Historical Exklusiv Band 107

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DER RITTER UND DIE IRISCHE PRINZESSIN von JOANNE ROCK
Verbannt aus der Burg ihres Vaters, braucht die irische Prinzessin Sorcha unbedingt einen Beschützer. Obwohl sie sich nach einer schmerzhaften Enttäuschung schwor, niemals mehr einem Mann zu trauen, bleibt ihr keine Wahl: Sie muss ihr Schicksal dem faszinierenden Ritter Hugh de Montaigne in die Hände legen!

STUNDE DER VERGELTUNG von SUZANNE BARCLAY
Als Gowain und seine Rebellen die Eskorte seines ruchlosen Halbbruders überfallen, scheint die Stunde der Vergeltung nah. Doch gerät ihm statt Ranulf die schöne Nonne Alys in die Hände – und ein Blick in deren meerblaue Augen stürzt Gowain in einen Strudel dramatischer Verstrickungen ...


  • Erscheinungstag 15.08.2023
  • Bandnummer 107
  • ISBN / Artikelnummer 0859230107
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Joanne Rock, Suzanne Barclay

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 107

1. KAPITEL

Nördlich von London, 1169

Das Aufwachen fiel ihm schwer, da er die Augen nicht öffnen konnte. Ihm schwindelte. Auf dem harten Lager kämpfte er gegen das taube Gefühl in seinem Gesicht an und versuchte, die Lider aufzuschlagen, um sich endlich umschauen zu können. Die Gerüche, die auf ihn einströmten, waren ihm vertraut und doch seltsam. Dung von Schafen. Der Duft frischen Heus. Die angebrannten Reste einer schlichten Mahlzeit. Aber auch die Geräusche gaben ihm keinen Hinweis, wo er sich befand. Er hörte Kinder kreischen und lachen. Eine Frau rief etwas. Tiere grunzten, scharrten mit ihren Hufen, schnaubten.

All diese Laute und Gerüche waren ihm unangenehm und erinnerten ihn nicht an die Umgebung, die er sonst kannte.

Sorge beschlich ihn, während er dalag und bemüht war, sich einen gewöhnlichen Morgen vorzustellen. Einen gewöhnlichen Tagesablauf. Er war sich nicht sicher, welche Tageszeit es war, wusste nicht, an welchem Ort er sich befand.

„Der Bursche kommt mir noch heute früh aus dem Haus, Meg“, knurrte ein Mann mit tiefer Stimme in der Nähe. „In seinem Zustand ist er uns eine Last. Bald müssen sich unsere Kinder noch das Essen vom Munde absparen.“

„Und was ist mit der christlichen Nächstenliebe, Mann?“ Die weiche Stimme der Frau hatte einen angenehmen, melodiösen Klang.

Ging es in diesem Gespräch um ihn? Es lag auf der Hand, dass es um seine Gesundheit nicht gut bestellt war, da er nicht imstande war, die Augen zu öffnen. Er fühlte sich schwach, seine Glieder waren schwer wie Blei.

„Du bist nicht die Gemahlin eines Lords, Meg“, vernahm er wieder die eindringliche Stimme des Mannes. „Wenn du möchtest, dass dieser besinnungslose Kerl zu essen und zu trinken bekommt, dann solltest du ihn zu einer Familie bringen, die sich das leisten kann. Verstehst du? Er verlässt heute das Haus, oder ich schaffe ihn zum Marktplatz zu den anderen Einfältigen, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen.“

Die Worte versetzten ihm einen Stich. Sein verletzter Stolz regte sich. Er war kein Einfältiger, sondern ein Mann, der litt.

„Aber John, was ist, wenn er ein bedeutender Herr ist? Der junge Harold sagte, der Fremde habe ein Pferd besessen. Und wie ein Stallbursche sieht er wirklich nicht aus.“

Die Frau versuchte weiterhin, ihren Mann umzustimmen, doch das Gespräch trat ein wenig in den Hintergrund, als er noch eine andere Stimme hörte, diesmal dicht an seinem Ohr.

„Du musst fort von hier, wenn du nicht Futter für die Schweine aus dem Dorf werden willst.“ Der Stimme nach war es ein Junge, der ihm die Worte zuflüsterte.

Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft öffnete er erst ein Auge, dann das andere.

