Geständnis am Strand

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Hell funkeln die Sterne über der Bucht der Delfine, als Pierce die hübsche Shanni in seine Arme zieht und zärtlich küsst. Ein magischer Moment, in dem sie spürt, was sie sich bislang nicht einzugestehen wagte: Sie hat sich unrettbar verliebt in den charmanten australischen Stararchitekten. Aber was empfindet er für sie? Während Shannis Liebe für ihn mit jedem Tag wächst, scheint Pierce immer weniger bereit zu sein für eine feste Bindung. Hat er sie womöglich nur aus Dankbarkeit geküsst, weil sie ihm in einer Notlage geholfen hat? Verletzt flieht Shanni nach Sydney ...


  • Erscheinungstag 28.04.2008
  • Bandnummer 1738
  • ISBN / Artikelnummer 9783863493332
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Blake, Connor, Sam, Darcy, Dominic, Nikolai – und Pierce. Ihre erwachsenen, unabhängigen Söhne.

Ruby sah sie der Reihe nach an und seufzte. Sie hatte sich so große Mühe gegeben und doch kein Verständnis gefunden. Das Geschenk in ihrer Handtasche – ein Gemeinschaftsgeschenk ihrer sieben Pflegesöhne – war der beste Beweis dafür.

Aber ihre Jungs waren trotzdem wunderbar, die Bilanz blieb positiv. Jeder stellte für sich allein etwas dar. Was für eine Entwicklung, wenn sie an die armen Würmchen dachte, die sie quasi von der Straße aufgelesen und in ihre Obhut genommen hatte!

Im Moment hörten sie alle aufmerksam dem Redner zu, aufmerksamer als sie selbst. Der Earl of Loganaich sprach zur Eröffnung des neuen Heims für bedürftige Kinder. Als ehemalige Vorsitzende des australischen Verbands der Pflegeeltern war sie um Rat gebeten worden. Ein Ort, wo zu kurz gekommene Kinder neu anfangen konnten … Das war so recht nach ihrem Herzen.

Ruby hatte auch ihre Söhne gebeten, das Projekt mit Rat und Tat zu fördern, was sie bereitwillig getan hatten. Jetzt waren sie von allen Enden der Welt zu der feierlichen Eröffnung angereist, um die Freude ihrer Pflegemutter zu teilen und ihr gleichzeitig ein besonderes Präsent zu machen.

Ihr siebzigster Geburtstag lag eine Woche zurück. Natürlich hatten sich alle an das Datum erinnert und waren nur nicht gekommen, weil Ruby angeblich keine Familienzusammenkünfte mochte. Dabei war es genau umgekehrt: Ihre Söhne verabscheuten derartige Treffen. Bei Gefühlsdingen suchten sie immer das Weite.

Das im Schloss von Dolphin Bay eingerichtete Heim war ein Familienunternehmen. Gerade jetzt standen Lord Hamish, Earl of Loganaich, und seine Ehefrau, Lady Susan, auf der kleinen Bühne – umgeben von ihrem „Hofstaat“ aus Verwandten, Freunden, Kindern und Haustieren. Sie alle glaubten an das neue Heim und freuten sich darauf, ihr Leben einem guten Zweck zu widmen.

Die Rede des Earls war zu Ende. Alle Angehörigen umarmten sich, und Ruby sah traurig auf ihre Söhne, denen man nichts von der allgemeinen Freude anmerkte. Ihr unerwartetes und unerwünschtes Geburtstagsgeschenk bestand in dem Kauf eines Apartments in Sydney, mit Blick über den Hafen, wie er schöner nicht sein konnte.

„Wer dich von jetzt an länger als zwei Wochen besuchen will, braucht unsere Einwilligung“, hatten die Brüder gesagt. „Wir müssen dich vor dir selbst schützen. Du darfst dich nicht mehr für die Armen und Schwachen aufopfern.“

Tränen liefen Ruby über die Wangen. Die Jungs wollten sie einfach nicht verstehen. Sie hatte für jeden Einzelnen gekämpft, jeder hatte es geschafft, aber keiner zu ihren Bedingungen.

