Gezählte Tage des Glücks

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ein schillerndes Abendkleid, ein rauschendes Fest und ein vor Charme sprühender Playboy. Für die Australierin Imogen Holgate, die sich mit ihrer Reise nach Paris einen Herzenswunsch erfüllt, gleichen die Stunden in den Armen Thierry Girards einem sinnlichen Traum. Dabei weiß sie genau, Träume sind nichts für sie. Schließlich sind ihre Tage gezählt, und zwar nicht nur die in seinen Armen. Für Imogen beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, den sie alleine durchstehen muss! Aber lässt der smarte Millionär es zu, dass sie ihn einfach so aus ihrem Leben streicht?


  • Erscheinungstag 25.10.2016
  • Bandnummer 2254
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707071
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Imogen! Was für eine schöne Überraschung.“ Die junge Frau an der Anmeldung sah von ihrem Schreibtisch auf. „Ich hätte nicht erwartet, Sie noch einmal wiederzusehen.“ Sie stockte, ihr Lächeln verschwand. „Es tat mir so leid, als ich das von Ihrer Mutter gehört habe.“

Selbst nach vier Monaten stieg bei dem Mitgefühl in der Stimme der anderen Trauer in Imogen auf, als hätte sie eine Wunde berührt, die nicht verheilte. „Danke Krissy.“ Das Personal hier in der Facharztpraxis war immer unglaublich liebenswürdig zu ihrer Mutter und ihr gewesen.

Heute spürte sie den Schmerz stärker als sonst. Es war ihr nicht leicht gefallen, wieder in die Praxis zu kommen. Imogen verschränkte die Finger, damit sie aufhörten zu zittern.

Sie sah sich in dem vertrauten Raum um. Das Mobiliar in beruhigendem Seegrün, die Vase mit leuchtend bunten Astern auf dem Tresen und der Warteraum mit Menschen, die scheinbar ganz in ihre Zeitschriften vertieft waren. Imogen erkannte ihre alarmbereite Ruhe … ein verzweifelter Versuch, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie alle hofften auf gute Nachrichten vom Arzt, ungeachtet der Tatsache, dass er dafür berühmt war, nur die allerschwierigsten Fälle zu behandeln.

Ein kalter Schauer zog über ihren Rücken und legte sich wie ein eisiger Griff um ihren Nacken. Rasch wandte sie sich wieder der Anmeldung zu.

„Was führt Sie zu uns?“ Krissy beugte sich vor. „Geben Sie zu, Sie haben es nicht ohne uns ausgehalten.“

Imogen öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus.

„Krissy! Das reicht.“ Ruby, ihre ältere Kollegin, kam aus dem Nachbarzimmer. Ihre Miene zeigte heitere Gelassenheit, nur das Mitgefühl in ihren aufmerksamen Augen verriet, dass mehr dahinter lag. „Miss Holgate hat einen Untersuchungstermin.“

Krissy sog hörbar die Luft ein, und der Locher in ihrer Hand fiel klappernd auf die Schreibtischplatte.

„Bitte nehmen Sie Platz, Miss Holgate. Der Doktor kommt etwas später. Eine Operation heute Morgen hat länger gedauert. Aber er wird bald für Sie da sein“, sagte Ruby.

„Danke“, krächzte Imogen und wandte sich mit einem vagen Lächeln ab. Sie konnte Krissy nicht in die Augen schauen. Zu groß war die Angst, in ihnen dasselbe Entsetzen zu sehen wie in ihrem eigenen Spiegelbild.

Wochenlang hatte sie sich gesagt, dass sie sich alles nur einbildete und die Symptome schon wieder verschwinden würden. Bis ihr Hausarzt sie mit kaum verhüllter Besorgnis angesehen und gesagt hatte, er müsse einige weitere Tests durchführen. Danach überwies er sie zu genau dem Mann, der versucht hatte, ihre Mutter zu retten, als diese unter denselben Symptomen litt.