Er befand sich in einer einfachen, aus Holz erbauten Kate mit fest gestampftem Boden, die aus einem einzigen Raum bestand. Die Bewohner und das Nutzvieh teilten sich die Behausung. Er war sich nicht sicher, ob er sich überhaupt zu den Menschen zählen durfte, da man ihn in der Rangfolge offenbar noch unterhalb von Mensch und Tier anordnete.

Ein Junge schaute ihn mit wachen Augen an. Er hatte ein schmutziges Gesicht, und das verfilzte Haar klebte ihm an den Wangen. In seinem Blick lag gespannte Erwartung. Als wäre Schweinefutter ein fesselnder Anblick.

„Mein Bruder sagt, dass sie das mit einem machen, der nicht ganz bei Verstand ist und zu nichts taugt“, erklärte der Junge leise weiter.

Unter Schmerzen fasste er sich an die Schläfe und zuckte zusammen. Man hatte an seinem Haar herumgeschnitten. Er tastete Stiche von Nadel und Faden an seiner Stirn. Sofort begriff er, dass nur die Frau mit der lieblichen Stimme die Wunde genäht haben konnte. Kein Zweifel, er verdankte diesen Fremden sein Leben.

„Wie heißt du?“, fragte der Junge weiter und drückte ihm mit einem Finger gegen die Schulter.

Doch da fielen ihm wieder die Augen zu, und der Wortwechsel zwischen dem Mann und seiner Frau, der inzwischen hitziger geführt wurde, schien aus weiter Ferne zu kommen. Großer Gott, er würde sofort aufstehen und gehen, wenn er doch nur könnte!

„Weißt du nicht einmal, wie du heißt?“ Der Junge klang ungeduldig und verärgert. Der Tonfall ähnelte dem seines Vaters.

„Hugh“, antwortete er, ohne nachzudenken. Aber mehr als diesen Namen bekam er nicht zustande. Jetzt, da der im Raum stand, verspürte er den Wunsch, noch etwas hinzuzufügen – einen Titel, um seine Abstammung und sein Erbe zu unterstreichen.

Hugh, der Sohn von irgendjemandem. Hugh of York. Hugh, Träger des Schwarzen Ordens. Aber in all seinen umnebelten Gedanken fand er keinen Hinweis auf einen Namenszusatz. In seinem Kopf herrschte eine beängstigende Leere, er erinnerte sich an nichts.

Von Unruhe gepackt, tastete Hugh den Stoff seiner Beinlinge und seine Tunika ab und suchte nach Dingen, die ihm gehörten. Aber er fühlte kein Schwert. Auch kein Messer mit einem Familienwappen auf dem Knauf, das Aufschluss über seine Herkunft hätte geben können. Kein Lederbeutel mit Habseligkeiten, nichts, das eine Dame ihm als Zeichen ihrer Gunst geschenkt hatte.

Aber warum sollte ein Mann, der Beinkleider aus grober Wolle und eine ausgefranste Tunika trug, überhaupt einen Gunstbeweis einer Dame bei sich haben? Die Vorstellung erschien ihm widersinnig … Und doch …

Wer, um alles in der Welt, war er?

„Es macht mir nichts aus, wenn du meinen Haferbrei isst, Hugh.“ Der Junge schniefte und wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht. „Aber mein Vater sagt, dass du fort musst. Du bist zwar auf einem Pferd angekommen, aber du bist vielleicht nicht mehr als ein gemeiner Dieb.“

„Mit einem Pferd?“ Hugh fragte sich, ob er in den Satteltaschen des Tieres Dinge finden würde, die ihm gehörten. Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder, da die Bewohner der Kate ihn vor die Tür zu setzen gedachten. Würde er etwas Nennenswertes sein Eigen nennen, hätten seine Gastgeber die Dinge gewiss schon an sich genommen als Ausgleich für die Versorgung.

„Ja, mit einem Pferd.“

„Wie lange bin ich schon bei euch? Wo habt ihr mich gefunden?“

„Du bist am Anfang der Woche in unserer Siedlung aufgetaucht und hast dein Pferd im Stall meines Vaters gelassen. Später am Nachmittag fanden wir dich in einem Graben neben einer Schänke. Jemand hat versucht, dir den Schädel zu spalten. Jedenfalls lief dir das Blut nur so vom Kopf.“

Angestrengt versuchte Hugh, sich an jenen unheilvollen Augenblick zu erinnern. War er gar ein Trunkenbold?

