Eine verführerisch sündige Lady

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Hugh Westleigh ist Daphnes Held, seit er sie bei einem Brand gerettet hat. Aufopferungsvoll pflegt sie den Erblindeten - und verzehrt sich nach seinen erregenden Küssen. Doch kann Hugh ihr vergeben, wenn er von ihrer dunklen Vergangenheit im Masquerade Club erfährt?


  • Erscheinungstag 15.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729493
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ramsgate, Kent, April 1821

Lady Faville! Mylady! Wachen Sie auf! Es brennt!“

Daphne wurde unsanft von den Rufen ihrer Zofe aus dem Schlaf gerissen. Beißender Rauch drang ihr in die Nase und brannte ihr in den Augen. Vom Gang des Gasthofs in Ramsgate waren Schreie und heftiges Türklopfen zu hören.

„Feuer! Alles raus hier!“, rief ein Mann mit dröhnender Stimme.

Feuer – das, was sie am meisten fürchtete!

Daphne sprang aus dem Bett und schlüpfte in die Hausschuhe. Hastig stopfte die Zofe Kleidung in einen der beiden Handkoffer.

„Lass die Sachen zurück, Monette.“ Daphne nahm den Geldbeutel und warf sich die Stola über die Schultern. „Wir müssen los!“

Daphne ergriff die Türklinke, doch die Zofe zog sie zurück.

„Warten Sie! Vielleicht brennt es schon auf dem Gang.“ Die junge Frau hielt eine Hand gegen die Tür. „Sie ist nicht heiß. Dann ist es ein sicherer Fluchtweg.“ Sie öffnete die Tür.

Es war alles andere als ein sicherer Fluchtweg.

Der Gang war voller Rauch, und die Flammen züngelten schon an mehreren Stellen die Wände hoch. In wenigen Augenblicken würden sich die Tapeten kräuseln und zu brennen beginnen.

Daphne hatte genau vor Augen, was sie schon einmal erlebt hatte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. War es ihr bestimmt, am Ende doch noch in den Flammen zu sterben?

„Beeilen Sie sich, Monette!“ Mit der Zofe an der Hand lief sie wie blind durch die Spießruten aus lodernden Flammen.

Ihre Zimmer lagen weit von der Treppe entfernt.

„Da ist noch jemand auf dem Gang!“, rief ein Mann.

Aus dem grauen Rauch tauchte er vor ihnen auf, packte sie beide und zerrte sie zur Treppe, vorbei an anderen Gästen, die in ihren Nachtgewändern hinauseilten.

Sie erreichten den oberen Treppenabsatz, und der Mann schob Monette nach vorn. Das Mädchen hastete die Stufen hinunter. Daphne schrak zurück. Von unten stiegen bereits hohe Flammen auf.

„Ich hole Sie hier raus.“ Der Mann hob Daphne hoch und trug sie die drei Stockwerke hinunter. Vor lauter Angst vor dem Feuer verbarg sie das Gesicht an seiner Brust.

Plötzlich war kühler Wind zu spüren, und sie bekam wieder Luft. Sie waren draußen. Er setzte sie ab, und sofort lief Monette zu ihr, um sie erleichtert zu umarmen. Sie hatten überlebt! Daphne wollte dem Mann danken, der sie gerettet hatte.

Doch er rannte bereits zurück in das brennende Haus.

Daphnes Diener tauchte neben ihnen auf. „Gut, dass Sie in Sicherheit sind, Mylady. Wir sollten uns besser vom Gebäude entfernen.“

Er führte sie zu einer mehr oder weniger bekleideten Menschenmenge.

„Ich muss zurück zum Löschen“, entschuldigte sich der Diener.

„Ja natürlich, Carter. Helfen Sie, wo Sie nur können“, ermutigte ihn Daphne.

Besorgt starrte Daphne auf die Eingangstür und hoffte, dass ihr Retter wieder dort erschien. Obgleich sie sein Gesicht vor lauter Rauch kaum gesehen hatte, war sie sich sicher, ihn wiederzuerkennen: groß, dunkelhaarig und stark. Er hatte einen braunen Gehrock und die hellen Pantalons eines Gentlemans getragen.

Schließlich kam er mit zwei Kindern unter den Armen zurück, gefolgt von einer Mutter, die vor Angst ganz außer sich war.

Daphne wollte gerade zu ihm gehen, um ihm zu danken. Doch zu ihrem Entsetzen wandte er sich erneut dem brennenden Eingang zu. Einer der Männer stellte sich ihm in den Weg – offenbar um ihn aufzuhalten, doch er riss sich los und eilte zurück in das Haus.

