Gefangene des Ruhms

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Die Glamourwelt von Los Angeles entdeckt ihre makellose Schönheit, und Top-Model Valentine wird über Nacht zum Superstar. Alle Männerherzen fliegen ihr zu. Nur denjenigen, den Valentine wirklich liebt, kann sie nicht bekommen ...

Valentine Superstar! Agenturen, Zeitschriften und Designer reißen sich um das neue Top-Model. Und alle beneiden den Fotografen Carlo Triani, den Entdecker, Protegé und schließlich auch Ehemann Valentines. Doch immer öfter fragt die junge Frau sich, ob sie für den Ruhm nicht ihr eigenes Glück verkauft hat ... Ein mitreißender, enthüllender Roman über die Machenschaften in der Welt des Glamours und der Mode, in der vergängliche Schönheit alles bedeutet und es gefährlich ist, Gefühle zu bekennen ...


  • Erscheinungstag 10.09.2005
  • ISBN / Artikelnummer 9783862783748
  • Seitenanzahl 560
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. TEIL

 

1. KAPITEL

Bend, Mississippi

1984

Nirgendwo auf der Welt roch es so wie im Mississippi-Delta im Juli. Überreif, wie eine Frucht, die man zu lange in der Sonne liegen gelassen hat. Durchdringend wie der Atem eines Betrunkenen nach einem ausgedehnten Saufgelage. Nach Schweiß.

Und Schmutz. Es gab Tage, da war die Luft so trocken, dass sie in Mund und Kehle kratzte, doch meistens legte sie sich wie ein feuchter Film über alles, ganz besonders über die Haut. Becky Lynn hob ihr schulterlanges Haar, das sich klebrig anfühlte, hoch, um etwas Luft an ihren Nacken zu lassen. Die meisten Leute in Bend machten sich im Gegensatz zu ihr über Gerüche im Allgemeinen nicht viele Gedanken. Sie jedoch fantasierte sich an einen Ort, an dem es nach exotischen Blüten und auserlesenen Parfüms duftete, in eine Welt, die bevölkert war von schönen Menschen in eleganten Kleidern, auf den Lippen ein einladendes Lächeln.

Sie wusste, dass eine solche Welt existierte, sie kannte sie aus den Modemagazinen, die sie, nach schönen Bildern lechzend, begierig durchblätterte, wann immer sich ihr die Gelegenheit dazu bot. Es waren die Hochglanzmagazine, die Miss Opal ihr lieh oder gelegentlich auch schenkte und die ihr ihr Vater fuchsteufelswild aus den Händen riss, wenn er sie damit erwischte.

Aber das war ihr egal. Sie hatte sich geschworen, eines Tages in diese Welt zu gelangen. Um dort zu leben. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie freilich noch nicht, doch das stimmte sie nicht weniger zuversichtlich. Sie würde es schaffen.

Becky Lynn schlenderte über den Bahndamm, dessen Gleise nicht nur dazu dienten, Reis, Baumwolle und Sojabohnen aus Bend hinauszutransportieren, sondern die gleichzeitig den guten Teil der Stadt vom schlechten abtrennten, die respektablen Bürger vom Abschaum.

Sie gehörte zum weißen Abschaum. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr diese Bezeichnung zum ersten Mal bewusst zu Ohren gekommen war. Es hatte wehgetan. Es tat noch immer weh, wenn sie daran dachte. Und sie dachte oft daran.

Becky Lynn hob ihr Gesicht dem strahlend blauen Himmel entgegen, von dem eine erbarmungslose Sonne herunterbrannte. Sie wünschte sich sehnlichst ein paar Wolken. Weißer Abschaum. Becky Lynn war drei gewesen, als sich bei ihr zum erstenmal die Erkenntnis festgesetzt hatte, dass sie und ihre Familie weniger wert waren als andere; noch heute erinnerte sie sich lebhaft an diesen Moment. Sie stand zusammen mit ihrer Mutter und Randy, ihrem Bruder, in einer Schlange auf dem Markt nach Gemüse an. Becky Lynn sah wieder das kleine Mädchen vor sich, das die Hand des älteren Bruders umklammerte, wobei es auf seine bloßen Füße starrte, die schmutzig waren von dem langen Weg über staubige, nicht asphaltierte Straßen. Als sie damals aufgeschaut hatte, war sie den Blicken der Umstehenden begegnet, die sie, ihren Bruder und ihre Mutter mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu musterten. In diesem Moment war ihr klar geworden, dass es noch andere Menschen gab außer ihr selbst und ihrer Familie und dass diese Menschen über ihre Mitmenschen urteilten. Das erste Mal in ihrem jungen Leben fühlte sie sich verwundbar. Sie hätte sich am liebsten hinter dem Rock ihrer Mutter verkrochen und sie angefleht, den Leuten zu verbieten, sie auf diese Art und Weise anzustarren.

Damals hatte ihre kleine Welt einen Sprung bekommen. Und obwohl sie in ihrer Mutter auch längere Zeit nach diesem Vorfall noch immer so eine Art Schutzengel sah, fand Becky Lynn doch nach und nach heraus, dass der Mutter recht enge Grenzen gesetzt waren und dass sie weder die Fähigkeit noch die Kraft besaß, sich zur Wehr zu setzen. Ebenso wie sie auf dem Markt angesichts der verächtlichen Blicke der Umstehenden geschwiegen hatte, schwieg sie auch zu Hause, wenn sich ihr Vater wieder einmal einen seiner gemeinen Übergriffe leistete. Was in letzter Zeit immer öfter vorkam.

Heute war es so, dass sich die angesehenen Bürger von Bend und ganz besonders die Kundinnen, denen Becky Lynn in Miss Opals Frisiersalon Cut ’n Curl den Kopf wusch, sich angewöhnt hatten, einfach durch sie hindurchzusehen. Oh, natürlich unterhielten sie sich mit ihr, während sie ihnen die Haare einschäumte, doch meistens nur deshalb, weil sie sich selbst gern reden hörten und weil sie wussten, dass Becky Lynn auch dafür bezahlt wurde, zu ihrem Geschwätz zu nicken. Und das war etwas, das sie bei ihren Ehemännern vermissten. Doch wenn sie ihr auf der Straße begegneten taten sie so, als wäre sie Luft. Becky Lynn war sich nie sicher, ob sie sie absichtlich übersahen oder ob sie sie nur nicht erkannten, weil sie ihr noch niemals richtig ins Gesicht geschaut hatten.

Was auch immer dahinter stecken mochte, Becky Lynn war jedenfalls schließlich zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht das Schlechteste war, unsichtbar zu sein. Im Gegenteil, im Grunde genommen war es sogar besser als alles andere, weil ihr dadurch ihre Andersartigkeit weniger zu Bewusstsein kam. Sie fühlte sich einfach … sicherer.

Als sie den Bahndamm überquert hatte, atmete Becky Lynn tief ein. Die Luft war jenseits der Gleise immer ein bisschen reiner, und es erschien ihr auch um ein paar Grade kühler. Sie beschleunigte ihren Schritt, wobei sie hoffte, früh genug im Frisiersalon zu sein, um noch vor Arbeitsbeginn einen Blick in die neueste Ausgabe von Harper’s Bazaar werfen zu können, die gestern gekommen war.

Als Becky Lynn aufschaute, sah sie einen feuerroten Jeep mit geöffnetem Verdeck und in eine Staubfahne gehüllt auf sich zurasen. Tommy Fischer und seine Gang, dachte sie erschrocken, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht wollten sie ja ihren Bruder abholen. Becky Lynns Blick fiel auf die Baumwollfelder, die die Straße zu beiden Seiten säumten. Die Stauden, an denen dicke weiße Bällchen wie Wattebäusche hingen, waren dicht an dicht gepflanzt, leider jedoch nicht hoch genug, als dass sie sich dahinter hätte verstecken können. Sie stieß einen resignierten Seufzer aus, dann straffte sie die Schultern und setzte ihren Weg fort.

Sobald die Jungen auf sie aufmerksam geworden waren, begannen sie lauthals zu grölen. „Hi, Becky Lynn“, schrie einer der Jugendlichen übermütig, „wie wär’s mit uns beiden?“ Die Frage wurde von den anderen mit johlendem Beifall und gellenden Pfiffen quittiert. „Wirklich, super siehst du heute wieder aus, Becky Lynn. Der Labrador von meinem Daddy ist schon so lange einsam, er sehnt sich nach Gesellschaft.“

Die Jungen schütteten sich aus vor Lachen. Becky Lynn ballte die Hände zu Fäusten und ging, den Blick eisern auf die Straße geheftet, weiter. Um nichts in der Welt hätte sie sich anmerken lassen, wie sehr sie die Spötteleien verletzten.

Als der Jeep mit ihr auf gleicher Höhe war, wendete Tommy und fuhr dann im Schritttempo neben ihr her. „Hi, Baby … schon mal so was gesehen?“ Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie voller Entsetzen, dass die beiden Jungen auf dem Rücksitz ihre Jeans aufgemacht hatten und sich nun, von einem gemeinen Lachen begleitet, entblößten. Ricky, der mieseste von allen, sprang mit heruntergelassener Hose auf die Sitzbank, nahm seinen Penis in die Hand und schrie ihr zu: „Zu schade, dass du so kreuzhässlich bist, sonst hättest du ihn mal anfassen dürfen. Wette, das hätte dir irren Spaß gebracht, meinst du nicht auch, Baby?“

Sie verspürte den Drang davonzurennen, so schnell und so weit sie nur konnte, doch sie kämpfte erfolgreich dagegen an, hob das Kinn und setzte ihren Weg scheinbar ungerührt fort.

Ricky lehnte sich aus dem Wagen und versuchte sie festzuhalten, wodurch sie sich gezwungen sah, auf das lehmige Feld auszuweichen. Sekunden später gab Tommy Gas, und dann raste der Jeep in eine Staubwolke eingehüllt davon.

Nun begann Becky Lynn zu rennen. Der spitze Kies stach durch die abgelaufenen Sohlen ihrer Sneakers, doch sie bemerkte es nicht. Panik schnürte ihr die Kehle zu, und sie drohte an ihrer Angst fast zu ersticken. Sie rannte und rannte, bis sie endlich den schützenden Marktplatz von Bend erreicht hatte.

Dort blieb sie stehen und lehnte sich erschöpft gegen eine Hauswand; ihre Brust hob und senkte sich rasch unter ihren hastigen Atemstößen. Ihr Herz raste. Die flache Hand gegen ihre schmerzende Magengrube gepresst, schloss sie die Augen, Schweiß rann ihr zwischen den Schulterblättern den Rücken hinab. Noch immer stand ihr das Bild der Jungen, die mit ihrem Geschlechtsteil in der Hand auf sie eingrölten, vor Augen. Übelkeit stieg in ihr auf. So etwas war ihr noch nie passiert. Daran, dass die Jungen ihr immer wieder Gemeinheiten hinterherschrien und ihr obszöne Vorschläge unterbreiteten, hatte sich Becky Lynn mittlerweile fast gewöhnt, doch das hier, das war …

Heute hatten sie ihr wirklich Angst eingejagt.

Becky Lynn legte wie zum Schutz die Arme um sich. Beruhig dich, jetzt bist du in Sicherheit. Der Sommer neigte sich langsam seinem Ende zu, und die Jungen hatten Langeweile. Wahrscheinlich hatte sie das auf dumme Gedanken gebracht. In weniger als einem Monat fing das Footballtraining wieder an, und dann würden sie weder Zeit noch Energie darauf verschwenden, sie weiterhin zu belästigen.

Dann würde sie ihre höhnischen Bemerkungen nur noch in der Schule ertragen müssen.

Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen traten, und gab sich redliche Mühe, der Verzweiflung, die sie in sich aufsteigen spürte, entgegenzutreten, aber es gelang ihr nur unzulänglich. Sie hatte niemanden. Es gab nicht eine einzige Menschenseele in Bend, bei der sie Schutz und Hilfe hätte suchen können. Allein. Sie war allein.

Doch als die Hoffnungslosigkeit von ihr Besitz zu ergreifen drohte, ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie würde nicht aufgeben wie ihre Mutter. Sie nicht. Und eines Tages würde sie es Tommy und Ricky und allen anderen in diesem Nest hier schon zeigen. Sie wusste zwar nicht so genau wie und womit, aber darauf kam es im Moment auch nicht an. Irgendwie – das reichte. Eines Tages sollten sich all diejenigen, die sie heute missachteteten, wünschen, ein bisschen netter zu ihr gewesen zu sein.

 

2. KAPITEL

Becky Lynn war es eine volle Woche gelungen, Tommy Fischer und seiner Gang aus dem Weg zu gehen. Was nicht einfach gewesen war, denn die Jungs kurvten ständig überall herum, immer Ausschau haltend nach einem Opfer. Um ihrer Langeweile zu entfliehen, wie sie vermutete. Aber nicht mit ihr.

Nachdem sie den Marktplatz erreicht hatte, warf sie erst einen raschen Blick um die Hausecke, ehe sie sich anschickte, ihn zu überqueren. Im Laufschritt eilte sie auf den Frisiersalon zu. Bend, so benannt, weil es in der Krümmung des Tallahatchie River zwischen Greenwood und Greenville lag, war um den Marktplatz herum erbaut. Hier befanden sich alle wichtigen öffentlichen Gebäude wie die Polizeistation, das Gericht und das Rathaus ebenso wie die besten Geschäfte – größere Einkaufsmeilen fand man entweder in Greenwood oder in Greenville, und die nächste richtige Stadt war Memphis. Der Marktplatz von Bend jedoch, auf dem die ausladenden Magnolien und die Mimosenbäume wohltuenden Schatten spendeten und dem die rosa, pinkfarbenen, weißen und lila Blüten der Azaleen- und Oleanderbüsche einen bunten Anstrich verliehen, kam den Orten, die Becky Lynn aus den Hochglanzmagazinen kannte, zumindest näher als alles andere, was sie sonst kannte.

