine Idee.

Als Charlie wieder zurückkehrte, fand er die Plätze am Tisch leer vor. Über die Hälfte von Merediths Burger lag immer noch auf dem Teller. Sie musste ebenfalls zur Toilette gegangen sein. Er setzte sich, schaute einige Minuten zum Fenster hinaus und sah dem Treiben der Schneeflocken zu. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und sah sich in dem leeren Café um. Schließlich stand er auf, ging zu dem schmalen Gang hinüber, in dem sich die Waschräume befanden, und klopfte an die Tür der Damentoilette. „Meredith? Bist du da drin?“

Keine Antwort.

„Meredith? Hallo?“ Er öffnete vorsichtig die Tür und rief erneut: „Meredith, bist da drin, Schätzchen?“

Verflixt, vielleicht war sie hingefallen und hatte sich wehgetan. Er öffnete die Tür noch weiter, und sein Herz sank. Der Raum war leer.

Er drehte sich rasch um und lief zurück ins Café. Meredith war immer noch nicht zum Tisch zurückgekehrt. Im ganzen Raum hielt sich kein Gast mehr auf. Shirley legte gerade Servietten auf den Tischen aus. „Shirley weißt du, wo Meredith hingegangen ist?“

Die ältere Frau schaute von ihrer Arbeit auf. „Ich dachte, sie wäre hinten bei Ihnen.“

„Nein, sie saß hier am Tisch, als ich zur Toilette ging.“

„Ich habe sie nicht gesehen, Charlie.“ Shirley wandte sich der Küche zu. „Harry hast du die kleine McGraw gesehen?“

Harry und Shirley besaßen und führten das Café bereits seit vielen Jahren. Gerüchte gingen um, dass sie mehr als nur Freunde und Geschäftspartner waren, obwohl die beiden sich nie öffentlich als Paar zeigten.

Harry stieß soeben die Schwingtür zu seinem Reich auf. „Charlies Kleine?“

„Haben Sie sie gesehen?“, fragte Charlie. Angst schwang in seiner Stimme mit und schnürte seine Kehle zu. Er atmete tief durch, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

Harry schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden gesehen. Ich war allerdings auch hinten im Lagerraum und habe kontrolliert, was nachbestellt werden muss.“

Charlie schien nicht überzeugt zu sein und lief an Harry vorbei durch die Küche bis in den Lagerraum. Nichts. Außer Kartons und Harrys Bestellliste, die auf einem Stuhl lag, war nichts zu sehen.

„Sie muss doch irgendwo sein“, murmelte er, während er wieder durch die Schwingtür hinaus in das Restaurant lief. Er schaute unter jeden Tisch, in jede Ecke, bis er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Merediths pinkfarbener Plüschmantel war nicht mehr da! Charlie starrte auf den leeren Sitz und überlegte angestrengt, was das zu bedeuten hatte. „Sie ist nach draußen gegangen!“

Ohne daran zu denken, seinen eigenen Mantel anzuziehen, rannte er zur Eingangstür hinaus. Vielleicht hatte sie keine Lust mehr gehabt, auf ihn zu warten, oder hatte aus Trotz das Lokal verlassen und wartete nun im Jeep auf ihn.

In der Erwartung – und innerlich betend –, dass seine Tochter in dem unverschlossenen Wagen sitzen würde, lief er zum Jeep und riss die Tür auf. Nichts. Kein pinkfarbener Plüschmantel. Kein Engelbuch. Keine Meredith.

Charlie schlug die Wagentür zu und sah sich auf dem verlassenen Parkplatz um. Der eiskalte Wind blies ihm ins Gesicht, und sein Herz war so schwer, als ob Bleigewichte darauf lasten würden.

Während er zum Restaurant zurücklief, suchte er den Boden nach Fußspuren ab. Dann sah er etwas auf dem Boden liegen und hob es auf. Es war ein pinkfarbener Handschuh.

Charlie drückte ihn an die Brust, während Angst und Sorge ihm die Kehle zuschnürten. Der Boden vor der Eingangstür war fast schon wieder zugeschneit, seine eigenen Stiefelabdrücke kaum noch sichtbar.

Shirley öffnete die Tür. „Haben Sie sie gefunden, Charlie?“, rief sie.

Er schüttelte den Kopf und versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, damit er klar nachdenken konnte. Es musste einen Grund geben, warum Meredith verschwunden war.

Harry, der sich einen Wollmantel übergezogen hatte, brachte Charlie seine braune Lederjacke. Charlie schlüpfte rasch hinein und steckte den pinkfarbenen Handschuh in die Tasche. Zusammen gingen die beiden Männer um das Gebäude herum und schauten auch in den Wagen, der am Rande des Parkplatzes zum Verkauf angeboten wurde. Sie sahen sogar in dem großen Müllcontainer nach.