Sie wischte die Tränen fort und konzentrierte sich wieder auf die Besitzer und Angestellten dieses ungewöhnlichen Schlosses. Das Glück leuchtete ihnen aus den Augen – ein Leuchten, das Ruby bei ihren Söhnen vermisste. Würden sie jemals glücklich sein? Glücklich in der Liebe?

Pierce hatte ihre Bewegtheit bemerkt und nahm tröstend ihre Hand. Er war fünfunddreißig, Stararchitekt, groß, schlank, auf eine herbe Art gut aussehend und äußerst selbstsicher. Doch für Ruby würde er immer der halb verhungerte, missbrauchte Junge bleiben, den sie unter ihre Fittiche genommen hatte.

Er hatte mehr als seine Pflegebrüder zum Gelingen dieses Unternehmens beigetragen. Die notwendigen Anbauten, die dem veränderten Zweck dienen sollten, stammten von ihm und waren kostenlos entworfen worden. Ruby wusste, dass ihm die Arbeit Spaß gemacht hatte, trotzdem blieb er ihr gegenüber reserviert.

Wo steckte bloß das Baby, von dem er ihr heute Morgen zu ihrer Überraschung erzählt hatte? Er war überhaupt voller Überraschungen gewesen. Seine Heirat, der frühe Tod seiner Frau, das kleine Kind … nichts von all dem hatte sie gewusst und würde es noch immer nicht tun, wenn sie nicht ein Gespräch mit seinen Pflegebrüdern mit angehört und ihn anschließend zur Rede gestellt hätte.

„Was hast du, Ruby?“, raunte er ihr jetzt zu.

„Ach, nichts. Es ist nur alles so verwirrend. Ich habe dir immer eine intakte Familie gewünscht …“

„Die habe ich“, versicherte er.

Ein Wunder, dass er es zugibt, dachte Ruby, ohne ihm recht zu glauben. „Ein Baby und eine Haushälterin sind keine intakte Familie. Wenn ich wenigstens mal nach dem Rechten sehen dürfte.“

„Es ist nicht mein Kind, und du hast genug getan.“

„Ich möchte aber …“

„Nein, du möchtest nicht.“ Pierce war jung und weltgewandt, dagegen kam eine gebrechliche ältere Frau nicht an. „Du musst dich endlich ausruhen.“

„Dafür ist immer noch genug Zeit, und bis dahin möchte ich leben.“

Pierce schwieg dazu, und ein Blick in die Gesichter seiner Brüder sagte Ruby, dass keiner mehr Verständnis zeigen würde. Sie wussten alle nicht, was es bedeutete zu leben. Keiner von ihnen.

Sie hatte doch versagt.

1. KAPITEL

Shanni hatte vor ihrer Ankunft auf der Farm mit allem Möglichen gerechnet, nur damit nicht. Sie lenkte ihr Auto an den Straßenrand und hielt dort an. Nein, sie würde nicht weiterfahren – nicht durch dieses Tor.

Ihre beste Freundin hatte laut aufgelacht, als sie ihr von ihrem Vorhaben erzählte, aber Julie hatte gut lachen. Sie war auf dem Land groß geworden und wusste daher, welche Gefahren dort lauerten.

„Kühe tun dir nichts, solange du ihre Kälber in Ruhe lässt. Diese sind zwar neugierig, jedoch harmlos. Falls der Farmer aber Bullen hat, sind diese oft ein Problem. Denen musst du unbedingt aus dem Weg gehen. Pferde sind zwar groß, aber im Allgemeinen gutmütig. Sagst du etwas lauter ‚Buh!‘ zu ihnen, galoppieren sie davon. Schließlich sind da noch die Hunde. Die meisten spielen sich gern auf. Dann musst du sie streng ansehen und ihnen ‚Sitz!‘ befehlen. Und achte auf Kuhfladen“, hatte Julie ihre Warnung beendet. „Sie ruinieren jeden Stiletto.“

Shanni hatte ihre Pumps deshalb in Julies schickem Mini-Apartment in Sydney zurückgelassen und pausenlos „Buh!“ und „Sitz!“ vor sich hin gemurmelt. Sie hatte geglaubt, damit allen Situationen gewachsen zu sein – allen, bis auf diese.