Erschrocken schlug Daphne die Hand vor den Mund. Bitte, lieber Gott, lass ihn heil wieder zurückkehren!

Ein älterer Gentleman näherte sich. „Lady Faville?“

Ihr war nicht nach Konversation zumute. Sie wollte nach ihrem Retter Ausschau halten.

„Erinnern Sie sich nicht an mich?“, fragte der Mann.

Sie nahm an, dass sie ihm irgendwann einmal in London begegnet war. „Es tut mir leid. Ich …“

Er sah sie enttäuscht an. „Ich bin Lord Sanvers. Wir sind uns mehrmals im Masquerade Club begegnet.“

Der Masquerade Club …

Das war ein Ort, den sie am liebsten für immer aus ihrem Gedächtnis getilgt hätte. Beinahe hatte sie den Club zerstört.

Durch Feuer.

„Ich war das letzte Mal vor zwei Jahren dort“, entgegnete sie. „Damals wurden mir dort sehr viele Gentlemen vorgestellt.“

Das war eine klägliche Entschuldigung. Gewiss wusste er wie jeder andere, der damals dort gewesen war, dass sie nur für einen Mann Augen gehabt hatte – einen, der sie niemals lieben würde. Sie war auf den Kontinent geflohen und hatte sich schließlich in ein Kloster in der Schweiz zurückgezogen. Dort hatte sie ihre Fehler erkannt und begriffen, worin ihre Rettung bestand.

Doch war sie wirklich dazu in der Lage, sich derartig zu verändern? War es ihr gegeben, so selbstlos und mutig zu handeln wie der Mann, der sie gerettet hatte?

Die Minuten kamen ihr wie Stunden vor, bis sie ihn endlich wiedersah, als er zwei alte Frauen sicher aus dem Haus geleitete. Das Feuer tobte inzwischen laut und zischend wie ein riesiges Ungeheuer. Waren noch immer Menschen im Haus?

Offenkundig wollte er sich erneut in das Flammenmeer wagen. Glühende Balken fielen herab, und das Gebäude schien zu ächzen, als ob es ein Klagelied anstimmte. Als Daphnes Retter den Eingang erreichte, traf ihn ein brennender Sparren vom Dach. Schützend verschränkte er die Arme vor dem Gesicht. Bestürzt musste Daphne mit ansehen, wie er von dem Feuerbalken zu Boden gerissen wurde.

„Nein!“ Ohne nachzudenken, hastete sie zu ihm.

Ein paar Männer waren vor ihr bei ihm und hievten ihn in den Hof. Dann brach das Gebäude gänzlich in sich zusammen.

Daphne kniete sich neben ihn und half dabei, die Flammen zu ersticken, die den Stoff seiner Kleidung erfasst hatten.

„Ist er am Leben?“, fragte sie verzweifelt.

Sie rollten ihn auf den Rücken, und einer der Männer fühlte seinen Puls. „Vorläufig lebt er.“

Daphne rang nach Luft. „Ich kenne ihn!“

Obgleich sein Gesicht rußverschmiert und von Brandwunden übersät war, erkannte sie ihn. Es war Hugh Westleigh, der jüngere Bruder des Earl of Westleigh und der Bruder von Phillipa, der sie vor zwei Jahren solches Leid zugefügt hatte. War er etwa wie sie mit dem Schiff aus Calais angekommen? Wie dem auch sein mochte, gewiss würde er sich nicht freuen, sie zu sehen …

Er war bewusstlos, und sie machte sich große Sorgen um ihn.

„Wir bringen ihn besser zum Wundarzt“, schlug einer der Männer vor.

Sie hoben ihn hoch, und Daphne folgte ihnen.

Monette wich nicht von ihrer Seite und sah sie mit großen Augen an. „Mylady?“

„Ich kenne diesen Mann“, erläuterte sie. „Ich muss sicherstellen, dass er gut versorgt wird. Suchen Sie den Kutscher.“

Die Männer trugen ihn zu einem Haus, in dem bereits viele Leute auf Bänken warteten, während der Wundarzt damit beschäftigt war, die Verletzten zu verarzten.

„Wir haben hier jemanden, den es besonders schlimm erwischt hat, Mr Trask!“

Der Arzt wies die Männer an, Westleigh auf den Behandlungsstuhl zu legen. Nach wie vor schien er nicht bei Sinnen zu sein.

