Ein Viscount auf Brautschau

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Vom Frauenheld zum Gentleman? Überrascht erfährt Lydia, dass der charismatische Viscount Rothersthorpe eine Gattin sucht. Brennende Sehnsucht lässt sie schier verglühen, als er ihre Hand nimmt und sie sanft an seine Lippen führt. Schon sieht Lydia sich vor dem Traualtar … da schockiert er sie mit einem unmoralischen Angebot!


  • Erscheinungstag 30.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717032
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wer ist der Gentleman, den du die ganze Zeit beobachtest?“

Bei Roses Frage schreckte Lydia aus ihrem entrückten Zustand auf. Sie hatte Herzflattern, ihr Mund war wie ausgedörrt, und ihre Knie zitterten.

„Ich habe niemanden beobachtet.“

Sie riss sich zusammen und machte sich klar, dass sie ihrer Stieftochter ein Vorbild sein sollte, anstatt sich zu benehmen wie eine liebeskranke Achtzehnjährige. Denn es stimmte, sie hatte ihm immer wieder Blicke zugeworfen. Verstohlene, sehnsüchtige Blicke. Ihn direkt anzusehen – so, dass man ihre Gefühle in ihren Augen hätte lesen können – wäre zu riskant gewesen.

Und nicht nur für sie selbst. Rose absolvierte gerade ihre erste Saison. Das arme Mädchen hatte schon genug zu kämpfen, ohne dass das auffällige Benehmen ihrer Stiefmutter noch zusätzlich für Aufsehen sorgte. Zwar begegnete man Lydia bislang mit dem Respekt, der einer Witwe gebührte, zumindest wenn sie persönlich zugegen war. Doch nichts ruinierte den Ruf einer Frau schneller als böses Gerede.

„Aber du kennst ihn, nicht wahr? Den gut aussehenden meine ich.“ Rose ließ nicht locker. „Den da hinten, der bei Lord Chepstow und seinen Freunden steht.“

„Ach so, den meinst du.“ Mit einem Schulterzucken versuchte Lydia zu überspielen, wie ertappt sie sich fühlte. Manchmal erinnerte Rose sie an ihre frühere Anstandsdame. Auch Mrs Westerly war nie etwas entgangen.

„Vergeude deine Zeit nicht mit ihm“, hatte die scharfsichtige Frau sie damals gewarnt, als ihr aufgefallen war, dass Lydia den Gentleman förmlich mit Blicken verschlungen hatte. „Seine Familie steht vor dem Ruin. Wieder einmal. Für gewöhnlich heiratet dann einer von ihnen eine reiche Erbin, deren Vermögen sie vor dem Absturz bewahrt. Obwohl dieser Hemingford nicht so aussieht, als gedächte er sein Junggesellendasein demnächst aufzugeben. Aber wenn die Zeit kommt, wird er es machen wie seine Vorfahren. Du wirst es erleben.

„Ja, ich kenne ihn flüchtig.“ Lydia schlug einen beiläufigen Ton an. „Es ist der Ehrenwerte …“ Ehrenwerte? Dass sie nicht lachte! „… Nicholas Hemingford.“

Rose klappte ihren Fächer auf und wedelte sich Luft zu. „Erzähl mir von ihm!“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ Lydia errötete bei der Lüge.

Denn sie hatte sich damals Hals über Kopf in ihn verliebt. Trotz seines schlechten Rufs und der eindringlichen Warnungen ihrer Chaperone. Wie eine Motte dem Licht war sie seiner Anziehungskraft erlegen. Dem leicht herablassenden Lächeln … und erst recht dem Funkeln seiner atemberaubend blauen Augen …

Sie hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt, als er seinen geballten Charme bei ihr hatte spielen lassen, wahrscheinlich aus einer seiner typischen, exzentrischen Launen heraus.

Heute konnte sie nur den Kopf schütteln über ihre damalige Naivität. Was ihr für eine kurze Zeit wie ein Rettungsanker erschienen war, hatte sich, kaum auf den Prüfstand gestellt, als reines Wunschdenken erwiesen.

„Während meiner Saison habe ich ein- oder zweimal mit ihm getanzt“, erzählte sie ihrer Stieftochter und hoffte, dass es sich harmlos anhörte.

„Und du konntest ihn nie vergessen“, bemerkte Rose mit ihrem typischen Scharfsinn.

„Nein“, räumte Lydia seufzend ein. Weil sie nicht wollte, dass Rose den Eindruck gewann, sie sei nicht offen zu ihr, gab sie nach – denn sonst würde das Mädchen immer wieder darauf zurückkommen, bis es das letzte Quäntchen Wahrheit aus ihr herausgepresst hatte. „Er ist nicht der Typ Mann, den man so einfach vergisst. Er ist … außergewöhnlich.“

„Tatsächlich? In welcher Hinsicht?“

„Nun, zunächst einmal war er ein unverbesserlicher Frauenheld.“ Lydia hörte selbst, wie bitter sie klang. „Ich wurde regelmäßig Zeugin, wie er selbst die sittsamsten jungen Damen dazu brachte, sich in albern kichernde, errötende Backfische zu verwandeln, und dann wegschlenderte, während sie ihm sehnsüchtig hinterherschmachteten. Oft suchte er sich das unscheinbarste und reizloseste Mauerblümchen im Saal, um es für einen Abend glücklich zu machen, indem er es zum Tanze aufforderte.“