Auf einem Gatter saßen Kinder. Mehrere. Eins, zwei, drei, vier. Alle beobachteten sie. Warum auch nicht? Ein Auto war in dieser gottverlassenen Gegend bestimmt eine Seltenheit.

Hier gab es nur eine Schotterstraße, die den Windungen eines Flüsschens folgte, das von Quellen in den fernen Bergen gespeist wurde. Es war endlich Frühling geworden, und damit hatte die Schneeschmelze eingesetzt. Auf Wiesen und Feldern keimte das frische Grün, hier und da reckten Eukalyptusbäume ihre riesigen, weit verzweigten Kronen in den Himmel. Es war schön hier oben im Hochland von Neusüdwales.

Und die Gefahren? Die Kühe schienen alle auf ihren Weiden zu sein. Kein Pferd, kein Hund war zu sehen, nur diese vier Kinder … diese schrecklichen Kinder. Mädchen, Junge, Junge, Mädchen, zählte Shanni ab, alle in den gleichen schmutzigen Jeans, verwaschenen T-Shirts und derben Stiefeln.

Ob es Geschwister waren? Möglicherweise, obgleich die unterschiedliche Haarfarbe dagegen sprach. Einmal rot, einmal blond, zweimal brünett, aber das war ja nicht schlimm. Schlimm war, dass sie auf dem Gatter saßen, das zu der Ranch führte, auf der Shanni arbeiten wollte!

Sie hatte Tante Rubys Brief an die Windschutzscheibe gesteckt, weil darin der Weg nach „Two Creeks“ beschrieben war. Jetzt nahm sie ihn mit spitzen Fingern in die Hand und hielt ihn so, als wäre er ein Skorpion. Dann las sie ihn zum xten Mal durch, obwohl sie ihn inzwischen auswendig kannte, aber sie wollte Zeit gewinnen.

Pierce lässt sich von mir nicht helfen. Er war immer ein ganz Lieber, obwohl er es fast am schwersten gehabt hat. Und nun das! Vor einem halben Jahr ist seine Frau gestorben … seine Frau! Er hat mir nicht mal von seiner Heirat erzählt, um mich zu schonen, und jetzt ist sie tot! Seine Brüder machen sich große Sorgen um ihn. Sie sagen, dass er beruflich nachlässt und gute Aufträge verliert. Vielleicht ist das nicht so wichtig, wenn man gerade sein Liebstes verloren hat, aber davon wollen die Jungs nichts hören. Was ich sage, interessiert sie nicht. Für sie bin ich von vorgestern. Man muss mich nicht mehr ernst nehmen.

Wie auch immer, Darling … ich weiß, Mike hat Dir das Herz gebrochen. Das behauptet jedenfalls Deine Mutter, aber wenn Du mich fragst … wie man einen Mann mit Pferdeschwanz lieben kann … na ja. Ich finde es auch schlimm, dass Du Deine kleine Londoner Galerie aufgeben musstest, aber wenn Du mit dem Gedanken spielst, nach Hause zu kommen … es würde sich nur um etwa sechs Wochen handeln, die Du Dich um das Baby kümmern müsstest, bis Pierce diesen wichtigen Auftrag unter Dach und Fach hat. Angeblich hat er sich nach einer Haushaltshilfe umgesehen, aber die Jungs meinen, da könnte er ewig suchen. Natürlich würde ich sofort einspringen, doch man lässt mich nicht …

Rubys ganze Enttäuschung sprach aus dem Brief. Gute Tante Ruby! Ihr Leben lang hatte sie anderen geholfen. Jetzt rieten ihr die Pflegesöhne dringend zu mehr Ruhe, aber wenn sie gedurft hätte, wäre sie zu Hilfe geeilt.

