Historical Exklusiv Band 104

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PERLEN DER LIEBE von SARAH ELLIOTT

Wo ist nur die Pfandleihe, in der sie ihre Perlenkette versetzten kann? Verzweifelt irrt Isabelle durch finstere Gassen. Doch William Stanton, Earl of Lennox, bietet ihr eine Stelle als Gouvernante an. Als er sie zum ersten Mal zärtlich küsst, weiß Isabelle: Niemals kann diese Liebe ein gutes Ende nehmen! Es sei denn, ein Wunder geschieht ...

WER SIND SIE WIRKLICH, MISS SOPHIE? von MARY NICHOLS

Als die temperamentvolle Charlotte Hundon ausgerechnet den hochgestellten Richard, Viscount Braybrooke, für sich einnimmt, ahnt niemand, dass es sich bei der vermeintlich mittellosen und absolut nicht standesgemäßen jungen Dame in Wahrheit um Miss Sophie Roswell handelt ...



  • Erscheinungstag 23.05.2023
  • Bandnummer 104
  • ISBN / Artikelnummer 0859230104
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Sarah Elliott, Mary Nichols

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 104

1. KAPITEL

17. Mai 1822

Au! William Stanton, Earl of Lennox, rieb sich den schmerzenden Kopf. Durch den abrupten Halt, den McGrath, sein Kutscher, vollführt hatte, war er unsanft aus seinem Schlummer gerissen worden und hatte sich an dem Messinghaken, der den Samtvorhang zurückhielt, gestoßen. Gleich darauf hörte er seinen Fahrer brüllen: „Was zum Henker soll ’n das!“

William streckte den Kopf aus dem Fenster. Offenbar war ein Gemüsehändler mit seinem Karren auf die Straße gefahren, ohne auf die noble Kutsche zu achten. Durch das Ausweichmanöver war ein Teil des Gemüses vom Wagen auf die Straße gekullert, und der rundliche Mann sammelte es mit provozierender Gemächlichkeit ein. McGrath anfeixend, hob er jeden Kohlkopf, jede Karotte einzeln auf.

Seufzend lehnte sich William zurück und fragte sich, wie lange sie dieser Zwischenfall wohl aufhalten würde. Vier Tage war er unfreiwillig fern von London gewesen, da Miss Mathilda Hume, die Direktorin von Miss Humes Akademie für Mädchen, ihn dringend wegen seines Patenkindes Mary Weston-Burke persönlich zu sprechen wünschte. Nach dem Tod ihres Vaters war Mary vor drei Monaten sein Mündel geworden, und dies bedeutete ganz offensichtlich, dass es ihm oblag, die Wogen zu glätten, wann immer es dem Mädchen beliebte, eine Schnecke in die Teetasse ihres Französischlehrers zu legen.

Seiner Ansicht nach bauschte Miss Hume diesen kindischen Streich jedoch unnötig auf. In der Tasse hatte sich nicht einmal Tee befunden, also war die Schnecke zu keiner Zeit in Gefahr gewesen. Das hatte er Miss Hume auch unmissverständlich zu verstehen gegeben. Der Dame jedoch schien das Tier weitaus weniger am Herzen zu liegen als das Wohlergehen Monsieur Lavelles, der durch diesen Vorfall ihren Worten zufolge beinahe einen Herzanfall erlitten hätte. Offenbar war Mary ein kleiner Teufelsbraten, obgleich sie ihm beim Tee eher bleich und still erschienen war.

William sah aus dem Fenster. McGrath hatte den kürzesten Weg durch London gewählt, der nicht an Prachtbauten und schönen Gärten vorbeiführte, sondern durch Gassen voller Schlaglöcher, gesäumt von schäbigen Häusern, deren Fenster meist mit Brettern vernagelt waren. Lediglich in den Tavernen schien das Geschäft zu blühen. Einige der Passanten blieben neugierig stehen, um die elegante Equipage mit neiderfüllten Augen zu betrachten. Mehrere schmutzige Kinder in zerlumpter Kleidung rollten einen Reifen mithilfe eines Stockes über das Trottoir.

Einen Augenblick später eilte ein hübsches Mädchen mit einer ledernen Reisetasche an seiner Kutsche vorbei.

Er war bereits zahlreichen schönen Frauen begegnet, doch kaum einer hatte er nachgesehen. Dieses Mal indes machte William eine Ausnahme. Vielleicht lag es daran, dass sie so ausgesprochen fehl am Platz wirkte. Er hatte zwar bloß einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen können, doch ihre hohen Wangenknochen und vollen Lippen waren ihm nicht entgangen. Ebenso wenig wie ihre zarte weiße Haut und das kupferrote, zu einem Knoten zusammengefasste Haar, aus dem sich einige widerspenstige Locken gelöst hatten. Er fragte sich, ob sie Sommersprossen hatte, wohin sie wohl so eilig wollte und warum sie sich überhaupt in diesem Teil der Stadt aufhielt. Denn sie war gut gekleidet, wenngleich auch nicht nach der neuesten Mode. Sie wirkte bescheiden, sittsam, gar ein wenig streng und ziemlich ernst. Das aber wiederum ergab keinen Sinn. Eine Frau mit einem solch hübschen Gesicht verdiente ihren Lebensunterhalt in einem solchen Stadtteil meist damit, dass sie ihren Körper verkaufte. Eine Dirne indes war diese junge Frau ganz sicher nicht.

Ein paar Meter von seiner Kutsche entfernt blieb sie stehen und ließ ihren Blick angespannt über die Menge schweifen, als ob sie nach jemandem Ausschau hielt. Die Reisetasche stand unbeaufsichtigt zu ihren Füßen. Selbst aus dieser Entfernung sah er, wie mehrere Augenpaare die Tasche interessiert musterten. Beunruhigt öffnete er den Wagenschlag und stieg aus.

Seinem Kutscher kurz zuwinkend, überquerte er die Straße und ging raschen Schrittes auf die junge Frau zu, obgleich er noch nicht wusste, was er sagen sollte, wenn er vor ihr stand. Vielleicht sollte er ihr seine Hilfe anbieten, die sie womöglich ablehnen würde. Wer immer sie auch war, es war tollkühn von ihr, allein durch dieses Viertel zu spazieren. Kaum mehr als zehn Schritte war er entfernt, als sie plötzlich von einem schlanken Jungen angerempelt wurde. Sie taumelte und griff schnell nach der Tasche. Doch der Junge hielt den Griff bereits umfasst, und er war stärker. Einige Sekunden lang zogen und zerrten beide an der Tasche, dann gelang es ihm, ihr die Tasche mit einem kräftigen Ruck zu entreißen. Während sie rückwärts auf das Trottoir fiel, gab der Junge Fersengeld.

Zu seinem Pech schaute er allerdings nicht, wohin er rannte, und prallte bereits nach zwei langen Schritten gegen ein großes, stattliches Hindernis. William packte den Burschen fest an der Schulter, worüber der Junge so sehr erschrak, dass er die Tasche fallen ließ. Sie sprang auf, der Inhalt verstreute sich über das Pflaster.

Mit strengem Blick musterte William den einen Kopf kleineren Knaben, in dessen Augen Angst aufblitzte. Angst davor, in Haft genommen zu werden und am Galgen zu enden, weil er eine Dame angegriffen und bestohlen hatte.

Er lockerte seinen Griff. „Verschwinde!“

Der Junge zögerte nicht lange und rannte in eine nahe Gasse. Die junge Frau sammelte inzwischen gebückt eilig ihre Habe ein. William konnte ihr Gesicht nicht sehen, sie kehrte ihm den Rücken zu. Eine lange Locke hatte sich beim Kampf mit dem Jungen aus ihrer Frisur gelöst und fiel ihr auf die Schultern. Als ihm bewusst wurde, dass er sie anstarrte, beugte er sich rasch zu ihr hinunter. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Wortlos stopfte sie die auf der Straße liegenden Gegenstände daraufhin nur noch schneller in ihre Tasche. Sein Blick fiel auf eine elegante rote Schatulle, die sich geöffnet hatte und eine Perlenkette enthüllte. Er griff danach, um sie ihr zu reichen, doch ihre Hand schoss blitzartig nach vorn und bekam sie zuerst zu fassen.

„Ich benötige Ihre Hilfe nicht, danke“, sagte sie, ihn keines Blickes würdigend, und verstaute die Schatulle in der Tasche. Ihre Stimme klang weich und wohltönend, wenngleich ein feindseliger Unterton darin mitschwang. Offenbar glaubte sie, er wolle sie ebenso bestehlen wie der Junge.

Er sah, dass sie aufstehen wollte, erhob sich, um ihr aufzuhelfen, und streckte seine Hand aus, die sie geflissentlich ignorierte. Aber sie sah ihn nun endlich an. Wieder war er vom Anblick ihrer Schönheit überwältigt. Sie war nicht hübsch im üblichen Sinne, sondern strahlte einen ganz eigenen, seltsamen Charme aus. Ihre leicht geöffneten vollen Lippen wirkten sinnlich und verführerisch. Ihre zierliche Nase war von Sommersprossen übersät. Zu gerne hätte er seinen Blick über ihren Hals schweifen lassen, um nach weiteren Sommersprossen zu suchen, doch er hielt sich mit eisernem Willen zurück und schaute stattdessen in ihre atemberaubenden veilchenblauen Augen, die ihn verblüfft musterten.