Seit den Tests hatte Imogen tagelang darauf gewartet, dass ihr Hausarzt ihr sagte, sie bräuchte keinen Spezialisten, alles wäre in Ordnung.

Das war nicht passiert. Keine Begnadigung. Keine guten Nachrichten. Sie zwang sich, durch den Raum zu gehen und auf einem freien Stuhl Platz zu nehmen. Dann starrte sie aus dem Fenster hinaus in den Sonnenschein Sydneys und vermied den Blick zur Anmeldung.

Ihr Stolz verbot ihr, ihre Angst zu zeigen. Sie machte das Spiel mit und nahm eine Zeitschrift auf, ohne auf das Titelbild zu schauen. Sie würde sowieso kein Wort verstehen. Ihr Gehirn war zu sehr damit beschäftigt, sich alle Gründe auszumalen, warum dies nicht gut ausgehen konnte.

Vor einem Jahr hatte sie geglaubt, alles würde gut werden.

Aber in ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr war zu vieles geschehen. Ihre Welt war aus den Angeln gehoben worden, und das Schicksal hatte ihr noch einmal gezeigt, dass nichts sicher war, genau wie sie es schon als Kind erlebt hatte.

Vor neun Monaten hatte sie die Nachricht bekommen, dass ihre Zwillingsschwester … die überschäumend lebendige Isabelle … tot war. Sie hatte Paragliding überlebt, Wildwasser-Rafting, Rucksackreisen durch Afrika, nur um in Paris auf dem Weg zur Arbeit von einem Autofahrer überfahren zu werden.

Imogen schluckte ihre Tränen hinunter. Isabelle hatte ihr vorgeworfen, immer auf Nummer sicher zu gehen, obwohl doch eine ganze Welt vor ihr lag, die entdeckt werden wollte.

Ihre Zwillingsschwester war ihren Träumen gefolgt. Sie zog nach Frankreich und durch eine Kombination aus Talent und Glück bekam sie einen Job bei einem berühmten Modedesigner. Isabelle hatte alles erreicht, wovon sie geträumt hatte. Und binnen einer Sekunde war ihr Leben ausgelöscht worden.

Kurz danach kam die Diagnose ihrer Mutter … Hirntumor. Inoperabel, tödlich.

Ohne etwas wahrzunehmen, schlug Imogen die Zeitschrift auf. Als sie die Nachricht aus Paris bekommen hatte, bestand sie darauf, dass ein Irrtum vorliegen musste. Unmöglich konnte Isabelle tot sein. Sie hatte Wochen gebraucht, bis sie die Wahrheit akzeptieren konnte. Dann, als sich die Kopfschmerzen und Sehstörungen ihrer Mutter verschlimmerten und die Ärzte immer düsterer dreinschauten, war sie überzeugt gewesen, dass es eine Heilung geben würde. Tödliche Hirntumore kamen in ihrer Welt nicht vor. Die Diagnose war einfach falsch – musste falsch sein. Bis das Unfassbare geschah und sie allein zurückblieb. Der Tod hatte ihr die beiden einzigen Personen geraubt, die sie liebten.

Die letzten neun Monate hatten ihr gezeigt, wie möglich das Unmögliche wirklich war.

Und jetzt war sie selbst krank. Sie konnte sich nicht länger einreden, dass es dafür eine andere Ursache als die Krankheit ihrer Mutter gab. Sie war bei ihrer Mutter gewesen, als deren Krankheit sich verschlimmerte. Sie kannte jedes Stadium, jedes einzelne Symptom.

Wie viel Zeit blieb ihr noch? Sieben Monate? Neun? Oder war der Tumor bei einer jungen Frau vielleicht noch aggressiver?

Imogen blätterte eine Seite um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ist das mein Schicksal? Stammpatientin zu werden, bis die Ärzte mir sagen, dass sie nichts mehr für mich tun können?