„Aber … das war doch sehr nett von ihm.“

Als Lydia das Gesicht verzog, setzte Rose unsicher hinzu: „Oder nicht?“

„Ich glaube nicht, dass Nettigkeit zu seinen Charakterzügen zählt.“ Lydia schüttelte den Kopf. „Mädchenherzen zu entflammen war ein Amüsement für ihn. Sein wahres Interesse galt immer nur dem Glücksspiel. Und ich möchte wetten“, mit einer unauffälligen Kinnbewegung deutete sie auf die Gruppe Männer, bei der Hemingford stand, „dass er sich mit den Gentlemen dort für eine Runde Karten verabredet.“

„Aber …“, Rose zog nachdenklich die Brauen zusammen, „… wenn er nur mit den Mauerblümchen tanzte, wie kommt es dann …?“

Lydia nickte verstehend. „Zu der Zeit, als ich deinem Vater vorgestellt wurde, war ich in ziemlich schlechter Verfassung, wie du dich sicher erinnerst. Meine Anstandsdame bestand darauf, dass ich an jeder Veranstaltung teilnahm, zu der ich eingeladen wurde, weil sie hoffte, ich würde eine Eroberung machen. Das hatte mich erschöpft, und ich sah nicht besonders vorteilhaft aus.“

Was eine Untertreibung war. Mrs Westerly hatte ihr Rouge aufgelegt, um die Blässe ihrer Wangen zu kaschieren, und Reispuder um die Augen getupft, damit man die dunklen Ränder nicht sah. Wenn auf die gehässigen Bemerkungen der damaligen Schönheit der Saison und ihrer entzückten Verehrer halbwegs Verlass war, musste sie ausgesehen haben wie eine wandelnde Leiche.

An dem Abend, als sie sich so hoffnungslos in Nicholas Hemingford verliebt hatte, war sie jedenfalls unbestreitbar das unglücklichste weibliche Wesen im Saal gewesen. Die Saison hatte einen schlechten Anfang genommen, und ihre Situation wurde immer aussichtsloser. Nachdem sie wieder eine schneidende Bemerkung über ihr Aussehen mit angehört hatte, war sie zum Ausgang des Saales geschlichen, um der Hitze, dem Gedränge und dem überwältigenden Gefühl des Versagens zu entrinnen. Sonst hätte Nicholas sie wohl gar nicht bemerkt.

Ebenso wenig wie er sie heute Abend bemerkte. Er entfernte sich von der Männergruppe, bei der er gestanden hatte, und schlenderte zur gegenüberliegenden Ecke des Ballsaals. Eine mollige, ziemlich verloren wirkende junge Dame saß dort etwas abseits auf einem Stuhl an der Wand.

Er tat es schon wieder!

Die pummelige junge Dame begann zu strahlen, noch ehe er sich über ihre Hand beugte. Lydia wusste genau, was sie empfand, als er sie aufs Parkett führte, wo die Tänzer sich gerade aufstellten. Sie würde kaum glauben können, dass ein so gut aussehender Mann wie Mr Hemingford sie zum Tanzen aufforderte, ohne von einer der Matronen darum gebeten worden zu sein. Ihr Herz würde überquellen vor Dankbarkeit. Hoffentlich nahm die junge Dame seinen Anfall von Ritterlichkeit nicht so ernst, dass es ihr das Herz brach.

„Was glaubst du“, fragte Rose gedankenvoll, „warum tanzt er nur mit unscheinbaren Mädchen?“

„Nun, er würde vermutlich sagen, dass man sich auf einem Ball amüsieren sollte, komme, was wolle.“ Lydia zog die Stirn kraus. „Er würde sagen, dass ihm lange Gesichter die Laune verderben und dass er etwas dagegen unternimmt, wenn es kein anderer tut.“

„Aber du glaubst, dass das nicht sein wirklicher Beweggrund ist?“

„Oh nein.“ Lydia lachte bitter. „Mir gegenüber gab er einmal offen zu, dass es keinen Zweck habe, eine der akzeptablen jungen Damen im Saal zum Tanz aufzufordern. Ihre Chaperonen hätten es ihm verwehrt. Er wurde allgemein für gefährlich gehalten.“

„Gefährlich?“ Rose machte große Augen. „Und – war er das?“

„Oh ja.“ Jedenfalls für den Seelenfrieden einsamer, unglücklicher junger Damen.

Lydia atmete scharf ein und dann langsam wieder aus.

Es lohnte sich nicht, sich darüber zu grämen, dass er sie dazu gebracht hatte, sich nach etwas Unerreichbarem zu sehnen. Oder darüber, dass sie schon geglaubt hatte, das Glück sei in greifbare Nähe gerückt. All das hatte sich vor einer halben Ewigkeit zugetragen.

Leider gab sein Anblick ihr das Gefühl, es sei erst gestern geschehen.

Seit dem Moment, da sie ihn im Saal entdeckt hatte, war ihr zumute gewesen wie einem leicht zu beeindruckenden Mädchen in Roses Alter. Sie hatte den Blick kaum von ihm abwenden können, als er die junge Dame auf die Tanzfläche führte.

Es war nur ein kleiner Trost für sie, dass sie nicht die einzige Frau zu sein schien, die ihn fasziniert beobachtete.

Seine geschmeidige Art, sich zu bewegen, zog immer wieder bewundernde Blicke auf sich. Die meisten Männer sahen nur beeindruckend aus, wenn sie still dastanden und eine bestimmte Pose einnahmen. Bei der lässigen Eleganz dagegen, mit der Nicholas Hemingford den Saal durchquerte, schmolz Lydia förmlich dahin.

Als die Gentlemen sich in einer Reihe aufgestellt hatten, stand er ihr praktisch direkt gegenüber. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn genau zu betrachten, während er seine Aufmerksamkeit auf seine Partnerin richtete.

Oh, er hatte nichts von seiner Attraktivität verloren. Sein hellbraunes Haar trug er etwas kürzer, aber abgesehen davon hatte er sich kaum verändert. Er war genauso schlank und ebenso elegant gekleidet wie früher.