Sobald sich ihre Blicke trafen, schaute Isabelle Thomas zu Boden, um die flammende Röte, die sie vom Hals bis zur Stirn bedeckte, zu verbergen. Sie hatte ihren Retter für einen der wenig respektablen Männer aus diesem Viertel gehalten. Schlimmer noch, sie hatte befürchtet, dass er der Mann sei, der ihr am Morgen gefolgt war.

Wie konnte sie auch ahnen, dass sie in diesem Teil der Stadt einem Gentleman in die Augen blicken würde, noch dazu einem ausgesprochen gut aussehenden Gentleman. Nun wünschte sie inständig, sie hätte ihm nicht in gar so schnippischem Ton geantwortet. Doch war sie durch den Überfall völlig aus der Fassung geraten und hatte angenommen, dass auch er beabsichtigte, sie zu bestehlen. Stumm verfluchte sie ihre blühende Fantasie. Als sie es wagte, ihm wieder in die Augen zu sehen, stellte sie fest, dass ihm ihre Unhöflichkeit gar nicht aufgefallen zu sein schien. Entweder das, oder er war davon völlig unbeeindruckt. Sie vermutete Letzteres.

Insgeheim hoffte sie, er würde auf den zweiten Blick weniger attraktiv erscheinen, indes sah er nach wie vor umwerfend aus. Groß und breitschultrig, das blonde Haar leicht zerzaust, blickte er sie aus smaragdgrünen Augen an. Seine hellbraunen Pantalons und der dunkelblaue Gehrock saßen tadellos und wiesen nicht eine einzige Staubfluse auf. Sie dagegen … herrje, sie sah aus wie eine schmuddelige graue Maus, die eine Kabbelei mit einem Straßenkater verloren hatte.

Er musterte sie aufmerksam. „Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt.“

„Ich … nein, mir ist nichts geschehen“, erwiderte sie, obwohl ihr Steißbein leicht schmerzte, weil sie bei dem Gerangel gestürzt und dabei in einer Pfütze gelandet war. Sie mochte sich lieber nicht vorstellen, wie die Rückseite ihres Kleides aussah.

„Haben Sie alles wieder? Ist das Ihr Papier?“

Sie schaute zu Boden. In einer seichten teebraunen Wasserlache zu ihren Füßen schwamm ein Zettel. Er gehörte tatsächlich ihr, die Adresse, die sie sich heute Morgen darauf in schwarzer Tinte notiert hatte, verfloss immer mehr.

„Oh, ja!“ Rasch griff sie danach, doch er hatte sich zur selben Zeit danach gebückt, und sie stießen mit den Köpfen heftig aneinander.

„Bitte entschuldigen Sie“, sagte sie peinlich berührt.

Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das Grübchen in seine Wangen zeichnete und seine ebenmäßigen weißen Zähne entblößte. „Wir hätten uns absprechen sollen. Darf ich …?“

Zu beschämt, um aufzubegehren, stand sie stumm da, während er das Papier aufhob. Als er es ihr reichte, erkannte sie, dass die Schrift kaum noch lesbar war. Glücklicherweise erinnerte sie sich an die Adresse. 16 Litchfield Terrace. Dort würde sie Josiah Fairly finden. Er war Pfandleiher. Samuel, der Junge, der die Kohlen in die Pension brachte, in der sie ein Zimmer bewohnte, hatte ihr die Anschrift genannt. Fairly war Samuels Onkel. Der Junge hatte ihr versichert, dass der Mann ihr einen akzeptablen Preis für die Dinge machen würde, die sie versetzen wollte.

„Können Sie die Schrift noch entziffern?“, fragte der Gentleman.

„Entziffern? Ach so … Ja.“ Sie steckte den Zettel in die Tasche. „Ich muss gehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Sie schickte sich an, ihren Weg fortzusetzen, da spürte sie plötzlich, wie er ihren Arm warm und fest umschloss. Hastig wandte sie sich zu ihm um und musterte seine Hand empört.

„Sie sollten nicht allein gehen, wenn Sie nicht riskieren wollen, dass man erneut versucht, Sie zu berauben. Ich werde Sie begleiten.“

Er hatte recht, doch seine Belehrung hätte er sich sparen können. Bereits beim Verlassen des Hauses am Morgen war ihr bewusst gewesen, dass es eine Dummheit war, diesen Gang allein zu unternehmen. Indes, es blieb ihr keine andere Wahl. „Nehmen Sie unverzüglich Ihre Hand von meinem Arm, Sir.“

Er hob die Augenbraue, offenbar verwundert über ihren gebieterischen Ton, und tat, wie ihm geheißen. Gleichzeitig trat er einen Schritt näher. Obwohl sie recht hoch gewachsen war, musste sie den Kopf leicht in den Nacken legen, um zu ihm aufzuschauen. Das war für sie ungewohnt. In unverändert gelassenem Ton sagte er: „Die halbe Straße weiß mittlerweile, dass Sie Wertsachen bei sich tragen, die es zu stehlen lohnt. Wenn Sie Ihren Besitz behalten wollen, sollten Sie mein Angebot annehmen.“

Rasch schaute sie von links nach rechts und stellte fest, dass sie von mehreren Männern ganz unverhohlen beobachtet wurden. Was sie nicht verwunderte, waren sie doch, milde ausgedrückt, in dieser Umgebung ein höchst auffälliges Paar. Sie hegte keinen Zweifel, dass man ihr die Tasche entreißen würde, sobald er sie allein ließe.

Unschlüssig nagte sie an der Unterlippe. Aufgrund seiner stattlichen Figur würden Gauner es sich sicher zweimal überlegen, ob sie einen Angriff wagen sollten, und er könnte auch eine abschreckende Wirkung auf ihren Verfolger haben, falls dieser ihr immer noch nachschlich. Aber wenn er sie begleitete, würde er unweigerlich erfahren, dass sie auf dem Weg zu einem Pfandleiher war, und auch wenn sie ihn nie wiedersehen würde, war dies eine demütigende Schmach, die sie lieber ohne Zeugen hinter sich bringen wollte. „Ich habe es nicht mehr weit, und gewiss haben Sie Wichtigeres zu erledigen.“ Sie versuchte zuversichtlich zu klingen, doch es gelang ihr nicht ganz.

Er schien ihre Unsicherheit zu spüren. Als er sprach, duldete sein Ton keinen Widerspruch. „Ganz im Gegenteil, heute Nachmittag habe ich keine weiteren Verpflichtungen. Wir können meine Kutsche nehmen. Sie steht dort drüben.“

Sie drehte den Kopf in die angedeutete Richtung und entdeckte eine glänzende grüne Chaise mit zwei schlanken, edlen Braunen, vor der ein Kutscher in passender grüner Livree ungeduldig mit einem Händler debattierte. Ein Wappen, über dem die Rangkrone eines Earls abgebildet war, zierte den Wagenschlag. Ach du lieber Himmel! Er war also nicht nur gut aussehend, sondern obendrein reich und adelig. Diese Tatsache festigte ihren Entschluss, sich nicht von ihm begleiten zu lassen.

„Wie ich sehe, schließt Ihr Fahrer gerade neue Freundschaften“, sagte sie trocken.

Er schmunzelte, und sie wünschte, sie hätte nicht versucht, zu scherzen.

„McGrath streitet gern. Wenn wir hier noch länger herumstehen, werden die beiden uns womöglich bitten, bei Sonnenaufgang ihre Sekundanten zu sein. Gehen wir?“ Er bot ihr seinen Arm.

Wortlos blickte sie einen Augenblick auf die dargebotene Hand, dann sagte sie: „Das halte ich für höchst unklug. Danke für Ihre Hilfe, aber ich benötige sie nicht länger.“ Sie drehte sich um und ging. Zum Laden des Pfandleihers konnte es nicht mehr weit sein, daher musste sie den Mann möglichst rasch loswerden.

Er hielt mühelos mit ihr Schritt. „Ich kann verstehen, warum Sie nicht mit mir in meiner Kutsche fahren wollen, aber ich versichere Ihnen, dass es weitaus klüger wäre, als zu Fuß durch diese Straßen zu spazieren. Vermutlich wird man uns ausrauben.“

„Sie müssen ja nicht mitkommen“, erklärte sie unwirsch.

Er seufzte. „Tja, sosehr ich auch versucht bin, dies zu tun, lässt es mein Gewissen leider nicht zu.“

Unverwandt blickte sie nach vorn, wohl wissend, dass er sie beobachtete und auf eine Reaktion wartete: vor Entsetzen geweitete Augen etwa oder eine schlagfertige Abfuhr. Sie weigerte sich jedoch, ihm diesen Gefallen zu tun.

