1. KAPITEL
Unruhig ging Grace McAllister im Eingangsbereich der Notaufnahme hin und her. Erneut tippte sie eine lange Rufnummer in ihr Handy ein. Sie musste Josh Kingsley so schnell wie möglich erreichen!
Weil es in Australien bereits Sonntagabend war, hatte sie es zuerst bei ihm zu Hause versucht. Schließlich hatte sich eine Frauenstimme gemeldet. „Anna Carling.“
„Oh …“ Einen kurzen Augenblick lang konnte Grace nur noch an eines denken: Wer ist diese Frau? Und was macht sie in Joshs Wohnung? Aber dann sammelte Grace sich wieder. „Dürfte ich bitte Josh sprechen?“, erkundigte sie sich.
„Wer ist denn am Apparat?“
„Grace … McAllister. Ich bin seine … seine …“
„Schon gut, ich weiß Bescheid. Sie sind die Schwester seiner Schwägerin, stimmt’s?“
Diese Anna Carling war also nicht nur in Joshs Wohnung, sie schien sich auch noch bestens in seinem Privatleben auszukennen!
Grace umklammerte den Telefonhörer so fest, dass ihr die Finger wehtaten. „Dürfte ich jetzt bitte mit Josh sprechen?“, fragte sie noch einmal.
„Es tut mir leid, aber Josh ist im Moment nicht da. Ich bin seine persönliche Assistentin. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“
„Wissen Sie, wo er sich aufhält?“
„Er ist zurzeit in China … Hongkong, Peking oder ganz woanders. Kann ich ihm etwas ausrichten, wenn er sich wieder meldet?“
„Danke, nein.“ Was Grace ihm mitzuteilen hatte, wollte sie ihm persönlich sagen und nicht durch eine seiner Mitarbeiterinnen. Ganz egal, wie eng Anna Carling mit ihm zusammenarbeitete. „Ich müsste schon selbst mit ihm sprechen. Es ist sehr dringend.“
Statt weiter nachzuhaken, gab die Frau ihr mehrere Telefonnummern, unter denen sie Josh möglicherweise erreichen konnte. Seine Handynummer zum Beispiel und die Nummer seines Hotels in Hongkong, falls Josh dort keinen Empfang hatte. Außerdem nannte Anna ihr die Privatnummer des Niederlassungsleiters in Hongkong und sogar die Nummer von Joshs Lieblingsrestaurant.
Als sie seine Handynummer wählte, sagte ihr eine Stimme, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Dann versuchte sie es bei seinem Hotel. Aber auch dort nahm niemand ab.
Schließlich erreichte sie den Niederlassungsleiter, der ihr erzählte, dass Josh aufs chinesische Festland geflogen war. Offenbar hatte Anna ihn schon darüber informiert, dass Grace sich möglicherweise bei ihm melden würde, und ihn gebeten, sie zu unterstützen. Der Mann gab ihr die Nummer von Joshs Hotel in Peking und die seines dortigen Geschäftspartners.
Davon, dass er auch Geschäftskontakte in die chinesische Hauptstadt hatte, wusste Grace noch gar nichts. Jedenfalls hatte er bei seinem letzten Besuch in England nichts davon erzählt. Allerdings war er damals nach ein paar Stunden schon wieder abgereist, und es standen ganz andere Themen zur Debatte als seine Geschäftsbeziehungen …
Von seinem Geschäftspartner erfuhr sie, dass Josh die Stadt für einige Tage verlassen hatte und zurzeit nur über sein Mobiltelefon erreichbar war. Also war sie wieder genau dort, wo sie angefangen hatte. Immerhin lenkte die hektische Suchaktion sie davon ab, ständig darüber nachzudenken, warum sie hier im Krankenhaus war. Allerdings wurde ihr ganz mulmig bei dem Gedanken daran, was sie ihm sagen sollte, wenn sie ihn schließlich erreichte!