Daphne rang die Hände. „Wird er überleben?“

„Ich weiß es nicht, Madam“, antwortete der Arzt.

„Ich habe gesehen, dass ihn ein brennender Balken am Kopf traf“, sagte sie.

Der Mann betrachtete Westleighs Verletzung genauer. „Danach sieht es aus.“

„Wachen Sie auf, Sir!“, rief der Arzt, bevor er sich an Daphne wandte. „Wie heißt er?“

„Mr Westleigh“, antwortete sie.

„Westleigh!“ Der Wundarzt hob die Stimme. „Wachen Sie auf!“

Hugh Westleigh stöhnte.

„Öffnen Sie die Augen!“

Westleigh bemühte sich, der Aufforderung Folge zu leisten, zuckte zusammen und rieb sich die Augen. „Ich kann nicht …“

Der Arzt schob Westleigh die Hände aus dem Gesicht. „Machen Sie das nicht! Lassen Sie mich nachsehen.“ Er untersuchte die Augen seines Patienten und drehte sich zu Daphne. „Seine Augäpfel sind trüb. Sie haben im Feuer Schaden genommen.“ Er kippte Westleighs Kopf in den Nacken und spülte die Augen mit sauberem Wasser aus einem Krug aus. „Die Augen müssen zwei Wochen verbunden bleiben. Sonst wird er blind.“ Er zuckte mit den Achseln. „Es kann sein, dass er das Augenlicht so oder so verliert, aber manchmal erholen sich die Augen erstaunlich gut. Sorgen bereitet mir auch sein Kopf. Ganz sicher hat er eine schwere Gehirnerschütterung erlitten.“

„Kopfschmerzen“, murmelte Westleigh.

Doktor Trask legte Kompressen auf die Augen des Verletzten und wickelte einen Verband um dessen Kopf, damit die Wundauflagen nicht verrutschten. Kaum war er damit fertig, wurde ein weiterer Schwerverletzter in das Zimmer getragen, der umgehend behandelt werden musste. „Sorgen Sie dafür, dass seine Augen verbunden bleiben und er sich lange genug ausruht. Keine Reisen!“, wandte der Arzt sich noch einmal an Daphne.

Sie legte einige Münzen auf den Tisch. Trask verdiente eine angemessene Bezahlung.

Einer der Männer, die Westleigh hergebracht hatten, half ihm auf die Beine. „Kommen Sie, Sir.“

Als sie das Haus verließen, dämmerte es bereits.

Carter kam auf sie zu. „Mylady, unser Kutscher hat einen Stall für die Pferde gefunden. Er wartet mit Monette bei der Kutsche, nicht weit vom Gasthof entfernt.“

Der Mann, der Westleigh stützte, hatte seine Mühe, ihn aufrecht zu halten. „Bitte helfen Sie ihm“, bat Daphne den Diener. Carter tat, wie ihm geheißen, doch der Mann lud die Last ganz bei ihm ab. „Ich muss nach meiner eigenen Familie sehen, Madam“, sagte er noch, bevor er davonlief.

Westleigh stöhnte.

„Was soll ich mit ihm machen?“ Carter verlagerte das Gewicht, um Westleigh besser halten zu können.

Daphne fiel es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. „Bringen Sie ihn erst einmal zur Kutsche. Wir müssen jemanden finden, der sich um ihn kümmert.“

Noch immer waren zahlreiche Männer dabei, die Glut auszutreten und die wenigen Gegenstände zu retten, die den Brand überstanden hatten. Daphnes große Koffer und der Koffer ihrer Zofe waren bei der Kutsche geblieben, daher hatten sie nur das verloren, was sich in den beiden Handkoffern befunden hatte.

Carter und Smith, der Kutscher, halfen Westleigh in die Reisekutsche.

„Kommt er mit uns?“, fragte Monette.

„Oh nein“, erwiderte Daphne. „Das wäre ihm sicher nicht recht. Wir müssen herausbekommen, in wessen Begleitung er hierher gereist ist.“ Sie wandte sich an den Diener. „Könnten Sie bitte entsprechende Erkundigungen anstellen? Sein Name ist Hugh Westleigh.“

Westleigh bewegte sich unruhig auf der Sitzbank und zog an dem Verband.

„Nein, Westleigh!“ Daphne stieg zu ihm in die Kutsche und hielt seine Hände fest. „Sie dürfen den Verband nicht anrühren.“ Sie legte ihm Kissen in den Nacken, damit er es bequemer hatte.

„Durst“, murmelte Westleigh.