„Selbstverständlich ist Ihr Misstrauen berechtigt“, fuhr er nach einigen Sekunden des Schweigens fort. „Ich würde auch niemandem trauen, der sich in den Straßen dieses Viertels herumtreibt.“

„Und warum treiben Sie sich in diesem Viertel herum?“ Sie wusste, sie klang schnippisch und provokant, aber sie fragte sich in der Tat, was er in diesem Teil der Stadt zu schaffen hatte und warum er sich überhaupt um sie kümmerte. Ihre Schulter schmerzte vom Gewicht der Tasche, und er schien nicht die Absicht zu haben, ihr von der Seite zu weichen. Mit einem gereizten Schnauben stellte sie die Tasche ab, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ungeduldig auf eine Antwort.

Ihre Verärgerung schien ihn königlich zu amüsieren. „Ich versichere Ihnen, dass ich mich keinesfalls in diesen Straßen herumtreibe. Der Heimweg von einer Reise aufs Land führte mich durch diese Gegend, und als ich sah, dass man versuchte, Sie zu bestehlen, konnte ich ja wohl kaum tatenlos zusehen.“

„Oh.“ Sie nahm die Tasche auf und ging weiter. Ein klein wenig nagte das Gewissen an ihr, weil sie ihn so brüsk behandelt hatte. Wenngleich sein Gebaren ihre Geduld auf eine harte Probe stellte, so wäre sie doch ohne sein Eingreifen in einer weitaus schlimmeren Lage gewesen.

„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie den Dieb gestellt haben. Es tut mir leid, wenn ich unhöflich erscheine, aber ich komme jetzt auch durchaus allein zurecht. Ich möchte nicht noch mehr von Ihrer Zeit beanspruchen.“

Er nickte, doch er verabschiedete sich nicht. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her, bis er schließlich sagte: „Mein Name ist übrigens William Stanton, Earl of Lennox, aber Sie müssen mich nicht mit dem Titel anreden.“

„Das werde ich nicht“, sagte sie möglichst unbeeindruckt, doch ihre Unverfrorenheit schien ihn eher zu belustigen denn zu vertreiben. Bis vor wenigen Jahren hätte sein Titel sie auch kaum eingeschüchtert. Wenngleich von geringerem Stand als ein Earl, hatte sie dennoch einst einer wohlhabenden und dem Anschein nach respektablen Familie angehört. Sie war in einem von Glyzinien bewachsenen Backsteinhaus aufgewachsen, das von gepflegten Kieswegen und einem herrlichen Garten umgeben war. Mode hatte sie nie interessiert – ihr Leben lang hatte sie einfache, praktische Kleider getragen, die jedoch gut geschnitten und nicht billig gewesen waren.

All dies hatte sich geändert. Statt in einem Haus mit Garten lebte sie nun in einem armseligen Viertel in der Stadt, ihre schlichten Kleider waren inzwischen nicht nur altmodisch, sondern auch abgetragen und geflickt.

„Sie dürfen sich mir auch gern vorstellen“, forderte er sie auf.

Niedergeschlagen ergab sie sich in ihr Schicksal. „Isabelle Thomas.“

„Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Thomas. Darf ich Ihnen die Tasche abnehmen?“

„Nein, danke.“

Nun war es ihr doch gelungen, ihn zu erschüttern. Gekränkt blickte er sie an, und als er sprach, war die Gereiztheit in seiner Stimme deutlich zu hören. „Ich versichere Ihnen, ich hege nicht die Absicht, die Tasche zu stehlen. Sie ist Ihnen allerdings zu schwer, wie ich sehe.“

„Nein.“ Fester umklammerte sie den Griff.

Laut aufseufzend überlegte er einen Augenblick, dann begann er, an seiner Weste zu nesteln.

In leiser Panik blickte sie ihn an. „Was tun Sie da?“

Er verzog das Gesicht. „Meine Güte, sind Sie misstrauisch. Ich nehme meine Uhr heraus.“

„Warum?“

„Weil ich mit Ihnen einen Handel schließen will. Ich trage Ihre Tasche, und Sie tragen meine Uhr. So können Sie sicher sein, dass ich mich nicht mit Ihrer Habe aus dem Staub mache.“ Er hielt ihr die Uhr hin, da sie diese jedoch nicht nahm, ergriff er ihre Hand, legte die Uhr hinein und schloss ihre Finger darüber. „Nun Ihre Tasche, bitte.“

Zwar wollte sie immer noch nicht, dass er sie begleitete, doch ihr fiel kein vernünftiger Einwand mehr ein, mit dem sie sein Angebot ablehnen konnte. Und da er offenbar fest entschlossen war, nicht von ihrer Seite zu weichen, gab sie nach und reichte sie ihm.

Sorgfältig verstaute sie die Uhr, ehe sie weitergingen.

„Was tragen Sie da bloß bei sich? Steine etwa?“

Sie erbleichte. „Wenn Sie sich jetzt beschweren wollen …“

„Ich beschwere mich nicht.“

„Sie dürfen keinesfalls nachsehen.“

„Das werde ich schon nicht“, erwiderte er brummig.

Von der Straße, die sie eingeschlagen hatten, ging nach etwa dreißig Schritten zu ihrer Rechten eine weitere ab, die ein verwittertes Straßenschild als Litchfield Terrace ausgab. Isabelle wandte sich nach rechts.

„Wo bringen Sie mich denn hin?“ Die Frage war nur allzu verständlich, da die Gasse nicht besonders einladend wirkte. Sie war schmal, nicht gepflastert und von heruntergekommenen Häusern gesäumt. Aus einem Fenster mit zerbrochener Scheibe drang das schrille Geschrei eines Säuglings. Eine Ratte trippelte nach Speiseresten schnüffelnd den Rinnstein entlang.

„Ich bringe Sie nirgendwo hin. Sie folgen mir. Ich gehe gerne allein weiter.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage.“

Sie wusste, es war ihm ernst, und ihre Schritte wurden immer langsamer. Jeden Augenblick konnten sie Josiah Fairlys anrüchiges Geschäft erreichen. Oh, war ihr das Ganze peinlich …

Gleichzeitig war sie indes froh, dass Lord Lennox darauf bestanden hatte, sie zu eskortieren. Sie hätte Todesängste ausgestanden, wäre er in diesem Augenblick nicht bei ihr gewesen.

„Also …“ Er musterte sie neugierig. „Ich habe Ihnen verraten, was mich hierher führt. Was machen Sie in dieser gottverlassenen Gegend?“

„Ich pflücke Narzissen, sieht man das nicht?“

Für die Bemerkung erntete sie schallendes Gelächter. Ein warmes, herzliches Lachen, das auch ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte, obwohl sie sich vorgenommen hatte, seine Gesellschaft nicht zu genießen. Rasch unterdrückte sie ihr Schmunzeln, was ihr recht leicht gelang, da sie inzwischen vor Josiah Fairlys Laden standen. Das Wort „Pfandleihe“ war in großen, ungelenken Buchstaben auf die Tür gemalt. „Ich danke für Ihre Begleitung. Nun komme ich wirklich allein zurecht.“

Erstaunt blickte er zum Laden. „Wie? Der Pfandleiher ist Ihr Ziel?“

Brennende Schamesröte schoss ihr ins Gesicht, doch sie wollte kein Feigling sein und erwiderte fest seinen Blick. „Geben Sie mir meine Tasche, bitte.“

Verständnis flackerte in seinen grünen Augen auf – und auch ein Hauch des Mitleids, was es nur noch schlimmer für sie machte. „Es muss Ihnen nicht peinlich sein“, sagte er. „Sie sind nicht die Erste, die …“

„Meine Tasche, Sir.“ Ungeduldig streckte sie die Hand aus.

Es widerstrebte ihm ganz offensichtlich, ihrem Wunsch Folge zu leisten. „Ich bezweifle, dass er Ihnen einen anständigen Preis zahlen wird.“

„Vermutlich nicht, aber das ist allein meine Angelegenheit.“

Schließlich gab er ihr die Tasche. „Ich werde hier auf Sie warten.“

Isabelle hatte damit gerechnet, dass er das sagen würde – und ehrlich gestanden auch darauf gehofft. Sie wollte ihn jedoch nicht wissen lassen, wie groß ihre Angst war. „Nun, ich kann Sie wohl nicht daran hindern.“

Die Schultern straffend ging sie die schiefen Stufen hinauf zum Eingang. Tief atmete sie durch, dann öffnete sie die schwere, ächzende Tür.

Kaum fünf Minuten später trat sie wieder aus dem Laden. Ihre Tasche war ebenso schwer wie zuvor. Josiah Fairly hatte ihr, wie befürchtet, einen unverschämt geringen Preis angeboten, doch sie war zu niedergeschlagen, um Wut darüber zu empfinden. Sie war erschöpft, hungrig und hatte jegliche Hoffnung verloren.

Suchend schweifte ihr Blick die Straße entlang, Lord Lennox indes war nicht zu sehen. Offenbar hatte er sie entgegen seiner Beteuerung nun doch allein gelassen. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Eigentlich hätte sie erleichtert darüber sein sollen, doch die Tatsache, ihn nicht wie versprochen wartend vorzufinden, versetzte ihrer ohnehin trüben Stimmung einen zusätzlichen Dämpfer. Verzweifelt sank sie auf die Stufen und schlug die Hände vors Gesicht. Trotz der schlimmen Demütigungen, die sie hatte durchleben müssen, hatte sie seit Jahren nicht mehr geweint. Jetzt aber war ihr danach …

„Miss Thomas, fühlen Sie sich nicht wohl?“

Zögernd hob sie den Kopf. Er war zurückgekommen. „Doch“, sagte sie und wischte die Tränen fort.