Diesmal hatte sie ein Freizeichen. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal … dann hörte sie seine Stimme, die ihr so vertraut und gleichzeitig so unendlich fremd vorkam. Allerdings hatte sie nur seine Mailbox dran.
„Miss McAllister …“
Grace fuhr herum. Vor ihr stand eine Krankenschwester. Grace erschauderte. Bis eben hatte sie sich dagegen gewehrt, genauer darüber nachzudenken, was gerade mit Michael passierte. Sie hatte ihren Schwager nur ganz kurz gesehen. Er hatte bewusstlos auf einer Trage gelegen, die Sanitäter hatten ihn sofort in den Operationssaal gebracht. Dann hatte man sie gebeten, zu warten.
Jetzt brauchte Grace nur einen kurzen Blick ins Gesicht der Krankenschwester zu werfen, und sie hatte die traurige Gewissheit. Ihr Schwager hatte den schweren Autounfall nicht überlebt – genau wie Graces Schwester Phoebe, die gleich am Unfallort gestorben war.
„Josh …“, brachte sie hervor. Sie hatte ihre Tränen so lange zurückgehalten, dass sich in ihrem Hals ein dicker Kloß gebildet hatte. Irgendwann wollte sie ihnen freien Lauf lassen, aber das ging jetzt noch nicht. „Josh … du musst unbedingt so schnell wie möglich nach Hause kommen!“, sprach sie ihm auf den Anrufbeantworter.
Gestern noch wäre ihr bei der Vorstellung, ihn so bald wiederzusehen, vor Aufregung schwindlig geworden. Wie damals als Teenager.
Aber Phoebes und Michaels Autounfall hatte alles verändert. Jetzt empfand Grace nur noch grenzenlose Wut. Auf das unendlich grausame Schicksal. Auf Josh, weil er die Augen vor der Wirklichkeit verschloss und sich der ganzen Familie gegenüber so beleidigt und uneinsichtig gab.
Sie hatte keine Ahnung, was er damals zu Michael gesagt hatte. Und an das, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, erinnerte sie sich kaum. Sie wusste nur noch, wie bleich er geworden war, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sich ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen ließ. Dass sie längst schwanger war und das Kind für ihre Schwester austragen wollte. Da hatte er sich wortlos zurückgezogen, das Haus verlassen und war direkt zum Flughafen gefahren.
Die Krankenschwester, die ihr jetzt gegenüberstand, war es offenbar gewohnt, mit Menschen umzugehen, die unter Schock standen. Sie legte ihr den Arm um die Schultern und bot ihr einen Tee an. Dann erkundigte sie sich, ob sie jemanden benachrichtigen könne, damit Grace mit der schrecklichen Nachricht nicht allein dastand.
„Ich habe eben schon Josh angerufen“, murmelte sie, obwohl die Frau mit dieser Aussage gar nichts anfangen konnte. „Er ist bestimmt bald hier.“
Er musste einfach herkommen!
Dann erst fiel ihr auf, dass sie das Handy immer noch ans Ohr gepresst hatte. Schnell klappte sie es zu, steckte es wieder in die Hosentasche und folgte der Schwester den Gang hinunter.
Allmählich wurde Grace klar, dass Josh es allerfrühestens in vierundzwanzig Stunden nach England schaffen würde – selbst wenn er ihre Nachricht sofort abhörte und sich gleich in das nächste Flugzeug setzte. Sie war so benommen, dass sie noch nicht wieder Auto fahren konnte. Daher rief sie ihren guten Freund Toby Makepeace an.
Wenige Minuten später war er schon bei ihr, half ihr mit den Formalitäten und brachte sie dann zu dem Haus, in dem Phoebe und Michael mit ihrem Baby gewohnt hatten. Drei Monate alt war Posie jetzt. „Ich mag dich gar nicht allein lassen“, sagte Toby.