Wie gedankenlos von ihr! Nach den furchtbaren Strapazen musste er schrecklich durstig sein.

„Monette, bitte besorgen Sie Bier und etwas zu essen.“ Sie reichte der Zofe eine Handvoll Münzen. „Kaufen Sie auch etwas für sich und Carter und natürlich für Smith.“

Monette kam in weniger als einer Viertelstunde mit Essen und Trinken aus einem nahen Gasthaus zurück.

„Es gibt dort ein Zimmer, wo wir die Kleidung wechseln können“, berichtete sie. „Ich habe es bereits bezahlt und auch für eine Mahlzeit, die wir dort in Ruhe einnehmen können.“

Das war auf jeden Fall besser, als auf der Straße zu essen, wo die Luft noch immer von Rauchgeruch erfüllt war.

„Ich kümmere mich um den Gentleman, Mylady“, versprach Smith. „Ich muss ohnehin auf die Kutsche aufpassen.“

Monette kletterte auf das Kutschendach und holte Kleidung zum Wechseln aus den Koffern. Dann führte sie Daphne in das Gasthaus.

Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die dem Feuer entkommen waren, hatten hier Zuflucht gesucht. Die Worte der Äbtissin kamen Daphne in den Sinn. Sie müssen Mitleid mit den anderen Menschen haben. Wir sind alle Gottes Kinder.

Die gute alte Äbtissin hatte sich liebevoll ihrer angenommen und ihr viel Zeit gewidmet.

Daphne stiegen Tränen in die Augen. Der Tod der greisen Frau war ein schwerer Schlag für sie gewesen, schlimmer als der Tod der eigenen Mutter und der Tod des Ehemanns. Danach hatte sie es nicht ertragen, länger im Kloster zu bleiben.

Als Daphne mit Monette das private Zimmer erreichte, ließ sie sich erleichtert auf einen Stuhl sinken.

Doch es plagten sie auch Schuldgefühle, und sie kam sich selbstsüchtig vor. Warum hatte sie ein Zimmer für sich, obwohl viele der anderen verletzt waren und dringender Ruhe brauchten?

Sie wechselte rasch das Nachtgewand gegen die Kleidung, die Monette aus dem Koffer geholt hatte. Die Zofe zog sich ebenfalls um. Nach einem kurzen Frühstück steckte Daphne dem Gastwirt zusätzliches Geld zu und bat ihn, das Zimmer den Leuten zu geben, deren Notlage am größten war, und ihnen eine warme Mahlzeit zu bereiten.

Dann verließ sie mit Monette das Gasthaus und kehrte zur Kutsche zurück.

Carter stand neben dem Kutscher.

„Haben Sie Mr Westleighs Reisegefährten ausfindig machen können?“

„Ich habe mit dem Wirt des abgebrannten Gasthofs gesprochen“, antwortete Carter. „Er sagte, dass Mr Westleigh allein und ohne Diener angereist sei.“

Wer sollte sich jetzt um ihn kümmern?

„Wie geht es ihm?“, erkundigte sie sich bei Smith.

„Er schläft“, gab der Kutscher Auskunft. „Er murmelt hin und wieder etwas vor sich hin und wirkt unruhig, aber er schläft. Vorher hat er das Bier getrunken.“

Daphne sah sich um. „Wir müssen jemanden finden, der sich um ihn kümmert.“

Carter schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das ist unmöglich. So viele Menschen sind durch das Feuer verletzt worden und haben kein Dach über dem Kopf. Es wird schon schwierig sein, überhaupt ein freies Zimmer zu bekommen.“

„Wir sollten besser noch heute von hier abreisen, Mylady“, pflichtete Smith ihm bei. „Wenn wir zeitig aufbrechen, finden wir Unterkunft in einem Postgasthof auf der Strecke und könnten bereits übermorgen in Faville House eintreffen.“

Es war eine Reise von etwa drei Tagen bis zu ihrem Landsitz in Vadley bei Basingstoke. Ihr verstorbener Gatte hatte ihr das gesamte Gut vermacht. Sie hatte sich dort in der Trauerzeit nur ein paar Wochen aufgehalten. Jetzt plante sie, sich ganz dorthin zurückzuziehen.

„Der Arzt meinte, dass er nicht reisefähig sei“, widersprach sie.

„Uns bleibt keine andere Wahl, Mylady“, sagte Carter leise.