Er stieg die Stufen hinauf und setzte sich neben sie. Zwar hielt er gebührenden Abstand, dennoch war er ihr nahe, beunruhigend nahe, sodass sie den schrecklichen Pfandleiher sofort vergaß.

„Es tut mir leid. Ich habe erwartet, dass Ihre Geschäfte Sie länger aufhalten würden, daher bin ich ein wenig spazieren gegangen. Der Mann war also keine Hilfe?“

Sie schüttelte den Kopf, darauf wartend, dass der Earl nun sagen würde, er hätte es ja gleich gewusst. Das tat er jedoch nicht.

„Was wollen Sie nun tun? Könnte eine Tasse Tee Sie vielleicht aufmuntern?“

Wieder schüttelte sie den Kopf.

„Nein? Hm … wie wäre es mit einer richtigen Mahlzeit? Oder vielleicht gar einem sehr großen Schluck Brandy?“

Sie warf ihm einen schiefen Blick zu, konnte aber ihr Lächeln nicht länger verbergen. Es war schon so lange her, dass jemand nett zu ihr gewesen war oder sich um ihr Wohlergehen gesorgt hatte. „Sie sind albern.“

Das warme Funkeln in seinen grünen Augen raubte ihr den Atem. „Immerhin lachen Sie nun wieder. Darf ich jetzt einen Blick in Ihre Tasche werfen?“

„Nein.“

„Ach bitte, vielleicht fällt mir etwas ein, das Ihnen weiterhilft.“

Warum nicht? dachte sie. Ihr fehlte die Kraft, sich weiter mit ihm zu streiten. „Also gut.“ Sie schob ihm die Tasche hin.

Zögernd öffnete er sie, als erwarte er, Schlangen darin zu finden. „Ich frage mich, warum Sie ein solch großes Geheimnis darum machen. Ich bin mir gewiss, wenn Sie die Perlenkette einem angesehenen Juwelier brächten …“ Verblüfft brach er ab. „Miss Thomas, Sie tragen ja wirklich Steine bei sich.“

2. KAPITEL

Isabelle biss sich auf die Lippe, um sich das Lachen zu verkneifen, das in ihrer Kehle kitzelte. Lord Lennox klang dermaßen verdutzt, dass er fast schon komisch wirkte. Schließlich aber gab sie auf und meinte lachend: „Das sind keine Steine, das ist Marmor.“

Bedächtig nickend schaute er ihr tiefer in die Augen, als es sich ziemte. Ihr Gesicht brannte, sie senkte den Blick und wünschte, er würde nicht eine derart beunruhigende Wirkung auf sie ausüben. Während sie sich mühte, ihre Fassung wiederzugewinnen, nahm er ein weißes Marmorstück aus der Tasche, das klein genug war, um in seiner Handfläche Platz zu finden. Es war der Kopf einer Statue, von deren Gesicht bloß noch ein mandelförmiges Auge, ein Ohr und eine elegant geschwungene Nase zu erkennen waren. In Isabelles Tasche befanden sich zwei weitere solcher Fragmente.

„Nun, leicht exzentrisch erschienen Sie mir wohl. Allerdings ist mir völlig unverständlich, warum Sie derlei Dinge bei sich tragen“, sagte er.

Ihr Lächeln schwand, kühl antwortete sie: „Nun, das ist doch wohl offensichtlich. Ich wollte versuchen, die Stücke zu verkaufen.“

„Hat der Mann Ihnen dafür überhaupt ein Angebot gemacht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Er wusste nichts damit anzufangen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Er legte die Skulptur in die Tasche zurück.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich … ich werde mich jetzt auf den Weg machen nach Hause gehen.“

Doch er gab ihr die Tasche nicht zurück. „Ich dachte, ich darf Ihnen helfen.“

„Wie könnten Sie mir schon helfen?“

Er zögerte mit seiner Antwort, was die Vermutung nahelegte, dass er es ebenso wenig wusste wie sie. „Nun … ich könnte Ihnen mit meinem Rat zur Seite stehen. Vielleicht sollten Sie diese Stücke einem Sammler zeigen.“

Sie seufzte niedergeschlagen. „Ein Sammler würde sie ebenfalls nicht haben wollen, sie sind nicht sehr alt.“

„Nicht? Warum sind in diesem Fall nur Fragmente vorhanden?“

„Die Statuen wurden absichtlich zerstört, damit sie … hm … authentischer … wirken.“

„Ich verstehe.“ Er warf ihr einen verwunderten Blick zu, der sie annehmen ließ, dass er gar nichts verstand. „Es sind also Fälschungen.“

Da sie es nicht über sich brachte, das Wort selbst in den Mund zu nehmen, nickte sie bloß.

„Ich nehme an, Sie haben dem Pfandleiher gesagt, dass die Stücke Kopien sind?“

Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick ob der unterschwelligen Beschuldigung. „Selbstverständlich. Ich bin keine Betrügerin.“

Er griff in die Tasche und holte die rote Schatulle hervor. „Und die Kette? Sind die Perlen echt?“

Sie nickte. Das Collier war das letzte schöne Stück, das sie besaß, und wertvoller als die meisten Dinge, die sie bereits verkauft hatte. Sie hing sehr daran, und es fiel ihr schwer, sich davon zu trennen. Derlei sentimentale Gefühle konnte sie sich allerdings nicht länger leisten.

„Der Schmuck gehört Ihnen, hoffe ich.“

„Wollen Sie damit andeuten, ich hätte die Kette gestohlen?“

„Und – haben Sie?“

Sie verspürte nicht einmal Wut ob der Frage, war sie doch nur allzu verständlich. „Die Perlen waren ein Geschenk. Daher kann ich nach meinem Gutdünken damit verfahren.“

Er nickte. „In diesem Fall möchte ich sie Ihnen gerne abkaufen.“

Sie nahm ihm das Kästchen aus den Händen und verstaute es wieder in der Tasche. „Ich glaube, sie würden Sie nicht kleiden.“

„Nicht?“

Der neckische Ton in seiner Stimme ließ nun doch allmählich Wut in ihr brodeln. „Nein. Ich verzichte auf Ihre Almosen. Wir kennen uns nicht, und daher müssen Sie sich mir gegenüber auch nicht verpflichtet fühlen.“

„Ich habe Ihnen dieses Angebot nicht aus wohltätigen Gründen gemacht“, wandte er ein.

„Ach ja? Welche Verwendung hätten Sie wohl für meine Kette?“

„Oh, Sie können mir glauben, ganz sicher gibt es eine Dame, der ich das Collier zum Geschenk machen kann.“

„Wer soll diese Dame sein?“, wollte sie wissen und errötete, als ihr bewusst wurde, wie naiv die Frage klang. Ein Mann wie er hatte zweifellos an jedem Finger eine Mätresse, wenn nicht gar eine Gemahlin.

„Nun, da müsste ich nicht lange suchen. Ich könnte sie beispielsweise Ihnen schenken.“

„Mir?“ Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, was wahrscheinlich daran lag, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Mit einem Mal erschien Lord Lennox ihr ebenso gefährlich wie der Mann, der ihr am Morgen gefolgt war, und der Junge, der versucht hatte, sie auszurauben. Gefährlicher sogar, bedachte man seine Wirkung auf sie.

„Ja“, sagte er einschmeichelnd. „Ich kaufe Ihnen die Kette ab und gebe sie Ihnen zurück. Als Geschenk. Offenbar ist der Schmuck für Sie von besonderer Bedeutung.“

Das war er in der Tat. Die Perlen hatten einst ihrer Mutter gehört. In seinen Augen las sie jedoch Mitleid, und das war ihr verhasst. „Das ist völlig unnötig. Ich … ich muss jetzt gehen.“ Sie stand auf und eilte die Straße hinunter.

Wenig später hatte er sie eingeholt und nahm ihr die Tasche aus der Hand. „Sie sind bemerkenswert starrköpfig, wissen Sie das?“

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, meinte sie: „Falls Sie sich davon gestört fühlen, können Sie sich gern verabschieden. Ich komme auch ohne Sie zurecht.“

„Um dies zu tun, bin ich selbst zu starrköpfig.“ Er ergriff ihren Arm und zwang sie dadurch, stehen zu bleiben. „Ich möchte die Kette wirklich gern erwerben. Mir leuchtet nicht ein, warum Sie mein Angebot ablehnen, da Sie den Schmuck doch ganz offensichtlich verkaufen wollten.“

„Wenn ich mich darauf einließe, stünde ich in Ihrer Schuld.“

Er krauste die Stirn. „Keine Sorge, ich erwarte keine Gegenleistung.“

Errötend lief sie weiter. „Die Kette ist sehr teuer.“

„Wie teuer?“

„Zweihundert Pfund“, antwortete sie in der Hoffnung, dass diese ungeheuerlich hohe Summe die Diskussion beenden würde. Verstohlen warf sie ihm einen Blick von der Seite zu.