„Mach dir keine Sorgen, Elspeth ist ja da“, erwiderte Grace. Es gelang ihr kaum, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. „Sie ist sofort hergekommen, um sich um Posie zu kümmern. Vielen Dank für deine Hilfe.“
„Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst“, erwiderte Toby sanft. „Ich helfe dir auch gern mit den Dingen, die noch anstehen …“
Grace schluckte. Darüber wollte sie jetzt lieber nicht genauer nachdenken. „Josh ist bestimmt bald hier und kümmert sich um alles.“
„Natürlich.“ Toby legte ihr kurz die Hand auf den Arm und verabschiedete sich.
Elspeth, eine Freundin von Michael und Phoebe, war sofort gekommen, um auf Posie aufzupassen, während Grace ins Krankenhaus gefahren war. Schweigend drückte sie Grace an sich. Dann kochte sie ihr einen Tee und zog sich ins Arbeitszimmer zurück, um Phoebes und Michaels Freunde und Verwandte anzurufen – auch Michaels Eltern. Seine Mutter hielt sich gerade in Japan auf, sein Vater in Frankreich.
Grace war den beiden noch nie begegnet. Seit der Scheidung hatten die Brüder Michael und Josh kaum noch Kontakt zu ihren Eltern. Immerhin kannte Elspeth sie, daher hörten sie die schreckliche Nachricht nicht von einer völlig fremden Person.
Den restlichen Tag über klingelte das Telefon ständig; alle meldeten sich auf ihre Nachrichten hin zurück – abgesehen von dem Menschen, dessen Anruf Grace am dringendsten erwartete. Trotzdem bezog sie schon mal das Bett in Joshs Souterrainwohnung frisch. Dann bereitete sie alles darauf vor, sich eine Zeit lang aus ihrem eigenen Leben zurückzuziehen.
In ihrer Wohnung im Obergeschoss sprach sie eine neue Ansage auf den Anrufbeantworter. Sie nahm ihr Laptop mit nach unten, um sich damit in den Sessel am alten gusseisernen Kochherd zu setzen, während Posie daneben im Kinderbett schlief. Sie ging die Termine für ihre Goldschmiedekurse durch und sagte allen Teilnehmern ab.
Anschließend schrieb sie Schecks über die bereits gezahlten Anmeldegebühren aus und steckte sie in adressierte Umschläge. Im Moment war sie dankbar für jede Ablenkung.
Danach kümmerte sie sich um ihre Nichte Posie. Sie badete das Mädchen, gab ihr ein Fläschchen und wechselte ihr die Windel. Die ganze Zeit wartete sie sehnsüchtig auf Joshs Anruf. Sie musste ihm unbedingt persönlich sagen, was geschehen war …
„In China ist es gerade mitten in der Nacht“, bemerkte Elspeth. Inzwischen hatte das Telefon mehrmals geklingelt, aber immer hatte sich jemand anders gemeldet. „Wahrscheinlich schläft er gerade und hört seine Mailbox erst am nächsten Morgen ab.“
„Vielleicht hätte ich doch eine Nachricht bei seinem Geschäftspartner hinterlassen sollen.“
„Ich finde, du hast dich genau richtig verhalten. Wenn du ihn gerade nicht erreichen kannst, schafft sein Partner das auch nicht.“
„Aber …“
„Außerdem ist es am besten, wenn er von dir erfährt, was passiert ist. Das sieht er bestimmt genauso. Immerhin stehst du ihm von allem Menschen auf der Welt am nächsten.“
„Warum? Er hat doch noch seine Eltern.“
Darauf ging Elspeth nicht weiter ein. „Komm, iss erst mal etwas“, schlug sie vor. „Hier steht noch eine Quiche …“
Grace schüttelte den Kopf. „Jetzt bekomme ich nichts runter.“
„Das kannst du dir aber nicht leisten. Du brauchst jetzt deine ganze Kraft, um dich um Posie zu kümmern.“
„Und was ist mit dir?“, hakte Grace nach. Immerhin hatte Elspeth gerade ihre beste Freundin verloren und fühlte sich wahrscheinlich ähnlich schrecklich. „Du bist doch schon den ganzen Tag am Rotieren, und gegessen hast du auch noch nichts.“
„Mach dir um mich mal keine Sorgen.“
„Das tue ich aber.“ Grace legte Posie wieder in ihr Bettchen. „Jetzt setz dich bitte hin, und ich koche uns beiden ein Ei.“
„Mit Toaststreifen zum Eindippen?“ Elspeth lächelte etwas angestrengt.