„Es ist wohl besser, wenn ich den Sheriff anrufe“, sagte Charlie mit ruhiger Stimme. Dabei konnte er kaum noch seine Panik unterdrücken, und er hätte am liebsten losgeschluchzt. „Und ich muss in der Bücherei nachsehen.“

Shirley hatte einen besorgten Gesichtsausdruck, als sie das Restaurant wieder betraten und er sofort zum Telefon ging. Sie ergriff Harrys Arm, und die beiden sahen sich fassungslos an. So etwas war in Elmwood noch nie vorgekommen. Noch nie war ein Kind …

Charlie tippte die Nummer ein, und der Stellvertreter des Sheriffs Duane Quinn nahm ab. „Hier spricht Charlie McGraw“, stieß Charlie hervor. „Ich möchte meine Tochter als vermisst melden.“

2. KAPITEL

Die Zeit war noch nie so langsam vergangen, und noch nie in seinem Leben hatte Charlie sich so elend gefühlt. Der Sheriff Bryce Olson erschien, suchte ebenfalls Restaurant und Parkplatz ab und kam zu dem gleichen Ergebnis: Meredith war nirgends zu finden.

„Wer hat sich sonst noch im Restaurant aufgehalten?“, fragte der Sheriff, der einen Block in seinen Händen hielt und sich ab und zu Notizen machte. Der Mann schien ernsthaft besorgt zu sein, was Charlie gleichzeitig beruhigte und Angst machte. Ihm war der Ernst der Lage nur allzu bewusst.

„Die Perrys waren hier“, erklärte Shirley. „Die Bradfords auch. Und eine junge, sehr hübsche Lastwagenfahrerin. Das war alles. Das Wetter ist nicht dazu geeignet, die Leute aus dem Haus zu locken.“

Als das Wort Wetter fiel, schaute Charlie alarmiert zu einem der Fenster hinaus. War Meredith etwa in dieser Kälte davongelaufen? So etwas würde sie nicht tun, oder doch? Du lieber Himmel, sie war doch erst fünf Jahre alt. Sie konnte Gefahren noch nicht richtig einschätzen.

Hatte sie jemand draußen auf den schneeverwehten Straßen mitgenommen? Sie gegen ihren Willen in den Wagen gezerrt? Ein Horrorszenario nach dem anderen jagte durch seinen Kopf.

„Wir werden die Perrys und die Bradfords anrufen“, meinte Bryce. „Was ist mit der Frau, die Sie erwähnten? Wirkte sie irgendwie verdächtig?“

Shirley schüttelte den Kopf. „Nein, sie aß eine Suppe und trank einen Kaffee, um sich aufzuwärmen.“

Charlie wusste, wie viel perverse und geisteskranke Menschen es auf der Welt gab, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese schöne junge Frau zu ihnen gehörte. Im Fernsehen hörte man jede Woche Geschichten über entführte Kinder, denen oft Schlimmes zustieß. Ihm wurde auf einmal übel, und sein Magen zog sich krampfhaft zusammen.

Meredith musste es gut gehen! Er wusste nicht, wie er es überleben sollte, wenn seinem kleinen Mädchen etwas zustoßen sollte … oder wenn er nie erfahren würde, wo sie geblieben war …

Hör sofort auf, ermahnte er sich. Es musste eine einfache Erklärung für ihr Verschwinden geben. Sie würde bald wieder auftauchen, und er würde sich dann entscheiden müssen, ob er ihr den Hintern versohlen oder sie umarmen sollte.

Bryces Handy klingelte, und er nahm rasch den Anruf entgegen. „Hallo, Sharon“, antwortete er. Sharon war seine Assistentin. „Nichts, hm. Okay. Gib mir bitte noch die Nummern von Forrest Perry und Kevin Bradford.“ Einen Moment später schrieb er die Telefonnummern auf den Rand seines Blockes. „Also gut. Bis dann.“

„Clarey Fenton hat die Bücherei wegen des Wetters heute früher als sonst geschlossen“, erklärte Charlie. „Bereits vor einer Stunde. Duane hat alle Straßen zwischen der Bücherei und hier abgesucht. Ergebnislos.“

Nachdem er auch noch die beiden Familien angerufen hatte, die ebenfalls im Restaurant gewesen waren, steckte Bryce das Handy wieder an seinen Gürtel. „Ich werde das FBI anrufen.“

Charlie nickte benommen.

„Wir sollten nach diesem Lastwagen suchen lassen, da das die einzige Möglichkeit ist, die uns noch bleibt.“

„Der Wagen war silbermetallic und an der Tür stand ziemlich sicher Silver Angel.“

„Gut, Charlie. Das wird uns weiterhelfen.“

„Vielleicht hat sie ja auch nur versucht, nach Hause zu laufen“, überlegte Charlie laut.