Er hob eine Augenbraue. „Ja, das erscheint auch mir recht teuer.“

„Nun, ich bedaure …“

„Wären Sie mit fünfzig Pfund einverstanden und …“ Er klopfte die Innentasche seines Gehrocks ab, als suche er etwas. Einen Augenblick später holte er eine Münze hervor. „Und Sixpence?“

Verwundert blieb sie stehen. „Tragen Sie tatsächlich so viel Geld bei sich?“

Er lachte. „Nein, gewöhnlich vertraue ich darauf, überall Kredit zu erhalten. Deswegen kann ich Ihnen im Augenblick auch nur die Sixpence-Münze geben.“

„Glauben Sie tatsächlich, ich würde Ihnen meine Kette für Sixpence überlassen?“

„Es ist lediglich eine Anzahlung. Wenn Sie mit mir nach Hause kommen, gebe ich Ihnen die restliche Summe.“

„Dieser Preis ist mir zu hoch, Sir.“ Sie ging weiter.

„Es ist beträchtlich weniger, als Sie verlangten.“

„Der Betrag war aus der Luft gegriffen. Mir war es nicht ernst damit.“

„Ja, das dachte ich mir schon“, meinte er. „Allerdings war ich der Ansicht, Sie hätten die Absicht, den Inhalt Ihrer Tasche zu verkaufen. Bisher sind Sie kläglich gescheitert. Das Geld benötigen Sie aber ganz offenbar recht dringend, sonst wären Sie nicht hier.“

Obwohl sie das Geld tatsächlich dringend benötigte und er ihr obendrein mehr angeboten hatte, als sie zu hoffen gewagt hatte, konnte sie sein Angebot nicht annehmen. „So dringend ist meine Notlage nun auch wieder nicht. Ich brauche lediglich ein wenig Geld, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, bis ich eine Stelle gefunden habe. Ich bin derzeit auf Arbeitssuche.“

„Ach ja? Für welchen Beruf wurden Sie denn ausgebildet?“

Verflixt! Warum musste er alles so genau wissen wollen. Sein Ton war höflich, als ob er bloß neugierig wäre, doch insgeheim vermutete sie, dass er die Antwort bereits ahnte. „Nun, speziell ausgebildet wurde ich nicht, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Dennoch finde ich gewiss eine Stellung als Gouvernante. Ich verfüge über eine recht gute Schulbildung.“

Er schaute dermaßen skeptisch drein, dass sie hinzufügte: „Ich habe tatsächlich eine gute Bildung erhalten. Sie müssen gar nicht so zweifelnd schauen.“

„Oh, ich zweifle keineswegs an Ihren Kenntnissen, Miss Thomas. Ihnen scheint jedoch die Tatsache zu entgehen, dass kaum eine Mutter Sie begeistert in ihren Haushalt aufnehmen wird.“

Wut flammte in ihr auf. „Was wollen Sie denn damit sagen?“

„Kein Grund zur Aufregung. Ich wollte damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass Mütter es vorziehen, rundliche unscheinbare Gouvernanten einzustellen. Oder auch knochendürre unscheinbare Gouvernanten. Unscheinbarkeit ist eine entscheidende Eigenschaft, über die eine Gouvernante verfügen muss, fürchte ich.“ Er senkte die Stimme. „Sie hingegen … nun, Sie sind keineswegs unscheinbar. Ganz im Gegenteil. Und das ist als Kompliment zu verstehen.“

Ihr Herz hämmerte laut. Verlegen richtete sie den Blick auf einen schlafenden Hund am Straßenrand, spürte, dass der Earl sie forschend musterte.

„Also ich … natürlich könnte ich auch als Verkäuferin arbeiten“, plapperte sie. „Oder als Näherin. Ich könnte …“

„Miss Thomas?“

„Ja?“

„Ich bin mir gewiss, dass Sie jegliche Aufgabe, die Sie annehmen, bravourös meistern werden, aber es kann eine ganze Weile dauern, bis Sie eine Stellung finden werden. Ich bitte Sie, nehmen Sie mein Angebot an. Es ist kein Almosen, sondern ein Geschäft.“

Isabelle erwiderte nichts darauf. Zu zwiespältig waren ihre Gefühle. Liebend gern hätte sie sein Angebot abgelehnt, doch mit dem Geld würde sie die Miete für ihr Zimmer gleich für mehrere Monate zahlen und Lebensmittel kaufen können. Vielleicht würde es sogar reichen, um einen Teil ihrer Schulden zu begleichen …

Von ihm Geld anzunehmen, war hingegen demütigender, als mit einem Pfandleiher einen Handel zu schließen. Gleich, was er sagte, es war ein Almosen. Letzten Endes aber gewann der gesunde Menschenverstand über ihren Stolz die Oberhand. Doch sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen, als sie sagte: „Wenn Sie die Perlen tatsächlich zu kaufen wünschen, bin ich einverstanden. Aber ich bestehe darauf, dass Sie das Collier behalten.“

Er nickte, und sie setzten ihren Weg in unbehagliches Schweigen gehüllt fort. Nach einigen Minuten standen sie wieder auf der belebten Straße, auf der sie einander zum ersten Mal begegnet waren.

„Meine Kutsche steht dort drüben. Kommen Sie.“

Sie sollte mit ihm in seiner Kutsche fahren? Das war viel zu vertraulich. Darauf konnte sie sich nicht einlassen. „Ich denke, ich suche mir besser eine Droschke.“

„Seien Sie nicht närrisch. Es kann eine Ewigkeit dauern, bis Sie in dieser Gegend eine Droschke finden.“

„Dann laufe ich eben.“

„Ich soll Ihnen einfach so meine Sixpence-Münze anvertrauen? Woher weiß ich, dass Sie mir damit nicht ausbüxen?“

Sie zog die Stirn kraus. „Sie können Ihre Münze gerne wiederhaben.“

„Das war ein Scherz, verf…“ Er brach gerade noch rechtzeitig ab, bevor ihm der Fluch entwich. „Sie benehmen sich kindisch. Na schön, ich werde mir eine Droschke mieten, damit Sie nicht allein mit mir in meiner Kutsche sitzen müssen, falls Ihre Bedenken daher rühren. Sie können meine Kutsche nehmen.“

„Aber Sie sagten selbst, dass man in diesem Teil der Stadt keine Droschke findet. Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten …“

„Es bereitet keine Umstände“, sagte er knapp. Offensichtlich verlor er allmählich die Geduld. „Ich werde indes keinesfalls zulassen, dass Sie zu Fuß gehen. Aber wenn Sie vorhaben sollten, den lieben langen Tag hier stehen zu bleiben und darüber zu diskutieren, kann ich Ihnen den Gefallen gerne tun.“

Isabelle wollte ebenso wenig länger darüber streiten, wie sie den Wunsch hatte, zu laufen. Sie war hungrig, ihre Füße schmerzten. Zwar ziemte es sich nicht, mit ihm ohne Anstandsdame in der geschlossenen Kutsche zu fahren, andererseits konnte sie es sich aufgrund ihrer misslichen Situation nicht leisten, die Regeln der Schicklichkeit penibel genau einzuhalten.

„Also schön, ich fahre mit Ihnen. Aber Ihre Unkosten werde ich erstatten.“

„Das werden Sie nicht“, erwiderte er gereizt. Offenbar hatte sie ihn in seiner Ehre als Gentleman verletzt.

Sie errötete. „Ich weiß Ihre Freundlichkeit sehr zu schätzen. Es tut mir leid, wenn ich unhöflich erschien, Mylord.“

„Sie müssen nicht gleich so förmlich werden.“

Doch, das musste sie. Nur so konnte sie verhindern, dass sie auf der Stelle dahinschmolz. Nach ihrer Entschuldigung war die Wärme in seine Augen zurückgekehrt, und seine Stimme klang weicher, dunkler, bittend. Ihre Blicke verfingen sich, und in dem knisternden Schweigen, das folgte, griff er plötzlich nach vorn und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht. Wie gebannt sah sie auf seine Lippen, glaubte, er würde sie küssen. Sie würde ihn nicht zurückhalten. Er war ihr so nahe, musste nur den Kopf in den Nacken legen und …

„Wissen Sie, was ich denke?“

„Was denn?“, fragte sie träumerisch.

„Ich denke, Sie benötigen mehr Hilfe, als Sie zugeben wollen.“

Verlegen senkte sie den Blick in dem Bewusstsein, dass der Eindruck, er könne sie küssen wollen, allein ihrer blühenden Fantasie entsprang.

Laute Stimmen rissen sie aus ihren Gedanken. Der Kutscher brüllte den Gemüsehändler an, er solle endlich seinen Wagen zur Seite schaffen.

William blickte zu ihnen hinüber. „Ich werde wohl einschreiten und diese Angelegenheit klären müssen. Wenn McGrath vor Wut schäumt, achtet er nicht auf seine Worte. Warten Sie hier.“ Er bedachte sie mit einem strengen Blick und stellte die Tasche vor ihr ab, bevor er mit gezielten Schritten die Straße überquerte und zu seiner Kutsche ging.