Isabelles Stimme klang in ihrem Kopf. Du musst rausgehen und leben, Imogen. Versuch etwas Neues, geh ein Risiko ein, genieße dein Leben. Dazu ist es da!

Welche Chance hatte sie jetzt noch?

Sie dachte an die Träume, die sie so lange gehegt hatte. Jeden einzelnen Schritt in ihrem Leben hatte sie geplant und sorgfältig ausgeführt. Universität absolvieren. Job suchen. Karriere aufbauen. Für eine eigene Wohnung sparen. Einen netten, verlässlichen, liebevollen Mann finden, der bei ihr blieb – anders als ihr Vater. Gemeinsam würden sie all die Dinge sehen, von denen Isabelle so geschwärmt hatte: die Nordlichter in Island, den Canal Grande in Venedig. Und Paris. Paris mit dem Mann, den sie liebte.

Imogen blinzelte und senkte den Blick auf die Zeitschrift auf ihrem Schoß. Aufgeschlagen war ein doppelseitiges Foto – Paris im Sonnenuntergang. Ihr Atem stockte, eine seltsame Aufregung erfasste sie. Das Panorama war genauso eindrucksvoll, wie Isabelle immer erzählt hatte. Imogens Kehle brannte, als sie daran dachte, wie sie die Einladung ihrer Schwester abgelehnt hatte. Sie würde ein andermal kommen, zuerst musste sie für eine Anzahlung für die Wohnung sparen und ihrer Mutter bei der Renovierung helfen.

Imogen hatte schon immer Sicherheit gebraucht. Sie konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen, um sich in Paris zu amüsieren.

Jetzt siehst du, was du davon hast. Was hast du vor mit deinem Geld? Es für einen tollen Sarg ausgeben?

Imogen starrte auf die Seine, leuchtend wie ein Band aus Kupfer in der untergehenden Sonne. Ihr Blick wanderte zum Eiffelturm, eine glitzernde Einladung. „Du würdest es lieben, Ginny … wunderschön, hell beleuchtet in der Nacht und einfach so … Paris!“

Sie hatte ihr Leben damit verbracht, auf Nummer sicher zu gehen. Nur kein Risiko eingehen, hart arbeiten, sie hatte sich jedes Abenteuer versagt und auf später verschoben.

Es gab kein Später. Nur das Jetzt.

Imogen war sich nicht bewusst, dass sie aufstand und den Raum durchquerte. Sie fand sich draußen wieder, im hellen Sonnenschein. Eine Stimme rief ihren Namen, aber sie schaute nicht zurück.

Sie hatte nicht viel Zeit, und sie würde sie nicht in Krankenhäusern und Wartezimmern verbringen, bevor es nicht unbedingt nötig war.

Ausnahmsweise würde sie jede Vernunft vergessen – und auch alle Vorsicht. Sie würde leben.

1. KAPITEL

Ma chérie, wirst du auch in der Residenz sein, wenn wir kommen? Es wäre sehr hilfreich, den Besitzer vor Ort zu haben, wenn wir die Werbefotos aufnehmen.“ Ihre verführerische Stimme drang deutlich durch das Stimmengewirr im Ballsaal des Hotels.

In den Augen der Pressesprecherin las Thierry eine eindeutige Einladung. Sie war schön, gebildet und sehr entgegenkommend. Jedenfalls vermutete er das, so, wie sie sich über die Unterlippe leckte und ihren schmalen Körper enger an ihn presste. Doch er spürte nicht die geringste Erregung.

Erregung! Die habe ich vor vier Jahren hinter mir gelassen. Würde ich sie nach all der Zeit überhaupt noch erkennen?

Bitterkeit stieg in ihm auf. Er lebte eingezwängt in Konferenzräumen, bestimmt von Pflichten, und er zwang sich dazu, sich Gedanken um unbedeutende Kleinigkeiten zu machen. Doch genau diese Kleinigkeiten hatten letztlich den Unterschied bedeutet zwischen Rettung und Verlust des bankrotten Familienunternehmens.