Typisch! Hätte er nicht auch ein bisschen Fett ansetzen und schlaffere Haut bekommen können wie die meisten seiner Altersgenossen? Aber nein. Er hatte es geschafft, seinen zügellosen Lebensstil beizubehalten, ohne Schaden zu nehmen. Wie früher.

Sie klappte ihren Fächer auf und wedelte sich kühle Luft auf die erhitzten Wangen. Auf die Art waren ihre Hände beschäftigt, und sie davor gefeit, sie zu Fäusten zu ballen und gegen irgendeine harte Oberfläche zu schlagen.

Die abrupte Bewegung hatte offenbar seine Aufmerksamkeit erregt, denn er hob den Kopf und sah in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich.

Lydias Herz schlug schneller. Sie reckte das Kinn.

Ja, Nicholas, ich bin es wirklich. Wie du siehst, habe ich es überlebt, und jetzt bin ich hier. Was hast du zu deinen Gunsten vorzubringen?

Sein Blick glitt über sie hinweg, ohne dass er ein Zeichen des Erkennens gegeben hätte. Im ersten Moment war Lydia so schockiert, dass ihr die Luft wegblieb. Dann wurde sie wütend.

„Er hat dich nicht erkannt, Mama Lyddy.“ Ohne es zu wollen, legte Rose den Finger in die Wunde.

„Nein.“ Lydia biss die Zähne zusammen. „Wie sollte er? Es ist acht Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Und ich war nur eine von vielen unbedeutenden jungen Damen, die er mit seiner Aufmerksamkeit beehrte.“

Trotzdem hatte sie die Erinnerung an ihn all die Jahre gehegt und gepflegt. Doch jetzt sah es so aus, als habe er sie völlig vergessen.

Weil sie ihm gleichgültig gewesen war?

„Stimmt etwas nicht?“ Rose musterte sie besorgt.

„Es ist erniedrigend“, gab Lydia zu, „wenn man so uninteressant ist, dass man komplett vergessen wird.“

Es war sogar noch schlimmer. Bis eben hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es ihm ernst gewesen war mit seinen Worten damals, wenn auch nur für jenen kurzen berauschenden ­Augenblick, da er sie in den Armen gehalten hatte. Sie war sich vorgekommen wie in der Umarmung eines Liebhabers … Und das, obwohl er sie in Wahrheit nur aufgefangen hatte, weil sie fast in Ohnmacht gefallen war und er zufällig neben ihr gestanden hatte, als es passierte. Jeder andere Gentleman hätte wahrscheinlich ebenso ritterlich gehandelt und dafür gesorgt, dass sie in den Schatten kam. Und doch, in den wenigen Minuten, die es gedauert hatte, sie ins Haus zu bringen, war ihr zumute gewesen, als würde sie in den Himmel getragen. Sie hatte sich sicher gefühlt in seinen Armen, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und seinen unverwechselbaren Duft eingeatmet. Und er hatte Worte gemurmelt, die für einen Mann wie ihn ungewöhnlich waren – Worte der Sehnsucht, Verheißungen zukünftiger Möglichkeiten. Worte, die Hoffnung in ihrem Herzen hatten aufsteigen lassen.

Mit der es nur allzu bald wieder vorbei gewesen war.

Denn sobald er sie auf die Chaiselongue gebettet hatte, war er mit reuevoller Miene davongeeilt.

Er war ihr nie wieder nahegekommen.

Die Musik setzte ein, die Gentlemen verbeugten sich vor den Damen, und Lydia durchsuchte ihr Retikül nach einem Taschentuch.

„Mama Lyddy?“

Rose musterte sie besorgt.

Lydia putzte sich die Nase. Sie hasste es, von Gefühlen überwältigt zu werden. „Das kommt davon, wenn man Erinnerungen an seine Saison nachhängt.“

„Es waren offenbar keine besonders glücklichen Erinnerungen.“

Lydia verzog das Gesicht. „Nein, leider nicht.“

Rose seufzte und sah zu ihrem Halbbruder hoch, der hinter ihren Stühlen stand und genervt seinen Blick über die im Saal versammelte Gesellschaft schweifen ließ.

„War es noch schlimmer als heute Abend?“

„Oh Rose, amüsierst du dich denn gar nicht?“

„Wie sollte ich?“, fragte das Mädchen aufsässig. „Wenn Robert sich so unmöglich benimmt.“

Die Kapelle spielte in voller Lautstärke, und sie unterhielten sich hinter vorgehaltenen Fächern. Lydia glaubte nicht, dass Robert sie hören konnte, obwohl sie sicher war, dass Rose genau das beabsichtigte.

„Er will dich doch nur beschützen …“

„Nun, ich wünschte, er würde es nicht tun. Ich verstehe nicht, warum er mich nicht mit Lord Abergele tanzen ließ.“

Lydia verstand es auch nicht, aber da ihr nun einmal die Rolle der Friedensstifterin zwischen den Geschwistern zukam, sagte sie: „Er hatte sicher seine Gründe …“

„Vermutlich hält er Seine Lordschaft für einen Mitgiftjäger.“ Rose klang unwirsch.

„Oh? Ja dann …“

„Aber das ist mir gleichgültig! Schließlich bin ich nicht in London, um mir einen Ehemann zu angeln, sondern um meinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Aber wie soll das gehen, wenn mein Bruder jeden Gentleman, der Interesse an mir zeigt, von mir fernhält? Lord Abergeles Schwester verfügt über Beziehungen, die mir äußerst nützlich sein könnten. Doch nun, da Robert ihn gekränkt hat, sehe ich keine Chance mehr, mich noch mit ihr anzufreunden.“

Was noch schlimmer war – Robert hatte einen respektablen Tanzpartner abgewiesen, daher konnte Rose an diesem Abend mit keinem anderen mehr tanzen.

