Ein Kind für Dr. Kendrick

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"Tom?" Abbys Erleichterung, dass nach einem Erdbeben endlich Hilfe kommt, wandelt sich in Entsetzen. Denn Notarzt Tom Kendrick war nicht nur ihre große Liebe. Er ist auch der Mann, der niemals hinter ihr Geheimnis kommen darf. Aber jetzt bleibt ihr leider keine Wahl …


  • Erscheinungstag 22.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718251
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Was ist denn so interessant da draußen, Abby?“

„Nichts.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte Abigail Miller sich wieder der jungen Frau zu.

Ihre Antwort war im Grunde nicht ganz ehrlich gewesen, denn es gab eine Menge zu sehen, wenn man aus dem Fenster des Kaimotu-Inselkrankenhauses blickte. Das lang gestreckte, moderne Gebäude mit den Untersuchungsräumen und dem OP war an das malerische, alte Holzgebäude angebaut worden, das seit Jahrzehnten als medizinisches Versorgungszentrum genutzt wurde.

Die Lage und damit auch der Blick waren großartig. Auf einer kleinen Anhöhe gelegen, thronte das Krankenhaus über der Stadt und bot Patienten wie Mitarbeitern eine atemberaubende Aussicht auf den Hafen, der inmitten einer Bucht aus Vulkangestein lag. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein endloser weißer Sandstrand.

Wie so oft im April war auch heute ein wundervoller, frischer Tag mit einem strahlend blauen Himmel über dem tiefblauen Ozean. Der Sandstrand wurde von riesigen Pohutukawa-Bäumen gesäumt, die in diesem Jahr ungewöhnlich lange ihre roten Blüten behalten hatten.

Von ihrem Fenster aus hatte Abby einen guten Blick auf die Hauptstraße des Ortes, wo Insulaner und einige Touristen plaudernd vor den malerischen Läden standen und das entspannte Leben auf Kaimotu Island genossen.

Auch nach fast sechs Jahren liebte Abby noch immer diese Aussicht und konnte sich gar nicht sattsehen an der Idylle ihrer Wahlheimat. Trotzdem wusste sie, dass sie nicht dafür bezahlt wurde, aus dem Fenster zu schauen. Vor allem an diesem Tag hatte sie Wichtigeres zu tun. Das Wartezimmer war voll, und Ben McMahon, der einzige Arzt auf der Insel, machte gerade einen Hausbesuch.

Abby hatte viel Mühe und Zeit investiert, um sämtliche Mütter mit Babys und Kleinkindern in die Sprechstunde zu locken. Ihr war es ein besonderes Anliegen, dafür zu sorgen, dass alle Kinder auf der Insel über einen ausreichenden Impfschutz verfügten. Um Ben, der ohnehin völlig überarbeitet war, zu entlasten, hatte sie sich fest vorgenommen, fertig zu sein, wenn er zurückkam.

Ruth hielt ihr sechs Wochen altes Baby Daisy im Arm und versuchte gleichzeitig, ihren sehr lebhaften knapp zweijährigen Sohn Blake im Zaum zu halten, der gerade auf die Untersuchungsliege klettern wollte.

„Möchtest du da rauf?“, fragte Abby und hob den kleinen Jungen hoch. „Aber du musst ganz still sitzen bleiben. Wenn du herunterfällst, haben wir beide ein Problem.“

Mit seinen zwei Jahren war Blake längst überfällig für die Schutzimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln. Bei Baby Daisy stand die Polio-Impfung an.

Blake strahlte Abby gut gelaunt an, doch sie wusste nur zu gut, dass er in wenigen Augenblicken weinen würde. Abby tat es immer in der Seele weh, den Kindern Schmerzen zuzufügen, doch natürlich wusste sie, dass es nicht zu ändern war. Der Schutz der Kleinen ging nun einmal vor. Zum Glück ließen die meisten sich nach der Spritze schnell mit einer Tapferkeitsmedaille oder einem zuckerfreien Lutscher beruhigen.

Abby arbeitete seit Jahren als leitende Krankenschwester im Kaimotu-Hospital. Sie war sehr effizient und professionell und erlaubte es sich niemals, dass persönliche Gefühle ihre Arbeit beeinträchtigten. Was war also heute los? Warum war sie so unruhig?

Während sie zum Kühlschrank ging, um den Impfstoff zu holen, schaute sie noch einmal verstohlen nach draußen.