Überwältigt von den Ereignissen, sah sie ihm nach. Als sie heute Morgen aufgestanden war, hatte sie keinen Penny besessen, keine Freunde und war voller Furcht gewesen. Nun hatte sie dank eines glücklichen Zufalls eine ansehnliche Summe in Aussicht und in Lord Lennox einen höchst ungewöhnlichen Verbündeten gefunden.

Sie musterte ihn verstohlen. Er neigte den Kopf, um dem Gemüsehändler zu lauschen, offensichtlich bemüht, Ruhe zu bewahren. Dann begann er, seine Taschen abzuklopfen. Vermutlich verlangte der Händler Geld für das beschädigte Gemüse. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Zu dumm, dass er ihr seine letzte Sixpence-Münze gegeben hatte, aber gewiss würde ihm etwas einfallen. Er erhielt seinen Worten zufolge ja überall Kredit.

Gedankenverloren ließ sie den Blick über die Straße schweifen, sich fragend, wie spät es wohl war. Sie hatte seine Gesellschaft in gewisser, wenn auch seltsamer Weise genossen, und bestimmt war inzwischen mehr Zeit vergangen, als sie dachte.

Und da entdeckte sie ihn plötzlich, den mittelgroßen Mann mit dem dunklen Haar. Ihr Verfolger. Es war unverkennbar derselbe Mann. Zwar wusste sie nicht, wer er war, doch hatte sie eine Ahnung, wer ihn geschickt hatte. Sein Blick glitt suchend über die Menge. Er schien sie noch nicht gesehen zu haben.

Rasch nahm sie ihre Tasche und warf Lord Lennox einen letzten Blick zu. Er war immer noch mit dem Gemüsehändler und seinem Kutscher beschäftigt.

Entschlossen wandte sie sich um und mischte sich unauffällig unter die Passanten. Ein Blick über die Schulter verriet ihr indes, dass der Mann sie offenbar bemerkt hatte, denn er ging in dieselbe Richtung wie sie.

Ohne sich darum zu kümmern, ob sie Aufsehen erregte, lief sie los.

Eine Stunde später traf Isabelle in der Pension ein, in der sie sich ein Zimmer genommen hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie war auf Umwegen nach Hause gegangen, damit der Mann ihre Spur verlor. Die meiste Zeit war sie gerannt und nur stehen geblieben, wenn sie Atem schöpfen musste. Nach zehn Minuten hatte sie die marmornen Köpfe aus der Tasche geholt und am Straßenrand liegen gelassen. Sie waren ohnehin nichts wert und hielten sie nur auf.

Auf der obersten Stufe stehend, suchte sie hastig nach ihrem Schlüssel und öffnete die Tür, inständig hoffend, dass Miss Standish, die launische Pensionsbesitzerin, ihre Rückkehr nicht bemerken würde. Vier Tage wohnte sie nun hier und hatte inzwischen gelernt, dass es das Beste war, ihrer Vermieterin möglichst aus dem Weg zu gehen.

Leise schloss Isabelle die Tür und ließ den Schlüssel in ihre Tasche fallen. Dabei vernahm sie ein Klimpern, als ob der Schlüssel einen anderen metallenen Gegenstand berührt hätte. Verdutzt schaute sie nach und holte einen goldenen Gegenstand hervor.

Lieber Himmel, sie hatte Lord Lennox’ Taschenuhr gestohlen!

3. KAPITEL

William saß im Salon und gab sich dem düsteren Vergnügen hin, die Zeitung nach schlechten Nachrichten zu durchstöbern. Auf dem Sessel neben ihm lag eine dicke getigerte Katze, die ihm jedes Mal einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, wenn er raschelnd die Seiten umblätterte. Der Kater schien ebenso schlechte Laune zu haben wie sein Besitzer.

Für seine trübe Stimmung war uneingeschränkt das weibliche Geschlecht verantwortlich. Bald nachdem er Isabelle Thomas am vergangenen Nachmittag den Rücken zugekehrt hatte, hatte die schlechte Laune eingesetzt. Selbstzufrieden und mit halbem Ohr hatte er zunächst dem Gemüsehändler zugehört und nicht einmal Einwände erhoben, als der Mann darauf bestand, die komplette Ladung bezahlt zu bekommen, obwohl der größte Teil des Gemüses keinen Schaden genommen hatte. Vielmehr war er in Gedanken ganz bei der intelligenten, schönen, rätselhaften jungen Frau gewesen, die unerwartet mit ihm nach Hause kommen würde. Eine Aussicht, die mehrere interessante Möglichkeiten bot.

Es machte ihm auch nichts aus, ihre Kette zu erwerben und eine übermäßig hohe Summe dafür zu zahlen. Es war ein kleiner Preis, wenn er ihr damit helfen konnte. Und er hoffte, nachdem diese Kleinigkeit erledigt war, Miss Thomas überreden zu können, mit ihm zu speisen oder die Oper zu besuchen, obgleich er nicht wusste, wie sie auf eine solche Einladung reagieren würde. Ihr häufiges Erröten legte nahe, dass sie über keine große Erfahrung verfügte, dennoch erweckte sie den Eindruck, unabhängig genug zu sein, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Gewöhnlich fiel es ihm leicht, die Damen mit seinem Charme zu betören, sie hingegen schien dagegen gefeit. Umso mehr hatte er sich gefreut, als es ihm endlich gelungen war, ihr bezauberndes Lächeln hervorzulocken, das ihr kratzbürstiges Wesen mehr als wettmachte.

Erst als er feststellen musste, dass sie eine Diebin war, hatte er seine Meinung über sie geändert. Er ärgerte sich, dass sie ihm derart den Kopf verdreht hatte, ihr die Uhr freiwillig zu überlassen – und eine Sixpence-Münze obendrein.

Zwei Stunden hatte er wütend nach ihr gesucht, ehe er schließlich aufgab und nach Hause fuhr. Die Uhr war ein Erinnerungsstück an seinen Großvater und bedeutete ihm viel.

Zu Hause angekommen, hatte sich seine Stimmung noch weiter verschlechtert. Denn dort wartete ein Brief von Miss Hume auf ihn. Sie musste ihn per Eilboten aufgegeben haben, gleich nachdem er ihre Akademie verlassen hatte. Mary war des Instituts verwiesen worden, weil sie der Tochter eines Major Fitzgerald die Haare abgeschnitten hatte. Miss Hume hatte sie unverzüglich die Koffer packen lassen, daher würde Mary schon am nächsten Morgen bei ihm eintreffen. Als ihr Vormund trug William die Verantwortung für sie, doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er mit ihr anstellen sollte. Wahrscheinlich würden Monate vergehen, bis er eine Schule gefunden hatte, die solch einen Wildfang aufnahm.

Diese verflixten, unberechenbaren Frauen …

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen übellaunigen Gedanken.

„Ja?“

Bartholomew, sein Butler, trat ein. „Ihre Cousine möchte Sie sprechen, Mylord.“

Diese Nachricht erfreute William keineswegs. Er hatte mehrere Cousinen, alle bis auf zwei waren rücksichtsvoll genug, ihn vormittags in Ruhe zu lassen. Daher war er sich sicher, dass es sich nur um einen der Teufelszwillinge handeln konnte, entweder Henrietta oder Venetia.

„Welche meiner Cousinen?“

„Na, wer könnte es wohl sein“, hörte er eine schalkhafte Stimme, gleich darauf segelte Henrietta Sandon-Drabbe in den Salon. „Gewiss ist dir nicht entfallen, dass sich Venny mit Philip und den Kindern in Waddlehurst aufhält.“

Henrietta, ein Jahr jünger als er, reichte ihm gerade mal bis zur Kinnspitze. Mit ihrem hellblonden Haar und den blauen Augen war sie zweifellos recht hübsch. Allerdings war sie auch herrisch und manipulativ und mischte sich für ihr Leben gern in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Darin stand sie ihrer Schwester in nichts nach. Normalerweise suchten die beiden ihn gemeinsam heim, daher konnte er sich glücklich schätzen, dass er es an diesem Morgen nur mit einem Zwilling zu tun bekam.