„Ich rede mit ihm“, versprach Lydia fest. Obwohl es nicht viel nützen würde, denn dafür ähnelte er seinem Vater viel zu sehr. Er war überzeugt, immer alles am besten zu wissen, und erwartete von seiner Familie, dass sie ihm widerspruchslos zustimmte.

Davon abgesehen musste es ihm schwerfallen, auf ihre Meinung zu hören, denn schließlich war er vier Jahre älter als sie. Lydia konnte durchaus verstehen, dass er sich angewöhnt hatte, sie wie eine seiner jüngeren Schwestern zu behandeln statt mit dem Respekt, den er seiner Stiefmutter schuldete. Das machte es nicht weniger ärgerlich für sie.

Besonders wenn er sie beide behütete wie heute Abend. Er benahm sich wie ein Wachhund, sobald jemand, den er für unpassend hielt, sich seiner schönen Schwester näherte, und signalisierte damit der ganzen Welt, dass er seiner Stiefmutter nicht zutraute, auf Rose zu achten.

Gekränkt presste Lydia die Lippen zusammen und ließ den Fächer zuschnappen. Die Gentlemen auf der Tanzfläche setzten einen Schritt vor, und für einen kurzen Moment verweilte Hemingfords Blick auf ihr.

Auch diesmal lächelte er nicht, aber er begrüßte sie immerhin mit einem knappen Nicken.

Also erinnerte er sich an sie, auch wenn er jahrelang nicht an sie gedacht hatte. War es so?

Oder hatte er sie vielleicht schon vorher erkannt und vor lauter schlechtem Gewissen den Blick von ihr abgewandt? So wie er damals aus dem Zimmer verschwunden war – und aus ihrem Leben –, weil er etwas gesagt hatte, das er, sobald es ihm über die Lippen gekommen war, auch schon bereut hatte.

„Anscheinend erinnert er sich doch an dich.“

Rose sah nicht ihn an, sondern sie. Das Mädchen machte eine verwirrte Miene. Da erst fiel Lydia auf, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie bebte buchstäblich vor Zorn, weil sie so wütend war über die Leichtigkeit, mit der er ihr das Herz gebrochen hatte.

Was war los mit ihr? Seit Jahren gelang es ihr mühelos, sich äußerlich heiter und gelassen zu geben, egal, was sie wirklich empfand. So sehr die Kontrolle über sich zu verlieren wie jetzt – das war ihr das letzte Mal an ihrem Hochzeitstag passiert.

Die Knie hatten ihr derart heftig gezittert, dass sie nicht sicher gewesen war, ob sie den Weg von der Kirchentür bis zum Altar schaffen würde. Aber selbst da war es ihr gelungen, den Mittelgang mit erhobenem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen entlangzuschreiten. Niemand sollte merken, wie eingeschüchtert sie war. Ganz besonders nicht ihr Ehemann. Doch Colonel Morgan hatte ihr Zittern bemerkt und die Stirn gerunzelt, als er ihr den Ring auf den Finger gesteckt hatte. Der Gedanke, dass ihr womöglich angst und bange war vor ihm oder vor dem, worauf sie sich eingelassen hatte, musste ihm missfallen haben. Also hatte sie ihren Ehegelübden im Stillen noch ein weiteres hinzugefügt, nämlich dass sie sich nie wieder von ihren Gefühlen überwältigen lassen und stattdessen jederzeit eine Maske heiterer Gelassenheit tragen würde.

Und bis zum heutigen Abend war es ihr gelungen.

Sie hatte sich noch nicht wieder in der Gewalt, als Robert sich zu ihr herabbeugte und ihr missbilligend ins Ohr murmelte: „Mir war völlig entfallen, dass du ihn kennst.“

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Jetzt musste sie auch Robert davon überzeugen, dass er nur ein flüchtiger Bekannter gewesen war. Hoffentlich erriet ihr Stiefsohn nicht, dass sie sich damals in Hemingford verliebt hatte und anscheinend immer noch sehr empfänglich für ihn war. Sonst würde er seine Rolle als Wachhund auch auf sie ausdehnen. Es war schon schlimm genug, dass er ihre Position als Roses Anstandsdame untergrub, indem er sämtliche Verehrer des Mädchens einer strengen Prüfung unterzog, die die meisten von ihnen nicht bestanden. Sie durfte ihm keinen Vorwand liefern, sie als schlechtes Beispiel hinzustellen, denn dann würde er ihrer Meinung nie wieder Gehör schenken.

Ohne lange zu überlegen, parierte sie seine Bemerkung mit einem Angriff.

„Dann hast du ein kurzes Gedächtnis. Schließlich war er es, der uns einander vorstellte, weißt du nicht mehr? Er brachte mich zu einem der Picknicks mit, die du in Westdene zu veranstalten pflegtest.“

„Aber sagtest du nicht eben, dass du nur ein-, zweimal mit ihm getanzt hast?“, warf Rose ein.

„Habe ich das gesagt?“ Lydia wedelte heftig mit dem Fächer, um ihre heißen Wangen zu kühlen. „Na ja, viel mehr als das war es eigentlich auch nicht.“

Dabei hatte ihr nach jenem ersten Tanz seine ganz spezielle Beachtung gegolten, jedenfalls nach Auffassung ihrer Anstandsdame. Mrs Westerly hatte gestaunt, wie oft er ihre Schutzbefohlene aufs Parkett führte, obwohl Lydia jedes Mal rot wurde und ungeschickt durch die verschiedenen Kontratänze stolperte. Doch er hatte sich nicht abschrecken lassen durch ihr Gestammel oder ihre scheinbare Dummheit, im Unterschied zu den anderen Gentlemen, die anfänglich Interesse an ihr bekundet hatten. Wenn überhaupt, dann hatte er seine Bemühungen verdoppelt, ihr die Befangenheit zu nehmen. Und ganz allmählich war ihr bewusst geworden, dass sie sich in seiner Gesellschaft wohlfühlte und offen sprechen konnte.