„Ich weiß es noch nicht. Ich muss noch einige Dinge hier in Paris erledigen.“

Bald … Nur noch wenige Monate, dann konnte er das Geschäft an seinen Cousin Henri und einige von ihm selbst sorgsam ausgewählte Manager übergeben. Sie würden Henri anleiten und bekommen, was Thierry aufgebaut hatte: das Girard-Familienvermögen. Und er wäre endlich wieder frei.

„Denk darüber nach, Thierry.“ Ihre glänzenden Lippen formten einen Schmollmund, als sie sich noch näher zu ihm lehnte. „Es wäre sehr … angenehm.“

„Das werde ich tun. Die Vorstellung ist sehr verführerisch.“

Aber nicht verlockend genug, um ihn aus Paris fortzulocken. Die bevorstehenden Meetings brachten ihn seinem Ziel näher, sich von seinen Pflichten zu befreien. Diese Vorstellung war weitaus verlockender als die Aussicht auf Sex mit einer hübschen Blondine.

Zum Teufel! Ich verwandele mich in einen kaltblütigen Geschäftsmann. Seit wann ist mir das Geschäft wichtiger als meine Lust?

Nur dass Lust rein gar nichts damit zu tun hatte. Das war das eigentlich Schockierende daran. Mit vierunddreißig war Thierry ein Mann in den besten Jahren. Er hatte Spaß an Sex, und sein Erfolg bei Frauen zeigte, dass er über Talent verfügte. Und doch fühlte er nichts, wenn diese umwerfende Frau ihn in ihr Bett einlud.

Als er das Familiengeschäft übernommen hatte, hatte er nicht geahnt, dass es ihn fast zerstören würde. Es saugte ihm die Lebensfreude aus. Es war …

Sein Blick blieb an einer Gestalt am anderen Ende des Raums hängen, und seine Gedanken lösten sich auf. Sein Puls beschleunigte sich, er sog scharf die Luft ein. Seine Begleiterin murmelte etwas und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. Automatisch erwiderte Thierry den Abschiedsgruß, danach glitt sein Blick sofort zurück zur anderen Seite des Raums. Die Frau, die seine Aufmerksamkeit gefangen hielt, sah aus, als wollte sie gerade gehen.

Er schob sich bereits durch die Menge, als sie sich aufrichtete und die Schultern zurücknahm. Bezaubernde Schultern, stellte er fest, nackt über dem trägerlosen Kleid. Der weiße Stoff glänzte im Licht der Kronleuchter und lenkte seinen Blick zu ihren Brüsten und der schmalen Taille.

Thierry schluckte. Seine Kehle war trocken. Ein fast vergessenes Gefühl in seinem Inneren versicherte ihm, dass seine Libido äußerst lebendig war. Doch er verspürte kaum Erleichterung, da er zu intensiv damit beschäftigt war, ihren Anblick in sich aufzusaugen.

Sie wandte den Kopf und bot ihm ihr bezauberndes Profil. Sie unterhielt sich. Überrascht von der Dringlichkeit, die ihn zu ihr zog, blieb er stehen.

Sie unterhielt sich mit einer jungenhaften Frau, die ihr immer wieder einige Personen in der Menge zeigte. Die Frau in Weiß und Scharlachrot trug lange Abendhandschuhe, und er musste an uralte Fotos von seiner Großmutter auf Bällen und Partys denken.

Sein Inneres zog sich zusammen, als sie eine Hand hob und in einer nervösen Geste an ihre Kehle legte. Wer hätte gedacht, dass Handschuhe so erotisch sein konnten? Er stellte sich vor, wie er den Handschuh über ihren Arm streifte, Zentimeter für Zentimeter, bevor er dasselbe mit ihrem Kleid tat.