„Und welchen Tag der Woche haben wir heute?“

„Mittwoch.“

„Kannst du mich zu dem Pferd führen?“

Der Bursche nickte. Die Eheleute weiter hinten in der Kate schienen bemerkt zu haben, dass er bei Bewusstsein war. Denn die Frau eilte nun an seine Bettstatt, ihr Mann folgte langsamer nach.

„Ich werde sofort aufbrechen“, rief Hugh dem Kätner zu, fest entschlossen zu ergründen, warum sein Kopf so stark schmerzte und er sich an nichts mehr erinnern konnte.

Sowohl auf der Miene der Frau als auch auf der des Mannes zeichnete sich Überraschung ab.

„Ihr braucht nicht zu gehen …“, begann die Frau beschwichtigend.

„Ihr seid meinem Jungen noch etwas schuldig, weil er auf Euer Pferd aufgepasst hat. Vielleicht könnt Ihr ihm Eure Schuhe geben?“, schlug ihr Mann vor.

Großer Gott! War es so weit mit ihm gekommen? Musste er sich jetzt schon von seinen Schuhen trennen, nur weil er sein Pferd in einem Stall untergebracht hatte?

Hugh hatte nicht das Gefühl, dass er in einer Welt voller Mühsal und Arbeit groß geworden war, aber vielleicht machte er sich selbst nur Hoffnungen. Immerhin trug er lederne Stiefel und nicht die ausgefransten Stoffstreifen, die sein Gastgeber sich um die bloßen Füße gewickelt hatte, um nicht mit bloßen Füßen in den Schafdung zu treten. Vielleicht hatte sein Bauchgefühl doch recht, dass er nicht von hier stammte.

„Ich bin Euch und Eurer Familie zu tiefem Dank verpflichtet.“ Hugh wollte eine kleine Verbeugung andeuten, um diesen Leuten seinen Respekt zu zollen, die mit ihren Schweinen unter einem Dach lebten, bereute es aber sogleich. Sein Kopf schmerzte höllisch. „Ich lasse dem Burschen die Schuhe, wenn er mich zu meinem Pferd bringt.“

Kurz darauf folgte Hugh dem Jungen und schleppte sich unter Schmerzen durch eine enge Gasse, in der Waschfrauen ihrer Arbeit nachgingen. Er spürte, dass man ihn mit argwöhnischen Blicken musterte. Gewiss hatten die anderen Bewohner des Dorfes längst gehört, dass ein Fremder verletzt in der Kate des Nachbarn lag. Unbedingt musste er sich einen vollständigen Namen ausdenken, allein schon aus dem Grund, um sicherzugehen, dass ihm zumindest sein Einfallsreichtum geblieben war. Ja, er würde sich gesünder geben, als er sich in Wirklichkeit fühlte. Keinesfalls sollten die Leute glauben, er sei dem Irrsinn verfallen. Oder ein Trunkenbold.

„Da sind wir“, sagte der Junge endlich und zeigte auf einen Unterstand, den man nicht gerade als Stall bezeichnen konnte.

Das Pferd erwies sich als großes und kräftiges Schlachtross. An dem Sattel, der an einem Pfosten hing, waren keine Hinweise zu erkennen, die Aufschluss über seine Person gaben. Satteltaschen oder andere Habseligkeiten, die er hätte durchsuchen können, schienen zu fehlen.

„Ich danke dir“, sagte er und bückte sich, um die Stiefel auszuziehen. Währenddessen sattelte der Bursche das Pferd. In seinem Kopf hämmerte es, als Hugh sich die Schuhe abstreifte, aber er biss die Zähne zusammen, da er sich unter den bohrenden Blicken der anderen Dorfbewohner keine Schwäche anmerken lassen wollte. „Du hast mir sehr geholfen, Junge.“

„Danke“, sagte der Bursche und nahm die Lederstiefel strahlend entgegen. „Euch viel Glück in Connacht, Sir.“

Bei diesen Worten hielt Hugh inne. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor.

„Was hast du da gerade gesagt?“

„Als Ihr vor Tagen vom Pferd stiegt, sagtet Ihr, Ihr würdet am nächsten Morgen nach Connacht reiten. Aber das ist schon einige Tage her. Mein Vater meint, es ist eine Siedlung in Wales, aber der Schmied, der gleich hier am Ende der Gasse wohnt, behauptet, es ist ein Königreich jenseits der Irischen See.“

Hugh wusste, dass er im Augenblick nicht erklären konnte, in welcher Angelegenheit er in das kleine irische Königreich hatte reiten wollen. Aber so hatte er jetzt zumindest einen Anhaltspunkt. Womöglich lagen die Antworten auf all die Fragen in Irland. Und so beschied er, irischen Boden zu betreten, um wieder ganz zu genesen.