„Für dich doch gern. Zur Abwechslung kümmere ich mich mal um dich, einverstanden?“
„Okay, aber nur, wenn du mir versprichst, eine von den Beruhigungstabletten zu nehmen, die dir der Arzt mitgegeben hat. Du musst endlich schlafen …“
„Das geht jetzt noch nicht“, erwiderte Grace. „Erst wenn Josh mich zurückgerufen hat.“
„Aber danach legst du dich gleich hin, ja?“
„Versprochen.“ Und weil sie wusste, dass Elspeth sonst nichts essen würde, zwang sie sich dazu, ein Ei auszulöffeln und danach sogar noch einen Joghurt.
Dann ließ sie sich ein Bad ein. Fast wäre sie in dem angenehm warmen Wasser eingeschlafen, wenn Posie nicht unruhig geworden wäre. Grace kam es so vor, als ahnte die Kleine, dass ihre Welt aus den Fugen geraten war. Um das Kind mit dem vertrauten Duft ihrer Mutter zu beruhigen, zog Grace sich Phoebes Bademantel über, schmiegte das Baby an ihre Schulter und ging mit ihr den Flur entlang. Mit jedem Schritt hoffte sie, dass das Telefon endlich klingeln würde …
Mehrere Stunden später, als die Sonne auf der anderen Seite der Erdkugel längst aufgegangen sein musste, wählte Grace erneut die Handynummer von Josh. Aber auch diesmal erreichte sie nur den Anrufbeantworter. „Josh, wo bist du?“, rief sie verzweifelt in den Hörer. „Ruf mich doch bitte zurück!“
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Natürlich.
„Michael ist tot, Josh“, brachte sie hilflos hervor. „Und Phoebe ist tot. Posie braucht dich!“
Schnell schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sonst hätte sie Josh noch gesagt, dass sie ihn ebenfalls brauchte. Sie hatte ihn schon immer gebraucht, wusste aber, dass Josh sehr gut ohne sie sein konnte. Und selbst in einer Ausnahmesituation wie dieser hatte Grace immer noch ihren Stolz.
„Hat Grace McAllister dich inzwischen erreicht, Josh?“, erkundigte sich Anna Carling.
In Nepal hatte Josh einen Direktflug nach Sydney gebucht. Dort angekommen, war er erst mal ins Büro gefahren, um sich auf den neuesten Stand zu bringen, bevor er sich zu Hause schlafen legte.
„Wie bitte?“ Er runzelte die Stirn und blickte von der Liste mit Nachrichten auf, die seine Assistentin in seiner Abwesenheit aufgeschrieben hatte. „Grace hat angerufen?“
„Ja, Sonntag letzte Woche. Ich habe ihr deine Nummern in Hongkong gegeben. Und dann auch noch deine Handynummer, weil du ja meintest, dass du die ganze Zeit unterwegs sein würdest“, erklärte sie. „Ich hoffe, das war in Ordnung. Grace meinte, es sei sehr dringend.“
„Ja, natürlich, du hast dich ganz richtig verhalten“, beruhigte er sie. Dann wurde er nachdenklich. Was hatte Anna da eben gesagt, Grace hatte letzte Woche angerufen? Am Sonntag war er noch im Himalaja gewesen und hatte dort viel an seinen Bruder Michael gedacht … und an Grace.
Sein Handy hatte ihm zwar angezeigt, dass ihm jemand auf die Mailbox gesprochen hatte, aber das hatte er einfach ignoriert … und dann war ihm das Gerät auch noch in eine Felsspalte gefallen.