Und doch längst nicht nah genug, dachte sie in dem Moment, in dem ein Motor aufheulte und sie aus ihren Gedanken riss. Als vertrautes Gejohle an ihr Ohr drang, schnürte sich ihr die Kehle zu. Wie ein drohendes Verhängnis sah sie Tommy Fischers roten Jeep auf sich zukommen.

Glücklicherweise war das Cut ’n Curl bereits in Sichtweite. Becky Lynn begann zu rennen, und zwei Minuten später hatte sie das schützende Haus erreicht.

Miss Opal, Besitzerin des besten Frisiersalons am Platz, stand gerade vor dem Spiegel, in der Hand eine Spraydose und den Kopf einhüllt in einen Sprühnebel, der nun langsam auf ihr platinblondes Haar niederrieselte. Als Becky Lynn hereingestürmt kam, ließ sie die Hand sinken, stellte das Haarspray auf einer Konsole ab und drehte sich um. „Warum so eilig, Mädchen? Du siehst ja aus, als wäre der Teufel persönlich hinter dir her.“

Ja, und er fährt einen feuerroten Jeep. Becky Lynn schnappte nach Luft und zwang sich zu einem Lächeln. „Nein, Ma’am. Ich wollte nur nicht zu spät kommen.“

Miss Opal lächelte. „Du kommst doch nie zu spät, Becky Lynn. Und das ist etwas, das ich sehr an dir zu schätzen weiß, um das mal zu sagen.“

Becky Lynns Wangen brannten. Befangen verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Danke, Miss Opal.“

Miss Opal legte den Kopf etwas schräng und musterte Becky Lynn nachdenklich. „Was ist los mit dir, Becky Lynn? Ist alles okay? Du siehst irgendwie komisch aus heute.“

„Nein, Ma’am. Ich meine … ja, Ma’am, es ist alles okay.“

Noch immer nicht ganz überzeugt, betrachtete Miss Opal Becky Lynn forschend durch ihre an den Seiten spitz zulaufende Brille. „Hast du heute Morgen etwas gefrühstückt?“ erkundigte sie sich, während sie auf Becky Lynn zuging und dicht vor ihr stehen blieb.

Unangenehm berührt von dem Gedanken, dass Miss Opal entdecken könne, dass sich ihre großen Zehen fast durch das dünne Leder ihrer zu kleinen Turnschuhe bohrten, trat Becky Lynn einen Schritt zurück und stellte den rechten Fuß auf den linken, was die Angelegenheit allerdings nur noch schlimmer machte. „Nun … nein, Ma’am. Ich hatte keinen Hunger.“

Miss Opal schüttelte missbilligend den Kopf; es war die kritischste Reaktion, deren sie fähig war. Becky Lynn war der Meinung, dass es in Bend wohl keinen Menschen gab, der ein größeres Herz besaß als die Friseurmeisterin, über die allerhand wilde Gerüchte in Umlauf waren. Angeblich war sie irgendwo in der Gegend von Yazoo City aufgewachsen, und man erzählte sich, dass sie vor einem brutalen Vater geflohen war, den sie mittels eines Stiletts gezwungen haben sollte, Geld herauszurücken für ihre Flucht. Becky Lynn glaubte nicht alles, was über sie herumerzählt wurde, denn Miss Opal erschien ihr viel zu gutmütig, als dass sie sich so etwas von ihr hätte vorstellen können. Und sollte es dennoch so gewesen sein, so hatte ihr Daddy diese Behandlung mit Sicherheit verdient.

„Soso. Na, dann geh doch jetzt bitte als Erstes mal rüber zum Bäcker und hol die Cremetörtchen, die Marianne Abernathy so gern isst.“ Miss Opal schnalzte mit der Zunge. „Sie ist heute unsere erste Kundin, und seit Doc Tyson sie auf Diät gesetzt hat, zählt Ed jeden Bissen nach, den sie isst. Solange das noch so geht, wird sie sich vermutlich einmal in der Woche bei uns das Haar machen lassen, wenn’s hier ihre Lieblingstörtchen gibt.“

Sie ging zur Kasse, nahm einen Fünf-Dollar-Schein heraus und hielt ihn Becky Lynn hin. „Hier. Und bring auch ein paar Doughnuts mit Erdbeermarmelade mit.“

„Ja, Ma’am.“ Becky Lynn blieb noch einen Moment zögernd an der Tür stehen und dachte voller Angst an Tommy und seine Freunde. Sie biss sich auf die Unterlippe und kramte verzweifelt nach einer Ausrede, die ihren Gang zum Bäcker zumindest noch etwas hinausschieben könnte.

Wieder blickte Miss Opal sie forschend an. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist, Mädchen? Falls du etwas auf dem Herzen hast, kannst du jederzeit damit zu mir kommen, ist das klar?“

Becky Lynn starrte die ältere Frau einen Augenblick an. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Konnte sie sich Miss Opal anvertrauen? Was würde sie wohl sagen, wenn sie ihr erzählen würde, auf welche Weise Tommy und seine Freunde sie gedemütigt hatten? Würde sie ihr glauben? Bestimmt, dachte sie. Ganz bestimmt würde Miss Opal ihre Worte nicht anzweifeln.

Sie sehnte sich so sehr danach, sich jemandem anzuvertrauen, dass ihr die Worte schon auf der Zunge lagen. Sie lechzte förmlich nach Trost und der Versicherung, dass alles gut werden würde, dass Tommy und seine Gang sie in Zukunft nicht mehr belästigen würden. Und dass sie bestraft werden würden für das, was sie ihr angetan hatten.

Richtig. Und über den Marktplatz fliegen lila Schweine. Becky Lynn ballte die Hände zu Fäusten, wobei sie den Geldschein zerknüllte. Und selbst wenn Miss Opal ihr glaubte, würde sich dennoch nichts ändern. Jungen wie Tommy und Ricky, die aus ehrbaren Elternhäusern stammten, waren unanangreifbar – und ganz besonders dann, wenn jemand wie sie, Becky Lynn, zum Opfer ihrer gemeinen Attacken wurde. So war das eben in Bend, Mississippi. Damit musste man sich abfinden.

Sie schluckte den Kloß hinunter und schüttelte den Kopf. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ma’am. Aber mit mir ist wirklich alles in Ordnung. Ich habe nur eben überlegt … war die Post heute schon da?“

Miss Opal atmete erleichtert auf. „Becky Lynn Lee, du weißt ebenso gut wie ich, dass die Post immer erst gegen Mittag kommt. Also los jetzt, beeil dich und hol die Törtchen.“

Und wie sich Becky Lynn beeilte. In Rekordzeit war sie wieder zurück.

Tommy Fischers Jeep hatte sie glücklicherweise nirgends entdecken können. Mittlerweile waren auch Fayrene und Dixie, die beiden anderen Friseurinnen – Haarstylistinnen, wie sie sich titulierten –, eingetroffen. Fayrenne hatte sich in eine Duftwolke von Chanel No.5 gehüllt, das ihr ihr Freund vor einer Woche zum Geburtstag geschenkt hatte.

Der Vormittag ging mit dem üblichen Getratsche vorüber. Becky Lynn ließ alles, was die Kundinnen erzählten, stumm über sich ergehen und hörte einfach nur zu. Die heruntergekommene Janelle Peters ging schon wieder fremd, Julie Carter hatte sich einem Collegeprofessor in Cleveland an den Hals geworfen, und diese schlimmen Birch-Jungen (weißer Abschaum) fingen jetzt auch noch an, Marihuana zu rauchen.

Sie ließ die Frauen reden, während sie immer mit halbem Ohr bei der Türglocke war und darauf lauerte, dass der Postbote endlich auf der Bildfläche erschien, denn heute musste die neue Vogue kommen. Sie liebte die bunten Hochglanzmagazine alle, die Vogue jedoch war erklärtermaßen ihre Lieblingszeitschrift.

Ihrer Meinung nach war sie hervorragend gemacht. Für die Vogue arbeiteten nur die besten Fotografen, und ausschließlich Top-Models schafften es, aufs Titelblatt zu kommen.

Becky Lynn genügte es nicht, sich die Fotos zu anzuschauen, sondern sie studierte sie eingehend – von welchem Blickwinkel aus sie wo aufgenommen worden waren, die Art, wie der Fotograf Licht, Schatten und Farben kombiniert hatte und welche Stimmung daraus erwuchs. Und sie studierte die Models, ihren Gesichtsausdruck und ihre Haltung, ihre Frisur, das Make-up und die Kleidung.

Obwohl sie niemals den Mut gehabt hätte, dies offen zuzugeben, wünschte sie sich doch insgeheim, das Auge dafür zu haben, entscheiden zu können, welches die beste Aufnahme im jeweiligen Heft war. Sie waren alle gut, aber einige … einige erschienen ihr besonders herausragend. In ihnen lag ein Geheimnis. Oder ein Funke. Man konnte es nennen, wie man wollte, jedenfalls gab es Aufnahmen, die hatten das gewisse Etwas, ebenso wie es Models gab, die eine bestimmte Ausstrahlung hatten, die anderen fehlte.

Sie wünschte sich sehnlichst, einmal, nur ein einziges Mal, darauf zu stoßen, was dieses Etwas ausmachte. Es würde ihr Spaß machen, die …

„Huch! Becky Lynn Lee, das Wasser ist zu heiß!“

„Oh, Entschuldigung, Mrs. Baxter“, murmelte sie verlegen und regelte die Temperatur. „Ist es so besser?“

„Ja.“ Die Frau verlagerte ihr ansehnliches Gewicht und schaute missbilligend zu ihr auf. „Du solltest nicht so viel herumträumen, sondern lieber mehr an deine Arbeit denken. Sei froh, dass du überhaupt welche hast.“

Vor allem, wenn man bedenkt, dass du sowieso nur weißer Abschaum bist. „Ja, Ma’am.“

„Ich möchte wetten, dass Leute wie du überhaupt nichts wirklich ernst nehmen. Gerade gestern Abend hab ich wieder mal zu meinen Bubba gesagt …“

Und so verging der Vormittag. Endlich, es war schon nach zwölf, kam der Postbote. Ihre Gebete waren erhört worden. Er hatte die Vogue vom August dabei. Fast andächtig betrachtete Becky Lynn das Titelblatt, von dem ihr Isabella Rossellini geheimnisvoll entgegenlächelte. Wieder einmal. Im Juni war sie auch schon drauf gewesen. Für das Juli-Heft war die Wahl des Artdirectors auf Kim Alexis gefallen.

Nachdem sie sich bei Miss Opal zur Mittagspause abgemeldet hatte, nahm sie sich einen übrig gebliebenen Doughnut und verkrümelte sich mit der Vogue nach hinten ins Lager. Obwohl sie es sich natürlich draußen in der Wartezone in einem Sessel hätte bequem machen können, zog sie das Lager vor, weil sie hier ungestört war.

Im Schneidersitz auf dem Boden hockend, die Vogue auf dem Schoß und an einem Doughnut knabbernd, lag ihr Blick in einer Mischung aus Neid und Bewunderung auf Isabella Rossellini. Isabellas Augen waren dunkel, samtig und unergründlich, und ihr Blick schien einen fast aufzusaugen; die Lippen der Schauspielerin, zu einem provokanten Lächeln gekräuselt, waren voll und dunkelrot geschminkt.

Wie mag es wohl sein, wenn man so schön ist? fragte sich Becky Lynn und biss in ihren Dougnut. Etwas Puderzucker fiel auf das Foto, und sie wischte ihn sorgfältig weg. Wie es wohl sein mochte, von allen geliebt zu werden?

Plötzlich sehnte sie sich so sehr nach Liebe, dass es wehtat. Es muss wundervoll sein, dachte sie und biss wieder in den Doughnut. Wie ein schöner Traum.

„Was suchst du denn bloß immer in den Dingern?“

Becky Lynn zuckte zusammen und blickte auf. Fayrene stand auf der Schwelle und taxierte sie über die Spitze ihrer brennenden Zigarette hin weg ein gehend. Es kam so gut wie nie vor, dass jemand Becky Lynn eine Frage stellte, die sie selbst betraf. Und schon gar nicht Fayrene, die selbst ernannte Queen von Cut ’n Curl. Becky Lynn schluckte. „Wie bitte?“

„In den Modeheften.“ Die Blondine deutete mit ihrer Zigarette auf die Vogue, ihre Armreifen klimperten. „Wie du da immer reinstierst.“ Sie schüttelte den Kopf und stieß eine dünne Rauchfahne aus. „Irgendwie komisch, wenn du mich fragst.“

„Lass die Kleine in Ruhe“, rief Miss Opal von nebenan. „Sie hat Mittagspause und stört niemanden, also lass sie.“

Fayrene zog einen Schmollmund. „Ich hab ihr doch gar nichts getan. Es interessiert mich wirklich. Ich meine, ich schau mir die Zeitschriften ja schließlich auch an, aber doch nicht so.“ Sie wandte sich wieder Becky Lynn zu, eine sorgfältig ausgezupfte Augenbraue fragend erhoben.

Die Wangen vor Verlegenheit hochrot, die Augen auf das Magazin geheftet, saß Becky Lynn da und wäre am liebsten im Boden versunken. Wie sollte sie Fayrene das Gefühl erklären, das sie beim Betrachten dieser Fotos empfand? Wie sollte sie ihre Träume, die ihr um vieles näher standen als die Realität, in Worte kleiden? Und selbst wenn es ihr gelänge, würde die andere Frau sie nicht einfach auslachen?