Warum ist sie nervös? Eine schüchterne Frau sollte nicht so ein prächtiges, aufreizendes Kleid tragen.

Sein Blick glitt über ihr dunkles, glänzendes Haar, das sie aufgesteckt trug. Sie hatte volle rote Lippen, eine Stupsnase und ein herzförmiges Gesicht. Fast schmerzhaft sehnte er sich danach, sie zu berühren.

Sie war nicht einfach nur hübsch, sondern unwiderstehlich sexy.

Der alte Thierry Girard war also noch längst nicht verschwunden.

„Bist du wirklich sicher, dass es dir nichts ausmacht?“ Saskia klang skeptisch.

Imogen lächelte. „Natürlich nicht. Ich bin dir sehr dankbar für alles, was du in den letzten Tagen für mich getan hast, aber jetzt komme ich auch allein zurecht. Ich werde Champagner trinken, interessante Leute kennenlernen und mich großartig amüsieren.“ Wenn sie es oft genug sagte, würde sie vielleicht selbst daran glauben und sich nicht länger von der glitzernden Gästeschar einschüchtern lassen.

„Jetzt geh!“ Sie machte eine scheuchende Geste und nickte in Richtung der Modedesigner, die Saskia ihr gerade gezeigt hatte. „Mach das Beste aus der Gelegenheit.“

„Eine halbe Stunde, dann bin ich wieder bei dir.“

Imogen war von Neuem überwältigt von Saskias Freundlichkeit. Die beste Freundin ihrer Schwester hatte ihr nicht nur gezeigt, wo Isabelle gearbeitet und gelebt hatte, sondern auch Geschichten aus ihrer gemeinsamen Zeit erzählt, bei denen Imogen zum ersten Mal seit Monaten lächeln konnte.

Saskia zeigte Imogen sogar die Kleider, die Isabelle für sich selbst geschneidert hatte, auffällige Stücke, die Imogen von sich aus niemals getragen hätte. Aber hier, in Paris, kamen sie ihr genau richtig vor – eine Hommage an ihre talentierte Schwester. Imogen strich mit der Hand über die atemberaubende Robe.

„Jetzt geh endlich, und misch dich unters Volk, Saskia! Ich will dich heute Abend nicht mehr sehen, sondern mich ungestört amüsieren.“

„Isabelle sagte, du würdest dich unter vielen fremden Menschen nicht wohlfühlen, aber offensichtlich hast du dich in der Beziehung sehr verändert.“ Saskias Lippen zuckten. „Okay, ich gehe, aber wann immer du willst, komm und leiste mir Gesellschaft.“

Als Saskia gegangen war, behielt Imogen ihr Lächeln bei und versuchte, die aufsteigende Angst davor zu ignorieren, in dieser Schar wunderschöner Menschen allein zu sein.

Wie dumm von mir. Das hier ist nicht allein. Zu erfahren, dass ich bald sterben werde und kein Mensch auf der Welt mich genug liebt, um mehr als Mitleid zu empfinden – das ist allein.

Imogen schob den Gedanken beiseite. Sie würde nicht in Selbstmitleid versinken. Sie war in Paris, und sie würde jeden einzelnen Augenblick der nächsten sechs Wochen auskosten: Paris, Venedig, London, Reykjavik. Erst dann würde sie nach Hause zurückkehren und dem Unvermeidlichen ins Auge blicken.

Sie drehte sich so schwungvoll um, dass der Rock um ihre Beine wirbelte. Sie würde sich hier nicht fehl am Platze fühlen, weil die anderen Frauen nur kleine schwarze Cocktailkleider trugen. Isabelles Kleid war zu schön, um nicht getragen zu werden.

„Puis-je vous offrir du champagne?“

Beim Klang der tiefen, verführerischen Stimme flammte eine Hitzewelle in ihr auf. Sie schnellte herum.