Ruth stand auf und trat ebenfalls ans Fenster. Nach einigen Sekunden runzelte sie die Stirn.

„Du hast recht“, sagte sie zu Abby. „Irgendetwas stimmt nicht.“

„Ja, nicht wahr?“ Abby wärmte gerade die kleine Glasampulle ein wenig an. „Es ist anders als sonst.“

„Aber es ist nichts Ungewöhnliches zu sehen.“

„Nein. Es ist so ein Gefühl, als wäre man in den Urlaub gefahren und könnte nicht aufhören darüber nachzudenken, ob man wirklich das Bügeleisen ausgestellt hat. So eine Art dunkle Vorahnung.“

Ruth lachte. „Ich habe gar kein Bügeleisen. Wir sind schon froh, wenn unsere Solarzellen genügend Strom für die Waschmaschine liefern.“

Die beiden Frauen lachten.

„Schon meine Großmutter hat immer gesagt, ich würde mir zu viele Sorgen machen“, gab Abby zu. „Sie fand, ich würde immer alles schwarzsehen und mich nur wohlfühlen, wenn ich etwas zum Grübeln hätte.“

Sie war tatsächlich eine Expertin, wenn es darum ging, immer und überall potenzielle Katastrophen zu sehen. Schon seit sie drei Jahre alt war, hatte Abby diese zerstörerische Angewohnheit. Sie malte sich jedes nur mögliche Unglück aus und traf dann alle erdenklichen Vorkehrungen, um es zu verhindern.

„Vielleicht liegt es an dem Erdbeben vor ein paar Wochen“, mutmaßte Ruth. „Das hat uns alle ganz schön aufgeschreckt. Der alte Squid redet seitdem von nichts anderem mehr als von dem ‚ganz großen Beben‘, das uns unmittelbar bevorsteht. Einige der letzten Sommer-Touristen sollen sogar wegen seiner düsteren Vorhersagen abgereist sein.“

Abby schüttelte den Kopf. Es hatte schon seit Generationen kein wirklich schweres Beben mehr auf Kaimotu gegeben. Auch wenn Squid Davies, der älteste Fischer der Insel, nicht aufhören konnte zu unken, dass es schon bald eines geben werde. Die Vorzeichen waren angeblich genau dieselben, die sein Großvater ihm immer geschildert hatte.

Doch die letzten Beben waren nur minimal gewesen. Nichts Besonderes für jemanden, der in Neuseeland aufgewachsen war.

„Jack erzählte, sie hätten in der Schule viel Spaß bei der Erdbebenübung gehabt. Den ganzen Nachmittag hat er ‚Hinlegen, Schutz suchen, festhalten!‘ vor sich hin gesungen. Die Kinder mussten sich wie die Sardinen unter ihren Pulten zusammenquetschen.“

Abby knickte den Kopf der Glasampulle ab und zog die Spritze auf.

„Ah …“ Ruth nickte. „Jetzt verstehe ich.“

„Was verstehst du?“

„Warum du so unentspannt bist und dauernd nach draußen guckst.“

Abby runzelte die Stirn. Gerade hatte sie Daisy die Injektion geben wollen, doch nun sah sie Ruth fragend an.

„Jack ist gerade erst eingeschult worden, und er ist dein einziges Kind. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als meine Älteste zur Schule kam. Man überlegt den ganzen Tag, ob die Lehrer auch gut genug auf den kleinen Schatz aufpassen.“

„Ich arbeite wieder, seit Jack drei war. Er ist schon ungefähr sein halbes Leben tagsüber in Spielgruppen und im Kindergarten.“

„Mag sein, aber heute ist der große Schulausflug in der Grundschule. Meine Töchter Brooke und Amber sind auch dabei. Sie wandern erst zu den Schiffswracks und besichtigen dann noch die alte Kupfermine.“

„Hm.“ Abby biss sich auf die Lippe. „Ich wäre gerne mitgegangen, aber der Impftermin stand schon lange vorher fest, und nachdem ich so dafür geworben hatte, wollte ich ihn nicht verschieben.“

Ruth hatte recht. Die Angst um ihren geliebten kleinen Sohn war zweifellos der Grund für ihre Unruhe. Sie musste sich nun wieder auf ihre Arbeit konzentrieren.