„Ich mache mich auf den Weg nach Irland. Lebe wohl, Junge.“ Hugh ging zu dem Pferd, wobei er darauf achtete, nicht in den herumliegenden Unrat zu treten. Mühsam zog er sich auf den Rücken des Tieres.

Zwar kannte er nicht einmal seinen eigenen Namen, aber er wusste aus voller Überzeugung, dass er es aus eigener Kraft bis nach Irland schaffen würde. Eine wilde Entschlossenheit bemächtigte sich seiner.

Er würde herausfinden, wer er war und wie es um seine Herkunft bestellt war.

Aber zunächst musste er in Erfahrung bringen, warum er bei der Erwähnung eines fernen irischen Königreichs aufgehorcht hatte. Er ahnte, dass in Connacht eine große Aufgabe auf ihn wartete. Eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete.

Ein Auftrag, den es zu erfüllen galt und für den es vielleicht schon zu spät war.

Connacht, Irland

Zwei Monate später

Sorcha spürte, dass ein Fremder in der Nähe war, ehe sie die Schritte hörte.

Sie blieb stehen, tastete mit einer Hand nach dem Dolch an ihrem Gürtel und schlang schützend einen Arm um ihren einjährigen Sohn. Niemand nahm die Pfade in der Nähe ihres Hauses. Denn jeder in Connacht wusste um ihre Schande.

Da sie aus der Burg ihres Vaters vertrieben worden war, lebte sie nun schon seit über einem Jahr in der Verbannung. Die Einsamkeit des abgelegenen Waldgebiets hatte ihre Sinne geschärft, und daher fühlte sie es, wenn jemand in der Nähe war. Wann immer jemand kam, schien sich die Luft zu verändern – wenn eine Magd von der Burg Vorräte brachte oder wenn ein Dorfbewohner erschien, um Fleisch gegen Kleidung einzutauschen, deren Stoffe sie auf ihrem Handwebstuhl gefertigt hatte. Und wenn es sich bei einem herannahenden Menschen um einen Fremden, gar um einen Mann handelte, dann waren ihre Sinne schärfer denn je.

Sie empfand dabei eine Ungewissheit, gemischt mit Furcht, denn zuallererst ging es ihr um die Sicherheit ihres kleinen Jungen.

Jeden Tag rechnete sie damit, dass der Verwalter ihres Vaters aufkreuzte, um ihr den Knaben wegzunehmen und sie in ein Kloster zu bringen. Gegen Ende des Sommers hatte ihr Vater Drohungen dieser Art von sich gegeben. Andererseits würden die Ritter des Königs sich nicht heranschleichen. Sie würden über den Waldweg preschen, um sie zu holen.

„Wer da?“, rief sie mutig in Richtung der Bäume, fest entschlossen, ihren Sohn zu schützen, obwohl sie hier – ganz allein und fernab von der Burg ihres Vaters an der Küste – so verwundbar war. „Mein Vater ist der Herr dieses Landstrichs und wird nicht zulassen, dass seinem Erben ein Leid geschieht.“

Da sie die Stimme erhoben hatte, fing ihr Sohn Conn, den sie sich auf die Hüfte gesetzt hatte, an zu weinen. Während sie versuchte, ihn zu beruhigen, schob sie den Dolch in ihren Ärmel. Sollte sie jetzt fortlaufen? Oder würde ihr der Fremde dann erst recht nachstellen?

Als sie den Kleinen enger an sich drückte, begann er zu zappeln, fasste ihr ins Haar und zog daran.

„Ich suche den Herrn dieser Ländereien. Ich werde Euch nichts zuleide tun.“ Noch war der Eindringling nicht zu sehen, doch seine tiefe Stimme schallte vom Rand des Waldes herüber, der am Fuße der Hügel lag, die die Landzunge von Connacht beschützten.

Jeden Tag streifte Sorcha durch die bergige Landschaft. Man hatte sie an einen entlegenen Ort am Rande der Ländereien ihres Vaters verbannt, und seither waren die Anhöhen und Täler ihre Zufluchtsorte vor der Verachtung der Welt.

Hier hatte sie sich immer sicher gefühlt, selbst wenn alle sie verhöhnten und auf sie herabsahen. Doch jetzt fielen ihr schlagartig die Warnungen ein, die sie auf der Burg gehört hatte, dass jederzeit Krieg über Connacht hereinbrechen könnte. Sorcha wich weiter zurück und sah, wie der Fremde zwischen den Bäumen hervortrat.