Das ging so weit, dass ihr eines Nachmittags bei einem Spaziergang im Park die Bemerkung herausrutschte, sie könne nicht verstehen, warum er sich eigentlich mit ihr abgab.

„Falls das ein Hinweis darauf sein soll, dass Sie von mir in Ruhe gelassen werden möchten“, warnte er sie mit gespieltem Ernst, „sollten Sie nicht so erfreut aussehen, wenn ich Ihnen die Aufwartung mache.“

Sie errötete und richtete den Blick auf ihre Füße, ehe sie den Mut aufbrachte zu antworten.

„Ich möchte nicht, dass Sie mich in Ruhe lassen. Ich genieße Ihre Gesellschaft.“

„Dann ist es ja gut“, erwiderte er freundlich. „Ich habe nämlich nicht vor, Sie heute zu verlassen, ehe ich nicht wenigstens einmal ein echtes Lächeln auf Ihren Lippen sehe.“

„Aber warum? Ich meine, was kann es Ihnen bedeuten? Mrs Westerly sagt, Sie seien nicht daran interessiert zu hei…“

„Nein! Sagen Sie dieses Wort nicht in meiner Gegenwart“, rief er scheinbar erschrocken. „Es gibt mehr im Leben als …“ Er sah sich um, als müsse er sich vergewissern, dass sie nicht belauscht wurden. Dann beugte er sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „… heiraten. Wir können einen Spaziergang im Park, noch dazu an einem sonnigen Nachmittag wie diesem, auch ganz einfach genießen, weil es Spaß macht. Oder?“

„Heute scheint die Sonne doch gar nicht“, antwortete sie mit sinkendem Mut, als sie vor einem Beet mit Narzissen stehen blieben, die die Köpfe mit den weißgelben Blüten ebenso hängen ließen wie Lydia ihren. Mrs Westerly hatte sie gewarnt, nicht zu viel von diesem Mann zu erwarten. Dennoch hatte ihr törichtes Herz zu hoffen gewagt, dass er vielleicht doch kein so hoffnungsloser Fall war, wie alle glaubten.

„Können wir nicht nur nett beisammen sein?“, fragte er lächelnd. „Ohne die Erwartung, dass irgendwann die Hochzeitsglocken läuten?“

„Selbstverständlich.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, konnte ihm aber dabei nicht ins Gesicht sehen. Wenn eine unverbindliche Freundschaft alles war, was er bereit war zu geben, würde sie nichts tun, um ihn abzuschrecken. Die wenigen Minuten, die sie mit diesem geistreichen und blendend aussehenden Gentleman verbrachte, waren der einzige Lichtblick in ihrem ansonsten so tristen Leben.

„Schließlich ist allgemein bekannt, dass Sie dem Heiratsmarkt nicht zur Verfügung stehen“, fuhr sie tapferer fort, als sie sich fühlte. „Und selbst wenn es so wäre, würden Sie einer Frau wie mir keinen zweiten Blick gönnen. Denn sicher wissen Sie, dass ich keine Mitgift zu erwarten habe?“

„Natürlich weiß ich das. Die Klatschtanten pflegen dafür zu sorgen, dass jeder im Ballsaal binnen fünf Minuten erfährt, wie viel eine Debütantin wert ist. Meine Gefühle für Sie beeinflusst das jedoch nicht.“

Natürlich nicht, denn er sah sie ja nicht als mögliche Ehefrau an.

„Und dennoch“, er legte sich ihre Hand in die Armbeuge, um den Spaziergang fortzusetzen, „leuchtet Ihr Blick jedes Mal auf, wenn ich Sie zum Tanz auffordere.“

„Nun, Sie sind ein begnadeter Tänzer“, musste sie zugeben. „Und Mrs Westerly sagt …“ Sie brach ab und biss sich auf die Unterlippe.

„Fahren Sie fort. Was sagt Mrs Westerly? Ich verspreche Ihnen – egal, wie schlimm es ist –, dass es mich nicht überraschen wird. Es ist normal, dass Anstandsdamen ihre Schutzbefohlenen vor mir warnen.“

„Sie sagt, es sei nicht schlecht, wenn ich Ihre Gesellschaft suche, weil Sie mich zum Lächeln bringen. Dadurch mache ich einen besseren Eindruck auf die heiratswilligen Gentlemen.“

„Ach so! Darum hat sie mir noch nicht verboten, Ihren Salon mit meiner Gegenwart zu verunzieren.“

Lydia nickte und fühlte fast so etwas wie Kameradschaft, als sie weiterspazierten. Langfristig würde ihr dieser bessere Eindruck allerdings nicht viel helfen. Denn in dem Moment, da sie versuchte, mit einem geeigneten Gentleman zu reden, errötete sie und fing an zu stottern.

Plötzlich sah Nicholas sie fragend von der Seite an und stellte fest: „Seit heute stottern Sie überhaupt nicht mehr.“

„Tatsächlich?“

„Vermutlich weil Sie sich nicht mehr bemühen müssen, mich zu beeindrucken. Denn Sie wissen nun, dass ich absolut untauglich bin für die Ehe.“

Lag es daran? Oder hatte sie lediglich die Hoffnung auf etwas anderes als Freundschaft mit ihm aufgegeben?