Aus dem Wartezimmer war das laute Gebrüll eines Kindes zu hören. Hoffentlich verlor keine der Mütter die Geduld und ging wieder nach Hause. Bens jüngere Schwester Hannah kümmerte sich darum, die Kleinen im Wartezimmer bei Laune zu halten, doch was konnte eine gutmütige Siebzehnjährige schon gegen einen ganzen Raum voller unruhiger Kleinkinder ausrichten?

Ruth war genau der Typ Mutter, den Abby mit ihrer Kampagne erreichen wollte. Da Kaimotu Island sehr abgelegen war, hatte es von jeher eine große Anziehungskraft auf Aussteiger besessen. Ruth und ihr Mann Damien lebten mit ihren sechs Kindern in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon, den sie sich ausgebaut hatten. Ihre Nahrungsmittel bauten sie überwiegend selbst an, und die wenigen Dinge, die sie sonst noch brauchten, finanzierten sie durch die Herstellung von Töpferwaren, die sie im Sommer an die Touristen verkauften.

Früher waren Ruth und Damien entschiedene Impfgegner gewesen, doch seitdem eine ihrer älteren Töchter im vergangenen Jahr so schwer an Masern erkrankt war, dass sie zur Behandlung aufs Festland geflogen werden musste, hatten sie ihre Meinung geändert.

Glücklicherweise war Kaimotu Island nicht so abgelegen, dass eine Notfall-Evakuierung aufs Festland unmöglich war. Abby war im dritten Monat schwanger gewesen, als sie auf die Insel gezogen war, und hatte große Angst vor Schwangerschaftskomplikationen gehabt. Doch dank der herausragenden medizinischen Fähigkeiten von Dr. Ben McMahon und dem Wissen, dass notfalls innerhalb von weniger als einer Stunde ein Rettungshubschrauber da sein würde, hatte sie sich schnell wieder beruhigt.

Wie befürchtet, erschrak die kleine Daisy, als Abby ihr die Spritze gab. Nach einer Schrecksekunde fing die Kleine an, ohrenbetäubend zu heulen. Blake, der große Bruder, wich ängstlich zurück und sah Abby entsetzt an. Abby ärgerte sich, dass sie ihn nicht als Ersten geimpft hatte. Baby Daisy war noch zu klein, um zu verstehen, dass die nette Krankenschwester ihr wehtun würde.

Ruth bot Daisy die Brust an, und prompt beruhigte das Baby sich und nuckelte zufrieden.

Abby nahm einen Lutscher aus ihrer Schublade und hielt ihn Blake hin.

„Für mich?“, fragte der kleine Junge hoffnungsvoll.

„Ja, gleich“, versprach Abby.

„Nein! Jetzt!“

Abby versuchte, beruhigend zu lächeln, doch die Stimmung im Behandlungszimmer war angespannt. Als sie Blakes Akte von ihrem Schreibtisch nahm, fiel ihr Blick auf das Foto, das in einem Bilderrahmen neben dem Telefon stand.

Ihr Sohn Jack grinste sie verschmitzt an, seine Schultüte stolz im Arm und den Ranzen auf dem Rücken. War es wirklich erst wenige Monate her, seit er eingeschult worden war? Sofort fühlte Abby sich besser. An ihren wundervollen kleinen Sohn zu denken, half ihr immer, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wegen Jack war sie auf die Insel gekommen, denn nichts war ihr wichtiger, als ihm ein sicheres, geborgenes Zuhause zu bieten. Er sollte den bestmöglichen Start ins Leben bekommen.

Abby freute sich darüber, dass er heute diesen Ausflug machte. Für Jack war es ein richtiges Abenteuer, mit seinen Freunden die alte Mine zu erkunden. Die Lehrer würden bestimmt gut auf ihn achtgeben. Energisch schob Abby unliebsame Gedanken an Jack, der sich womöglich in der Mine verirrte, beiseite. Sie musste damit aufhören, immer und überall mögliche Probleme zu sehen. Leider konnte sie ihre Ängste nicht vollkommen abschütteln. Seitdem Jack laufen konnte, hielt er sie mit seiner Energie und seinem unerschrockenen Forscherdrang auf Trab.

Doch nicht nur die Sorge um Jack beschäftigte Abby. Es verging kaum ein Tag, an dem ihr Sohn sie nicht schmerzhaft an seinen Vater erinnerte. Mit den dunklen Locken und den großen braunen Augen war er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Tom, die Liebe ihres Lebens. Der Mann, den sie aufgegeben hatte.