„Ich habe mein Handy im Himalaja verloren“, sagte er zu Anna. „Besorgst du mir bitte ein neues? Und hat Grace dir gesagt, worüber sie mit mir sprechen wollte?“
„Nein, sie meinte nur, es wäre dringend. Aber ich würde nicht ausgerechnet jetzt zurückrufen, in England ist es gerade mitten in der Nacht“, erinnerte Anna ihn, als er bereits auf die Kurzwahltaste gedrückt hatte.
„Ich weiß. Aber wenn sie versucht, mich zu erreichen, muss es wirklich dring…“ Er unterbrach sich, als am anderen Ende sofort der Anrufbeantworter ansprang.
„Dies ist der Anschluss von Grace McAllister. Leider kann ich momentan keine Anrufe entgegennehmen. Aufgrund eines plötzlichen Todesfalles in der Familie finden zurzeit keine Goldschmiedekurse statt. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte meiner Webseite.“
Josh erschrak. Wegen eines Todesfalles? Er erschauderte und musste sich am Schreibtisch festhalten. Plötzlich war ihm schwindlig geworden. Oh nein, dachte er. Posie!
Ja, wahrscheinlich ging es um Posie. Babys waren so zart, so anfällig für Unfälle und Krankheiten. Hirnhautentzündung, plötzlicher Kindstod … überall lauerten Gefahren. „Anna, sag bitte alle meine Termine ab“, wies er seine Assistentin an. „Und dann buch mir so schnell wie möglich einen Flug nach London.“
Als Nächstes wählte er die Nummer seines Bruders.
Die Frauenstimme am anderen Ende kam ihm zwar bekannt vor, aber es war eindeutig weder Phoebe noch Grace. „Hallo, hier spricht Josh Kingsley“, meldete er sich.
Er hörte Stimmengewirr, und dann hatte er sie am Telefon: Grace.
„Josh …“
Kaum hatte sie seinen Namen ausgesprochen, waren die Gefühle wieder da, die er schon so lange zu verdrängen versuchte. Besonders gut war ihm das noch nie gelungen. Gerade im vergangenen Jahr hatte er Grace einfach nicht vergessen können …
„Ich habe die ganze Zeit verzweifelt versucht, dich zu erreichen“, sagte sie.
„Ich habe eben bei dir angerufen und die Nachricht auf deinem Anrufbeantworter gehört“, erwiderte er ohne eine weitere Erklärung. „Was ist denn passiert? Wer … wer ist gestorben?“
Er hörte, wie sie zitternd nach Luft rang.
„Grace!“
„Michael und Phoebe hatten einen Autounfall … sie sind beide … tot!“
Einen Moment lang fand Josh keine Worte. Mein Bruder ist tot, dachte er. Tot! „Wann … ist das passiert?“
„Sonntagmorgen. Ich habe immer wieder versucht, dich zu erreichen, in Sydney, in China und auf dem Handy. Aber du hast dich nicht zurückgemeldet. Da dachte ich schon … ich …“
„Nein!“ Heftig stieß er das Wort aus. Er wusste sofort, was sie angenommen hatte – nämlich dass er sie absichtlich ignorierte. Und obwohl er gut nachvollziehen konnte, wie sie zu dieser Vermutung kam, tat es weh, das zu hören.
Grace war überglücklich über ihre Schwangerschaft gewesen. Darüber, dass sie ein Baby für ihre Schwester im Bauch trug. Sie hatte einfach nicht verstanden, warum Josh sie damals unbedingt davon abhalten wollte. Und er war nicht in der Lage gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Was genau ist passiert?“
„Die Polizisten meinten, das Auto sei auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern geraten, durch einen Zaun gerast und dann den Abhang hinuntergestürzt. Es ist ganz früh am Morgen passiert, niemand hat etwas davon mitbekommen …“
„Und … was ist mit dem Baby?“, hakte er atemlos nach. „Was ist mit Posie?“
„Wie meinst du … nein!“, erwiderte sie schnell. „Sie war nicht mit im Wagen, sondern zu Hause bei mir. Michael und Phoebe hatten einen Wochenendausflug gemacht. Es war ihr Hochzeitstag. Aber sie konnten es nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen, darum sind sie besonders früh losgefahren …“
Josh schlug sich die Hand vor den Mund, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken.