„Würde Meredith denn auf so eine Idee kommen?“

„Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn. Aber wer weiß schon, was im Kopf eines kleinen Mädchens rumgeht. Es ist wohl besser, ich fahre die Straße entlang und suche sie.“

„Ich hole meinen Wagen. Dann kann sich jeder eine Straßenseite vornehmen“, schlug Harry vor.

Es waren zwei Meilen bis zu Charlies Haus. In einem Schneesturm war das ein sehr langer Weg für ein kleines Mädchen. Ein Mädchen, das weder Stiefel noch warm gefütterte Hosen trug. Charlie hatte sie vom Haus in den Jeep und vom Jeep in das Restaurant getragen.

Ungefähr alle hundert Meter stieg er aus dem Wagen aus, sah sich um und rief ihren Namen. Wenn sie dort draußen war, musste sie ihn hören.

Aber er wusste eben nicht, ob sie da draußen war. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, und das war das Allerschlimmste. Ein Streifenwagen hielt neben ihm, und Duane Quinn kurbelte das Fenster herunter. „Ich werde weiter vorne suchen, Charlie. Bryce hat bereits eine Suche in der Stadt organisiert.“

Charlie nickte. Er war dankbar, doch Verzweiflung und Selbstanklage zerrten an seinen Nerven. Er hatte Meredith zu lange in seiner Werkstatt festgehalten. Sie war allein gewesen und hatte sich gelangweilt. Er hätte sich Zeit für sie nehmen müssen, hätte einen Baum mit ihr aussuchen und ihn dann schmücken sollen. Doch stattdessen hatte er sich nur wie immer in seine Arbeit gestürzt. Arbeit half gegen den dumpfen Schmerz in seinem Inneren.

Er war nicht für sein Kind da gewesen! Er hatte wertvolle Zeit vergeudet. Was nutzte all seine Arbeit, wenn Meredith etwas zugestoßen war?

Duane fuhr wieder weiter, und Charlie sah, wie die Reifenspuren sich mit frisch gefallenem Schnee füllten. Dann wanderte sein Blick zu den kahlen dunklen Bäumen und dem schneebedeckten Boden. Unwillkürlich griff er in die Tasche und umfasste den weichen Kinderhandschuh.

Meredith könnte überall sein. Vor seinem geistigen Auge stieg ihr Bild auf, und er sah, wie ihre dunklen Locken über ihren pinkfarbenen Mantel fielen, erinnerte sich an ihre großen unschuldigen Augen. Sein geliebtes Kind, das so voller Leben und Energie war, könnte in ernster Gefahr sein! Und er war völlig hilflos.

Während der Schnee fiel und die Welt um Charlie in Schweigen hüllte, schaute er zum Himmel hinauf und betete.

„You’ve got a way with me. Somehow you got me to believe …“, sang Starla Richards zusammen mit der CD, die sie in den CD-Player gelegt hatte. Der Kaffee, den sie vorhin im Restaurant getrunken hatte, hatte ihr wieder etwas Energie gegeben. Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr am Armaturenbrett. Es waren ungefähr noch sechs Stunden bis Nashville, es sei denn, dieser Schneesturm würde noch schlimmer werden. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn so schnell wie möglich hinter sich ließ, je weiter sie nach Süden fuhr.

„I gotta say, you really got a way …“

Ursprünglich hatte sie nicht vorgehabt, die Woche vor Weihnachten Laster fahrend zu verbringen. Eigentlich hatte sie dieses neue Hummersuppenrezept ausprobieren und den Weihnachtsbaum in ihrem Apartment in Maine schmücken wollen.

Die Eröffnung ihres Restaurants war bereits in zwei Wochen, und sie hatte noch viel zu tun. Doch wie das Unglück es wollte, hatte sich ihr Dad das Bein gebrochen und ihre Hilfe gebraucht. Also lieferte Starla für ihn diese Ladung aus, für die ihn ein saftiger Bonus erwartete.

Es war jetzt drei Jahre her, seit sie das letzte Mal einen Laster gefahren hatte. Zweieinhalb Jahre davon hatte sie in einer exklusiven Kochschule verbracht und dann ihr Examen mit Auszeichnung bestanden. Starla hatte gehofft, nie wieder auf die Landstraßen zurückkehren zu müssen.

Aber ihr Vater hatte ihre Hilfe gebraucht, und die hatte sie ihm nicht verweigern können. Denn es ging um das Einzige, das er sich gewünscht hatte, seit seine Frau, ihre Mutter, gestorben war – es ging um diesen Laster.