Seine volltönende männliche Stimme hatte bereits einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen, doch nun staunte sie, wie groß der Fremde war.

Der Mann war größer als jeder andere, den sie je gesehen hatte. Er hatte eine breite Brust, und die kraftvollen Arme, die sich unter seinem Obergewand abzeichneten, zeugten von vielen Schwertübungen. Kein Zweifel, dieser Mann war ein Krieger, auch wenn er kein Pferd am Zügel führte und offenbar kein Schwert bei sich trug. Sorcha blinzelte gegen die Sonne des späten Nachmittags und versuchte, besser sehen zu können. Doch plötzlich überkam sie ein Gefühl von Schwäche, als sie die Gesichtszüge des Fremden deutlicher sah.

„Heilige Muttergottes!“ Vor Schreck hätte sie beinahe den Jungen fallen lassen, der mit seinen kleinen Fäusten auf ihren Arm trommelte. Ihr blieb keine andere Wahl, als Conn auf den Boden zu setzen, wenn sie den Dolch fest in die Hand nehmen wollte. Daher schob sie den Jungen einfach hinter sich.

Sie traute ihren Augen nicht. Wandelten nun die Toten unter den Lebenden?

„Mylady?“ Der Mann blieb stehen, als wollte er beweisen, dass er ihr kein Leid antun würde.

War ihm bewusst, wie viel Leid er ihr allein durch den Anblick der markanten Konturen seines Gesichts zufügte?

Das dunkle Haar reichte ihm bis über die Schultern und glänzte im Sonnenlicht, als habe er sich eben erst an einem sprudelnden Bachlauf gewaschen. In seine dunklen golden gesprenkelten Augen trat ein eigenartiges Leuchten, doch Sorcha glaubte, Zorn in seinem Blick zu sehen.

Oder Leidenschaft …

Der Himmel stehe ihr bei, musste sie denn ständig aufs Neue an ihre Sünden erinnert werden?

„In welcher Angelegenheit wünscht Ihr den Herrn dieser Ländereien zu sprechen?“ Ihre Stimme klang mit einem Mal heiser und sogar abweisend. Ein Schauer durchrieselte sie, und die Gefühle, die sich in ihr regten, waren zu verwirrend, um sie zu ergründen.

„Wenn ich Euch so ansehe, Mylady, stellt sich mir die Frage, ob wir uns schon einmal begegnet sind.“ Der Fremde neigte nicht den Kopf wie ein Höfling. Unverwandt sah er sie an, und in seinem Blick lag eine gespannte Erwartung, seit sie ihn so auffällig gemustert hatte.

Doch dieser Krieger war nicht ihr früherer Geliebter. Das erkannte sie jetzt deutlich, da er nicht mehr weit von ihr entfernt stand und die Sonne sie nicht mehr blendete.

Dennoch war die Ähnlichkeit dieses Eindringlings mit dem Vater ihres Sohnes verblüffend. Verdächtig.

„Wir sind uns nie begegnet, Sir. Entschuldigt mein Erstaunen, Euch hier zu sehen. Aber ich bin es gewohnt, ganz allein auf dieser Seite des Hügels zu leben.“ Sorcha wollte sich dem Mann entziehen, denn niemand würde sie hier schreien hören, wenn ihr etwas zustieß. Daher bückte sie sich und griff nach der Decke und nach dem Korb, in den sie einige Blumen gelegt hatte. „Conn, wir müssen weiter, mein Kleiner.“

Aufmunternd lächelte sie ihrem Jungen zu, ließ den Mann jedoch keinen Moment aus den Augen und achtete auf die kleinste Bewegung. Von nun an würde sie sich nie mehr sicher in diesen Wäldern fühlen, und sie verfluchte im Stillen ihren Vater, dass er sie in dieses gottverlassene Grenzgebiet verbannt hatte. Denn das Leben ihres Jungen stand auf dem Spiel. Sollte ihr Vater seine Drohung wahr machen und sie wirklich in einen Konvent schicken, so blieb ihr wenigstens ein Trost: Ihr Sohn wäre in Sicherheit, denn der König würde seinen Enkel schützen. Sie müsste sich lediglich bereit erklären, jegliche Verbindung zu ihrem Kind abzubrechen und fortan hinter Klostermauern zu leben. Conn hätte dann sogar eine Zukunft.