Nun also sollte sie, Shanni, Haushälterin für einen sogenannten „Cousin“ und ein mutterloses Baby spielen, auf einer Ranch, die auf der anderen Seite der Erde lag, weit weg von London, wo sie sich als Kuratorin und Galeriebesitzerin einen Namen gemacht hatte …

Normalerweise hätte sie über den Vorschlag gelacht, aber hier handelte es sich um Pierce MacLachlan. Er war einer von Rubys Pflegesöhnen – einer von mindestens drei oder vier heimatlosen Kindern, die bei keiner noch so unbedeutenden Familienzusammenkunft gefehlt hatten.

Es gab drei Gründe für Shanni, Pierce ihre Unterstützung anzubieten. Der erste Grund war Mitgefühl. Sie kannte Pierce seit ihrem achten Lebensjahr. Damals war er fünfzehn gewesen und Tante Ruby zum vierten Mal „über den Weg gelaufen“ – viel zu groß und zu dünn für sein Alter, schlecht angezogen und ohne Hoffnung. Jetzt hatte er auch noch seine Frau verloren, als hätte es dieses zusätzlichen Verlusts bedurft!

Der zweite Grund war Pierce’ Sex-Appeal. Schon damals, lange vor der Pubertät, hatte er sie fasziniert, gerade wegen seiner Größe, seines düsteren Wesens und seiner Verlorenheit. Wahrscheinlich war er damals äußerst scheu und zurückhaltend gewesen, aber bei ihr hatte er alle gleichaltrigen Jungen ausgestochen.

Der dritte Grund war der ausschlaggebende. Sie besaß nicht genug Geld, um in London zu bleiben. Sie hatte ihre Galerie und ihren Freund verloren, und Pierce besaß eine Ranch. Warum sollte sie nicht wie zufällig vorbeikommen und sich das Ganze einmal ansehen? Falls es ihr nicht gefiel, konnte sie sich immer noch in das Haus ihrer Eltern zurückziehen und ihr trauriges Schicksal beklagen. Ach nein, das ging ja nicht. Ihre Eltern hatten ihr Heim ja für die Dauer ihres Europaaufenthalts weitervermietet!

Shanni sah wieder zu den vier Kindern hinüber. Nicht ein Baby, sondern vier Kinder! Woher kamen sie? Jetzt bedauerte sie, sich nicht gründlicher informiert zu haben. Sie hatte Rubys Brief gelesen und sich spontan entschlossen, deren Vorschlag in die Tat umzusetzen. Dass ihre Eltern nicht in Sydney waren, hatte sie gewusst, nicht aber, dass deren Haus vermietet war. Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten damit gerechnet, dass eine verlorene Tochter zurückkommen und um Aufnahme bitten würde.

Statt ihrer Eltern hatte sie fremde Menschen angetroffen, die im Garten gerade eine Grillparty veranstalteten. Natürlich hatte sie mit den Tränen gekämpft, aber keine einzige vergossen. Genauso wenig wie damals, als sie Mike mit einem seiner albernen Modelle in ihrem Bett angetroffen hatte.

Sie war früher als sonst nach Hause gekommen, weil sie sich offenbar erkältet hatte und krank fühlte, und da lagen sie, ohne sie zu bemerken, genau wie in einer dieser dämlichen Fernsehserien! Zitternd vor Wut hatte sie sich ins Badezimmer geschlichen und einen Eimer mit Wasser gefüllt. Danach war sie in die Küche gehuscht, um Eis aus dem Kühlschrank zu nehmen. In der Erregung hatte sie zwei Behälter fallen lassen, aber auch das hörten die „Liebenden“ nicht.

Sie hatte die gefrorenen Würfel in das Wasser geschüttet, den Eimer ins Schlafzimmer geschleppt und ihn auf einmal über den beiden ausgegossen. Was für ein Triumph!