„Josh?“
„Ja, ich bin noch da“, brachte er schließlich hervor. „Wie geht es dir? Wie schaffst du das alles?“
„Atemzug für Atemzug“, erwiderte sie. „Minute für Minute. Stunde für Stunde …“
Am liebsten hätte er ihr gesagt, wie leid ihm das alles tat, aber die Worte, die ihm dazu einfielen, kamen ihm leer und bedeutungslos vor. Außerdem wusste sie wahrscheinlich sowieso, wie es ihm gerade ging, nämlich ähnlich wie ihr selbst. Schließlich hatte sie ihre Schwester verloren – und er seinen Bruder.
Bloß hatte er im Gegensatz zu ihr eine riesige Schuld auf sich geladen …
Josh beschloss, ganz sachlich an die Sache heranzugehen. „Hast du gerade jemanden bei dir, der dich unterstützt?“, erkundigte er sich. „Und was muss als Nächstes geregelt werden? Wann ist denn die …“ Er konnte das Wort Beerdigung nicht aussprechen.
„Wir haben sie am Freitag begraben. Dein Vater wollte nicht mehr länger damit warten. Und da du nicht zurückgerufen hast und wir dich nirgends erreichen konnten …“ Er hörte, wie sie schluckte. Offenbar kämpfte sie gegen die Tränen an. „Wo warst du eigentlich?“, sagte sie dann. Es klang wütend.
„Grace …“
In diesem Moment kam Anna Carling zu ihm ins Büro. „Unten wartet ein Taxi“, sagte seine Assistentin und reichte ihm ein neues Handy. „Du musst sofort los, wenn du den nächsten Flug nach London kriegen willst.“
„Grace? Ich fahre jetzt zum Flughafen“, sagte er in den Hörer. „Atme bitte weiter, bis ich bei dir bin, okay?“
Grace schloss die Augen und lehnte sich gegen die Wand.
Elspeth nahm ihr das Telefon aus der Hand. „Leg dich wieder hin. Vielleicht kannst du jetzt endlich ein paar Stunden durchschlafen“, sagte sie mit sanfter Stimme. Dann gab sie ihr das Röhrchen mit den Beruhigungstabletten. „Wenn Posie aufwacht, kümmere ich mich um alles. Im Kühlschrank steht ja genug Milch, die kann ich schnell warm machen. Das kriege ich schon hin.“
„Ich weiß.“ Grace schob sich das Röhrchen in die Hosentasche. Auf gar keinen Fall wollte sie die Tabletten nehmen. Sie hatte Angst davor, aufzuwachen und einen kurzen Moment lang anzunehmen, sie hätte alles nur geträumt. Um dann alles noch mal von vorn durchmachen zu müssen. Das sagte sie Elspeth allerdings nicht. Stattdessen drückte sie die Freundin einfach an sich. „Danke. Vielen Dank für alles.“
Josh betrachtete das dreistöckige Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das sein Bruder Michael gekauft hatte, als er Phoebe McAllister geheiratet hatte. Mit seinen vielen Zimmern, dem Keller und dem Dachboden bot es viel Platz für eine große Familie. Eigentlich hatten sich die beiden viele Kinder gewünscht …
Stattdessen waren er und Grace hier eingezogen. Er war damals siebzehn gewesen. Seine Eltern hatten sich gerade getrennt und waren in erster Linie mit sich selbst und ihren neuen Partnern beschäftigt – da wollten sie sich nicht auch noch mit einem launischen Teenager befassen. Grace war drei Jahre jünger gewesen, also vierzehn. Ihr hätte sich als einzige Alternative wohl das Waisenhaus geboten.