„Na, hast du eine Standpauke bekommen?“

„Ich schätze, das war es wert.“ Thomas Kendrick grinste seine Kollegin an und ließ sich in einen der bequemen Sessel im Aufenthaltsraum der Rettungsleitstelle fallen. Felicity, der jüngste Neuzugang der Spezialeinheit für schwere Unfälle und Großeinsätze, schüttelte den Kopf. „Ich hab ja schon von deinen waghalsigen Aktionen gehört, bevor ich hier angefangen habe, aber die Realität ist offenbar noch um einiges aufregender. Gestern bist du deinem Ruf mehr als gerecht geworden.“

Tom zuckte mit den Schultern. Okay, der Einsatz war ein wenig unorthodox gewesen. Und ja, es war riskant gewesen, in einen Unfallwagen zu klettern, der halb über einer Klippe gehangen hatte. Aber einen anderen Weg, um den bewusstlosen Fahrer herauszuholen, hatte es nicht gegeben.

„Du warst doch genauso scharf auf die Kletterpartie wie ich, Fizz. Hätte ich dich gelassen, dann wärst du selbst in den Wagen geklettert.“

„Stimmt.“ Ihr breites Grinsen ließ keinen Zweifel daran, dass sie den Einsatz genossen hatte. „Es war cool, stimmt’s? Und wir haben ihn rausgeholt. Lebend.“

Das hatten sie in der Tat. Doch Tom war schon gestern klar gewesen, dass die Sache ein Nachspiel haben würde. Felicity hatte eine hässliche Schnittwunde am Arm davongetragen, die genäht werden musste. Sie war für mehrere Tage krankgeschrieben. Und Tom war von seinem Vorgesetzten ernsthaft ermahnt worden.

„Hör zu, Tom, wir wissen ja beide, dass du den Adrenalinschub brauchst. Und ich weiß, dass du der Beste auf deinem Gebiet bist. Aber es gibt Grenzen, okay? Und wenn du nicht bald anfängst, diese Grenzen zu respektieren, wird es nicht bei einer mündlichen Verwarnung bleiben. Du hast ein Mitglied deines Teams in Gefahr gebracht. Das ist inakzeptabel.“

Sein Boss hatte natürlich recht. Trotzdem war Felicitys Verletzung nicht Toms Schuld. Sie hatte ganz einfach seine Anweisungen ignoriert und war ihm gefolgt. Sie war noch jung und unerfahren, aber gleichzeitig sehr ungestüm und abenteuerlustig.

Und zwar nicht nur, was den Job betraf. Die Blicke, die sie ihm zuwarf, waren unmissverständlich.

„Du könntest mir beim Materialauffüllen helfen“, schlug Felicity vor.

Jedem im Raum war klar, dass sie andere Pläne für diesen Ausflug in den Lagerraum hatte.

Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Hier bei der Arbeit? Tom mochte bei seinen Einsätzen manchmal die Grenzen überschreiten, aber für sein Privatleben galt das nicht. Komisch, dass die Aussicht auf ein verbotenes Abenteuer ihn so vollkommen kaltließ.

Er schüttelte den Kopf. „Ich gehe jetzt ins Fitnessstudio.“

Er spürte ihren Blick im Rücken, als er den Raum verließ. Ihm war klar, dass er nur mit den Fingern zu schnipsen brauchte, um sie ins Bett zu bekommen. Lag darin das Problem? War er nicht interessiert, weil die Herausforderung fehlte?

Moz, der Hubschrauberpilot vom Dienst, saß gerade auf einem Trimmrad. Er prostete Tom mit seiner Wasserflasche zur Begrüßung zu. Frank, ein weiterer Kollege, trainierte auf der Rudermaschine.

Nachdem Tom sich umgezogen hatte, wandte er sich dem ersten Krafttrainingsgerät zu. Langsam wärmte er sich auf. In den letzten Jahren war es immer anstrengender geworden, in Form zu bleiben, doch er wusste, dass es für seinen Job notwendig war. Außerdem hatte er einen Ruf zu verlieren.

Plötzlich fingen die Gewichte an dem Gerät an zu klappern. Erstaunt sah Tom nach oben. Er hatte doch noch gar nicht angefangen.

„Was zum Teufel ist das? Ein Erdbeben?“

„Ich hab nichts bemerkt.“ Gemächlich strampelte Moz weiter auf dem Trimmrad.