Ihre Hände begannen zu zittern, die Handflächen wurden feucht. Sie räusperte sich und hob den Blick. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie leise. „Es ist einfach nur, weil die Models alle so … schön sind, so … elegant und alles. Ich schau sie mir einfach nur an und male mir aus …“

„Also wirklich, Becky Lynn“, unterbrach Fayrene sie und wedelte mit der Zigarette vor Becky Lynns Gesicht herum, „wach endlich auf! Ich meine, ich schau mir die Hefte ja auch an, und ab und zu träume ich sogar dabei, aber man kann schließlich nicht sein ganzes Leben verträumen.“ Sie schüttelte ihre wasserstoffblonde Mähne. „Ich sage immer, es ist total sinnlos zu versuchen, nach den Sternen zu greifen, weil man eh keinen zu fassen kriegt. Und falls man doch einen erwischen würde, würde man sich ganz schön die Finger dabei verbrennen, also lass ich’s lieber.“

Fayrene sah Becky Lynn triumphierend an, offensichtlich kam sie sich sehr weise und abgeklärt vor. Als Becky Lynn sich jedoch weder zustimmend noch ablehnend äußerte, sondern einfach nur schwieg, schnaubte sie ungehalten. „Mach was aus dem, was du mitbekommen hast. Du bist groß und schlank und dein Gesicht … naja … also ehrlich gesagt, den ersten Preis bei einem Schönheitswettbewerb wirst du damit nie gewinnen … ich meine … dein Mund, deine Nase und deine Augen für sich genommen sind gar nicht so schlecht … nur alles zusammen …“

Fayrene zögerte und studierte Becky Lynn so eingehend, als ob sie sie heute zum erstenmal sehen würde. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf. „Die Augen sind gut und die Zähne auch, gib mir ein paar Stunden und Wasserstoffsuperoxyd, und ich mach was aus dir, ehrlich. Du …“

„Fayrene“, Dixie steckte den Kopf durch die Tür, „Bitsys Zeituhr hat schon vor ein paar Minuten geklingelt.“

„Oh, verdammt.“ Fayrene beeilte sich hinauszukommen. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen und drehte sich nach Becky Lynn um. „Also denk darüber nach, was ich gesagt habe, Becky Lynn. Nicht jeder kann was Besonderes sein.“

Becky Lynn ließ sich gegen die Wand sinken. Fayrene hatte sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Der Bann war gebrochen. Sie schaute auf das Foto von Isabella Rossellini, das wegen der Tränen, die in ihr aufstiegen, langsam vor ihren Augen verschwamm. Fayrene irrte sich ganz gewaltig. Sicher träumte sie davon, so schön und selbstbewusst zu sein wie die Frauen in den Modezeitschriften, aber sie war schließlich nicht blöd. Natürlich bildete sie sich nicht ein, ein Top-Model werden zu können.

Sie liebte die Hochglanzmagazine nicht nur deshalb, weil darin schöne Frauen abgebildet waren. Sie liebte sie, weil sie sie, einem fliegenden Teppich gleich, aus Bend forttrugen, hinein in eine Welt, in der sich nicht irgendwelche Jungen vor Mädchen entblößten, deren Verbrechen nur darin bestand, arm und hässlich geboren worden zu sein.

Becky Lynn blieb am Ende der Schotterstraße stehen und schaute auf das kleine Haus, das vor ihr lag. Ihr Zuhause. Sie drückte die Magazine, die Miss Opal ihr geschenkt hatte, fest an die Brust. Im verblassenden Licht des Tages wirkte das Haus, einst weiß und jetzt grau, noch schäbiger als sonst. Von dem Palisadenzaun – auch er war einmal weiß gewesen – war die Farbe längst abgeblättert, und einige Latten waren herausgebrochen.

Mit schleppenden Schritten ging sie die Auffahrt hinauf. Merkwürdig, wie die Zeit raste, wenn sie bei Miss Opal im Laden war, und wie langsam sie im Gegensatz dazu verging, wenn sie zu Hause war. Zeit hat das anscheinend so an sich, dachte sie. Wenn man unglücklich ist, bleibt sie einfach stehen.

Sobald Becky Lynn einen Fuß auf die Veranda, die sich langsam abzusenken begann, setzte, schlug ihr Whiskeydunst entgegen. Sie hasste diesen süßsauren Geruch. Manchmal wachte sie nachts auf und glaubte, daran ersticken zu müssen. Er drang in alles ein, in ihre Kleider, die Polster der Möbel, das Bettzeug, in die Haut ihres Vaters.

In mein Leben.

An eine Zeit ohne Whiskeygestank konnte sich Becky Lynn gar nicht mehr erinnern.

Bis zu diesem Moment war es ihr gelungen zu verdrängen, dass heute Freitag war. Der Tag, an dem ihr Vater seinen Lohn ausgezahlt bekam. Der Tag, an dem er sich regelmäßig abfüllte. Jim Beam. Jeden Freitag brachte er sich eine Flasche mit, die er unterwegs bereits zu einem Fünftel leer machte. Der Rest kam später zu Hause dran. Er soff so lange, bis sie leer war. Oder bis er umkippte. An den übrigen Wochentagen musste er sein Geld einteilen und konnte nur so viel trinken, wie er sich leisten konnte. Am Donnerstag war seine Barschaft meistens alle, und dann ging er sofort nach der Arbeit ins Bett. Becky Lynn sehnte sich die Donnerstage fast so sehr herbei wie den Postboten mit den neuesten Modemagazinen. Fast.

Durch die Fliegengittertür, deren Maschendraht Löcher hatte, hörte sie die Schlusstakte der Musik von „Familienduell“. Warum ihr Vater diese Sendung so liebte, war ihr schleierhaft. Weder lachte er jemals über irgendetwas, was darin passierte, noch machte er sich die Mühe mitzuraten. Er starrte nur unausgesetzt auf den Bildschirm und gab ab und zu ein Grunzen von sich. Und trank. Und trank.

In der stillen Hoffnung, unbemerkt an ihm vorbeizukommen, öffnete sie leise die Tür und schlüpfte hinein. Sie wusste genau, wie sie verhindern konnte, dass die Tür quietschte, und kannte exakt die Stelle, wo sie über den Boden schleifen würde, wenn man sie nicht leicht anhob.

Becky Lynn hielt den Atem an. Er saß im Wohnzimmer mit dem Rücken zu ihr vor dem Fernseher. Sie presste sich gegen die Wand und tastete sich langsam auf Zehenspitzen bis zur Küche vor. Wenn sie Glück hatte, würde sie heute Abend seinem Zorn entgehen. Wenn sie Glück hatte, würde sie an ihm vorbeikommen und …

„Wohin willst du denn, Mädchen?“

Becky Lynn blieb stehen. Sein schleppender Tonfall sagte ihr, was los war. Ihr drehte sich der Magen fast um. Soviel zum Punkt Glück.

Sie wandte sich zu ihm um und zwang sich zu einem winzigen, steifen Lächeln. „Nirgends, Daddy. Ich dachte nur, ich schau mal nach, ob Mama in der Küche Hilfe braucht.“

Er grunzte unwirsch und starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Als er auf ihren Schoß starrte, spürte sie, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten. „Wieder rumgetrieben oder was?“

„Nein, Daddy.“ Sie schüttelte den Kopf. „Überstunden. Wir hatten heute viel zu tun – wie immer am Freitag.“

„Was hast’n da?“

Sie umklammerte die Magazine fester. „Nichts, Daddy.“

„Sag nicht ‚nichts‘, Mädchen!“ Wütend sprang er aus dem Sessel auf, machte einen Satz auf sie zu und entriss ihr die Modezeitschriften. Um ihre Bestürzung zu verbergen, biss sie sich fest auf die Lippen. Aus Erfahrung wusste sie, dass es am besten war, wenn sie sich so stillschweigend wie möglich in ihr Schicksal ergab.

Er starrte einen Augenblick mit halb offenem Mund auf die Magazine. In seinen Mundwinkeln zerplatzten kleine Speichelbläschen. Dann begann er zu fluchen, riss den Arm hoch, wobei er einen Moment lang das Gleichgewicht zu verlieren drohte, und feuerte die Zeitschriften in die Ecke. Becky Lynn zuckte zusammen, als sie gegen die Wand knallten. „Verdammt noch mal, wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass du diesen Dreck nicht lesen sollst? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht dein Geld für …“

„Hab ich gar nicht“, unterbrach sie ihn hastig, atemlos. „Die sind schon alt. Miss Opal hat sie mir geschenkt. Du brauchst nur auf das Datum zu schauen, wenn du mir nicht glaubst.“

„Bildest du dir ein, mir sagen zu müssen, wo’s langgeht? Glaubst du vielleicht, ich bin blöd, oder was?“ Er machte einen Schritt auf sie zu und schüttelte drohend die Fäuste.

„Nein, Daddy.“ Eingeschüchtert schüttelte Becky Lynn nachdrücklich den Kopf, wobei ihr klar wurde, dass sie wieder einmal unwissentlich eine unsichtbare Grenze überschritten hatte.

Die Tür zur Küche öffnete sich, und ihre Mutter stand auf der Schwelle, das Gesicht bleich und verhärmt, die Augen verängstigt. „Becky Lynn, Baby, komm doch bitte und hilf mir mit dem Abendbrot.“

Eine Welle von Erleichterung durchflutete Becky Lynn, und sie schaute ihre Mutter dankbar an. Da Randall Lee keine Einmischung duldete, wandte er nun seinen Zorn gegen seine Frau. Er funkelte sie wütend an. „Halt dich da raus, ja?“

„Ich helfe Mama in der Küche“, flüsterte Becky Lynn und machte einen Schritt vorwärts in Richtung Küche.

Ihr Vater packte sie brutal am Arm, seine vom Alkohol aufgedunsenen Finger gruben sich tief in ihr Fleisch. Sie wimmerte auf vor Schmerz, wagte es aber nicht, sich zu wehren.

„Was hast du an Geld mit heimgebracht?“

„Zwölf Dollar.“ Siebzehn einschließlich der Fünf-Dollar-Note, die sie in ihrem Schuh versteckt hatte.

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Du solltest mich besser nicht anlügen.“

Sie straffte die Schultern und hielt seinem Blick entschlossen stand. „Ich lüge nicht, Daddy.“

„Taschen ausleeren! Los!“ Er ließ sie los und trat leicht schwankend einen Schritt beiseite.

Sie tat, was er ihr befohlen hatte, und gab ihm das Geld. Er blickte sie forschend an, begann es zu zählen und hielt ihr anschließend zwei Dollar hin. Während sie auf die zusammengeknüllten Scheine starrte, dachte sie an die vielen Köpfe, die sie dafür gewaschen, und an die Berge von Haaren, die sie vom Boden aufgekehrt hatte. Und daran, dass das Geld wahrscheinlich reichen würde, ihrem Vater den nächsten trockenen Donnerstag zu ersparen.

Bitterkeit wallte in ihr auf. Plötzlich hatte sie einen schlechten Geschmack im Mund. Eigentlich sollte sie froh und dankbar sein. Immerhin hatte er ihr zwei Dollar gelassen. Meistens nahm er ihr alles weg.

Die Fliegentür klappte, und einen Moment später stand ihr Bruder Randy im Zimmer. Für einen Augenblick verlagerte sich Randall Lees Aufmerksamkeit auf seinen Sohn. Er machte einen taumelnden Schritt auf ihn zu. Randy war achtzehn und schon genauso groß wie sein Vater. Und fast so gemein. Diese Eigenschaft hatte ihm auf dem Footballfeld bei seinen Mitspielern den Spitznamen Madman Lee eingetragen. „Wo kommst du her, Junge?“

Randy zuckte gleichmütig die Schultern. „War mit meinen Kumpels unterwegs.“

Randall Lee öffnete den Mund, offenbar um eine Strafpredigt vom Stapel zu lassen, doch dann rülpste er lediglich ungeniert und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Tochter zu.

Randy streifte Becky Lynn mit einem gleichgültigen Blick und schob sich an ihr vorbei in die Küche. Wut kochte in ihr hoch. Ihr Bruder kam fast immer ungeschoren davon. Auf Randy, den Starstürmer des Footballteams der High School von Bend, ließ Randall Lee so gut wie nichts kommen. Er konnte sich alles erlauben. Weil er eine Sportskanone war und die richtigen Freunde hatte. Typen wie Tommy Fischer.

Nein, ihr Vater hob sich all seinen Hass, seine Niedertracht und Bitterkeit für sie, Becky Lynn, auf. Das war noch nie anders gewesen. Und sie wusste nicht, warum.

Wie ungerecht er war. Voller Zorn hob sie trotzig das Kinn und schaute ihren Vater an, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Gefühle vor ihm zu verbergen. „Kann ich jetzt gehen?“

„Du gehst erst, wenn ich es dir erlaube.“

„Was glaubst du, warum ich gefragt habe?“ Idiot. Arschloch.

Angesichts ihres Tonfalls begann sich sein Stiernacken langsam mit einer purpurfarbenen Röte zu überziehen. Sie kroch höher und höher, bis sie seine Wangen erreicht hatte. Er streckte die Hand aus, packte Becky Lynn am Handgelenk und zog sie zu sich heran, wobei er ihr den Arm so weit verdrehte, dass sie vor Schmerz aufschrie. „Woher nimmst du eigentlich das Recht für deine Unverschämtheiten?“ brüllte er sie an. „Genau wie deine Mutter, die tut auch immer so, als wär sie was Besonderes.“ Er zerrte sie durchs Zimmer hin zu dem einzigen Fenster, wobei er ihr wieder den Arm verdrehte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie drängte sie mit aller Kraft zurück. „Schau dich doch an, Becky Lynn Lee!“ Er packte sie an den Haaren, um sie zu zwingen, sich ihr Spiegelbild, das die Fensterscheibe reflektierte, zu betrachten. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Tränen Einhalt zu gebieten. „Welcher Mann soll dich bloß jemals heirateten, sag mir das, los!“ Seine fleischigen Finger gruben sich in ihre Schultern, und er schüttelte sie so heftig, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. „Wahrscheinlich werd ich mir für den Rest meines Lebens deine blöde Fresse anschaun müssen. So, und jetzt verschwinde. Geh mir aus den Augen, aber ein bisschen dalli! Du machst mich krank!“

Er versetzte ihr einen harten Stoß vor die Brust, so dass sie ein paar Schritte zurücktaumelte und hart mit dem Kopf gegen die Wand prallte. Ein rasender Schmerz durchzuckte sie, dann gaben die Beine unter ihr nach, und sie sackte langsam in sich zusammen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass ihr Vater auf seinen Platz vor dem Fernseher zurückgekehrt war. Er schnappte sich die Whiskeyflasche vom Couchtisch und setzte sie an die Lippen. Gluckernd rann der Alkohol in seine Kehle. Becky Lynn glaubte diesen Anblick kaum ertragen zu können, und plötzlich stieg kalter Hass in ihr auf, das Verlangen, ihrem Vater genauso wehzutun, wie er ihr, sich an ihm zu rächen, zu kratzen, zu beißen und um sich zu schlagen. Am liebsten wäre sie zu ihm hinübergegangen und hätte ihm ihre Faust mit voller Wucht ins Gesicht gedonnert.