Rückblickend kam es ihr so vor, als hätte sie doch lieber weinen sollen, denn nachdem sie sich endlich von ihrer Erkältung und dem Schock erholt hatte, war Mike längst zum Gegenangriff übergegangen und hatte das gemeinsame Konto restlos geplündert. Damit war ihre kleine, mit Hypotheken belastete Galerie erledigt.

Wie auch immer … es blieb die Genugtuung, dass Mike keine Träne bei ihr gesehen hatte. Sie war hart im Nehmen, hart genug, um auch mit dieser neuen Situation fertig zu werden. Mit vier Kindern, die auf einem Gatter saßen und sie neugierig anstarrten.

Das ältere Mädchen hatte kupferrotes Haar, das so unmöglich geschnitten war, als hätte man eine Heckenschere dafür benutzt. Inzwischen war es vom Gatter gesprungen und machte Anstalten, dieses zu öffnen.

Shanni kurbelte das Seitenfenster herunter und beugte sich hinaus. „Heißt diese Farm ‚Two Creeks‘?“

„Ja“, antwortete der ältere Junge. „Bist du Shanni?“

„Allerdings“, antwortete sie leise und ziemlich mutlos.

„Na endlich.“ Das Mädchen mit dem schrecklichen Haarschnitt machte das Gatter weit auf, wobei die anderen weiter auf der oberen Stange balancierten. „Dad hat uns verboten hineinzugehen, bevor Sie da sind. Warum halten Sie da drüben?“

„Euer Vater erwartet mich?“, fragte Shanni ungläubig.

„Sie haben angerufen. Wissen Sie das nicht mehr?“

„D…och.“

Das Mädchen sah nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts, als wäre der Schotterweg ein viel befahrener Highway. Dann kam es vorsichtig näher.

„Dad sagte: ‚Gott sei Dank, Ruby hat eine Lösung gefunden. Wir bekommen eine Babysitterin.‘“

„Aha.“ Shanni betrachtete wieder die Kinder auf dem Gatter. „Heißt dein Vater zufällig Pierce?“

„Pierce MacLachlan.“ Das Mädchen streckte die Hand durch das offene Fenster. „Ich heiße Wendy MacLachlan und bin elf Jahre alt.“

„Soso.“ Mehr brachte Shanni nicht heraus, während ihre Hand kräftig geschüttelt wurde.

„Die anderen sind Bryce, Donald und Abby“, fuhr Wendy fort. „Bryce ist neun, Donald sieben und Abby vier. Bessy ist erst acht Monate alt und kann noch nicht sprechen. Dad ist mit ihr in der Stadt. Ihr richtiger Name lautet Elizabeth, aber wir finden sie zu niedlich, um sie so zu nennen.“

Bessy. Das Baby. Wenigstens das stimmte.

„Wo genau ist euer Vater?“

„Er musste Bessy zum Arzt bringen. Wahrscheinlich hat sie Windpocken. Es sind noch keine Flecken zu sehen, aber sie quengelt so viel, dass sie krank sein muss. Dad hat die ganze letzte Nacht nicht geschlafen. Als Sie anriefen, hätte er beinahe losgeheult.“

„Oh!“ Shanni wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte. „Habt ihr anderen schon Windpocken gehabt?“

„Natürlich“, erklärte Wendy stolz. „Ich habe sie zuerst bekommen, und dann waren die anderen drei dran. Dad behauptete, er würde durchdrehen, aber ich habe ihm geholfen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Wir haben gehofft, dass Bessy sie nicht auch kriegt, aber jetzt hat sie sie wohl doch. Dad ist voll genervt.“ Wendy zwinkerte. „Er hat mir verboten, das zu sagen, doch als Sie anriefen, um sich anzumelden, stöhnte er: ‚Dem Himmel sei Dank. Ich bin so fertig, dass ich für eine tüchtige Haushaltshilfe mein halbes Königreich hergeben würde.‘ Dann hat er uns nacheinander angesehen und sich verbessert: ‚Nein, mein ganzes Königreich.‘“

Eine weniger verantwortungsbewusste Frau würde jetzt auf der Stelle kehrtmachen, überlegte Shanni. Sie würde von einem bedauerlichen Missverständnis sprechen, schleunigst das Weite suchen und sich an einem geheimen Ort verstecken.