„Ich hab auch etwas gespürt.“ Frank sah eher interessiert als beunruhigt aus.

Erdbeben waren in Auckland nicht an der Tagesordnung, doch jeder wusste, dass sie gelegentlich auftreten konnten. Das ganze Land wurde immer wieder von leichten Beben erschüttert, sodass die meisten Neuseeländer sich davon nicht aus der Ruhe bringen ließen.

Frank war bereits am nächsten Gerät. „Das war nur ein kleiner Schluckauf“, meinte er. „Nicht so schlimm.“

„Möglicherweise war es aber auch der Ausläufer eines viel stärkeren Bebens irgendwo anders“, mutmaßte Tom.

Frank grinste. „Du meinst, es passiert doch noch etwas an diesem langweiligen Tag?“

Moz wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. „Träum weiter!“

Tom lachte. Sie alle fanden die Aussicht auf einen Einsatz in einem Erdbebengebiet sehr verlockend, denn nichts langweilte ihn und die Kollegen mehr, als untätig in der Rettungsleitstelle herumzusitzen.

Allein der Gedanke daran hatte seine Laune verbessert. Sein Leben war aufregend und abwechslungsreich. Man musste nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.

Und man musste sich fit halten.

Er verdoppelte die Gewichte und begann mit dem Training.

Das Beben auf Kaimotu Island fing genauso an, wie die vorangegangenen in den letzten Wochen. Es war ein unvermitteltes, unangenehmes Zittern.

Doch anstatt wieder abzuebben, wurde es diesmal von Sekunde zu Sekunde heftiger. Erst als es sie buchstäblich umgeworfen hatte, wurde Abby klar, dass gerade eine Katastrophe passierte. Im letzten Moment schaffte sie es, sich an ihrem Schreibtisch festzuhalten, und beobachtete entsetzt, wie das Glas mit den Lutschern zersplitterte. Die Kühlschranktür öffnete sich wie von Geisterhand, und der gesamte Inhalt fiel auf den Boden. Der Aktencontainer rollte wie von selbst scheppernd gegen die Wand.

Alles ging viel zu schnell, als dass Abby Angst verspürt hätte. Der kleine Blake war noch immer auf der Behandlungsliege, doch sie sah, dass er das Gleichgewicht verloren hatte und gleich auf den mit Scherben übersäten Boden fallen würde. Als sie ihm zu Hilfe eilen wollte, kam sie sich vor wie auf einem schwankenden Schiff.

„Unter meinen Schreibtisch!“, rief sie Ruth zu. „Schnell!“

Sie musste schreien, denn der Lärm nicht nur im Raum, sondern vor allem draußen, war ohrenbetäubend.

Noch ein letzter Schritt, und sie hatte Blake auf dem Arm. Sofort kauerte auch sie sich mit dem Kind unter den Schreibtisch. Sie spürte ein hässliches Knirschen unter ihrem Knie, doch sie bemerkte den Schmerz nicht. Der Schock darüber, dass sie fast von ihrem Computermonitor erschlagen worden wäre, war Ablenkung genug. Der Kühlschrank hatte sich nicht nur komplett entleert, er bewegte sich nun auch quer durch den Raum.

Würde der massive Holzschreibtisch ihnen genügend Schutz bieten? War das Gebäude solide genug, um nicht zusammenzubrechen? Das klirrende Geräusch zerspringender Fensterscheiben und ein langgezogener Schrei aus dem Wartezimmer ließen Abbys Adrenalinspiegel weiter ansteigen. Plötzlich war sie wie gelähmt vor Angst.

„Halt durch!“, sagte sie zu Ruth. „Gleich ist es vorbei. Es kann nicht mehr lange dauern.“

Wen wollte sie beruhigen? Die entsetzte Mutter, die ihre beiden Kinder umklammert hielt? Den kleinen Blake, der mit weit aufgerissenen Augen das Chaos um sich herum anstarrte.

Oder vielleicht sich selbst?

Vermutlich alle. Es kam Abby vor, als würde das Beben nie wieder aufhören. Der Fußboden vor ihnen neigte sich noch immer zu einer Seite, sodass Möbel und der Inhalt der Schränke durch den Raum rutschten und flogen. Sogar Abbys Diplome und Zertifikate, für die sie so hart gearbeitet hatte, waren mitsamt den Rahmen von der Wand gefallen. Ihre ganze Welt brach gerade zusammen und lag in Trümmern vor ihr.