Oh Gott. Becky Lynn machte schnell die Augen wieder ganz fest zu, um dieses Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben. Nein, sie würde sich nicht auf sein Niveau hinunterbegeben. Sonst würde sie so werden wie er.

Ganz abgesehen davon, dass sie ihm natürlich rein körperlich gar nicht gewachsen wäre. Noch bevor sie in der Lage wäre, den ersten Fausthieb zu landen, hätte er sie am Schlafittchen und würde sie verprügeln, dass ihr Hören und Sehen verging.

Sie rappelte sich auf und schleppte sich in die Küche, wo ihre Mutter gerade dabei war, Randy mit leiser Stimme über die Dinge zu informieren, die bis zum Wochenende erledigt werden mussten. Ihr Bruder stand einfach nur da, unbehaglich und steif, und hörte zu. Als Becky Lynn hereinkam, vermieden es beide, sie anzusehen, doch sie wusste auch so, was sie dachten: Wenn du es nicht gewesen wärst, hätte es einen von uns beiden erwischt.

Und damit hatten sie wahrscheinlich Recht. Sie war sich dessen sogar ziemlich sicher. Sie wusste, warum sich Randy niemals für sie einsetzte, warum ihre Mutter nie offen für sie Partei ergriff. Weil sie beide Randall Lees Zorn fürchteten.

Becky Lynn ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte sich bei ihrem Vater durchaus schon für Randy eingesetzt, ebenso wie auch für ihre Mutter. Dafür hatte sie entsprechend bezahlen müssen.

Und sie hatten nicht einmal das Zeug dazu, ihr jetzt in die Augen zu schauen.

Zitternd holte sie Luft. Wieder durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Sie war es so müde, immer allein zu sein mit ihrer Angst. Und mit ihrer Verzweiflung.

In ihren Augen brannten ungeweinte Tränen. Wie schön musste es sein, jemanden zu haben, mit dem man in der Dunkelheit flüstern konnte, jemanden, an den man sich anlehnen, auf den man zählen konnte. Bei dieser Vorstellung ergriff sie tiefe Hoffnungslosigkeit. Sie durchquerte langsam, mit gesenktem Kopf, die Küche, holte sich ein Messer aus der Schublade und begann, ihrer Mutter beim Erbsenschälen zu helfen.

 

3. KAPITEL

„Becky Lynn, Baby, komm her.“

Becky Lynn blieb vor der Eingangstür stehen. Plötzlich fühlte sie sich wie eine Gefangene, die beim Ausbruch aus dem Gefängnis ertappt wird. Sie drehte sich um. Ihre Mutter stand an der Küchentür; sie trug das geblümte Hauskleid, das Becky Lynn ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Das lebhafte Rosenmuster war mittlerweile ausgeblichen und hatte einen hässlichen Graustich. Wie ihre Mutter. Und alles in diesem Haus.

Als Becky Lynn in das müde Gesicht ihrer Mutter schaute, verspürte sie plötzlich tiefes Mitleid. Und Angst. Angst davor, dass sie mit sechsunddreißig ebenso geschlagen und hoffnungslos aussehen könnte.

Sie verdrängte diesen Gedanken und zwang sich zu einem Lächeln. „Was ist denn, Mama?“

Die Lippen der Mutter verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. „Ich dachte, ich könnte dir mal wieder das Haar bürsten.“

Becky Lynn zögerte. Heute war ihr freier Tag, und sie hatte vorgehabt, ihn in der Sonne schmökernd unten am Fluss zu verbringen. Sie hatte sich ein paar Modezeitschriften, ein Sandwich und etwas zu trinken in ihren Rucksack gepackt und wollte eben so unauffällig wie möglich verschwinden. Es würde ihr letzter fauler Tag sein, denn bald schon begann die Schule wieder, und dann hatte sie wieder alle Hände voll zu tun.

Einen Seufzer unterdrückend warf sie einen Blick durchs Fenster auf den strahlend blauen Himmel. Dann nickte sie und lächelte. Der Fluss würde ihr nicht davonlaufen. „Oh, ja, Mama, das wäre schön.“ Sie stellte ihren Rucksack ab und folgte ihrer Mutter ins Wohn zimmer, wo sie sich in dem Korbsessel am Fenster niederließ. Ihre Mutter holte rasch eine Bürste, trat dann hinter sie und begann mit kräftigen Strichen ihr langes rotes Haar zu bürsten. Es war ein Ritual, das Becky Lynn von Kindesbeinen auf kannte. Und es war die einzige Gelegenheit, bei der sich Mutter und Tochter in vertraulichen Gesprächen zumindest andeutungsweise näher kamen.

„Was für schönes Haar du hast“, sagte ihre Mutter bewundernd. „Du hast es von deinem Großvater Perkins geerbt. Es ist wirklich traurig, dass er gleich nach deiner Geburt gestorben ist, so dass du keine Gelegenheit mehr hattest, ihn kennen zu lernen.“

Dann ist er wohl ungefähr zu der Zeit gestorben, als Daddy die Farm verloren hat, dachte Becky Lynn. Wegen seiner Trinkerei. Und seiner Faulheit. Doch sie sagte nichts. „Wie war er denn so?“ erkundigte sie sich stattdessen, obwohl sie es natürlich längst wusste. Ihre Mutter sprach oft von Granddaddy Perkins, dessen einzige Tochter sie gewesen war. Er hatte sie angebetet. Und Randall Lee hatte ihn verabscheut.

Sie spürte, dass ihre Mutter lächelte. „Er war ein schöner Mann, ein guter Ehemann und ein wundervoller Vater.“ Jetzt lachte Glenna Lee leise. Ein Lachen, das jung klang und so, als wäre sie in Gedanken weit weg. „Er nannte mich immer seine kleine Prinzessin.“

Becky Lynn hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Wie nur war ihre Mutter dann an einen so brutalen, grausamen Mann wie Randall Lee geraten? Warum hatte sie ihn geheiratet?

Und warum ließ sie es zu, dass er ihre Tochter so schlecht behandelte?

Becky Lynn hätte gern gefragt, die Worte lagen ihr schon auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Sie wollte ihrer Mutter nicht wehtun, sie hatte es ohnehin schwer genug. „Das klingt nett, Mama.“

„Mmmm. Er war auch sehr nett.“ Ihre Mutter fuhr fort, ihr Haar zu bürsten, und Becky Lynn wusste, dass sie mit den Gedanken weit weg war.

„Habe ich dir schon vom dem Kleid erzählt, das ich auf meinem Abschlussball anhatte? Es war weiß und mit kleinen pinkfarbenen Blüten bestickt. Das schönste Pink, das du dir vorstellen kannst. In dem Kleid hab ich mich gefühlt wie eine Prinzessin.“ Sie lachte weich. „Und mein Tanzpartner sah aus wie ein Prinz.“

Als Becky Lynn sich ihre Mutter als erwartungsvolles junges Mädchen in dem weißen Ballkleid vorstellte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Wer war denn dein Tanzpartner, Mama?“

Ihre Mutter zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. „Niemand, Baby. Ich habe den Namen vergessen.“

Becky Lynn hatte Glenna diese Frage schon früher gestellt, und auch damals keine Antwort erhalten. Doch sie war überzeugt davon, dass ihre Mutter keineswegs vergessen hatte, wer ihr Tanzpartner gewesen war. Es musste einen Grund dafür geben, dass ihre Mutter sich scheute, seinen Namen zu nennen.

Becky Lynn umklammerte ihre Knie. Obwohl ihr Vater nicht zu Hause war, hatte ihre Mutter Angst. „Aber ich dachte, zu der Zeit wärst du schon mit Daddy zusammen gewesen.“

Glenna Lee hielt einen Augenblick mit dem Bürsten inne. Gleich darauf setzte sie ihre Tätigkeit fort. „Nachdem dein Granddaddy Lee einen Herzanfall hatte, war dein Vater gezwungen, von der Schule abzugehen, weil sich jemand um die Farm kümmern musste. Er hat an dem Abschlussball nicht teilgenommen.“

Und er hat dir nie verziehen, dass du im Gegensatz zu ihm daran teilgenommen hast, stimmt’s? Becky Lynn zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Was mochte er ihr wohl sonst noch alles nicht verziehen haben? „Aber wo hast du ihn denn kennen gelernt? Den Jungen, mit dem du auf dem Ball warst, meine ich.“

Glenna zögerte wieder. „Er war auf der High School drüben in Greenwood“, erwiderte sie schließlich fast flüsternd. „Unsere Väter kannten sich. Mein Daddy hat das Treffen arrangiert.“

„Granddaddy Perkins mochte Daddy wohl nicht so sehr?“

Ihre Mutter zog die Bürste so heftig aus ihrem Haar, dass es ziepte. „Nein, nicht besonders.“

„Und dennoch hast du ihn geheiratet.“ Becky Lynn hörte den anklagenden Unterton aus ihrer Stimme heraus, aber es war ihr egal. Diesmal wollte sie sich nicht verstellen. „Warum, Mama?“

Die Mutter ließ ihre Hand sinken, die Bürste rutschte ihr aus den Fingern und fiel klappernd zu Boden. „Dein Daddy war nicht immer so … so wie heute. Dass er die Schule nicht beenden konnte, hat ihn sehr getroffen. Er wurde verbittert, und irgendwann hat er angefangen zu trinken. Du musst versuchen, ihn zu verstehen, Baby, er war ein großer Footballstar und wollte immer weg aus Bend, und dann war er plötzlich gezwungen, die Farm zu übernehmen. Mit einem Schlag waren alle seine Träume dahin.“

Du musst versuchen, ihn zu verstehen? Becky Lynn erstarrte. Voller Unglauben und Zorn wiederholte sie in Gedanken mehrmals die Worte der Mutter. Sollte sie vielleicht Mitleid haben mit Rand all Lee? Zehn Tage war es her, seit er sie das letzte Mal verprügelt hatte, die blauen Flecken, die sie ihm verdankte, waren mittlerweile in ein schillerndes Gelbgrün übergegangen. Und es hatte eine volle Woche gedauert, ehe sie wieder einer Kundin die Haare waschen konnte, ohne bei einer unbedachten Bewegung vor Schmerz zusammenzuzucken. Alle bei Cut ’n Curl hatten natürlich gemerkt, was los war, und hatten hinter vorgehaltener Hand über sie getuschelt.

Um ihre Wut unter Kontrolle zu bringen, umklammerte sie ihre Knie fester. Es war ihr egal, was Randall Lee alles hatte aufgeben müssen; sie jedenfalls würde ihm seine Grausamkeiten niemals verzeihen. Niemals.

„Und was ist mit deinen Träumen?“ Becky Lynns Stimme bebte vor Zorn. „Du musst doch auch Träume gehabt haben, Mama.“ Sie wandte sich um, weil sie ihrer Mutter ins Gesicht sehen wollte. „Und was ist mit meinen Träumen?“

Diesmal wich Glenna Lee dem Blick ihrer Tochter nicht aus, und ihre Augen waren klar und voller Hoffnung. „Du bist klüger als ich, Becky Lynn“, erwiderte sie fest. „Geh aufs College und mach was aus dir. Du bist etwas Besonderes, Baby, das hab ich schon immer gewusst.“

Verblüfft starrte Becky Lynn ihre Mutter an. Ihr Mund war plötzlich trocken. „Glaubst du … meinst du das ernst? Du bist wirklich der Meinung, dass ich …“ Sie konnte die Worte ihrer Mutter nicht wiederholen, sie klangen so … fremd. So unwahrscheinlich.

„Ja, Baby, es ist mein Ernst. Und das ist auch der Grund dafür, dass dich dein Daddy … warum er dich … Du bist etwas Besonderes. Und du bist stark.“ Glenna Lee nahm Becky Lynns Gesicht zwischen ihre Hände und schaute sie eindringlich an. „Hör mir zu. Du kannst etwas aus dir machen, wenn du dir nur genug Mühe gibst. Du hast eine Karriere vor dir und ein Leben weit weg von Bend. Du könntest nach Jackson gehen oder nach Memphis.“

Becky Lynn legte ihre Hände über die ihrer Mutter. „Du könntest mitkommen, Mama. Er würde nicht nach uns suchen, ich weiß genau, dass er das nicht tun würde.“

Der Glanz in den Augen ihrer Mutter erlosch, und sie zog ihre Hände weg. „Wenn ich dich noch weiter bürste, wirst du bald keine Haare mehr auf dem Kopf haben. Lass uns Schluss machen. Ich weiß, dass du was vorhast, geh jetzt.“

Becky Lynn schüttelte den Kopf. „Ich versteh dich nicht, Mama. Warum willst du nicht mitkommen? Warum …“

„Geh schon, Baby“, wiederholte Glenna und wandte sich um. „Ich habe noch zu tun.“

Mit diesen Worten ging sie zur Tür. Dort angelangt, schaute sie noch einmal über die Schulter, und Becky Lynn sah die Resignation in ihren Augen. „Ich werde hier sein, wenn du zurückkommst, Becky Lynn. Ich bin immer hier.“

Als sie den Fluss erreichte, war ihr T-Shirt nassgeschwitzt, und ihr Haar klebte an ihrem Nacken. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. Nachdem sie sich einen schattigen Platz unter einem großen Baum gesucht hatte, ließ Becky Lynn sich erschöpft ins Gras fallen, zog sich ihren Rucksack heran und kramte nach der Coladose.

Sie zog die Lasche auf, legte den Kopf in den Nacken und trank gierig. Das klebrig süße Getränk rann ihr angenehm kühl die Kehle hinab. Ein paar Tropfen landeten auf ihrer Nasenspitze. Während sie die Dose absetzte und sich die Nase abwischte, lächelte sie über sich selbst.