Erneut meldete sich der Kutscher zu Wort. „Ich schlage vor, dass wir sofort aufbrechen und an jedem Postgasthof anhalten, bis wir jemanden gefunden haben, der ihn gesund pflegt. Das wird uns sicher eher gelingen, sobald wir Ramsgate verlassen haben.“

„Nun gut.“ Sie nickte entschlossen. „Aber wir sollten besser in Richtung London fahren. Ich bin mir sicher, dass seine Familie sich in der Stadt aufhält. Haben wir erst einmal Quartier bezogen, lasse ich seine Familie benachrichtigen. Dann müssen seine Angehörigen nicht weit reisen, um zu ihm zu gelangen.“

Am späten Nachmittag hatten sie noch immer keine geeignete Unterbringung für Westleigh finden können und ebenso wenig jemanden, der ihn zuverlässig gepflegt hätte. In seinem Zustand war es außerdem undenkbar, mit ihm die gesamte Strecke bis nach London zurückzulegen.

Immer wieder schrie er vor Schmerzen auf, während die Kutsche über die holprigen Wege ratterte. Häufig wachte er fiebrig und orientierungslos auf und war nur schwer zu beruhigen.

Schließlich erreichten sie das kleine Dorf Thurnfield an der Straße nach Maidstone. Im Gasthaus war kein Zimmer frei, doch der Wirt vermittelte Daphne ein Haus in der Nähe des Dorfes, das seit ein paar Wochen leer stand. Sie unterschrieb die Papiere und bezahlte die Miete. Bevor sie sich auf den kurzen Weg zu dem Haus machten, sprach sie mit Carter, dem Kutscher und Monette.

„Ich habe mich hier als Mrs Asher ausgegeben, nicht als Lady Faville. Ich glaube, dass sich Mr Westleigh wohler fühlen wird, wenn er nicht weiß, dass ich mich um ihn kümmere. Er kennt mich nur als Lady Faville, und seine Familie hat Grund, mich nicht zu mögen. Es würde ihn verärgern, wenn er erfährt, dass ausgerechnet ich mich seiner angenommen habe.“ Sie holte tief Luft und rieb sich die Stirn. „Asher ist mein Mädchenname, daher ist es keine echte Lüge …“

Wem machte sie etwas vor? Sie belog sich selbst und andere über ihre wahre Identität.

Hatte die Äbtissin sie nicht vor jeder Unwahrheit gewarnt – selbst wenn es sich nur um kleine Lügen handelte?

Beim nächsten Mal werde ich mich daran halten, schwor sie sich mit schlechtem Gewissen. „Bitte denken Sie daran, mich Mrs Asher zu nennen und nicht mit Mylady anzureden.“

Die drei Bediensteten nickten einvernehmlich.

Wenig später hielt die Kutsche vor einem weiß gekalkten Haus, das von gepflegten Büschen eingerahmt war. Außerdem gab es einen kleinen Stall für die Pferde.

Carter öffnete die Kutschentür und zog die Trittleiter heraus. Als Daphne und Monette ausgestiegen waren, kamen ihnen die Haushälterin und ihr Mann entgegen, um sie zu begrüßen.

„Wir sind Mr und Mrs Pitts, Madam“, sagte der Mann. „Wir stehen zu Ihren Diensten.“

„Ich bin Mrs Asher.“ Daphne schüttelte ihnen die Hände. „Wir haben einen Verletzten bei uns – Mr Westleigh. Er sollte so rasch wie möglich in ein Schlafzimmer gebracht werden.“

Die Haushälterin wies auf die Tür. „Kommen Sie nur herein, Mrs Asher, und bestimmen Sie, welches Zimmer für den Gentleman sein soll.“

Während die Bediensteten das Gepäck hereintrugen, folgte Daphne der Frau in das Innere des Hauses. Die Ausstattung war bescheiden, wenngleich geradezu luxuriös im Vergleich zu den Zellen im Kloster. In der kurzen Zeit, bis Westleighs Familie ihn abholte, würden sie hier gut zurechtkommen.

Mrs Pitts führte sie die Treppe hinauf, und Daphne suchte das schönste Zimmer für Westleigh aus.

„Ist das Bett frisch bezogen?“, erkundigte sie sich.

„Ja“, bestätigte Mrs Pitts. „Wir haben sofort alles vorbereitet, als der Sohn vom Gastwirt uns benachrichtigt hat.“

„Das war sehr zuvorkommend von Ihnen.“ Sie schenkte Mrs Pitts ein Lächeln und blickte zu Carter, der Westleighs Koffer in den Händen hielt. „Stellen Sie ihn hier ab.“

„Möchten Sie sich jetzt den Rest des Hauses ansehen?“, fragte Mrs Pitts.