„Wir dürften an sich nicht allein sein“, fuhr Wendy nicht mehr ganz so selbstsicher fort. „Aber der Kombi hat einen Platten, und als Dad den Ersatzreifen aus dem Kofferraum geholt hat, war der ebenfalls platt. Das muss noch von Mum sein, wahrscheinlich hat sie Dad nichts gesagt …“, Wendys Stimme bebte, „… bevor sie starb. Jedenfalls hat Dad nur einen Zweisitzer, und weil er Bessy unbedingt zum Arzt bringen musste, sind wir hiergeblieben. Ich hab versprochen, gut auf die anderen aufzupassen, aber weil Abby immer irgendwelchen Unsinn anstellt, mussten wir versprechen, auf dem Gatter sitzen zu bleiben, bis Sie kommen.“

Ruby, dachte Shanni. Liebe, verrückte Tante Ruby!

Wie sollte sie mit dieser Situation fertig werden? Sie brauchte selbst eine Atempause, Zeit, um auszuspannen, ein bisschen zu malen und darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Vor allem brauchte sie Ruhe, Ruhe und noch mal Ruhe.

Von der anderen Straßenseite her ertönte plötzlich ein Schrei. Die Jungen hatten das Gatter so heftig hin- und herschwingen lassen, dass Abby nach hinten gekippt war und sich nur noch mit den Knien festhielt. Ihre blonden Zöpfe schleiften auf dem Boden, während die Kleine mit den Händchen verzweifelt nach einem Halt suchte.

„Hilfe!“, schrie sie. „Wendy, Hiiilfe!“

Wendy seufzte, sah nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts und trottete über die Straße. Sie trägt zu kleine Stiefel, schoss es Shanni durch den Kopf. Sie geht, als täten ihr die Füße weh.

Wendy fing Abby mit beiden Armen auf.

„Kommen Sie herein?“, rief sie dabei Shanni zu.

Shanni begegnete dem Blick der Kleinen, der ungewöhnlich war für ein elfjähriges Mädchen. Zu viel Verantwortung lag darin, zu viel Lebenserfahrung.

Ihre Freunde sagten ihr zu Recht ein weiches Herz nach. Bevor sie London verließ, hatte sie alles darangesetzt, ihre drei Katzen und zwanzig Kakteen gut unterzubringen. Die Pflanzen stammten von einer älteren Nachbarin. Shanni hatte es übernommen, sie über das Wochenende zu gießen, aber aus den zwei Tagen waren Wochen geworden, dann Monate, und schließlich war die Nachbarin ganz zu ihrem Sohn an die Riviera gezogen.

Eine weniger verantwortungsbewusste Frau hätte die Kakteen einfach weggeworfen, nicht aber Shanni. Dabei hasste sie diese stacheligen Dinger. Sie hatte die zwanzig Pflanzen in Kartons gepackt und durch halb London zu einem närrischen Kakteen-Liebhaber gebracht, den sie über das Internet gefunden hatte.

Auch bei Mike, einem vielversprechenden Maler ohne feste Bleibe, hatte ihr gutes Herz den Ausschlag gegeben. Hatte sie auch da Mitgefühl mit Liebe verwechselt?

Also nichts wie weg!, befahl ihr jetzt eine innere Stimme.

Aber da war dieser Blick, dieser Ausdruck in Wendys Augen. Sie erwartete keine Hilfe, kein Mitgefühl. Sie war es gewohnt, dass man sie allein ließ.

„Egal, was Dad gesagt hat“, tröstete sie ihre Schwester, „ich bringe dich jetzt ins Haus. Du hast dir die Hände zerkratzt, und wir müssen sie verbinden.“

Auch das noch!