Ein Zweig hinter ihr knackte. Becky Lynn fuhr erschrocken herum, und ihr Lächeln verblasste. Ihr Herz machte einen Aussetzer und fing gleich darauf an, wie verrückt zu rasen. Ihr Bruder und seine Freunde standen vor ihr.

„Da schau an, Randy“, sagte Tommy gefährlich leise, „wen haben wir denn da? Dein kleines Schwesterchen.“

In größter Hast sprang sie auf, sammelte ihre Siebensachen zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Sie hätte es besser wissen müssen. Wie konnte sie nur so leichtsinnig sein und glauben, sie würden sie in Ruhe lassen?

„Wohin denn so eilig, Becky Lynn?“ fragte Ricky gedehnt und baute sich vor ihr auf. „Da könnte man ja fast glauben, dass du uns nicht leiden kannst.“

„Genau“, stimmte Tommy mit schiefem Grinsen zu, „du verletzt unsere Gefühle.“

„Ich gehe nach Hause“, erwiderte sie so ruhig, wie es ihr möglich war. „Darf ich vorbei?“ Sie machte Anstalten, um Tommy herumzugehen, doch er blockierte ihr den Weg.

„Ob du darfst?“ schaltete sich Ricky ein. „Ich glaube nicht.“ Er warf Tommy einen raschen Seitenblick zu. „Oder was meinst du, Tommy?“

„Nee.“ Auf Tommys Gesicht zeigte sich ein gemeines Grinsen, das Becky Lynn einen Angstschauer den Rücken hinunterjagte. „Ganz deiner Meinung, Ricky.“

Sie unternahm wieder einen Versuch, an den beiden Jun gen vorbeizukommen, diesmal von links. Ohne Erfolg. Hier schnitt ihr Ricky den Weg ab. Tränen traten ihr in die Augen. Sie schluckte krampfhaft. Keinesfalls durfte sie weinen. Entschlossen hob sie das Kinn. „Lasst mich durch.“

„Wo bleiben denn deine guten Manieren? Du hast vergessen ‚bitte‘ zu sagen, Becky Lynn.“ Das brachte frischen Wind in die versammelte Mannschaft. Alles gröhlte.

Sie verspürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Angst. Sie schluckte. „Lass mich vorbei … bitte.“

„Na ja, wenn du schon so … nett fragst.“ Ricky lächelte dünn und trat einen Schritt beiseite.

Erleichterung durchflutete sie. Sie machte Anstalten, an ihm vorbeizugehen, doch schon nach zwei Schritten packte er sie am Arm. Die Erleichterung verflog schlagartig und wandelte sich in Panik. Sie hätte es wissen müssen, dass diese Typen sich die Gelegenheit, sie zu demütigen, nicht entgehen lassen würden.

„Fass mich nicht an, Ricky Jones.“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen, und versuchte, seine Hand abzuschütteln.

Die Jungen lachten. Ricky kam einen Schritt näher. Nun stellte sich Tommy hinter sie, so dass sie zwischen den beiden eingeklemmt war. „Sie tut so, als wär sie was Besonderes, findet ihr nicht auch?“

„Genau“, stimmte Tommy zu. „Ein ganz besonderes kleines Miststück.“

Becky Lynns verzweifelte Blicke suchten Randy. Er wich ihnen aus und starrte angelegentlich auf seine Schuhspitzen; auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Resignation. Als ihr klar wurde, dass sie nicht auf ihn zählen konnte, verstärkte sich ihre Panik. Sie war auf sich selbst gestellt. Wieder einmal.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und machte einen Schritt an Ricky vorbei. Dann noch einen. Und einen dritten. Ricky wirbelte herum. Seine Hand landete auf ihrem Po. Seine Finger gruben sich hart in das Fleisch ihrer rechten Pobacke. Sie geriet außer sich. Ihr Vater hatte sie schon genug misshandelt, das reichte ihr für ihr ganzes Leben. Sie drehte sich blitzschnell um und schlug ihm die Hand weg. „Wag es nicht noch mal, mich anzufassen, Ricky Jones!“

Einen Moment lang herrschte verdutztes Schweigen. Die Stille knisterte. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und eine leichte Brise erhob sich. Irgendwo über ihnen schrie ein Vogel. Dann loderte Zorn auf in Rickys Augen. Und Hass. Sie kannte beides von ihrem Vater.

Sie hatte einen Fehler gemacht. Einen großen Fehler. Ihr stockte der Atem. Angst packte sie. Eine lähmende Angst. Sie befahl sich wegzurennen, doch ihre Füße weigerten sich zu gehorchen. Stattdessen starrte sie Ricky Jones nur an. Ihre Angst wuchs ins Unermessliche. Er würde sich rächen.

Aus ihrer Kehle löste sich ein erstickter Schrei, und dann begann sie zu rennen. Doch schon nach ein paar Schritten hatte Ricky sie eingeholt, packte sie an ihrem T-Shirt und zerrte sie zurück. Sie schlug wild um sich und versuchte, sich freizumachen.

Er drängte sie gegen den Baum, unter dem sie vor wenigen Minuten noch friedlich gelegen hatte. Der raue Baumstamm drückte sich in ihren Rücken. Es tat weh. Ricky war ihr so nah, dass sie den Bierdunst riechen konnte, den er ausströmte. Ihr Magen rebellierte.

„Los, Leute“, meldete sich Buddy Wills, plötzlich nervös geworden, zu Wort. „Lasst uns von hier verschwinden. Suchen wir uns woanders ein bisschen Spaß.“

„Hier gibt’s genug Spaß“, widersprach Ricky und schaute Randy an. „Oder was meinst du, Randy?“

Becky Lynn warf ihrem Bruder einen flehenden Blick zu. Er sah auf einmal richtig krank aus. „Randy“, bettelte sie, wobei sie verzweifelt versuchte, sich aus Rickys Griff herauszuwinden, „sag, dass sie aufhören sollen. Bitte. Bit…“

Ricky packte sie grob, zog sie zu sich heran und presste seinen Mund auf ihren. Sein Atem stank nach Bier und Tabak. Roh steckte er ihr die Zunge tief in den Mund.

Er küsste sie wieder und wieder mit weit aufgerissenem Mund, wobei er sich so dicht an sie drängte, dass sich sein erigierter Penis gegen ihren Bauch drückte. Sie wimmerte leise und versuchte verzweifelt, seinen von Speichel triefenden Lipppen zu entkommen. Die Spitze eines abgebrochenen Astes durchdrang ihr dünnes T-Shirt und bohrte sich schmerzhaft zwischen ihre Schulterblätter.

Endlich schien Ricky genug zu haben. Er beendete seinen brutalen Kuss und hielt nach seinen Kumpels Ausschau. Als sie den Triumph in seinen Au gen sah, wallte heißer Zorn in ihr auf und verlieh ihr Riesenkräfte. Sie wusste nicht, wie, aber sie schaffte es, sich freizumachen und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. „Du Schwein! Hände weg!“

„Miststück, verfluchtes!“ Ricky war vor Überraschung einen Schritt nach hinten getaumelt. Jetzt packte er sie erneut. „Dreckiges Luder!“ Er versetzte ihr einen harten Stoß vor die Brust, so dass sie mit dem Hinterkopf gegen den Baumstamm krachte. Sie sah Sterne. „Tommy, Herrgott, hilf mir doch mal.“

Tommy sprang hinzu und packte sie an den Handgelenken. Sie wehrte sich nach Leibeskräften, wand sich und trat mit den Füßen nach den beiden, aber es half alles nichts.

Ricky begrabschte ihre Brüste und zog an ihren Brustwarzen. „He, Tommy, süße kleine Titten, echt. Hier, fass auch mal an!“

„Nein!“ schrie sie und versuchte ihm einen Fußtritt zu versetzen, der jedoch zu aller Belustigung so schwach war, dass er wirkungslos verpuffte.

Tommy lachte und grabschte nun ebenfalls nach ihren Brüsten. „Ah – Ricky hat Recht, Leute. Wie konnte uns das nur bisher entgehen? He, komm her, Buddy – du darfst auch mal.“

Der andere Junge wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Nein. Kein Interesse. Herrgott noch mal, lass sie doch los, Mann. Ist doch echt Scheiße, was du da machst.“ Er warf Randy einen Blick zu.

Mit tränenüberströmtem Gesicht ließ sie die Demütigungen der beiden über sich ergehen. „Bitte“, flüsterte sie, „bitte … Randy, lass es … nicht zu, dass sie mich …“ Sie brachte das grauenerregende Wort nicht über die Lippen.

Als sie ihren Bruder ansah, sah sie den Horror in seinen Augen. In diesem Moment wurde ihr klar, dass es ihm wichtiger war, seine Zugehörigkeit zu der Gang durch sein Schweigen zu beweisen, als sie zu beschützen. Von ihm hatte sie keine Hilfe zu erwarten.

„Da ihre Titten nicht übel sind“, sagte Ricky und wischte sich mit dem Daumen etwas Speichel aus dem Mundwinkel, „wird ihre Pussy auch okay sein, oder was meinst du, Tommy?“

„Nein!“ schrie sie. „Lasst mich … Randy … hilf mir!“

Als Ricky seine Hand zwischen ihre Beine schob, begann sie lauthals zu schreien, wobei sie sich fragte, warum sie das nicht schon viel früher getan hatte. Eine Hand legte sich mit brutaler Härte auf ihren Mund. Sie biss zu und hörte Tommy fluchen. Und schmeckte Blut. Tommys Blut.

„Bist du schon schön nass, Becky Lynn?“ fragte Ricky mit schiefem Grinsen. „Na, Baby, was ist?“ Er griff ihr brutal zwischen die Beine. Sie spürte den Schmerz durch den dünnen Stoff ihrer Shorts hindurch und schrie auf.

„Scheiße, Leute, echt.“ Buddy machte einen Schritt vorwärts und sah sich um. „Ich muss gleich kotzen. Hört doch endlich auf. Schließlich ist sie immer noch Randys Schwester, oder etwa nicht?“ Er packte Ricky am Arm. „Los, Mann. Lass sie in Ruhe.“

Ricky schüttelte wütend seine Hand ab. „Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß, du Arschloch.“

Randy stellte sich neben Buddy. „Lasst sie“, sagte nun auch er.

Seine Stimme war alles andere als fest.

„Was ist los mit dir, Madman? Hast du die Hosen voll?“

Randy, größer als die anderen, schüttelte drohend die Fäuste. „Fick dich ins Knie, Fischer, und hör bloß auf, mir blöd zu kommen, capito?“

Die beiden maßen sich einen langen Moment mit Blicken. Dann ließen Tommy und Ricky Becky Lynn los und traten einen Schritt zurück. „He, Mann, flipp nicht gleich aus. Wir wollten ihr doch nichts tun. Nur ein bisschen Spaß haben, das ist alles.“

Becky Lynn nützte ihre Chance und rannte. Sie rannte, so schnell sie konnte, ohne sich die Mühe zu machen, ihr T-Shirt wieder richtig nach unten zu ziehen und auch ohne ihren Rucksack, in dem sich das Kostbarste befand, was sie besaß: ihre Modezeitschriften. Sie rannte, bis ihr der Schweiß in Strömen über die Stirn rann und sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden zerbersten.

Spaß. Nur ein bisschen Spaß haben.

Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Großer Gott, sie wollten nur ein bisschen Spaß haben, während sie glaubte, gleich sterben zu müssen.

Selbst als ihr retten des Zu hause bereits in Sicht war, hörte Becky Lynn nicht auf zu rennen. Krampfhaft nach Atem ringend stand sie endlich vor ihrem Haus. Ihre Mutter saß auf der Veranda, sie trug noch immer das geblümte Hauskleid und starrte ins Nichts. Als Becky Lynn die Stufen hinaufstürmte, warf sie einen kurzen Blick auf ihre Tochter, sagte aber nichts. Becky Lynn hatte das Gefühl, dass sie sie gar nicht wahrnahm. Nicht richtig zumindest.

Sie stieß die Fliegengittertür auf. Ihr Daddy saß wie üblich auf der Couch und stierte auf den Fernseher. Sie ging an ihm vorbei, ohne dass er ihre Anwesenheit zur Kenntnis genommen hätte. Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wenn er in diesem Moment versucht hätte, sich wieder einmal an ihr schadlos zu halten. Sie wollte nur noch allein sein. In ihrem Bett. Und niemals mehr von irgendjemandem angefasst werden.

Becky Lynn schleppte sich in ihr Zimmer, kroch ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Sie rollte sich zusammen wie ein waidwundes Tier, wo bei sie so sehr zitterte, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Kalt, dachte sie, Gott, ist mir kalt.

 

4. KAPITEL

Die Angst wurde in den nächsten Wochen zu ihrem ständigen Begleiter. Becky Lynn hatte Angst in der Schule und im Friseursalon, in dem sie dreimal die Woche nachmittags arbeitete. Morgens an der Bushaltestelle hatte sie ebenso viel Angst wie abends, wenn sie nach Hause ging.

Sie war ständig auf dem Sprung. Sie wartete. Auf das Schlimmste. Sie wartete auf den Augenblick, in dem sie Ricky und Tommy wieder Auge in Auge gegenüberstehen würde, auf den Augenblick, in dem die beiden sie abpassen würden, auf den Augenblick, wo sie hilflos sein würde und total verletzlich.

Sie hatte abgenommen, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, da sie nachts ständig von Albträumen gequält wurde. Sie war schon immer still gewesen, doch nun hatte sie ganz aufgehört zu reden. Es fiel niemandem auf. Weder ihrer Mutter oder Randy noch irgendeinem Lehrer oder Miss Opal.

Doch etwas anderes hatte sie gar nicht erwartet. Das war auch der Grund dafür, weshalb sie niemandem erzählt hatte, was vorgefallen war. Sie war im Grunde ihres Herzens fest überzeugt davon, dass das die ganze Sache nur noch schlimmer gemacht hätte.

Becky Lynn füllte einen Putzeimer mit Wasser, holte sich einen Schrubber aus dem Lager und begann, den Frisiersalon zu wischen. Miss Opal kassierte eben bei der letzten Kundin ab, und Dixie und Fayrene waren bereits vor einer Stunde nach Hause gegangen. Heute war nicht viel los gewesen, selbst für einen Mittwoch nicht.