Ein unbekanntes Gefühl durchzuckte sie. Schock? Wiedererkennen?

Wie war es möglich, dass sie ihn vorher nicht bemerkt hatte? Er stach aus der Menge heraus. Nicht nur wegen seiner Größe, sondern allein wegen seiner Ausstrahlung. Ihre Haut prickelte, als wäre sie in ein Kraftfeld geraten.

Sie sah in seine Augen, dunkel und einladend, mit feinen Linien in den Winkeln. Ihr Puls schlug schneller. Seine Haut war gebräunt, als wäre er öfter in der Natur als auf schicken Partys.

Gleichzeitig wirkte er so entspannt, als würde er sich jeden Tag im Smoking unter die Creme de la Creme der Pariser Gesellschaft mischen. Sein dunkles Haar war lang genug, um leicht zerzaust zu wirken. Ein entschlossenes Kinn. Ausgeprägte Wangenknochen, die sie an Prinzen denken ließen, Bälle und anderen, halb vergessenen Unsinn.

Imogen schluckte, dann räusperte sie sich. „Je suis désolée, je ne parle pas français.“ Das war einer der wenigen Sätze, die sie von ihrem Schulfranzösisch behalten hatte.

„Sie sprechen also kein Französisch? Sollen wir Englisch versuchen?“ Seine Stimme klang nicht weniger attraktiv, wenn er Englisch mit diesem unwiderstehlichen Akzent sprach.

„Woher wussten Sie das? Bin ich so leicht zu durchschauen?“

„Ganz und gar nicht.“ Sein Blick entzündete eine Flamme tief in ihrem Inneren, die ihr die Hitze in die Wangen steigen ließ. „Sie sind durch und durch bezaubernd und feminin, aber nicht leicht zu durchschauen.“

Imogen fühlte, wie sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog. Ich flirte mit einem Franzosen. Das konnte sie also schon einmal auf ihrer Liste abhaken. Zu Hause war sie nicht gut im Flirten, aber hier kam es ihr plötzlich ganz leicht vor.

„Wer sind Sie?“ Seltsam, wie der bevorstehende Tod einem half, die lebenslange Schüchternheit zu überwinden.

Früher wäre sie viel zu schüchtern gewesen, um bei einem dermaßen atemberaubenden Mann auch nur ein Wort herauszubringen. Er war einer der attraktivsten Männer, denen sie je begegnet war, und trotz der Aura von Macht, die ihn umgab, ganz sicher der charmanteste. Selbst die ausdrucksvolle Nase passte perfekt in das stolze Gesicht.

„Bitte entschuldigen Sie.“ Er neigte den Kopf zu einer angedeuteten Verbeugung. „Mein Name ist Thierry Girard.“

„Thierry“, versuchte sie ihm nachzusprechen.

„Und Sie sind?“ Er trat näher.

Sein Duft erinnerte sie an die Berge … klare Luft und Pinien. „Imogen Holgate.“

„Imogen.“ Er nickte. „Ein hübscher Name. Er passt zu Ihnen.“

Hübsch? So hatte sie seit Jahren niemand mehr genannt. Das letzte Mal hatte ihre Mutter es zu ihr gesagt.

„Möchten Sie vielleicht Champagner, Imogen?“ Er hob ein Glas.

„Ich kann mir mein eigenes Glas holen.“ Sie sah sich nach einem Kellner um.

„Aber ich habe es extra für Sie mitgebracht.“

Sie sah auf seine Hände und bemerkte, dass er zwei Gläser hielt. Hat dieser Fremde mich wirklich in einem Raum voller eleganter Frauen entdeckt und mir Champagner gebracht? Einen Moment lang starrte sie ihn nur an.

Er hob auch das andere Glas. „Suchen Sie sich eins aus.“

Ihre Wangen röteten sich. Er dachte, sie zögerte, weil sie ihm nicht vertraute. Für den Fall, dass er etwas in eins der Gläser getan hatte.