„Ich vermute, Ihre Anstandsdame hat Sie gewarnt, dass es in meiner Familie eine Menge schwarze Schafe gibt“, fuhr er leichthin fort. „Der erste Rothersthorpe war nicht viel mehr als ein Pirat, obwohl unsere großmütige Königin Elisabeth ihn für seine Verdienste im Krieg gegen die Spanier mit dem Titel belohnte.“

„Oh ja, das ist bekannt. Aber Mrs Westerly nimmt vor allem Anstoß an Ihren … nicht vorhandenen Geldmitteln. Sie meint, dass Sie mich deswegen lieber zu einem Spaziergang einladen als zu einer Kutschfahrt durch den Park.“

Er seufzte. „Ich bin wirklich so gut wie mittellos.“

„Vielleicht …“, ein Anflug von Strenge schlich sich in ihre Stimme, „wenn Sie nicht so viele verrückte Wetten platzieren würden …“

„Wie zum Beispiel?“

„Die, bei der es um die Gans und die Maus ging.“

Er lachte überrascht. „Wer hat Ihnen denn das erzählt? Es stimmt sogar. Aber immerhin war ich auf der Seite der Maus. Hat mir einen ordentlichen Batzen Geld eingebracht.“

„Und womit haben Sie diesen Batzen Geld wieder verloren?“, fragte sie herausfordernd. „Mit einer falschen Spielkarte?“

„Nein. Ich bin ein außerordentlich guter Kartenspieler.“ So wie er das Kinn reckte, hatte sie vermutlich einen wunden Punkt getroffen. Doch nach wenigen Schritten lächelte er schon wieder und warf ihr einen verwegenen Blick zu. „Es war ein Pferd.“

Sie spitzte die Lippen.

„Sie haben ja recht“, seufzte er in gespielter Verzweiflung. „Ich bin unverbesserlich. Das Geld rinnt mir durch die Finger. Ich kann es kaum fünf Minuten festhalten … Dennoch machen Sie nie den Eindruck, als wären unsere Spaziergänge reine Zeitverschwendung für Sie. Selbst wenn keine potenziellen Verehrer in der Nähe sind.“

Das Herz pochte ihr so laut in der Brust, dass es schmerzte. Wenn er erriet, was sie wirklich fühlte, würde er dann Angst bekommen und aus ihrem Leben verschwinden?

Trotz ihrer Befürchtungen plapperte sie weiter. „Sie bringen mich zum Lachen oder wenigstens zum Lächeln, selbst wenn ich das Gefühl habe, dass es keinen Grund dazu gibt.“

Er tätschelte ihr die Hand. „Ab jetzt mache ich es mir zur Pflicht, Sie zum Lächeln zu bringen, sooft unsere Wege sich kreuzen.“

Das hatte er auch bisher schon getan. Immer, wenn sie zusammen tanzten oder zu Abend aßen oder, wie jetzt, spazieren gingen, genügte ein Blick in seine strahlend blauen Augen, und es war, als bräche die Sonne hinter den dunklen Wolken hervor, die ihr Leben sonst verdüsterten.

Doch dann holte er selbst die Wolken zurück, indem er hinzufügte: „Das Leben ist zu kurz, um es mit Sorgen darüber zu ruinieren, was alles passieren könnte oder auch nicht, Miss Franklin. Wir sollten jeden Tag genießen, so wie er ist, und die Zukunft Zukunft sein lassen.“

Sie musste eine scharfe Erwiderung zurückhalten. Er hatte gut reden, denn er war nicht gänzlich mittellos! Er hatte ein Dach über dem Kopf und ein regelmäßiges Einkommen – selbst wenn er sich über die geringe Höhe beklagte. Außerdem einen festen Platz in der Gesellschaft aufgrund seines Titels.

Und das Wichtigste: Er musste nicht heiraten, außer wenn er selbst es wirklich wollte.

Ob er inzwischen verheiratet war?

Lydia beobachtete, wie er die mollige junge Dame anlächelte, als eine der Tanzfiguren die beiden zusammenführte.

Sie wusste es wirklich nicht, weil sie nach ihrer Hochzeit mit Colonel Morgan vermieden hatte, irgendetwas über ihn zu erfahren. Hätte sie seine Verlobungsanzeige mit einer anderen Frau in den Gesellschaftsnachrichten gelesen, sie hätte sich gewünscht, sich in eine Ecke legen und sterben zu können.

Was ihrem Ehemann gegenüber nicht fair gewesen wäre. Dazu hatte sie ihm zu viel zu verdanken.

Nein, Colonel Morgans Großzügigkeit damit zu vergelten, dass sie sich nach einem anderen Mann verzehrte, wäre unverzeihlich gewesen.

„Ist er ein Freund von dir, Robert?“ Rose zog die Augenbrauen zusammen und sah verwundert zwischen Lydia und ihrem Bruder hin und her.

„Er war es“, erwiderte Robert finster. „Ich habe es nicht erwähnt, aber …“ Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den andern. „Nun ja, wenn ihr es unbedingt wissen müsst, wir hatten ein kleines Zerwürfnis. Ich rede nicht mehr mit Rothersthorpe. Seit kurz nach deiner Hochzeit mit unserem Vater“, erklärte er Lydia, obwohl Rose ihm die Frage gestellt hatte. „Ich habe nie darüber gesprochen, weil …“

Rothersthorpe?

Also hatte er den Titel inzwischen geerbt. Lydias Innerstes zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass sie nicht einmal so viel von ihm wusste.

Aber es war das, was sie gewollt hatte.

Wirklich.