Becky Lynn bückte sich, um mit dem Schrubber unter Miss Opals Arbeitsplatz zu kommen. Sie brauchte das Geld, deshalb hatte sie sich bereit erklärt, den Laden dreimal in der Woche nach Ladenschluss zu putzen. Als ihr der erste Schultag nach den Ferien wieder in den Sinn kam, zog sie nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Sie hatte sich sehr davor gefürchtet. So sehr, dass sie richtiggehend krank war vor Angst. Natürlich war sie Tommy und Ricky wie zu erwarten irgendwann über den Weg gelaufen, doch sie hatten sie nicht weiter beachtet. Gott sei Dank. Im ersten Moment hatte sie aufgeatmet, wenig später jedoch kehrte die alte Angst zurück.

Sie hatte versucht, sich einzureden, dass die beiden sie vergessen hätten und dass sie in Sicherheit wäre. Aber im Grunde ihres Herzen glaubte sie nicht daran und fürchtete Rickys und Tommys Rache.

Die Ladenglocke bimmelte. In der Erwartung, Miss Opals Freund Tal bot zu sehen, warf Becky Lynn ei nen Blick über die Schulter. Talbot kam immer um diese Zeit, um Miss Opal abzuholen.

Stattdessen stolzierten Ricky und Tommy in den Laden, auf den Lippen ein selbst gewisses, süffisantes Grinsen. Becky Lynn erstarrte. Kamen sie wegen ihr?

Natürlich nicht. Sie holte tief Luft und befahl sich, ruhig zu atmen. Schließlich war sie nicht allein hier. Hier konnte ihr niemand etwas tun.

„Hallo, Jungs.“ Opal machte die Kasse zu und lächelte. „Was kann ich für euch tun?“

„Hallo, Miss Opal, Ma’am.“

Tommy blieb vor dem Tresen stehen, Ricky zwei Schritte hinter ihm. Becky Lynns Hände umklammerten den Besenstiel, während sie ein Stoßgebet zum Himmel sandte, dass die beiden sie nicht entdeckten.

„Ich soll Mama eine Flasche von dem Erdbeerschampoo mitbringen. Sie bezahlt sie am Samstag, wenn sie sowieso kommt.“

„Kein Problem.“ Opal zog sich den Terminkalender heran und schrieb etwas hinein. „Und was ist, gewinnt ihr das große Spiel am Freitagabend?“

„Na klar, Ma’am“, gab Ricky großspurig zurück. Die Wolverines kriegen so richtig schön eins in die Fresse.“

„Da können Sie drauf wetten, Ma’am“, schaltete sich Tommy jetzt ein. „Die Jungs werden es noch schwer bereuen, jemals einen Fuß nach Bend gesetzt zu haben.“

„Genau das wollte ich hören.“ Miss Opal nickte zufrieden, dann kramte sie unter dem Tresen herum, wobei sie gleich darauf ein ärgerliches Schnauben von sich gab. „Ich weiß ganz genau, dass ich mir eine Flasche von dem Schampoo für mich selbst zurückgelegt habe. Wo ist sie bloß? Möchte wetten, dass Fayrene sie verkauft hat, nur weil sie zu faul war, nach hinten zu gehen und sich eine andere zu holen.“

Sie gab ihre erfolglose Suche auf und schaute über die Schulter nach hinten. „Becky Lynn“, rief sie, „bring mir doch bitte eine Flasche Erdbeerschampoo aus dem Lager!“

Tommy und Ricky drehten sich um und sahen sie an. Der Besenstiel rutschte ihr aus der Hand und fiel polternd zu Boden. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie die beiden Jungen an.

Rickys Mundwinkel hoben sich verächtlich. Ihr Herz begann zu hämmern, ihre Handflächen wurden feucht. Sie wollten nur ein bisschen Spaß haben, während du dachtest, du müsstest sterben.

Miss Opal hob die Augenbrauen. „Becky Lynn? Das Schampoo.“

„Ja, Ma’am“, flüsterte sie, wandte sich um und beeilte sich, das Schampoo zu holen.

Spaß. Nur ein bisschen Spaß.

Den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet, kehrte sie zurück und überreichte Miss Opal die Flasche.

„Hi, Becky Lynn.“

Sie schaute Ricky an. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Er erwiderte ihren Blick, arrogant, überheblich, kalt, ohne das geringste Anzeichen irgendwelcher Schuldgefühle. Sie wusste, dass er ihre Angst spürte. Und sie machte ihm Spaß, diese Angst. Auch das fühlte sie sehr genau.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Solche wie er kamen immer durch. Man brauchte nur aus dem richtigen Stall zu kommen, dann konnte man sich alles erlauben. „Hallo“, erwiderte sie seinen Gruß. Ihre Stimme klang höher als sonst. Ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen.

Er grinste erneut, diesmal jedoch breit und leutselig. „Schon lang nicht mehr gesehen, Becky Lynn. Wo versteckst du dich denn die ganze Zeit?“

Sie spürte, dass Miss Opals Blick auf ihr ruhte, und schüttelte den Kopf. Ihr Mund war trocken. „Nirgends … ich bin … nirgends.“

Ricky nahm die Flasche mit Schampoo entgegen und warf sie Tommy zu, der sie geistesgegenwärtig auffing. „Na, wir werden dich schon finden, wenn wir Sehnsucht nach dir haben, Becky Lynn. Oder was meinst du, Tommy?“

Tommy lachte glucksend. „Na klar doch. Irgendwann die Tage.“

Becky Lynn schnappte nach Luft, sagte jedoch nichts. Miss Opal ließ sie nicht aus den Augen. „Becky Lynn, hinten steht eine neue Lieferung. Sei so gut und pack die Sachen noch schnell aus.“

Erleichtert nickte sie, drehte sich um und floh ins Lager. Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, schlug sie sich die zitternden Hände vors Gesicht. Wir werden dich schon finden, wenn wir Sehnsucht nach dir haben, Becky Lynn hatte Ricky gesagt. Und Tommy hatte bekräftigt: Irgendwann die Tage.

Ihr Gefühl hatte sie also nicht getrogen; sie hatte sich keineswegs alles nur eingebildet. Ricky und Tommy hatten sie nicht vergessen; sie hatten sie lediglich auf Warteschleife gelegt.

Sie hörte, wie Miss Opal die Jungen freundlich verabschiedete, dann bimmelte die Ladenglocke.

Bitterkeit stieg wie Galle in ihr hoch, Tränen brannten in ihren Augen. Niemand würde ihr glauben, niemand in Bend sah in Tommy und Ricky etwas anderes als zwei sportbegeisterte Jungen und herausragende Footballstars, die der Mannschaft der High School von Bend über die Stadtgrenzen hinaus zu Ruhm verhalfen. Und an diesem Ruhm partizipierte ganz Bend.

Becky Lynn kniete sich neben dem Karton auf dem Fußboden nieder und begann, die Lieferung auszupacken. Als sie den Lieferschein zur Hand nahm, verschwammen die Artikelbezeichnungen vor ihren Augen.

Wo sollte sie sich nur verstecken? Wie konnte sie sich schützen? Verzweifelt lehnte sie ihren Kopf an die Kiste und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie rannen ihr über die Wangen, liefen die Nase hinunter, bis sie an ihrer Nasenspitze angelangt waren, dann tropften sie auf den Lieferschein. Sie hatte keine Menschenseele, sie war ganz auf sich allein gestellt.

„Wir müssen miteinander reden.“ Unbemerkt hatte sich die Tür geöffnet, und Miss Opal trat ein.

Hastig fuhr sich Becky Lynn mit dem Handrücken über Augen und Wangen. Dann warf sie einen Blick über ihre Schulter. Miss Opal stand, die Hände in die Hüften gestützt, mit ernstem Gesicht an der Tür. „Ma’am?“

„Becky Lynn Lee, ich möchte, dass du mir sofort erzählst, was es mit diesen Jungen auf sich hat.“

Becky Lynn schaute die Frau an, und plötzlich glaubte sie einen winzigen Hoffnungsschimmer an ihrem düsteren Horizont erkennen zu können. Sie würde Miss Opal alles erzählen. Vielleicht glaubte sie ihr ja doch. Ganz bestimmt würde sie ihr glauben.

Sie holte zitternd tief Luft. „Sie reden von Ricky und Tommy?“

„Ja.“ Die Friseurmeisterin machte einen Schritt auf sie zu und schüttelte missbilligend den Kopf. „Nur weil es Leute gibt in Bend, die der Meinung sind, dass du nichts wert bist, musst du dich nicht auch so verhalten.“

Becky Lynn runzelte die Stirn. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. „W…was… meinen Sie denn … damit?“ stammelte sie.

„Du poussierst mit den Jungs in der Gegend rum, stimmt’s?“

„Nein!“ schrie sie vollkommen außer sich und sprang auf. Maßlos enttäuscht, starrte sie Miss Opal an. Wie konnte sie nur so etwas von ihr denken? Und plötzlich waren all ihre Hoffnungen, Unterstützung zu finden, wieder dahin.

„Ich würde niemals … diese Jungen … sie …“

„Becky Lynn Lee“, unterbrach Miss Opa sie in strengem Ton, „hör mir zu. Was du machst, ist allein deine Sache. Und wenn du entschlossen bist, deinen Ruf zu ruinieren, kann ich auch nichts daran ändern, aber es wäre schade um dich, wirklich jammerschade.“

Becky Lynn dachte an den Tag am Fluss, und plötzlich war alles wieder da. Sie spürte, wie sich ihr fast der Magen umkrempelte.

Und als sie nun Miss Opal anschaute, drängten sich ihr all der erlittene Schmerz, die Angst und die Demütigungen über die Lippen. „Wenn ich Ihnen erzählen würde, wozu diese Typen im Stande sind, würden Sie mir ja doch niemals glauben. Niemals! Doch nicht Tommy Fischer und Ricky Jones würden Sie sagen. Sie würden es nicht für möglich halten, dass sie mich … dass sie mir wehgetan haben.“

Becky Lynn ballte in hilfloser Wut die Hände zu Fäusten. „Ich … ich habe geglaubt, dass Sie … dass Sie mich ein bisschen mögen. Und dass Sie eine etwas bessere Meinung von mir haben als die anderen.“ Sie schwieg einen Moment und setzte dann hinzu: „Aber ich habe mich wohl geirrt. Ich …“

Sie schluckte das Ende des Satzes hinunter, wandte sich ab und legte die Arme schützend um sich. Wenn sie schon kein anderer schützte, musste sie es eben selber tun.

„Was sagst du da, Becky Lynn? Haben dich diese Jungs … Haben sie dich angefasst?“

„Ja“, flüsterte Becky Lynn, ohne sich umzudrehen, weil sie sich schämte.

Miss Opal hüllte sich lange Zeit in Schweigen. So lange, dass sich Becky schließlich doch umwandte. „Und was werden Sie jetzt tun? Mich feuern? Weil ich eine Lügnerin bin?“

Wieder sagte Miss Opal eine ganze Weile nichts. Sie schien zu überlegen, dann seufzte sie. „Tut mir leid, Mädchen. Es tut mir wirklich schrecklich leid. Ich … ich glaube dir. Obwohl ich wünschte, alles wäre anders.“

Miss Opal seufzte erneut. „Du hast dich so seltsam benommen … und die beiden, da war irgend etwas in ihren Augen … wie sie dich angeschaut haben. Ich hab’s sofort bemerkt. Natürlich war mein erster Gedanke, dass du und sie … na ja, du weißt schon …“

Dass du mit ihnen rumgeschlafen hast. Wie weißer Abschaum das eben so macht. Becky Lynn senkte den Kopf und holte zitternd Luft. „Machen Sie sich darüber weiter keine Gedanken, Miss Opal“, flüsterte sie. „Wenn ich nicht gefeuert bin, pack ich jetzt die Lieferung fertig aus.“

Miss Opal berührte sie leicht an der Schulter. „Es tut mir wirklich leid“, wiederholte sie. „Bitte verzeih mir.“

Becky Lynn erschauerte. Miss Opals Berührung war freundlich, fast zärtlich und beruhigend.

Wie gern hätte sie sich an die ältere Frau angelehnt und sich von ihr trösten lassen. Und wie gern hätte sie echtes Zutrauen zu Miss Opal gefasst ihr alles – ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihre Sorgen –, einfach alles erzählt, doch sie wusste es besser. Sie konnte es sich nicht leisten zu vergessen, wer sie war und wo ihr Platz in der Welt war. Täte sie es, würde sie doch wieder nur ein weiteres Mal enttäuscht und verletzt werden.

Sie schüttelte Miss Opals Hand ab. „Machen Sie sich keine Gedanken“, wiederholte sie.

„Ich mache mir aber Gedanken“, widersprach Miss Opal bestimmt. „Ich mag dich nämlich, und ich fühle mich schrecklich, weil ich dir eben so etwas unterstellt habe. Du bist ein gutes Mädchen, und eigentlich wusste ich ja, dass du so was niemals tun würdest, aber … Schau mich an, Becky Lynn. Bitte.“

Becky Lynn sah ihr ins Gesicht. Miss Opal wirkte plötzlich erschöpft, und in ihren Augen lag tiefes Bedauern. Becky Lynn spürte, wie ihr Zorn und ihre Enttäuschung verflogen.