Starla war auf Landstraßen und Highways aufgewachsen, hatte in heruntergekommenen Fernfahrerrestaurants gegessen und geduscht. Sie hatte nicht vergessen, wie man einen Laster fuhr. Sie kannte sich aus. Ob es um das Fahrtenbuch oder kleinere Reparaturen ging, ihr war alles vertraut. Als sie sich hinters Steuer dieses Lasters gesetzt hatte, war sie sofort wieder in diese Fernfahrerstimmung verfallen, als ob sie in der Zwischenzeit nie etwas anderes getan hätte.

Dieser Lastwagen war sehr viel besser ausgerüstet und komfortabler als der, mit dem sie und ihr Vater jahrelang unterwegs gewesen waren. Der Silver Angel war der Traum ihres Vaters.

Sie würde ihren Dad in einer halben Stunde anrufen, kurz bevor die Nachbarin ihm sein Abendessen brachte. Dann würde er sich den Wetterbericht anschauen und sich ausrechnen, wie weit sie wohl gekommen sein mochte. Summend stellte sie ihr Handy in das Ladegerät und achtete darauf, dass das grüne Licht aufleuchtete.

Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie drehte die Musik leiser und lauschte. Soweit sie es beurteilen konnte, war es nicht der Motor gewesen. Sie schaute in die Seitenspiegel, und nachdem sie sich versichert hatte, dass sie sich allein auf der verschneiten Straße befand, stellte sie die Musik wieder lauter.

Doch eine Minute später hörte sie erneut ein Geräusch. Diesmal noch lauter als zuvor. Ohne Zweifel – es kam aus der Schlafkabine hinter dem Sitz! Starlas Herz klopfte laut, als sie rasch das Handschuhfach öffnete und die Pistole ihres Dads herausholte. Es könnte ein Tier sein. Vielleicht hatte sich eine Katze oder ein Waschbär eingeschlichen, während sie in dem Restaurant saß und sich mit einer heißen Suppe aufwärmte. Wie oft hatte Dad ihr geraten, stets die Fahrertür zu schließen.

Starla fuhr den schweren Laster an den Straßenrand, stellte den Gang in den Leerlauf und öffnete den Sicherheitsgurt. Dann stellte sie die Musik ab und stieg über den Sitz in die Schlafkabine, in der sie gerade noch stehen konnte, und knipste das Licht an. In der linken oberen Ecke des Bettes entdeckte sie unter der Decke eine Erhebung, die zu groß war, um von einer Katze oder einem Waschbären zu stammen. Mit laut klopfendem Herzen schluckte sie nervös und richtete die Pistole auf die Stelle im Bett, unter der sich der Eindringling – was oder wer auch immer es war – befinden musste. Der Größe nach zu urteilen, konnte es kein Mensch sein. Es sei denn, es handelte sich um eine ausgesprochen winzige Person.

Etwas rührte sich jetzt unter der Bettdecke. Während Starla die Pistole ruhig in der linken Hand hielt, trat sie vor und zog entschlossen mit der rechten Hand die Decke weg.

Als Erstes sah sie ein Knäuel dunkler Locken, gefolgt von einem kleinen Gesicht und großen blauen Augen. Ein Kind! Es war ein kleines Mädchen!

Starla warf die Waffe rasch in eines der eingebauten Regale und beugte sich dann zu dem Kind hinunter. „Was um alles in der Welt machst du hier? Wie bist du hereingekommen? Wer bist du?“

Die Unterlippe des Kindes zitterte, und sein Blick glitt zum Regal und wieder zu Starla zurück. „Ich bin Meredith.“

Verwirrt und zugleich erleichtert, dass der Eindringling nur ein kleines Mädchen war, setzte sich Starla auf das eingebaute Bett. „Was bitte schön machst du in meinem Laster?“

Auf einmal schien jegliche Angst von dem kleinen Mädchen abzufallen. Es setzte sich auf, und Starla sah, dass sie einen roten Pullover trug, auf dessen Vorderseite eine Figur aus der Sesamstraße abgedruckt war. „Du musst meinem Daddy helfen.“

Obwohl Starla wusste, dass sich keine andere Person in der schmalen Schlafkabine befand, schaute sie sich trotzdem um. „Wo ist dein Daddy? Was ist mit ihm?“

„Er ist zu Hause. Und er ist traurig. Deswegen musst du ihm helfen. Wenn du ihn mit ein bisschen Wunderpulver bestäubst, wird er wieder glücklich werden. Dann wird er endlich eine neue Mommy für mich suchen.“

Starla rieb sich verwirrt die Stirn. Nicht, dass sie auch nur ein Wort begriffen hätte. „Wo bist du denn zu Hause?“

Meredith zuckte die Schultern.

„Wo wohnst du?“, fragte Starla erneut.

Autor

Cheryl St. John
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