Das war etwas, was ihr früher durch den Kopf gegangen wäre. In ihrem echten Leben war sie immer sehr vorsichtig gewesen. Aber in diesem Augenblick beschäftigte sie nur die Tatsache, dass sie mit dem charmantesten, attraktivsten Mann zusammen war, den sie je gesehen hatte. Trotzdem beruhigte sie die Tatsache, dass er sie ein Glas wählen ließ.

Sie nahm ein Glas, sah ihm in die Augen und ignorierte das prickelnde Gefühl, als sich ihre Finger berührten. „Stammt Champagner aus der Champagne?“

„Natürlich. Es ist der einzige Schaumwein, der den Namen tragen darf. Mögen Sie Champagner?“

„Ich habe ihn noch nie probiert.“

Er blinzelte erstaunt. „Vraiment?“

„Wirklich. Ich komme aus Australien.“

„Nein, nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist kein Grund. Champagner gibt es überall auf der Welt.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das heißt nicht, dass ich ihn getrunken habe.“ Sie betrachtete ihr Glas. Gibt es einen besseren Platz als Paris, um meinen ersten Champagner zu trinken?

„In dem Fall lassen Sie uns darauf anstoßen. Auf neue Freunde!“ Er lächelte, und ihr Atem stockte. Dieses Lächeln, dieser Mann ließen fast vergessene Gefühle in ihr aufsteigen.

Hör auf damit! Du hast schon vorher Männer lächeln sehen.

Aber nicht so. Es war, als würde sie von einem Sonnenstrahl getroffen. Imogen hob ihr Glas. „Und auf neue Erfahrungen.“ Sie nippte. „Mir gefällt, dass er nicht so süß ist. Ich kann … Pfirsiche schmecken.“

Thierry trank ebenfalls einen Schluck. „Sie haben recht. Eindeutig Pfirsiche.“ Er betrachtete sie über den Glasrand hinweg. „Auf neue Erfahrungen? Haben Sie konkrete Pläne?“

„Einige.“

„Erzählen Sie.“

„Warum?“ Sie biss sich auf die Lippen. So eine linkische Bemerkung war wieder typisch für sie. Aber im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie es nicht gewohnt, mit Bewunderern umzugehen.

„Weil ich mich für Sie interessiere.“

„Wirklich?“ Sobald ihr das Wort entglitten war, errötete sie und kniff die Augen zu. „Habe ich das wirklich laut gesagt?“

Ein leises, volltönendes Lachen ließ sie die Augen wieder öffnen. Wenn sein Lächeln atemberaubend war, war sein Lachen … Ihr fiel kein Wort ein, um es zu beschreiben.

„Warum erzählen Sie mir nicht einfach von Ihren neuen Erfahrungen?“

Imogen öffnete schon den Mund, um zu fragen, ob er das wirklich hören wollte, dann schloss sie ihn wieder. Sie flirtete mit einem atemberaubenden Mann bei Champagner. Sie würde sich dieses wundervolle Abenteuer nicht selbst ruinieren. „Ich habe eine Liste. Von Dingen, die ich tun möchte.“

„In Paris?“ Sie liebte es, wie sich Fältchen in seinen Augenwinkeln bildeten, wenn er lächelte.

„Nicht nur hier. Ich bin sechs Wochen unterwegs und davon nur vierzehn Tage in Paris.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber mir wird langsam klar, dass ich mir zu viel vorgenommen habe. In zwei Wochen schaffe ich nicht alles.“

„Das gibt Ihnen einen Grund zurückzukommen. Den Rest sehen Sie beim nächsten Mal.“

Die Wärme seiner Augen reichte fast aus, um die Kälte zu vertreiben, die bei seinen Worten in ihr aufstieg. Es würde keinen nächsten Besuch geben, keine zweite Chance. Sie nahm noch einen Schluck Champagner und genoss das Prickeln auf der Zunge. „Köstlich.“