„Wie heißt ihr?“, rief Shanni ihr hinterher.

„Bryce!“, antwortete der ältere Junge. „Bryce und Wendy und Donald und Abby. Und Bessy ist beim Arzt!“ Shanni atmete tief durch. „Okay, Bryce. Wo kann ich parken?“

2. KAPITEL

„Kein Zweifel, es sind Windpocken.“ Dr. Martins Ton verriet tiefste Missbilligung. „Damit hat es die ganze Familie erwischt. Man hätte die älteren Kinder impfen müssen. Bei uns ist das ab dem ersten Lebensjahr die Regel. Bessy zahlt jetzt den Preis für Ihre Nachlässigkeit.“

Wäre ich nicht so hundemüde, würde ich ihm einen Kinnhaken versetzen, dachte Pierce. Das aber wäre Energieverschwendung gewesen.

„Hier ist ein Rezept“, fuhr der Arzt fort. „Geben Sie ihr die Tropfen zweimal täglich … wie den anderen Kindern.“ Er sah Pierce misstrauisch an. „Ich kann mich doch auf Sie verlassen?“

„Ja“, antwortete Pierce mürrisch. Vielleicht hätte er für den Kinnhaken doch noch genug Energie gehabt, aber Bessy hing an seinem Hals, sodass ein Fausthieb nur eine geringe Wirkung gehabt hätte.

„Die Leiterin der Kinderfürsorge meint, Sie kämen nur schlecht mit der Situation zurecht.“ Es war Dr. Martin anzuhören, dass er diese Meinung teilte. „Ich kann die Leute von der Behörde jederzeit einschalten. Das habe ich Ihnen schon nach dem Tod Ihrer Frau gesagt.“

Pierce schüttelte müde den Kopf. „Das möchte ich nicht, und außerdem erwarte ich Hilfe.“

„Ausgezeichnet. Hoffentlich versteht die Person etwas von ihrem Fach. Die Kinder haben doch genug durchgemacht.“ Der Arzt schloss Bessys Krankenakte. „Geben Sie mir Bescheid, falls Sie Ihre Meinung ändern. Die Leute von der Fürsorge können täglich einspringen.“

Shanni betrat die Küche und hätte am liebsten gleich wieder kehrtgemacht. Der Raum war groß, wie in alten Farmhäusern üblich. Ein riesiger grüner Herd nahm fast eine ganze Wand ein, Schränke, Sitzbänke und Stühle waren aus dunkel getöntem Holz, der Fußboden bestand aus Eichendielen. Den Mittelpunkt bildete ein großer Tisch, ebenfalls aus Eichenholz, groß genug, um für Berge von schmutzigem Geschirr Platz zu bieten, und solide genug, um nicht darunter zusammenzubrechen.

„Es … ist nicht ganz aufgeräumt“, meinte Wendy, die vorangegangen war. Sie trug Abby immer noch auf den Armen und schwankte unter der zu schweren Last. „Es ging Bessy gestern wirklich schlecht.“

Die beiden Jungen bildeten die Nachhut. Mit ihren dunklen Locken, den Sommersprossen und dem gleichen misstrauischen Blick wirkten sie so, als wären sie wirklich Brüder.

Trotz des strahlenden Frühlingswetters war es kalt und feucht in der Küche. „Uns ist gestern das Holz ausgegangen“, gestand Wendy, „und Dad hatte keine Zeit, um welches zu hacken. Aber das war gar nicht nötig, denn er hätte uns bei brennendem Feuer doch nicht allein gelassen. Zum Frühstück gab es Müsli und Orangensaft, daher brauchten wir den Herd nicht.“

„Ich verstehe“, sagte Shanni, obwohl sie weiter im Dunkeln tappte.

Wendy wankte zum nächsten Stuhl und setzte ihre Schwester dort ab. „Ich hole ein Pflaster, Abby“, versprach sie der Kleinen.

Das war wenigstens ein Anfang!