Weise verließ Bartholomew das Zimmer, während William gezwungen lächelnd aufstand. „Ich hoffe, ihre Reise wird länger dauern.“

„Bedauerlicherweise ja, bis zum Ende des Sommers. Aber ich weiß, dass sie meine heutige Mission gutheißen würde.“

William stöhnte auf. „Oh Henny, bitte. Verschone mich mit deinen Missionen.“

„Nun, diesen Gefallen kann ich dir leider nicht tun“, antwortete sie. Sie erblickte die Katze und verengte die Augen. „Warum ist dieses faule Biest nicht in der Küche, wo es hingehört, und fängt Mäuse. Ksch!“ Sie wedelte mit der Hand vor dem Kater, der sich beleidigt auf die andere Seite drehte, den Sessel aber nicht freigab. Henrietta bedachte das Tier mit einem finsteren Blick, ehe sie auf einem Stuhl Platz nahm. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatte, meinte sie: „Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, aus welchem Grund du dich so unhöflich verhältst. Du hast mir nicht einmal einen guten Morgen gewünscht. Ich hoffe, deine Laune wird sich bis heute Abend gebessert haben.“

William setzte sich auf das Sofa. „Guten Morgen, Henny. Was geschieht denn heute Abend?“

Sie schenkte ihm einen nachsichtigen, herablassenden Blick – die Art Blick, die sie sich für begriffsstutzige, unaufmerksame Männer und ihren Gatten Edward aufsparte. „Heute Abend findet Constance Reckitts Ball statt. Schon vor Wochen habe ich dir davon erzählt, und du hast versprochen, daran teilzunehmen.“

William runzelte die Stirn. Den Ball hatte er völlig vergessen, und seine Einwilligung hatte er damals nur gegeben, damit Henrietta, die ihn unaufhörlich damit plagte, endlich Ruhe gab.

„Kommt Edward auch?“, fragte er.

„Nein, er bekam ganz plötzlich Halsschmerzen.“

„Wie überaus praktisch.“

„Ja, höchst verdächtig. Du jedoch wirst mir mit solchen Ausflüchten nicht davonkommen. Es ist lebenswichtig, dass du erscheinst.“

„Nun lebenswichtig ganz sicher nicht, möchte ich meinen. Ich weiß ja nicht einmal, warum du so hartnäckig auf meinem Kommen bestehst. Du weißt, wie sehr ich derlei Veranstaltungen verabscheue.“

Mit ruhiger Stimme sagte Henrietta: „Ich wünsche deine Anwesenheit, weil du der Earl of Lennox bist. Du bist vierunddreißig Jahre alt, es wird Zeit, dass du dich deinen Pflichten stellst.“

Er stöhnte auf. Diese Diskussion hatten sie bereits unzählige Male geführt. Seine Cousine musste ihn nicht an seine Pflichten erinnern, die kannte er nur allzu gut. Als Familienoberhaupt oblag es ihm, einen Sohn zu zeugen, der den Titel erbte. Hatte er keinen männlichen Nachkommen, würde die Linie der Stantons, die seit Jahrhunderten auf Wentwich Castle in Norfolk residierten, eines Tages aussterben. Er war bereits der siebte Earl of Lennox, und auch ihm lag daran, die Tradition aufrechtzuerhalten.

„Ich habe nie behauptet, dass ich eine Ehe ablehne. Allerdings ist der rechte Zeitpunkt noch nicht gekommen.“

„Und wann wird dieser Zeitpunkt endlich kommen? Bedenke doch, was geschieht, wenn du keinen Erben zeugst.“

„James ist inzwischen verheiratet …“

„Ja, aber die Gemahlin deines Bruders hat bisher nur ein schmächtiges Mädchen zur Welt gebracht. Bist du nicht auch der Ansicht, dass du wenigstens versuchen solltest, ein solides Leben zu führen? Du brauchst eine Gattin, William. Keine unendliche Anzahl von … von Frauen.“

„Du gibst zu viel auf das, was die Klatschzungen dir zutragen.“

„Da bin ich nicht die Einzige. Deine Affären sind seit Jahren der ganzen Gesellschaft bekannt, du stehst in zweifelhaftem Ruf. Ich bin nicht einmal sicher, ob dich eine ehrbare Frau überhaupt ehelichen würde.“

William schloss kurz die Augen und mahnte sich zur Geduld, sich ins Gedächtnis rufend, dass er seine Cousine eigentlich mochte. Trotz ihres herrischen Wesens meinte sie es gut. „Henny, ich habe seit Monaten keine Mätresse mehr gehabt, auch wenn dich das eigentlich gar nichts angeht. Lass uns das Thema wechseln.“

Widerwillig gab sie nach. „Meine Güte, du hast wahrlich üble Laune.“

„Und du hast alles in deiner Macht Stehende getan, um meine Stimmung zusätzlich zu verschlechtern.“

„Warum bist du so aufgebracht?“, fragte Henrietta. Dabei fiel ihr Blick auf den Brief, der neben ihm auf dem Sofa lag. „Hast du schlechte Nachrichten erhalten?“

Auch William bemerkte den Brief. Zwar wollte er ihr keinen weiteren Grund geben, sich in sein Leben einzumischen, allerdings hatte er auch nicht die leiseste Ahnung, was er mit seinem Mündel machen sollte, wenn es am nächsten Tag eintraf. Henrietta hatte drei Sprösslinge, allesamt Mädchen, sie würde wissen, was zu tun war.

Er reichte ihr den Brief, insgeheim sicher, dass er dies noch bereuen würde. „Ich nehme an, das sind schlechte Nachrichten.“

Sie vertiefte sich in das Schreiben, um kurz darauf verwirrt aufzublicken. „Wer ist Mary Weston-Burke?“

„Mein Patenkind. Die Tochter von Arthur Weston-Burke.“

Sie legte den Brief nieder und rieb sich die Schläfe. „Dein Freund, nicht wahr? Ist er nicht vor wenigen Monaten verstorben?“

„Ja, daher ist Mary nun mein Mündel.“

Henrietta hob skeptisch die Augenbrauen. „Davon hast du mir gar nichts erzählt.“

Er wünschte bereits, dass er ihr den Brief nie gezeigt hätte. „Nun ja, da sie die Internatsschule besuchte, dachte ich nicht, dass irgendwelche Vorkehrungen zu treffen seien …“

„Aber du hast doch wohl nicht angenommen, dass das Mädchen für immer im Internat bleiben würde?“

Er sah sie gereizt an. „Es erschien mir nicht notwendig, mich bereits jetzt um ihre Zukunft zu sorgen. Offen gestanden habe ich angenommen, dass sie noch einige Jahre zur Schule gehen würde. Immerhin ist sie erst zwölf.“

Henrietta schüttelte missbilligend den Kopf. „Hat sie denn keine Verwandten? Ich kann mir nicht vorstellen, warum ausgerechnet du als ihr Vormund auserkoren wurdest. Du bist für diese verantwortungsvolle Aufgabe höchst ungeeignet. Du weißt nichts über Kinder.“

„Meine Nichten beten mich an.“

Henrietta schnaubte. „Kein Wunder, du verwöhnst sie ja auch über die Maßen. Du bist viel zu weichherzig.“

„Ich bin überhaupt nicht weichherzig“, warf William ein. Seinem Ruf nach war er ein Schwerenöter ersten Ranges. Vielleicht aber hatte Henrietta in gewisser Weise recht, und er war zu großherzig. Möglicherweise hatte er aus diesem Grund seine Uhr einer mitleiderregenden Diebin mit großen blauen Augen anvertraut.

„Arthurs Verwandte leben sämtlich in Indien, sonst hätte er mich wohl auch kaum zum Vormund ernannt. Natürlich wusste er, dass ich außerdem über die nötigen Mittel verfüge, um seine Tochter zu unterstützen.“

Henrietta sah zunehmend besorgter drein. „Was ist mit der mütterlichen Seite der Familie?“

„Marys Mutter starb vor zehn Jahren. Zudem kam sie aus recht misslichen Verhältnissen. Der Vater soll ein rechter Hallodri gewesen sein, der das gesamte Geld verprasste. Die Familie ist arm, diese Möglichkeit kommt also nicht in Betracht. Nein, Mary wird vorläufig bei mir wohnen, bis ich eine andere Schule für sie gefunden habe.“

Henrietta schwenkte den Brief wie einen Degen. „Nun, in diesem Fall wünsche ich dir Glück, denn das wirst du brauchen. Hier steht, dass sie sich an Amelia Fitzgeralds Haaren vergriffen hat.“

Er seufzte. „Dem wird wohl so sein.“

„Deine mangelnde Besorgnis ist höchst beunruhigend, William, wenn man bedenkt, dass du die kleine Missetäterin in dein Haus aufnehmen willst“, schalt Henrietta.