„Ich möchte erst einmal dafür sorgen, dass der Gentleman es gut hat“, erwiderte sie.

„Dann werde ich derweil das Essen zubereiten, Madam.“

Kaum hatte Mrs Pitts das Zimmer verlassen, trugen die Männer Westleigh zu dem Bett.

„Wo bin ich?“, fragte Westleigh wie benommen. „Wohin habt ihr mich gebracht?“

Um ihn zu beruhigen, nahm Daphne seine rechte Hand. „Sie befinden sich in einem Haus an der Straße nach Maidstone.“

„Aber ich muss nach London.“ Er versuchte, aufzustehen.

Daphne legte die Hände auf seine Schultern, und er sank in die Kissen zurück. „Sie sind zu krank, um weiterzureisen.“ In den letzten Stunden hatte sie ständig solche Erklärungen abgegeben – jedes Mal, wenn er aufwachte und nicht wusste, wo er war. „Sie haben sich bei einem Brand die Augen und den Kopf verletzt. Ruhen Sie sich aus. Wir werden Sie pflegen, bis es Ihnen besser geht.“

Er entspannte sich ein wenig. „Dann reise ich nach London.“

Carter ergriff das Wort. „Sie sollten jetzt besser das Zimmer verlassen, My…, Mrs Asher, während ich ihn umkleide.“

Daphne wandte sich an Mr Pitts. „Würden Sie ihm bitte Wasser, Seife und Handtücher bringen, damit Carter ihn frisch machen kann? Gewiss wird er sich anschließend besser fühlen.“

„Ist alles bereits hier, Madam.“ Der Mann deutete auf eine Kommode, auf der eine Waschschüssel stand und Handtücher lagen. Dann verließ er das Zimmer.

„Gehen Sie nur, Madam“, sagte Carter. „Ich kümmere mich um ihn.“

Als Daphne Westleighs Hand loslassen wollte, hielt er sie fest. „Gehen Sie nicht“, bat er mit rauer Stimme. „Lassen sie mich nicht allein.“

Sie wusste nicht, wie sie ihn besänftigen sollte.

Vorsichtig strich sie ihm über das wenige Haar, das nicht vom Verband verdeckt wurde. „Sie sind nicht allein. Carter ist bei Ihnen“, sagte sie leise.

„Ich bin hier, Sir“, bestätigte der Diener. „Ich werde Sie jetzt ein wenig waschen und Ihnen saubere Kleidung anziehen.“

Daphne merkte, dass ihr verletzter Retter ruhiger wurde.

„Keine Nachtbekleidung“, murmelte er noch.

2. KAPITEL

Ein Drache war hinter ihm her, und der Feueratem verbrannte seine Haut und stach in den Augen.

Mit letzter Kraft rannte Hugh schneller, um zu entkommen.

Er sah das Ziel vor sich – ein winziger Lichtpunkt, der sich immer weiter zu entfernen schien, je mehr er sich abmühte, näher zu kommen. Die Flammen zischten spöttisch, als wollte der Drache ihn verhöhnen. Das Feuer umzingelte, lähmte und verschlang ihn.

Schweißgebadet wachte er auf.

Alles war dunkel.

Er setzte sich aufrecht im Bett hin und tastete nach seinen Augen. „Ich sehe nichts! Weshalb sehe ich nichts?“ Verbandsstoff verdeckte seine Augen.

Dann erinnerte er sich. Das Feuer war kein Traum gewesen. Mit beißender Helligkeit hatte es seine Augen verbrannt. War er blind?

„Weg mit dem Verband!“ Er zog daran.

Er hörte das Rascheln von Röcken, und der Duft von Rosen drang ihm in die Nase. Kühle Hände ergriffen seine Finger.

„Ihre Augen sind verletzt.“ Es war die Stimme einer Frau. Sie kam ihm nicht vertraut vor. „Sie dürfen den Verband nicht ablegen. Er dient der Heilung.“

„Wer sind Sie?“ Er schluckte. Sein Hals schmerzte beim Sprechen.

„Ich bin Mrs Asher. Sie haben mich aus dem Feuer nach draußen getragen …“

Er erinnerte sich dunkel an eine Frau, die er durch die Flammen hinaus an die kühle Nachtluft getragen hatte.