„Aber Mama Lyddy hat ihn doch Mr Humming…irgendwas genannt.“

„Hemingford“, verbesserte Robert. „Das ist sein Familienname. Nachdem sein Vater starb, erbte er den Titel. Er ist jetzt Viscount Rothersthorpe. Ich dachte, du wüsstest das, Mama Lyddy.“

„Nein.“ Sie hatte so sehr vermieden, seinen Namen im Weekly Messenger zu lesen, dass sie sogar diese Meldung übersehen haben musste.

Wie man sich bettet, so liegt man. Es war ohnehin schwierig genug gewesen, sich an Colonel Morgan als Ehemann zu gewöhnen. Hätte sie Anlass zu der Vermutung gegeben, dass sie den einen Mann geheiratet hatte und einem anderen nachtrauerte, wäre damit niemandem gedient gewesen.

Und genauso wenig war jetzt irgendjemandem damit gedient, wenn sie die Wahrheit auch nur andeutete.

„Meine Güte, Robert, du weißt doch, dass ich mich um den Gesellschaftsklatsch nicht kümmere. Das lag in dem Moment hinter mir, als ich euren Vater heiratete.“

„Aber ihr habt gerade über ihn gesprochen“, beharrte Robert. „Und ihr klebt förmlich mit Blicken an ihm.“

„Ich wollte Rose warnen, damit sie auf der Hut ist. Ich möchte nicht, dass sie sich von seinem attraktiven Gesicht und seinem oberflächlichen Charme täuschen lässt.“

Robert musterte sie mit einem durchdringenden Blick, der sie stark an seinen Vater erinnerte. Er hatte die gleichen stahlgrauen Augen, die gleiche scharf gebogene Nase und die gleichen buschigen Brauen.

Noch mehr erinnerte er sie an den Colonel, als er sagte: „Ich bin durchaus in der Lage, meine Schwester vor Glücksrittern zu schützen.“

Lydia und Rose klappten ihre Fächer auf und wedelten sich Luft zu.

Männer! Sie waren doch alle … unmöglich!

Ganz besonders die gut aussehenden Charmeure wie Rothers­thorpe. Denn obwohl Lydia wütend auf ihn war, wusste sie ohne hinzusehen, wo er sich befand. In jedem einzelnen Moment.

Sie blickte in eine andere Richtung und nahm dennoch wahr, wann er die junge Dame zu ihrer Chaperone zurückbrachte. Sie spürte sogar ganz genau, dass er sich umdrehte und den Saal durchquerte.

Ihr Herzschlag setzte kurz aus, als sie merkte, dass er geradewegs auf sie zukam.

Keine drei Schritte vor ihrem Stuhl blieb er stehen und musterte sie, ein sardonisches Lächeln um die Lippen.

Lydia musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht aufzuspringen und es ihm aus dem Gesicht zu schlagen. Streng rief sie sich in Erinnerung, dass sie sich in einem öffentlichen Ballsaal befand. Es ging nicht an, dass sie eine Szene machte, das konnte Rose schaden.

Tief durchatmend klappte sie ihren Fächer zu.

Höflich und würdevoll musste sie sich geben. Und das konnte sie, auch wenn ihr das Herz bis in die Kehle schlug und ihre Knie sich anfühlten wie Pudding.

Sie war keine leicht zu beeindruckende Achtzehnjährige mehr, sondern eine erwachsene Frau, und sie weigerte sich, zu erröten und zu stottern oder weiche Knie zu bekommen, nur weil ein attraktiver Gentleman sich dazu herabließ, ihr ein bisschen Aufmerksamkeit zu schenken.

2. KAPITEL

Schön, Sie zu sehen, Morgan.“ Rothersthorpes Blick glitt über Lydia hinweg, als wäre sie nicht vorhanden.

Im nächsten Moment spürte sie, wie ihr Stiefsohn die Rückenlehne ihres Stuhls umfasste. Sie drehte sich zu Robert um und stellte fest, dass er Hemingford mit durchdringendem Blick anstarrte.

Oh bitte nicht … Hoffentlich gab es nun nicht doch eine Szene!

„Es ist lange her“, fuhr Rothersthorpe unbeeindruckt von Roberts Gehaben fort. „Zu lange.“ Ein reumütiges Lächeln spielte um seine Lippen, als er die Hand ausstreckte.

Das Herz trommelte Lydia wie wild in der Brust, als Robert unbeweglich stehen blieb und auf die ausgestreckte Hand blickte. Erst als er sie ergriff und „Ja, wirklich“ sagte, merkte sie, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie stieß die Luft aus und verspürte eine eigentümliche Mischung aus Schuldbewusstsein und Enttäuschung. Sie hätte Roses Abend nicht durch eine Szene ruinieren mögen, wirklich nicht, aber ein Teil von ihr wäre durchaus erfreut gewesen, Rothersthorpe durch Roberts Fäuste niedergestreckt zu sehen.

„Wirklich merkwürdig, dass unsere Wege sich in all dieser Zeit nicht einmal gekreuzt haben.“ Robert schlug einen so freundlichen Ton an, als würde er Rothersthorpe wirklich mögen. Und dabei war sie sicher gewesen, dass er ihn genauso abblitzen lassen würde wie sämtliche anderen seiner mittellosen Standesgenossen vor ihm.

„Ich bin nur noch selten in der Stadt.“ Rothersthorpe zuckte die Schultern. „Und wenn, nehme ich nicht an Veranstaltungen wie dieser teil.“ Mit einem spöttischen Lächeln blickte er sich in dem festlich erleuchteten Ballsaal um.

„Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, die Gesellschaft der Leute zu meiden, mit denen ich früher herumgezogen bin“, erklärte er gedehnt. „Schließlich muss man irgendwann im Leben anfangen, gewisse Grundsätze zu entwickeln.“

Grundsätze? Er hatte sich immer lustig gemacht über Leute, die Grundsätze hatten.

Was war geschehen, dass er so über sein früheres Ich spottete?