„Ich bin mir sicher, es gibt eine vernünftige Erklärung für diesen Vorfall. Möglicherweise hat Amelia Mary darum gebeten, vielleicht ist kurzes Haar groß in Mode.“

„Bei zwölfjährigen Mädchen? Wohl kaum, William, das kann ich dir versichern. Du wirst Miss Weston-Burke mit harter Hand führen müssen.“

Er hatte sich noch nie gern etwas vorschreiben lassen, und Henriettas herrischer Ton gefiel ihm ganz und gar nicht. „Im Gegensatz zu dir, Henny, bin ich nicht der geborene Despot. Ich habe Miss Hume vor einigen Tagen kennengelernt, sie wirkte äußerst streng auf mich. Du siehst also, deine sogenannte harte Hand führt nicht immer zum Erfolg.“

„Du weißt ja nicht, wovon du sprichst. Miss Humes Schule genießt einen ausgezeichneten Ruf. Und wenn das Mädchen schon jetzt über solch schlechte Manieren verfügt, denke ich mit Schaudern daran, wie sie sich nach einem Sommer in deinem Haus wohl gebärden wird. Du musst unverzüglich eine Gouvernante engagieren. Außerdem wirst du deinen Lebensstil völlig umstellen müssen.“

„Bist du mit deiner Moralpredigt jetzt fertig?“

„Ja.“

„Dann wirst du mir also helfen?“

„Dir helfen?“ Sie neigte den Kopf zur Seite, wohl wissend, dass sich ihr ein Vorteil bot, den es zu nutzen galt. „Wie sollte ich dir helfen können?“

William unterdrückte ein Seufzen. Ihm war klar, dass er sich zeitweilig ihrer Gnade auslieferte. „Nun, wie du so richtig bemerkt hast, weiß ich nichts über Kinder.“

„Ganz genau. Wenn du mir versprichst, heute Abend auf dem Ball zu erscheinen, werde ich mir überlegen, ob ich dir mit meinem Rat zur Seite stehe. Ich könnte für dich ein Inserat aufgeben. Und wenn du mit Vanessa Lytton tanzt, werde ich mich vielleicht sogar bereit erklären, eine Gouvernante aus den Bewerberinnen für dich auszuwählen.“

„Allerdings bestehe ich darauf, ein Mitspracherecht zu haben, Henny, denn schließlich zahle ich den Lohn.“

„Vertraust du mir etwa nicht?“

„Nicht im Mindesten.“

„Nun gut, ich werde für dich die Spreu vom Weizen trennen, hernach kannst du die Entscheidung treffen.“

Da William kein Verlangen verspürte, sich mit Scharen von potenziellen Gouvernanten zu unterhalten, und auch, weil er seine Cousine endlich loswerden wollte, stimmte er dem Vorschlag bereitwillig zu. „Also gut, abgemacht. Du hast gewonnen, obgleich ich nicht weiß, wer Vanessa Lytton ist.“

Henrietta lächelte selbstgefällig. „Das ist eine junge Dame, die als zukünftige Braut für dich in Betracht käme. Sie verfügt über ausgezeichnete Manieren und ist ausgesprochen hübsch.“

„Gewiss stammt sie auch aus guter Familie.“

„Sie ist die Enkelin eines Marquess. Würdest du eine Bauerntochter als Gattin vorziehen?“

Er zog eine Heirat überhaupt nicht in Betracht, aber er wusste, dass seine Cousine nur zu Recht auf eine standesgemäße Partie Wert legte. Seine Eltern hatten eine Zweckehe geführt – eine Verbindung, die beiden Teilen Vorteile brachte, wenngleich sie auch keine Liebe in ihrer Verbindung fanden. Seine Mutter war nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater hatte ein Jahr darauf erneut geheiratet, dieses Mal eine Frau, die er bereits seit vielen Jahren liebte. Auch er selbst hatte seine Stiefmutter geliebt. Sie war wunderschön, intelligent und bezaubernd. Doch sie stammte nicht aus denselben Kreisen wie sein Vater, denn sie war Schauspielerin. Die Ehe hatte zu einem Bruch innerhalb der Familie geführt und, wenn er ehrlich war, viele Menschen unglücklich gemacht. Aus diesem Grund würde seine Ehe, falls er denn einmal heiraten sollte, auch eine nüchterne Zweckehe sein.

Zum Glück musste er aber seiner Cousine nicht eingestehen, dass sie recht hatte. Sie war bereits aufgestanden und griff nach ihrem Sonnenschirm. Höflich erhob er sich. „Du gehst?“

Sie nickte. „Ich muss mich für heute Abend vorbereiten. Dieser Tage dauert es immer länger, bis ich präsentabel aussehe. Wenn es nach mir ginge, würde ich diese verflixten Debütantinnenbälle meiden, sie vermitteln mir jedes Mal das Gefühl, uralt zu sein. Nur dir zuliebe nehme ich daran teil.“

„Und ich nehme wiederum nur dir zuliebe teil. Das ist doch absurd. Vielleicht sollten wir beide die Sache noch einmal überdenken?“

Der vernichtende Blick, der ihn traf, war Antwort genug. Wenn er heute Abend nicht zu dem Ball erschien, würde dies bittere Konsequenzen für ihn haben.

Das winzige Zimmer, das Isabelle bewohnte, befand sich im obersten Stockwerk von Hannah Standishs Pension und hatte eine Schräge, sodass auf der einen Wandseite nur Zwerge aufrecht stehen konnten. Drei pralle Lederreisetaschen, vollgepackt mit Kleidung und Büchern und einer Gipsbüste der Göttin Athene, die ein Geschenk ihres Vaters gewesen war, standen dort – ihre gesamte Habe. Das Zimmer war spärlich möbliert, es gab ein Bett, eine Frisierkommode und einen fadenscheinigen, aber sauberen Teppich. Über dem kleinen Kamin hing ein von Kinderhand gefertigter Wandbehang, auf den in roten Kreuzstichen die Worte „Fürchte ihn“ gestickt waren.

Diesen Rat konnte sie im Augenblick gar nicht gebrauchen. Sie ängstigte sich ohnehin zu Tode. Was sollte – konnte – sie tun? Mit einem Bein stand sie bereits im Schuldturm, nun war sie versehentlich obendrein zur Diebin geworden.

Angespannt lag sie auf dem Bett und betrachtete Lord Lennox’ goldene Taschenuhr auf der Kommode. Der Beweis, dass der gestrige Tag kein Albtraum war, aus dem sie erwachen konnte.

Die Uhr war von höherem Wert als der Lohn, den sie in einem ganzen Jahrzehnt als Gouvernante verdienen konnte. Doch verkaufen wollte sie das Stück, obgleich sie das Geld gut gebrauchen konnte, nicht, denn dann wäre sie wahrlich eine Diebin und nicht nur zufällig dazu geworden. Nein, vielleicht fiel ihr noch eine Lösung ein, wie sie zu Geld kommen konnte. Ein wenig zuversichtlicher konnte sie bereits in die Zukunft blicken, da sie am Nachmittag ein Vorstellungsgespräch hatte. Zwar verfügte sie über keinerlei nennenswerte Talente und war bisher noch nie in Stellung gewesen, doch dank des Unterrichts, den ihr Vater ihr erteilt hatte, war sie immerhin gut gebildet. Diese Bildung und ein Berg Schulden waren das Einzige, was ihr Vater ihr hinterlassen hatte.

Rückblickend betrachtet hatte sie keine schöne Kindheit gehabt. Schon mit sechs Jahren hatte sie die Mutter verloren, und ihr Vater hatte sie allein großgezogen. Er hatte ein abgeschiedenes Leben als Antiquitätenhändler geführt, und sie … nun, sie war sich die meiste Zeit wie ein Klotz an seinem Bein vorgekommen. Daher begann sie sich für seine Interessen zu begeistern, um sich mit ihm über römische Skulpturen, etruskische Wandmalereien und kretische Vasen unterhalten zu können. Er wiederum hatte sie die griechische, lateinische und französische Sprache gelehrt. Gewiss mochte sie all diese Dinge nicht so sehr wie er, aber sie hatte gehofft, durch ihre Lernwilligkeit die Liebe ihres Vaters zu erlangen.

Wenn ihr Vater von einer seiner monatelangen Reisen durch Europa zurückkam, spürte sie, dass sie ihm etwas bedeutete, wenngleich er ihr diese Liebe auch nicht zeigen konnte. Von diesen Reisen brachte er jedes Mal exotische Schätze mit: geheimnisumwitterte Fragmente von Ruinen, Skulpturen oder wunderschöne Marmorstatuen von Göttinnen. Als der Krieg gegen Napoleon schließlich Reisen unmöglich machte, ließ er sich zahlreiche Artefakte nach London schicken, ohne diese vorher begutachten zu können. Die Stücke, die ihr Vater erwarb, blieben allerdings immer nur so lange im Haus, bis er einen Käufer dafür gefunden hatte. Und das gelang ihm jedes Mal. Seine Geschäftsbücher lasen sich wie eine Anleitung zu Ruhm und Reichtum. Er erwarb sich großes Ansehen und wurde sogar geadelt, woraufhin er sich fortan auf Lebenszeit Sir Thomas nennen durfte.

Bedauerlicherweise hatte sie bald nach dem Tod ihres Vaters durch einen gewissen Sebastian Cowes erfahren müssen, dass nicht alles, was er den vornehmen Herrschaften verkauft hatte, auch das war, wofür er es ausgegeben hatte. Mr Cowes hatte auf einer Reise in Rom eine Marmorbüste entdeckt, die bis auf die kleinste gemeißelte Falte einer Büste glich, die er von ihrem Vater erworben hatte. Von dem Ladenbesitzer Signor Ricci hatte er erfahren, dass die Büste kein echtes Stück, sondern nur auf antik gemacht worden war. Ricci kannte ihren Vater. Kurz vor dem Krieg hatte dieser seinen Laden einmal aufgesucht und mehrere Statuen geordert. Während des Krieges hatte er von Ricci noch mehrmals brieflich Statuen angefordert. Der italienische Händler wusste allerdings nicht, dass ihr Vater die Replikate in England für das Vielfache des Einkaufspreises als Originale verkaufte. Auch Isabelle hatte davon n...

Autor

Sarah Elliott
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