„Du hast Recht, wenn du wütend auf mich bist. Ich habe mich geirrt, und ich entschuldige mich für das, was ich gesagt habe.“ Miss Opal griff nach ihrer Hand. „Und nun möchte ich, dass du mir ganz genau erzählst, was passiert ist, Becky Lynn.“

Becky Lynn schüttelte den Kopf und versuchte, Miss Opal ihre Hand zu entziehen. „Nein, lieber nicht. Ich … ich möchte nicht darüber reden.“

„Das wollte ich nicht von dir hören, Becky Lynn.“ Miss Opal umfasste ihre Hand fester. „Was haben diese Jungs mit dir angestellt?“

Becky Lynns Misstrauen war noch immer nicht besiegt. Doch da das Gesicht ihrer Arbeitgeberin echte Anteilnahme ausdrückte, entschloss sie sich schließlich zu reden, so schwer es ihr auch fiel. Während sie stockend ihre Geschichte erzählte, schaute sie auf ihre Schuhspitzen, das Blut rauschte in ihren Ohren. „Sie … sie haben mich angefasst. Ricky und Tommy … sie haben mich gegen einen Baum geschubst und mich festgehalten und dann …“ Plötzlich stürzten ihr die Tränen aus den Augen. „Sie haben meine Brust angefasst und meine …“

Sie schaute Miss Opal mit tränenverschleiertem Blick an. „Sie wollten nicht aufhören. Ich habe sie angefleht, aber … aber sie haben nicht auf mich gehört.“

Die Friseurmeisterin stieß einen leisen Entsetzensschrei aus und zog Becky Lynn an ihre Brust. „Meine arme Kleine. Arme, arme Kleine.“ Sie streichelte Becky Lynn übers Haar, wobei sie tröstliche Worte murmelte.

„Sie wollten nicht aufhören“, wiederholte Becky Lynn und durchlebte erneut die Momente ihrer Niederlage. „Nur einer war da bei, der nicht mitmachen wollte, und Randy stand einfach nur daneben. Mein eigener Bruder …“ Sie barg ihr Gesicht an Miss Opals Schulter.

Miss Opal hielt einen Moment inne, dann setzte sie ihr beruhigen des Streicheln fort. „Becky Lynn“, tastete sie sich behutsam vor, „haben dich diese Typen etwa … vergewaltigt?“

Als Becky Lynn nur stumm den Kopf schüttelte, atmete sie erleichtert auf. „Gott sei Dank. Wenigstens das ist dir erspart geblieben. Hast du deinen Eltern von der Sache erzählt?“

Becky Lynn machte sich von Miss Opal los und trat einen Schritt zurück. „Daddy hätte mir … er hätte mir sowieso nicht geglaubt. Und selbst wenn, ich weiß ganz genau, dass er mit Sicherheit nichts unternommen hätte. Und Mama … ach, ich weiß nicht … sie hat genug eigene Probleme.“

Miss Opal presste missbilligend die Lippen aufeinander. „Und es gab auch keine Lehrerin, der du dich hättest anvertrauen können?“

Becky Lynn schüttelte wieder den Kopf. „Nein. Ich hab’s niemandem erzählt.“

„Nun, dann müssen wir jetzt etwas unternehmen. Entweder wir gehen zu Tommys und Rickys Eltern oder aber zur Polizei …“

„Nein!“ Alarmiert schüttelte Becky Lynn den Kopf. Sie konnte sich genau vorstellen, was Tommys und Rickys Eltern denken würden, und auch die Reaktion der Polizei konnte sie sich in den blühendsten Farben ausmalen. Innerhalb von Stunden würde es sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet haben, dass die verkommene Becky Lynn Lee zwei Stars am Footballhimmel von Bend der versuchten Vergewaltigung bezichtigt hatte. Nicht auszudenken, was dann los wäre.

Verstört flocht sie ihre Finger ineinander. „Sehen Sie denn nicht, dass mir niemand glauben würde? Sie würden alle denken, dass ich ein Flitt… dass ich mich nur wichtig machen will. Es wäre schrecklich … ich weiß, dass ich das niemals durchstehen würde.“

„Aber man darf sie damit nicht durchkommen lassen.“ Miss Opals Stimme klang bestimmt. „Das wäre falsch.“

„Sie haben mir doch zuerst auch nicht geglaubt, wie wird es dann erst bei den anderen sein?“

Die ältere Frau seufzte schwer. Becky Lynn sah, wie sie innerlich mit sich rang.

„Bitte, Miss Opal. Sagen Sie es niemandem.“ Sie ergriff die Hand der Frau und drückte sie flehentlich. Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zu. „Ich fürchte mich vor dem, was dann passieren würde. Wahrscheinlich …“

„Was soll schon passieren? Wir müssen mit den Eltern der Jungs reden, und du musst sie anzeigen.“

„Nein, bitte …“ Becky Lynn drückte Miss Opals Hand fester. „Bitte versprechen Sie mir, dass Sie es niemandem erzählen. Bitte.“

Die Friseurin gab auf. Sie schaute Becky Lynn voller Zuneigung an. „Also gut, Becky Lynn. Ich werde schweigen. Fürs Erste zumindest. Aber ich finde es nicht richtig.

„Danke, Miss Opal. Vielen Dank.“

„Doch du musst mir versprechen, dass du es mir sofort erzählst, wenn die Kerle auch nur den geringsten Annäherungsversuch unternehmen.“

Becky Lynn lächelte erleichtert. „Ja, das verspreche ich.“

Miss Opal tätschelte ihr liebevoll die Wange. „Und ich will nicht, dass du denkst, du hättest niemanden, an den du dich wenden kannst.“

 

5. KAPITEL

Von da an bestand Miss Opal darauf, Becky Lynn nach der Arbeit nach Hause zu fahren. Von Tommy und Ricky hatte sie seit jenem Tag im Frisiersalon nichts mehr gesehen. Nach und nach begann Becky Lynn sich sicherer zu fühlen, und es gab Momente, da war sie fast glücklich. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie erfahren, wie es sein musste, eine Mutter zu haben, wenn auch nur zeitweise. Jemanden, der sich um sie sorgte und dem es nicht egal war, was mit ihr passierte.

Eines Tages war Miss Opal nicht im Laden. Sie hatte sich den Nachmittag frei genommen und Dixie gebeten, Becky Lynn nach Feierabend nach Hause zu fahren. Dixie hatte es zwar versprochen, doch nun hatten zwei ihrer Kundinnen abgesagt, was ihr die Gelegenheit gab, früher als sonst nach Hause zu gehen.

„Becky Lynn, bist du sicher, dass du allein heimkommst?“

Becky Lynn schaute die Kollegin, die sich eben den Mantel zuknöpfte, an und nickte. „Aber ja. Mach dir keine Gedanken. Es ist ja noch nicht mal dunkel.“

„Und es macht dir wirklich nichts aus? Schließlich habe ich Miss Opal versprochen, dass ich dich heimfahre. Vielleicht sollte ich Fayrene fragen …“

Fayrene kramte, während sie auf ihre letzte Kundin wartete, im hinteren Teil des Ladens herum und war sauer, dass Dixie im Gegensatz zu ihr schon nach Hause gehen konnte. Becky Lynn schüttelte den Kopf. „Nein, lass nur. Es ist wirklich kein Problem. Ehrlich.“

„Also gut – bis morgen dann.“

Eine Stunde später verließ Becky Lynn gemeinsam mit Fayrene das Geschäft. Die beiden jungen Frauen gingen noch zusammen über den Marktplatz, wo Fayrene ihr Auto abgestellt hatte. Dort verabschiedeten sie sich, und Fayrene fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon.

Nach wenigen Minuten hatte Becky Lynn den Marktplatz hinter sich gelassen und ging im Laufschritt in Richtung Bahndamm. Nachdem sie ihn überquert hatte, fiel ihr plötzlich auf, wie still es hier war. Sie schauerte zusammen. War sie zu leichtsinnig gewesen? Vielleicht hätte sie doch den längeren Weg nehmen sollen. Es war so still und einsam hier, und nicht einmal die Blätter an den Bäumen bewegten sich im Wind.

Becky Lynn beschleunigte ihre Schritte. Sie steckte ihr langes Haar in den Mantel und stellte den Kragen hoch. Nervös schaute sie sich immer wieder nach allen Seiten um, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte. Hier in dieser dünn besiedelten Gegend gab es nur wenige Häuser, und diese wenigen waren nicht viel mehr als Baracken; einige von ihnen waren früher Sklavenunterkünfte gewesen. Sie stammten noch aus der Zeit, als dieses Land hier Teil einer riesigen Baumwollplantage gewesen war. Becky Lynn war diesen Weg schon tausendmal gegangen, und noch nie hatte sie Angst gehabt. Seit dem Vorfall am Fluss jedoch hatte sie ihn gemieden und lieber einen Umweg in Kauf genommen.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch, das wie ein gedämpftes Lachen klang. Sie erstarrte, dann drehte sie sich rasch um. Nichts. Wahrscheinlich nur irgendein aufgeschrecktes Tier, das das Weite suchte.

Ein Zweig knackte.

Becky Lynn blieb stehen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie schaute sich um und versuchte, mit den Augen die hereinbrechende Dunkelheit zu durchdringen. „Ist da jemand?“

Nichts als Stille antwortete ihr – Stille, die lauter war, als jede Antwort es hätte sein können. Becky Lynn sog scharf die Luft ein und zwang sich zum Weitergehen. Dann hörte sie, wie jemand hinter ihr ihren Namen rief. Der Klang schwebte durch die abendliche Dämmerung, gerufen in einer Geisterstimme, wie Kinder sie an Halloween imitieren, um sich gegenseitig zu erschrecken. Ruckartig blieb sie wieder stehen.

Ricky und Tommy sind hier.

Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, das Herz schlug ihr in der Kehle. Dann begann sie zu rennen.

Zu ihrer Rechten hörte sie, wie jemand durch das Feld lief. Einen Moment später schoß ein schwarzer Schatten wie ein Pfeil aus der Dämmerung und baute sich vor ihr auf. Ricky. Grinsend bleckte er die Zähne. „Hallo, Becky Lynn.“

Sie blieb stehen, ihre Angst ballte sich zu einem Klumpen in ihrer Kehle. Es gelang ihr nicht, ihn hinunterschlucken. „W…w… was machst … du denn hier?“ stammelte sie.

„Ich warte auf dich, Becky Baby. Wir warten auf dich.“ Er grinste noch immer. Ihre Hände wurden klamm. „Genau wie wir es versprochen haben, stimmt’s, Tommy?“

„Stimmt.“ Tommy sprang aus dem Graben zu ihrer Linken. „Was hast du denn heute Abend noch so vor, Baby?“ Nun sah sie, dass sich zu Tommy noch eine dritte Person hinzugesellt hatte, die jetzt von ihm am Ärmel gepackt und unsanft vorwärts geschubst wurde.

Es war Buddy. Er sah elend aus und hielt etwas in der Hand, von dem sie nicht erkennen konnte, was es war. Sie suchte mit den Augen die Umgegend nach ihrem Bruder ab, aber sie hatten offensichtlich entschieden, ihn diesmal nicht mitzunehmen.

Sie machte einen Schritt vorwärts. Ihre Gedanken rasten. Wo war ein Fluchtweg? Warum war sie so leichtsinnig gewesen? Warum hatte sie nicht auf Miss Opal gehört? Während sie tief Luft holte, versuchte sie, ihren Verstand oder zumindest das, was davon noch übrig war, zu ordnen.

„Wo hast du denn heute deinen Wachhund gelassen?“ Ricky schnalzte mit der Zunge. „Zu schade. Wirklich. Um dich.“

Tommy lachte, und Buddy schaute auf seine Schuhspitzen.

„Wetten, dass sie gleich die Englein im Himmel singen hört, stimmt’s, Tommy?“

„Na klar doch. So ein schönes Stück Frischfleisch.“

Sie schlossen die Reihen und kamen drohend auf sie zu. Becky Lynns Finger und Zehen fühlten sich an wie taub, auf der Zunge lag ihr ein Geschmack von Asche. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie in dem Haus schräg gegenüber ein Licht aufflammte. Wenn sie es bis dorthin schaffte, wäre sie in Sicherheit.

Sie wich einen Schritt zurück. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie suchte nach etwas, womit sie die Jungen ablenken könnte, nach etwas, das ihr für den einen Moment Luft verschaffen könnte, um die rettende Haustür zu erreichen. „Lasst mich in Ruhe“, flüsterte sie. „Bitte.“

Ricky lachte unflätig und machte wieder einen Schritt auf sie zu. „Warum sollten wir?“

„Ich hab euch nichts getan. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden.“

„Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mir eine runtergehauen, oder irre ich mich da?“ Ricky wandte sich nach Tommy um. „Oder wie siehst du das, Kumpel?“

„Aber sicher hat sie.“ Tommy grinste. „Volle Pulle.“

„Es … es tut mir Leid“, versuchte sie es erneut mit bebender Stimme, „ich wollte es nicht, es war nur, weil …“

„Verrat uns doch mal, was du dir dabei gedacht hast, uns bei Miss Opal zu verpfeifen?“ Rickys Stimme klang gefährlich sanft. „Hast du gehofft, unsere Väter würden uns den Arsch versohlen, oder was?“

Miss Opal hat ihr Versprechen gebrochen. Die Enttäuschung über diesen Vertrauensbruch schnürte ihr den Atem ab. Becky Lynn schnappte nach Luft. „W… was meinst … du denn damit?“

„Hast du wirklich geglaubt, dass dir jemand diesen Stuß abnimmt?“ spottete Ricky. „Du bist echt noch bescheuerter, als ich dachte. Soll ich dir sagen, was passiert ist? Unsere Eltern haben sich halb tot gelacht, und das war’s dann.“

„Kommt, Leute“, schaltete sich Buddy nervös ein. Seine Stimme klang höher als normalerweise. „Lasst sie gehen. Das Training fängt gleich an. Wenn wir zu spät kommen, ist der Coach bloß wieder sauer.“

„Was will er denn schon groß machen?“ erwiderte Tommy großspurig. „Glaubst du vielleicht, er sperrt uns für das nächste Spiel? Einfach lachhaft! Er weiß doch genau, dass er ohne uns nicht gewinnen kann.“

„Komm, Buddy, du scheißt dir doch bloß gleich in die Hosen.“ Rickys Stimme triefte vor Verachtung. „Es ist noch genug Zeit, dass jeder mal darf.“

Sie haben vor, dich zu vergewaltigen.

Becky Lynn stieß einen erstickten Schrei aus, drehte sich auf dem Absatz um und begann zu rennen. Vor Angst bekam sie kaum noch Luft, ihr Brustkorb war plötzlich so eng, dass sie glaubte, er müsse zerspringen, während sie schneller und schneller rannte. Der Kies spritzte unter ihren Schuhen auf, und die spitzen Steinchen bohrten sich durch ihre abgelaufenen Schuhsohlen. Sie rannte über die Straße auf das erleuchtete Haus zu.