Er stand so nahe bei ihr, dass sie die leichten Veränderungen in seinem Äußeren sehen konnte, die aus der Entfernung nicht erkennbar gewesen waren. Natürlich hatte die Zeit Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, wenn auch nicht die, die sie erwartet hätte. Statt eines Fächers kleiner Lachfältchen in den Augenwinkeln hatten sich Linien von seinen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln eingegraben. Sie ließen ihn ernst und nüchtern aussehen.

„Also entsprechen die Gerüchte den Tatsachen? Sie sind geläutert?“

„Nicht vollkommen“, erwiderte Rothersthorpe höflich. „Die Gesellschaft hübscher junger Damen ist mir nach wie vor ein Genuss.“ Er sah Rose auf eine Weise an, dass sich Lydia die Nackenhaare sträubten. Wo war sein überwältigender Charme geblieben? Zu ihrer Zeit wäre jede junge Dame dahingeschmolzen, wenn Nicholas Hemingford das Wort an sie gerichtet hätte.

Doch dieser Gentleman, Lord Rothersthorpe – sie hätte nicht erklären können, warum –, wirkte nicht im Mindesten charmant.

Und als er dann sagte: „Möchten Sie mich nicht Ihrer bezaubernden Begleiterin vorstellen?“, erinnerte sein Gesichtsausdruck Lydia eher an einen Piraten auf Raubzug.

Ihre Befürchtungen verstärkten sich, als ihre Stieftochter zurücklächelte, denn offenbar fand Rose ihn ganz und gar nicht unheimlich. Aber welches junge Ding, das gerade seine Schulzeit beendet hatte, wäre nicht fasziniert gewesen, wenn er seine blauen Augen mit diesem intensiven Blick auf sie gerichtet und sie angelächelt hätte?

Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Rose hörte genauso wenig auf Warnungen wie sie selbst in diesem Alter und sah die Gefahr nicht kommen. Und Robert offenbar ebenso wenig, denn er machte sie gerade miteinander bekannt.

„Dies ist meine Halbschwester, Miss Rose Morgan. Nur ihres Debüts wegen sind wir alle in diesem Frühling in die Stadt übergesiedelt.“

„Ich bin entzückt.“ Lord Rothersthorpe beugte sich tief über Roses Hand. „Die Londoner Gesellschaft kann sich glücklich schätzen, dass eine Schönheit wie Sie ihre Ballsäle ziert.“

„Und dies ist meine Stiefmutter, Mrs Morgan“, fuhr Robert fort, obwohl Lord Rothersthorpe seinen Blick nicht von Rose loszureißen vermochte. „Sie kennen einander vermutlich noch von früher.“

Rothersthorpe drehte den Kopf in ihre Richtung. Der bewundernde Ausdruck, mit dem er Rose angesehen hatte, war aus seiner Miene verschwunden.

„Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass wir uns kannten“, erwiderte er mit einer knappen Verbeugung. „Unsere Wege haben sich vor fast zehn Jahren kurz gekreuzt. Ich meine mich zu erinnern, dass Sie damals nur aus dem einzigen Grund in die Stadt kamen, um einen Ehemann zu finden.“

In seiner Stimme war deutlich ein Vorwurf zu hören, und das war empörend! Lydia hätte ihn für die Bemerkung zur Rechenschaft ziehen können, doch als sie merkte, dass er seine Worte bedauerte, kaum dass sie ihm entschlüpft waren, ließ sie ihm die Taktlosigkeit durchgehen.

„Sie wissen sehr gut, dass es so war“, antwortete sie ruhig. Sie hatte ihm sogar ganz offen erzählt, dass sie in eine Notlage kommen würde, wenn sie bis zum Ende der Saison keinen Ehemann fand. Er hatte ihre Sorgen beiseitegewischt und einen Scherz darüber gemacht, dass die Dinge nie so schlimm wurden, wie man vorher befürchtete.

„Und da ich zu der Zeit fast ohne Geld dastand, bedeutete es natürlich, dass Sie nicht viel Zeit mit mir verschwenden konnten.“ Er lächelte bissig.

Das stimmte nicht. Warum verdrehte er die Tatsachen, bis es sich anhörte, als sei sie im Unrecht?

„Sie gaben mir damals sehr deutlich zu verstehen, dass Sie sich nicht zu vermählen wünschten, Mylord.“ Sie war eher verwirrt als verärgert.

„Touché.“ Er hob verteidigend die Hände. „Es ist wahr, ich war jung und schätzte meine Freiheit zu hoch ein, um sie zu opfern. Jetzt hingegen“, sein Gesichtsausdruck wurde sanfter, als er sich wieder Rose zuwandte, „bin ich erwachsen, und die Aussicht auf eine Heirat erschreckt mich nicht mehr. Im Gegenteil, da ich inzwischen ein respektabler, vermögender Mann bin, ist die Eheschließung der nächste logische Schritt für mich.“

Lydia fühlte sich wie geohrfeigt. Der Gedanke an Heirat hatte ihn damals zu Tode erschreckt. Sie hatte es ihm angesehen und auch daran erkannt, dass er spurlos verschwunden war, nachdem er die Worte geäußert hatte, die sie durchaus als Antrag hätte auffassen können, wenn sie es nicht besser gewusst hätte.

Eine Bemerkung von Mrs Westerly kam ihr in den Sinn, zum zweiten Mal an diesem Abend. Du wirst sehen, wenn die Zeit kommt, wird er eine reiche Erbin heiraten …

Eine Erbin. Lydia kannte den Raubtierblick, mit dem er Rose musterte. Rose, die nicht nur unglaublich reich war, sondern auch außergewöhnlich hübsch.

Autor

Annie Burrows
Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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