Und dann, endlich, wurde es ruhiger. Das Beben ebbte zu einem leichten Zittern ab und hörte dann ganz auf. Auch der dröhnende Lärm erstarb.

Wie betäubt schaute Abby sich um. Plötzlich war es vollkommen still.

Noch nie zuvor hatte sie eine solche Stille erlebt.

Bleischwer.

Tödlich.

Die Welt hatte sich unwiderruflich für immer verändert. Und zwar nicht zum Besseren.

Dies war der Augenblick, in dem sie panische Angst bekam. Man wusste nach einem heftigen Beben nie, ob es wirklich vorbei war oder nur eine Pause machte.

Und sie wusste nicht, welche Opfer das Beben gefordert hatte.

O Gott! Jack …

2. KAPITEL

Beim Anflug auf die Insel flog der Pilot langsam eine Schleife, damit sie einen groben Überblick über die Verwüstungen auf Kaimotu bekamen.

Der größte Teil der Insel bestand aus Bäumen und Büschen und war unbewohnt. Abgesehen von der kleinen Hafenstadt, waren nur wenige Gebiete besiedelt. Entlang der Küstenstraße standen einige Häuser, und auch auf den Hügeln gab es vereinzelt kleine Anwesen. Bedauerlicherweise war das Epizentrum des Bebens genau unter der Stadt gewesen. Zumindest war das die Information, die sie vor knapp zwei Stunden erhalten hatten.

Das Zittern, das Tom und seine Kollegen im Fitnessraum gespürt hatten, war also wirklich nur der Ausläufer eines sehr viel größeren Bebens gewesen. Das Geophysische Institut hatte eine Stärke von 7,4 auf der Richterskala gemessen. Der Rettungsdienst war darüber informiert worden, dass mit zahlreichen Opfern gerechnet wurde.

Sie würden auf dem kleinen Hubschrauberlandeplatz neben dem Inselkrankenhaus landen. Trotz seines hohen Adrenalinspiegels fiel Tom die atemberaubende Schönheit der Insellandschaft auf. Während des Landeanflugs blickten alle Besatzungsmitglieder angestrengt auf die kleine Stadt herunter. Die Gebäude im Zentrum hatten den größten Schaden erlitten. Ein kurzer Blick zu Frank verriet Tom, dass sein Kollege die Lage genauso einschätzte wie er. Es würde eine Menge zu tun geben.

Sie waren die Ersthelfer – das Rettungsteam, das als Erstes vor Ort war, und vermutlich würden in den nächsten Stunden auch keine weiteren Helfer kommen. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als allein mit der größten Katastrophe fertigzuwerden, die ihnen in ihrem bisherigen Berufsleben begegnet war.

„Da unten ist unser Ziel“, erklang die Stimme von Moz durch die Kopfhörer. Wie immer war er ruhig und besonnen. „Schnallt euch wieder an, Jungs. Ich werde das Baby jetzt landen.“

Sofort nach der Landung sprangen Tom und Frank aus dem Hubschrauber, duckten sich, um nicht von den Rotorblättern getroffen zu werden, und liefen mit ihren Rettungsrucksäcken auf dem Rücken zum Eingang des Kaimotu-Hospitals. In ihren leuchtend orangefarbenen Overalls und weißen Helmen waren sie nicht zu übersehen.

Sie hatten die Anweisung, sich dort unmittelbar nach ihrer Ankunft zu melden und die Lage zu sondieren.

Noch bevor sie eintraten, sahen sie, dass das Gebäude völlig überfüllt war. Überall saßen, standen oder liefen Menschen herum, sogar auf der Veranda des älteren Gebäudeteils.

Es war zwei Stunden her, seit das Erdbeben die Menschen auf Kaimotu Island aus ihrem beschaulichen Leben gerissen hatte. Die Tsunami-Warnung, die vorsorglich herausgegeben worden war, hatte sich glücklicherweise als Fehlalarm erwiesen.

Wie viele Verletzte mochte es geben? Tom hatte keine Ahnung, wie die personelle Ausstattung mit medizinischem Personal auf der Insel war. Er hoffte inständig, dass irgendein kompetenter Kollege die Leitung der Notfallversorgung übernommen hatte und ihn nun über alles informieren würde. Wo wurden sie am dringendsten gebraucht? Und wie um alles in der Welt sollten sie in diesem Chaos arbeiten? Selbst die übliche Einordnung von Verletzten nach Behandlungsdringlichkeit schien in dieser unübersichtlichen Lage schwierig.