Ein frisch verheiratetes Paar hatte normalerweise andere Pläne, als sich erst mal um zwei Jugendliche zu kümmern. Und trotzdem nahmen sie Michaels jüngeren Bruder und Phoebes jüngere Schwester ganz selbstverständlich bei sich auf. Josh bekam seine eigene Wohnung im Keller und Grace ihr erstes eigenes Zimmer.
Damals war sie ein blasses, schmales Kind, während die gleichaltrigen Mädchen bereits mit ihren weiblichen Rundungen kokettierten und ihren Charme bei den Jungen an der Schule spielen ließen. Aber Graces grüne Augen, die je nach Stimmungslage wild funkelten oder dunkel schimmerten, ließen schon immer vermuten, was für ein tiefgründiger Mensch sie war.
Ihre Augen waren überproportional groß, genau wie ihre Nase und ihr Mund. Und damals, als sie noch nicht gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen, hatte man in ihnen lesen können wie in einem Buch.
Gleich würde Josh wieder in genau diese Augen sehen.
Was für ein Tag war heute eigentlich? Dienstag? Und war es jetzt sieben Uhr abends oder sieben Uhr morgens?
Während er um die halbe Erde geflogen war, hatte er versucht, die schreckliche Nachricht vom Tod seines Bruders sacken zu lassen. Und auch Phoebe hatte er verloren, die für ihn so etwas wie eine große Schwester gewesen und in schweren Zeiten für ihn da gewesen war.
Für die harten Worte, die er vor einem Jahr ausgesprochen hatte, würde er sich nicht mehr entschuldigen können. Er hatte an seinem Ärger festgehalten, um damit etwas zu verbergen, das er sich selbst nicht eingestehen wollte …
Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich seinen Schuldgefühlen hinzugeben. Grace brauchte ihn, und das Baby brauchte sie beide.
Er ging auf die Eingangstür zu und betrachtete Graces Lieferwagen mit dem Schriftzug ihres Schmuckgeschäftes. Daneben hatte sonst immer das Auto seines Bruders gestanden. Jetzt parkte dort ein roter Kleinwagen. Erneut wurde Josh bewusst, was passiert war.
Er atmete tief durch und ging die Stufen zur Haustür hoch, wie so viele Male zuvor. Und trotz der warmen Frühlingssonne und der leuchtend gelben Tulpen, die links und rechts in Blumenkübeln blühten, kam es ihm vor, als würde das ganze Haus Trauer tragen.
Am Ende seines letzten Besuches hier hatte er seinem Bruder sämtliche Schlüssel zum Haus und seiner Wohnung im Keller auf den Schreibtisch geworfen. Als Zeichen dafür, dass er sich hier nie wieder blicken lassen wollte. Jetzt würde er zum ersten Mal anklopfen müssen, seit er als Siebzehnjähriger eingezogen war. Gerade wollte er den antiken Klopfer betätigen, da öffnete von innen jemand schwungvoll die Tür.
Grace! dachte er im ersten Moment und wollte sie instinktiv umarmen. Aber vor ihm stand eine fremde Frau.
Das war ja klar. Warum sollte Grace ihn auch begrüßen? Schließlich hatte sie ja Toby Makepeace, der sie jetzt tröstete, der immer für sie da war. Zumindest war das bei Joshs letztem Besuch so gewesen.
Die Frau, die ihm stattdessen die Tür geöffnet hatte, war ein paar Jahre älter, außerdem kam sie ihm bekannt vor. War das nicht eine Freundin von Phoebe? Wie hieß sie doch gleich – Elizabeth? Oder Eleanor?
Die Frau legte einen Finger auf die Lippen. „Grace ist in der Küche auf einem Stuhl eingeschlafen. Ich will sie auf keinen Fall wecken. Sie hat schon so lange nicht mehr richtig geschlafen und ist völlig erschöpft.“
Er nickte.