„Wir konnten in Ramsgate keinen angemessenen Ort für Ihre Genesung finden. Deshalb haben wir Sie hierher gebracht, damit Sie sich erholen können.“

Sie sorgte sich um ihn. Wer war diese Frau? Er wollte sie sehen und herausfinden, weshalb ihre Stimme ein solches Unbehagen verriet.

Leider war das unmöglich.

Er räusperte sich. „Sie sprachen von ‚wir‘.“

„Ja, meine Zofe, mein Diener und der Kutscher.“

Sie war also eine Frau, die über ausreichend Mittel verfügte, um Personal bezahlen zu können. War sie reich? „Gibt es hier noch mehr Bedienstete?“, erkundigte er sich.

„Nur noch eine Haushälterin und ihren Mann.“

Dann waren die Mittel eher bescheiden. Dennoch hätte er wetten können, dass sie ihm etwas verschwieg. „Wo ist Mr Asher?“

„Ich bin Witwe.“ Ihre leise Stimme rief ganz neue Gefühle in ihm hervor.

Mit einem Mal erinnerte er sich daran, dass die Frau, die er getragen hatte, kaum etwas gewogen hatte. Vertrauensvoll hatte sie sich gegen seine Brust gelehnt, um das Gesicht vor dem Feuer zu verbergen.

Er verfluchte den Verband, der seine Augen bedeckte. Er wollte sie ansehen.

„Mein Name ist Westleigh.“ Er streckte die rechte Hand in die schwarze Leere, die sich vor ihm ausbreitete.

Sie nahm seine Hand.

Ihre Finger fühlten sich weich an, wie es normalerweise nur bei Frauen aus gutem Hause der Fall war.

„Ich weiß bereits, wer Sie sind“, sagte sie mit fester Stimme. „Im Gasthof von Ramsgate hat man uns gesagt, dass Sie Mr Hugh Westleigh sind. Wir haben auch Ihren Koffer mitgebracht.“

Hatte sie auch erfahren, dass er der jüngere Bruder des Earl of Westleigh war? Hatte das eine Rolle dabei gespielt, ihn hierher zu bringen?

Wenn er ihr doch nur in die Augen hätte sehen können – dann wäre er sich rasch über ihren Charakter im Klaren gewesen.

Er presste die Hände gegen den Verband. Der Schmerz in den Augen wurde heftiger.

Weiche und kühle Finger zogen seine Hände vom Gesicht. „Bitte lassen Sie den Verband in Ruhe. Der Arzt meinte, dass die Augen zwei Wochen verbunden bleiben sollten. Das ist nötig, damit sie heilen.“

„Verheilt die Verletzung denn, oder werde ich erblinden?“, fragte er.

Sie antwortete nicht sofort. „Der Arzt hat lediglich gesagt, dass die Augen nicht heilen, wenn der Verband entfernt wird. So viel ist sicher. Er meinte jedoch, eine Heilung sei möglich.“

Hugh lachte verbittert. „Möglich? Das klingt nicht sehr ermutigend.“

„Ich gebe nur wieder, was er mir gesagt hat“, entgegnete sie.

Er riss sich zusammen. Offensichtlich hatte sie die Mühe auf sich genommen, für ihn zu sorgen. Es war ungehörig, ihr gegenüber unfreundlich zu sein.

Er richtete sich ein wenig auf und wandte sich in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. „Verzeihen Sie mir. Üblicherweise neige ich nicht zu Selbstmitleid.“

„Natürlich nicht.“ Jetzt klang sie wie seine alte Gouvernante. „Haben Sie Durst?“

In der Tat fühlte er sich wie ausgetrocknet. Er nickte.

Er hörte, wie Flüssigkeit in ein Trinkgefäß geschüttet wurde. Sie hob seine rechte Hand und sorgte dafür, dass seine Finger das Glas umschlossen. Er trank einen Schluck.

Es war Wasser, das mit einem Hauch duftender Minze aromatisiert worden war. Wer machte sich eine solche Mühe für einen Fremden?

In wenigen Zügen leerte er das Glas. „Könnte ich bitte noch mehr haben?“

Sie schenkte ihm erneut Wasser ein.

Sofort trank er es aus und reichte ihr das Glas. „Ich hasse es, mich hilflos zu fühlen.“

„Das ist ganz normal“, antwortete die Gouvernantenstimme. „Aber Sie müssen sich jetzt ausruhen. Nicht nur die Augen wurden verletzt. Sie haben auch eine Gehirnerschütterung erlitten. Der Arzt meinte, Sie sollten sich unbedingt ausruhen.“

Er sank in die Kissen zurück. Das Trinken von zwei Gläsern Wasser hatte ihn völlig erschöpft. Wie demütigend! Er verabscheute es, Schwäche zu zeigen.