Das Wartezimmer war völlig überfüllt. Überall weinten Kinder, umringt von blassen, ängstlichen Menschen. Der Anblick einer haltlos schluchzenden jungen Frau riss Tom aus seiner Starre.

„Wer ist hier zuständig?“, fragte er die ältere Dame, die mit einem blutgetränkten Kopfverband vor ihm stand.

„Die Krankenschwester. A…“ Das Wort wurde zu einem schrillen Schrei, als das Gebäude wieder zu wackeln begann. Kinder brüllten. Jemand versuchte, sich an Tom vorbei nach draußen zu drängen. Plötzlich schienen alle Wartenden in Bewegung zu sein. Kinder wurden festgehalten, leichter Verletzte stürmten zur Tür, andere kauerten sich auf den Boden.

Tom drehte sich zu Frank um, der genauso erschrocken dreinblickte wie alle anderen. Das Nachbeben war genauso unvermittelt vorüber, wie es begonnen hatte. In einem leichten Anflug von Panik sah Tom zur Decke und überlegte, wie groß die Gefahr war, dass das Gebäude über ihnen einstürzen würde.

„Das war nur ein leichtes Nachbeben!“ Obwohl sie sehr laut sprach, klang die Stimme der Frau ruhig und gefasst. „Damit mussten wir rechnen. Hier im Krankenhaus seid ihr sicher. Mike und Don haben das Gebäude schon überprüft. Es besteht keine Einsturzgefahr.“

„Wer sind Mike und Don?“, erkundigte sich Frank, während Tom damit beschäftigt war, die Sprecherin zu identifizieren. Irgendetwas in ihrer Stimme war ihm bekannt vorgekommen. Er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog und er eine leichte Gänsehaut bekam. Seltsam.

„Wir werden es herausfinden“, entgegnete Tom und trat in den Raum. Wie immer, wenn sie an einen Notfallort kamen, machten die Anwesenden dem Rettungsteam bereitwillig Platz. Sie waren schließlich die lang ersehnten Helfer. Die Retter, die in all dem Chaos genau wussten, was zu tun war. Ihre Ankunft war immer mehr als willkommen.

Er konnte die Frau nun von hinten sehen. Ein langer blonder Zopf hing über der blauen Uniform. Tom fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt. Aber das passierte ihm öfter, wenn er eine zierliche Frau mit einem langen blonden Pferdeschwanz sah. Seit damals …

Abby …

„Dein Arm ist definitiv gebrochen“, erklärte sie gerade einem Teenager und legte ihm eine Schiene an.

Inzwischen gab es für Tom keinen Zweifel mehr. Er hätte ihre Stimme aus Tausenden herausgehört. Ihre klare und dennoch weiche Aussprache und die leichte Heiserkeit, wenn sie unter Stress stand. Oder wenn sie …

Nein! Tom musste diese Gedanken sofort aus seinem Kopf verbannen. Auch wenn die Erinnerung ihn gerade jetzt wie ein Blitz getroffen hatte.

„Mit der Schiene wird es nicht mehr so wehtun, Sean. Leider kann ich im Moment nicht mehr für dich tun. Wir müssen warten, bis wir Hilfe vom Festland bekommen.“

„Die Hilfe vom Festland ist schon da“, bemerkte der Junge trocken und sah neugierig zu Tom und Frank. „Direkt hinter dir.“

Mit Schwung drehte die Frau sich um. Innerhalb weniger Sekunden sah Tom in ihrem Gesicht erst Freude und Erleichterung darüber, dass endlich Hilfe gekommen war, und dann blankes Entsetzen.

Sie hatte ihn erkannt.

„O mein Gott … Tom …?“

Der Schock beruhte auf Gegenseitigkeit. Tom war davon ausgegangen, dass er auf dieser Insel nur mit den Folgen eines schweren Erdbebens zu tun haben würde.

Doch damit hatte er sich gründlich geirrt.

Abby wiederzusehen, brachte ihn dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass er überhaupt nicht wusste, was er denken, sagen oder tun sollte.

Dieses lange, glatte, blonde Haar, das sich so verdammt sexy anfühlte, wenn es auf seine nackte Haut fiel.

Ihre Stimme …

Autor

Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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Alison Roberts
Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde.
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