„Ja, nicht übel. Und jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Liste.“

Imogen zuckte mit den Schultern. „Das Übliche, was Touristen in Paris eben so tun. Der Eiffelturm, der Louvre, eine Bootsfahrt auf der Seine.“

„Das schaffen Sie aber ohne Probleme in zwei Wochen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nur der Anfang. Ich will einen Gourmet-Kochkurs besuchen. Ich wollte immer schon wissen, wie man diese zartschmelzenden Schokoladentrüffel zubereitet.“ Und zwar die, die genau die Farbe seiner Augen besaßen. „Ich hatte gehofft, ich könnte im Eiffelturm-Restaurant essen, aber ich wusste nicht, dass man einen Tisch lange im Voraus buchen muss. Dann sind da noch ein Champagner-Picknick auf dem Land und ein Flug mit einem Heißluftballon, und ich will in einem roten Kabriolett um den Arc de Triomphe fahren und … ach, noch so vieles.“

Thierry hob die Brauen. „Die meisten Besucher haben Angst, dort zu fahren. Der Verkehr ist dicht, und es gibt keine Straßenmarkierungen.“

Imogen zuckte mit den Schultern. Sie hatte auch Angst, aber das war gut. Dann würde sie sich lebendig fühlen. „Ich mag Herausforderungen.“

„Den Eindruck hatte ich auch schon. Sind Sie schon mal in einem Heißluftballon geflogen?“

„Noch nie.“ Sie nippte am Champagner. „Das ist eine Reise der ersten Male.“

„Wie der Champagner?“ Da waren wieder die Fältchen um seine Augen. Fast könnte sie glauben, er wäre so harmlos wie ihre Arbeitskollegen. Doch ihr Körper signalisierte ihr mit jeder Faser, dass sie schon überfordert war, wenn sie diesen sexy Franzosen auch nur ansah.

„Imogen?“

„Entschuldigen Sie, ich war abgelenkt.“ Ihre Stimme hörte sich lächerlich heiser an, aber die Art, wie er ihren Namen sagte, ließ ihn wie etwas ganz Besonderes klingen. Sie hob die Hand und legte sie an die Kehle, um ihren hämmernden Puls zu beruhigen. Unfassbar, wie sehr ich diesen Mann begehre! Lag es am Champagner oder am Mann?

Ein Glitzern in seinen Augen warnte sie, dass er genau wusste, was sie abgelenkt hatte. Aber sie weigerte sich, in Verlegenheit zu geraten. Er musste es gewohnt sein, dass Frauen in seiner Nähe weiche Knie bekamen. „Erzählen Sie mir von sich. Leben Sie in Paris?“

Er schüttelte den Kopf. „Nur gelegentlich. Ich bin für ein oder zwei Wochen aus geschäftlichen Gründen hier.“

„Das heißt, während ich mich amüsiere, werden Sie in langweiligen Meetings sitzen?“

„Das klingt, als hätten Sie Erfahrung mit langweiligen Meetings.“

Sie nippte am Champagner und verdrehte die Augen. „Auf jeden Fall! Ich wette, meine Meetings sind wesentlich langweiliger als Ihre.“

„Das kann ich mir kaum vorstellen.“

Thierry nahm ihren Arm und führte sie zur Seite, als eine Schar Neuankömmlinge in den Saal strömte. Selbst durch die Handschuhe fühlte sich seine Hand hart, verlässlich und unglaublich sexy an. Feuer schoss von der Stelle, die seine Finger berührten, durch ihren Körper.

Wie traurig, dass eine so harmlose Berührung sie so erregte. Andererseits nicht verwunderlich bei ihrem Liebesleben. Oder dem Mangel daran.

„Glauben Sie mir. Ich bin Buchhalterin. Ich kenne langweilig.“

Autor

Annie West
Mehr erfahren