„Soll ich Ihnen ein Frühstück bringen?“, erkundigte sie sich. „Oder möchten Sie lieber schlafen?“

Allein bei der Erwähnung von Essen begann sein Magen zu knurren. „Ein Frühstück wäre genau das Richtige.“

Abermals war das Rascheln ihrer Röcke zu vernehmen. „Ich bin gleich zurück.“

Vorsichtig befühlte er den Verband. Auf den Augen lagen dicke Kompressen, die fest um seinen Kopf gebunden waren. Er versuchte, die Lider zu öffnen, doch der Verband lag so eng an, dass sie sich kaum bewegen ließen. Die Anstrengung verursachte ein heftiges Stechen in den Augäpfeln, und er wagte nicht, es erneut zu versuchen.

War es sein Schicksal, blind und abhängig zu sein?

Er hieb mit einer Faust auf die Matratze und hätte am liebsten irgendetwas in tausend Stücke zerschlagen.

Verzweifelt tastete er seine Arme und Beine ab. Jemand hatte ihm ein Hemd und Unterwäsche angezogen. Er roch am Stoff des rechten Ärmels. Es war frische Kleidung ohne jeden Rauchgeruch.

Hatte sie ihn etwa ausgezogen?

Er bemühte sich, sich zu erinnern. Er hatte Menschen aus dem Feuer gerettet. Ein brennender Balken hatte ihn am Kopf getroffen. Undeutlich entsann er sich, in einer Kutsche hin und her gerüttelt worden zu sein, doch diese Erinnerungen ergaben kein vollständiges Bild.

Seine Schläfen pochten, und er drückte die Finger dagegen. Wie schwer war er verletzt? Er streckte die Arme und Beine aus. An einigen Stellen spürte er den stechenden Schmerz von Verbrennungen auf der Haut, doch sie schienen nicht gravierend zu sein.

Immerhin konnte er noch laufen. Er würde also einen Teufel tun, hier im Bett zu bleiben!

Er stand auf und versuchte, das Bett zu umrunden. Er hasste es, nicht zu wissen, was vor ihm lag. Sich mit den Händen vorantastend machte er zögerliche Schritte. War so das Leben ohne Augenlicht? Eine Gefangenschaft in der Leere? Jeder Schritt eine Unsicherheit?

Eine Tür öffnete sich.

„Mr Westleigh!“ Es war Mrs Ashers Stimme. „Sie sollten im Bett bleiben!“

Er hörte das Klappern von Geschirr und nahm den Geruch von Brei und den Duft von Rosen wahr.

Sie ergriff seinen linken Arm. „Ich helfe Ihnen ins Bett zurück.“

Er zog den Arm weg. „Ich werde kein Invalide.“

„Nein, aber Sie müssen sich ausruhen, um ebendies zu vermeiden.“

Es widerstrebte ihm, nachzugeben. „Haben Sie etwas zu essen mitgebracht?“

„Ja“, antwortete sie. „Und ein Tablett, damit sie bequem im Bett frühstücken können.“

Er drehte sich in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. „Gibt es in diesem Zimmer einen Tisch und einen Stuhl?“

Sie antwortete nicht sofort. „Ja.“

„Dann werde ich wie ein normaler Mann am Tisch essen.“

„Nun gut.“ Sie seufzte und geleitete ihn zu einem Stuhl. Er setzte sich und hörte, wie der Tisch für ihn zurechtgerückt wurde.

Sie drückte ihm einen Löffel in die rechte Hand und zeigte ihm, wo sich die Schale mit dem Essen befand. „Es ist ein Haferbrei.“

Er fühlte sich ausgehungert, doch er blickte in die Richtung, in der er sie vermutete. „Mrs Asher?“

„Ja?“ Sie wirkte gereizt, was nach dem barschen Ton, den er angeschlagen hatte, nicht verwunderlich war.

„Verzeihen Sie mir.“ Sie hatte seine Unfreundlichkeit wahrhaftig nicht verdient. „Ich habe allen Grund, Ihnen dankbar zu sein.“

Sie antwortete erst, nachdem einige Sekunden verstrichen waren. „Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Mr Westleigh.“ Ihre Stimme klang jetzt weicher. „Aber jetzt sollten Sie essen, um wieder zu Kräften zu kommen.“

Autor

Diane Gaston
Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten.

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