In dem Moment, in dem sie den Mund öffnete, um zu schreien, spürte wie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie zurückriß. Sie stürzte. Auf ihrer Zunge lag der Geschmack von Blut. Ihrem eigenen Blut. Sterne tanzten vor ihren Augen.

Im nächsten Augenblick legte sich eine Hand brutal auf ihren Mund, ihre Arme wurden hochgerissen, und Ricky und Tommy, der eine rechts, der andere links, zerrten sie auf dem Boden liegend über die Straße hinter einen alten verfallenen Schuppen, wo sie Halt machten. Wenig später kam Buddy mit schleppenden Schritten hinterhergetrottet.

Wenn es überhaupt noch einen Hoffnungsschimmer gab, so höchstens in Gestalt von Buddy. Wenn doch bloß Ricky seine Hand von ihrem Mund nehmen würde, dann könnte sie wenigstens den Versuch unternehmen, Buddy auf ihre Seite zu ziehen. Oder sie könnte schreien. Doch Ricky tat ihr den Gefallen nicht. Seine Hand lag nicht nur über ihrem Mund, sondern auch über ihrer Nase, so dass sie kaum noch Luft bekam. Aufgrund des Sauerstoffmangels wurde ihr Kopf leerer und leerer. Sie fühlte sich paradoxerweise fast beschwingt.

Lieber Gott, hilf mir. Ich ersticke. Ich sterbe. Dass mir so etwas passieren muss. Diese Worte trudelten durch ihren Kopf, wieder und wieder, wie ein Endlosband.

„Wo hast du die Papiertüte, Buddy?“

„Ich finde, jetzt reicht’s, Leute.“ Buddy räusperte sich nervös. „Ehrlich, darüber Witze zu reißen ist eine Sache, aber …“

Rickys Hand legte sich fester über ihren Mund und ihre Nase. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er Buddy an. „Willst du dein ganzes Leben so eine Memme bleiben, Wills? Oder bist du vielleicht schwul? Gib mir endlich diese gottverdammte Tüte – los, her damit!“

Buddys Gesicht war bleich vor Angst. „Und was ist, wenn wir erwischt werden? Was ist, wenn …“

„Halt endlich die Klappe, Wills, wir werden schon nicht erwischt.“

„Und wenn sie uns anzeigt? Herrgott noch mal, Ricky, für sowas kommt man in den Knast!“

„Du bist doch wirklich ein Riesenarschloch, Wills.“ Ricky lachte verletzend. „Und wer, meinst du, wird ihr glauben? Keine Sau, das kann ich dir jetzt schon garantieren. Oder haben vielleicht unsere Eltern Miss Opal auch nur ein Wort von dem, was sie erzählt hat, abgenommen? Sie haben doch nur gelacht, Mann. Glaubst du vielleicht, ich hätte Bock auf so was, wenn ich wüsste, dass ich dafür im Knast lande? Ich bin doch nicht bescheuert.“

Sie vergewaltigen dich, weil sie genau wissen, dass sie damit durchkommen.

Und weil sie denken, dass du nichts wert bist.

„Los, gib mir jetzt endlich die gottverdammte Tüte. Ich kann ihr Gesicht nicht mehr sehen. Und dann hilf mir, sie niederzuhalten.“ Rickys Griff lockerte sich etwas, als er seinen Kumpel ansah.

Sie wollten ihr eine Papiertüte über den Kopf stülpen, um ihr Gesicht nicht sehen zu müssen! Diese Schweinehunde! Dreckskerle! Rasender Zorn kochte plötzlich in ihr hoch. Als sie merkte, dass Ricky abgelenkt war und dass sich sein Griff gelockert hatte, schlug sie seine Hand beiseite und sprang auf. Vollkommen außer sich stürzte sie sich auf Tommy und zerkratzte ihm mit ihren Fingernägeln das Gesicht. Er heulte vor Schmerz laut auf und rammte ihr seine Faust gegen das Kinn.

Ihr Kopf wurde nach hinten geschleudert, dann durchzuckte sie ein heißer Schmerz. Sie taumelte ein paar Schritte zurück und stürzte zu Boden, wobei sie mit dem Hinterkopf auf einem Stein aufschlug. Sie bekam keine Luft mehr, ein greller Blitz flammte vor ihren Augen auf, und gleich darauf wurde es Nacht um sie.

Als Becky Lynn wieder zu sich kam, war alles um sie herum schwarz. Auf ihrer Brust lastete ein Zentnergewicht, so dass sie nur ganz flach atmen konnte. Sie versuchte die Arme zu bewegen, doch ohne Erfolg. Ihre Beine schienen schmerzhaft verkrümmt am Boden festgenagelt zu sein.

Sie brauchte eine gewisse Zeit, ehe ihr klar wurde, wo sie sich befand und was passiert war. Dann stürmte die entsetzliche Realität mit voller Wucht auf sie ein. Das Gewicht, das auf ihr lastete, war ein menschlicher Körper, der sie auf dem feuchten Erdreich niederhielt. Man hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie war splitternackt. Doch sie wusste, dass die Kälte, die sie verspürte, nicht von der kühlen Nachtluft herrührte, sondern aus ihrem Innern kam.

Es war Ricky, der auf ihr lag. Sie erkannte ihn an seinem Körpergeruch.

Geräusche, die sie nicht einordnen konnte, drangen an ihr Ohr, und die verschiedensten Empfindungen stürmten gleichzeitig auf sie ein. Die feuchte, nasskalte Erde auf ihrer Haut, der Gestank nach Schweiß und Dreck. Das Schlimmste aber war die Ohnmacht, das Gefühl, benutzt zu werden, nichts als ein Objekt zu sein. Heiß stiegen die Tränen in ihr auf, Tränen der Hilflosigkeit und unsäglichen Zorns. In ohnmächtiger Wut warf sie den Kopf von einer Seite auf die andere, und erst als sie das Rascheln der Papiertüte hörte, wurde ihr klar, warum es um sie herum so stockfinster war. Ricky stieß brutal in sie hinein, schneller und schneller, und jeder Stoß war von einem glühenden Schmerz begleitet, der sie fast zu zerreißen schien.

Irgendwo bellte ein Hund. Erregtes Keuchen drang an ihr Ohr, gefolgt von einem lauten Stöhnen.

Ricky hatte den Höhepunkt erreicht. Er grunzte wie ein Schwein, ein Geräusch, bei dem sich ihr fast der Magen umkrempelte, und ließ sich dann wie ein Stein auf sie niederplumpsen. „Mannomann“, stöhnte er.

„Los, Ricky, runter von ihr.“ Tommys Stimme war heiser vor Erregung, und Becky Lynn hörte, wie er hastig seinen Gürtel öffnete. Gleich darauf ratschte ein Reißverschluss. „Du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt bin ich dran. Ich …“

Der Hund schlug wieder an, nachdrücklicher als beim ersten Mal. Dann drang das Quietschen einer Fliegengittertür an ihr Ohr. „Ist da jemand?“ rief eine Frau.

Becky Lynn öffnete den Mund, um zu schreien, doch sie brachte lediglich ein klägliches Kratzen heraus, das nicht einmal Ricky hörte, der noch immer wie ein Felsbrocken auf ihr lag.

„Oh, Scheiße“, stöhnte Buddy, der offensichtlich ihre Beine festgehalten hatte, denn er ließ jetzt los. „Verdammt, Ricky …“

„Halt’s Maul, du Blödmann. Ich …“

„Verschwindet sofort da draußen“, schrie die Frau jetzt mit schriller Stimme, „oder ich hol die Polizei.“

Die drei Jungen erstarrten. Becky Lynn konnte zwar nichts sehen, aber sie spürte die Spannung, die mit einem Mal in der Luft lag. Sie glaubte sogar, fast die Gedanken ihrer Peiniger lesen zu können – Buddys Erleichterung, Tommys Enttäuschung, Rickys Hass.

„Ich hol jetzt die Polizei“, kündigte die Frau entschlossen an. „Auf der Stelle.“ Die Fliegengittertür wurde zugeworfen.

Für Buddy gab es nun kein Halten mehr. Er nahm seine Beine unter die Arme und rannte davon, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her.

„Los, Mann, lass uns auch abhaun.“ Tommys Stimme hatte alle Großspurigkeit verloren. Er hatte plötzlich Panik.

„Vielen Dank, Baby“, flüsterte Ricky mit einem bösen Auflachen. „Und mach dir keine Sorgen, ich werd schon dafür sorgen, dass Tommy und Buddy auch noch zu ihrem Vergnügen kommen. Verlass dich drauf.“

Er beugte den Kopf, nahm ihre Brustwarze in den Mund, saugte daran und ließ seine Zunge um sie herumkreisen. Becky Lynn schnappte nach Luft. Die Zärtlichkeit, die in dieser Berührung lag, erschien ihr grotesk und obszön. Als er sich jetzt von ihr herunterrollte, stieß sie voller Empörung blind mit dem Ellbogen nach ihm, so fest sie nur konnte. Anscheinend hatte sie ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen, denn er heulte schmerzerfüllt auf. Es hörte sich so an, als sei ihm für einen Augenblick die Luft weggeblieben. In diesem Moment hätte sie gern sein Gesicht gesehen.

„Du dreckiges Miststück! Ich werde dir …“

„Los, Mann, komm jetzt endlich, sonst ruft die Alte wirklich noch die Polizei. Wir müssen uns abseilen, und zwar sofort.“

Ricky schien endlich einzusehen, dass es tatsächlich an der Zeit war zu gehen, denn er ließ sie los, und einen Moment später hörte sie, wie er seinen Reißverschluss hochzog und seinen Gürtel schloss, dann rannten die beiden davon.

Becky Lynn richtete sich mühsam auf. Ihr Körper erschien ihr wie eine einzige große Wunde. Nackt, zerschunden und gedemütigt auf dem nasskalten Erdboden hockend griff sie nun nach der braunen Papiertüte, riss sie sich vom Kopf und starrte sie fassungslos an. Dann begann sie, von Ekelgefühlen fast überschwemmt, sie in Tausende und Abertausende kleiner Schnipsel zu zerreißen, wobei sie ihren Oberkörper schaukelnd vor und zurück bewegte und vor sich hinwimmerte wie ein tödlich verwundetes Tier. Sie konnte überhaupt nicht mehr aufhören mit diesem Akt der Zerstörung und beendete ihn erst, als die Schnipsel so klein geworden waren, dass sie sie nicht weiter zerreißen konnte.

Gleich darauf überfiel sie ein heftiges Zittern, und sie warf sich, von einem rauen Schluchzen geschüttelt, zusammengekrümmt auf die Erde.

 

6. KAPITEL

Durch die breiten Ritzen der nur achtlos zugezogenen Vorhänge fiel Licht und ergoss sich in die Dunkelheit. Mit einem erstickten Seufzer der Erleichterung kroch Becky Lynn die Stufen zur Veranda hinauf. Aufrecht gehen konnte sie nicht mehr.

Endlich daheim. Schließlich hatte sie es doch noch geschafft.

Zu Tode erschöpft legte sie ihre heiße Stirn auf die angenehm kühlen Steinstufen, bis sich ihr fliegender Atem etwas beruhigt hatte. Ihr tat alles weh. Ihr Bauch, ihr Kopf und ihr Kiefer. Und zwischen ihren Beinen brannte es wie Feuer. Doch der körperliche Schmerz war bei weitem nicht so schlimm wie der seelische. Die seelische Verwüstung, die die Jungen in ihr angerichtet hatten, ließ sich nicht mit medizinischen Fachausdrücken belegen und war mit Worten kaum fassbar. Es waren keine Verletzungen, die sich mit Salben und Verbänden heilen ließen. Ihre Seele war in Stücke gerissen worden.

Sie würde nie mehr dieselbe sein wie vorher. Sie würde nie mehr ganz sein.

Noch immer an allen Gliedern zitternd hob Becky Lynn den Kopf und zog sich mühsam am Treppengeländer hoch. Sie hatte weder eine Ahnung, wie spät es war, noch, wie lange sie da draußen zerschunden und blutig in der Dunkelheit auf der nassen Erde gelegen und auf die Polizei gewartet hatte, die dann doch nicht gekommen war.

Bilder, unerwünscht und beängstigend, schossen, grell wie Blitze, in ihrer Erinnerung auf. Rasch schloss sie die Augen, um sie zu verdrängen. Ihr Magen rebellierte, und sie spürte, wie ihr übel wurde. Mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, versuchte sie dagegen anzugehen, sich zu übergeben. Sie würde es nicht zulassen, dass Tommy und Ricky ihr auch noch ihren Mageninhalt wegnahmen. Die beiden hatten ihr sowieso schon das Einzige geraubt, was sie besaß: ihre Würde und ihren Kör per. Den letzten Rest kindlichen Glaubens an die Menschheit. Ihre Hoffnung.

Während sie sich über die Veranda zur Haustür schleppte, kam ihr zum ersten Mal ihre Familie in den Sinn. Noch nie war sie zum Abendessen zu spät gekommen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie aussah – schmutzig, bedeckt mit Schürfwunden und blauen Flecken und blutverschmiert. Ihre Kleider waren zerrissen. Sie umklammerte die Türklinke. Ob überhaupt irgend jemand ihre Abwesenheit bemerkt und sich Sorgen um sie gemacht hatte? Was würden sie bei ihrem Anblick empfinden?

Sie öffnete die Tür und trat ein. Wie üblich schlug ihr der vertraute Whiskeydunst entgegen.

Ihr Vater hing, auch das wie immer, in seinem Sessel und starrte in die Glotze. Neben ihm lümmelte sich Randy. Sein Gesicht wirkte blass und angespannt. Ihr Vater rührte sich nicht, als die Tür quietschte, aber ihr Bruder wandte den Kopf. Er begegnete ihrem Blick und schaute sie einen kurzen, spannungsgeladenen Moment an, dann wandte er sich schuldbewusst ab.

Autor

Erica Spindler
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