„Wir müssen die Hände erst reinigen“, sagte Shanni zu Wendy. „Kannst du mir einen sauberen Waschlappen und Seife bringen?“

„Ich glaube, ja“, antwortete das Mädchen zögernd. „Werden Sie sich jetzt um uns kümmern?“

Shanni seufzte. „Wenn ich das wüsste! Für immer bestimmt nicht, aber bis euer Vater zurückkommt, habe ich wohl keine andere Wahl. Wir wollen mit Abbys Händen anfangen, okay?“

Irgendwo zwischen Dr. Martins Praxis und der Apotheke schlief Bessy ein. Endlich. Sie hatte die ganze letzte Nacht vor sich hin gewimmert und im Warte- und Sprechzimmer laut geweint. Die plötzliche Stille wirkte fast betäubend.

Pierce hatte Glück. Direkt vor der Apotheke fand er einen freien Parkplatz, er brauchte Bessy also nicht aufzuwecken. Allerdings war es auch nicht ungefährlich, sie allein im Auto zurückzulassen. Die Damen von der Fürsorge konnten ihm das als Kindesvernachlässigung auslegen, zumal der Wagen nicht verschlossen war.

Er liebte sein schnittiges gelbes Sportcabriolet mehr als sein Leben, und heute hatte er das Verdeck wegen des schönen Wetters natürlich zurückgeklappt. Er würde nur schnell das Rezept vorlegen und durch das Fenster der Apotheke ein Auge auf Bessy haben.

Leider warteten zehn Kunden vor ihm … mit zehn Rezepten.

„Es wird etwa zwanzig Minuten dauern“, meinte Mr. Connelly, der Apotheker. „Sie sehen ja, was hier los ist.“

Pierce stöhnte gequält auf. „Ich habe ein Baby im Auto, und zu Hause warten die anderen Kinder auf mich.“

„Sie dürfen das Kleine auf keinen Fall allein lassen!“

„Wenn Sie vielleicht eine Ausnahme …“

„Zwanzig Minuten“, wiederholte Mr. Connelly unerbittlich.

„Also gut.“ Diesmal verzichtete Pierce aus diplomatischen Gründen auf den Kinnhaken. Die halbe Stadt war sowieso schon gegen ihn. „Ich warte draußen im Auto.“

Auf dem Weg zur Tür begegnete er unfreiwillig seinem Spiegelbild. Er hatte sich zwei Tage nicht rasiert und angezogen neben Bessys Bett geschlafen. Er sah zum Fürchten aus! Eine zierliche ältere Dame, die gerade hereinkam, machte einen weiten Bogen um ihn, was er ihr nicht verdenken konnte.

Missmutig setzte er sich wieder hinter das Steuer. „Zwanzig Minuten“, sagte er zu der schlafenden Bessy, die sich jedoch nicht stören ließ.

Wie er sie beneidete! Seufzend kreuzte er die Arme über dem Lenkrad, legte den Kopf darauf und schloss die Augen. Zwanzig Minuten. Es war warm und still. So wunderbar still …

„Wann wollte euer Vater wiederkommen?“

„In einer Stunde, hat er gesagt. Er war für halb elf angemeldet.“

Shanni sah auf die Uhr. „Inzwischen ist es fast zwölf. Müsste er nicht längst zurück sein?“

„Ja.“ Wendys Unterlippe zitterte, wenn auch nur ein bisschen. Sie versuchte es zu verbergen, aber Shanni hatte es bemerkt. Vielleicht, weil ihr selbst nach Weinen zumute war.

Sie würde bleiben, bis Pierce zurückkam, und dann auf der Stelle verschwinden. Bis dahin konnte sie die Kinder nicht im Stich lassen. Alle vier beobachteten sie, und ihre Mienen wurden immer ängstlicher. Sie hatten ihre Mutter verloren, und ihr Vater ließ auf sich warten. In ihrer kleinen Welt gab es keinen Halt.

„Okay“, sagte Shanni, „soll ich mal in der Praxis anrufen?“

„Ja“, antwortete Wendy, sichtlich erleichtert.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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