Jetzt bemühte sie sich, nicht hastig oder überstürzt zu handeln, obwohl Erinnerungen, Gefühle und Fragen ungeordnet auf sie einstürmten.

„Bitte, lasst Euch durch mich nicht stören.“ Der Mann hob beschwichtigend die Rechte, und er kam auch nicht näher. „Ich habe einen langen Weg auf mich genommen, um Euren Herrn zu sprechen, und nichts wird mich von meinem Vorhaben abbringen.“

„Ihr würdet schneller auf einem Pferd vorankommen, Krieger.“ War dieser Fremde gar ein Späher der feindlichen Kämpfer, der das Land vorab in Augenschein nahm? Sorcha konnte sich nicht erklären, aus welchem Grund dieser Mann zu Fuß durch den Wald streifte.

Ihm fehlten all die Gegenstände, die einen Ritter auszeichneten. Er trug kein Schwert, allerdings blitzte an seinem Gürtel ein Dolch auf. Nichts an seiner Kleidung deutete auf seine Herkunft hin. Nirgends war ein Familienwappen zu erkennen, aber wenn er ein Söldner war, dann hätte er gewiss auch keines. Gleichwohl war seine Kleidung zu schlicht für einen Mann mit dieser eindrucksvollen Erscheinung. Da der Störenfried aber so viel Ähnlichkeit mit ihrem früheren Geliebten hatte, rechnete Sorcha damit, jeden Augenblick das Wappen der du Bois zu erblicken – den weißen Hirsch auf einem blauen Feld.

„Ich wurde einige Meilen entfernt von Dieben überfallen“, erklärte er und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken, als wolle er betonen, dass er keine bösen Absichten hegte. Leider hatte Sorcha die Erfahrung gemacht, dass Männer anders waren, als sie sich gaben. „Es waren zu viele für einen Ritter allein.“

„Diebe?“

Er zuckte die Schultern, ganz so, als bedeutete ihm der Verlust seines Pferdes und seiner Waffen nichts. Dabei wusste Sorcha, dass manch ein Ritter nichts anderes besaß als Ross und Schwert. Hatte er die Geschichte mit dem Überfall nur erfunden, um zu erklären, warum er hier war? Hatte jemand aus seiner Familie ihn geschickt, damit er sie fand? Ihre Neugier wuchs, aber sie wusste, dass Vorsicht geboten war.

„Ich wollte Eurem Vater meine Dienste anbieten, um die Gegend von diesem Gesindel zu befreien, wenn er mir ein Pferd zur Verfügung stellt. Nichts würde mich mehr freuen, als mein eigenes Pferd zu retten und die Räuber dingfest zu machen.“ Er neigte leicht den Kopf, eine eigenartig höfliche Geste für einen Söldner. „Bitte um Verzeihung, wenn ich Euch erschreckt habe, Mylady.“

Beinahe hätte Sorcha den Dolch fallen lassen, als Conn an ihrem Ärmel zog, um ihre Aufmerksamkeit einzufordern. Sie befürchtete, dass der Fremde womöglich die Klinge sehen und sich dadurch bedroht fühlen könnte. Daher schob sie den Dolch schnell wieder in den Ärmel, wobei sie sich leicht verletzte.

„Mein Vater ist eigen mit seinen Pferden, Sir.“ Sie sprach schnell, um die Aufmerksamkeit des Mannes von ihrem Ärmel abzulenken, an dem sie herumzupfte. „Also gebt auf das Pferd acht, das er Euch zur Verfügung stellt. Aber ich denke, er wird Eurer Bitte stattgeben.“ Der Lord von Tir’a Brahui hatte den Thron mit ebenso viel Schläue wie Machthunger gewonnen, und obwohl es Sorcha nicht gefiel, wie er sie behandelt hatte, so sprach sie ihm nicht den Respekt ab, den er verdiente.

Sie könnte ihn jedoch ein wenig mit diesem herrenlosen Ritter quälen, indem sie ihn dazu brachte, mit ihrem Vater zu verhandeln. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln, obwohl sie dieses Gespräch mit dem Unbekannten als anstrengend empfand.

Die Sonne stand nun tiefer am Horizont, worauf der Mann die Augen mit der Hand beschattete.

„Dürfte ich erfahren, wie Ihr heißt, damit ich Eurem Vater erzählen kann, dass ich Euch getroffen habe?“ Die tief stehende Sonne zauberte einen goldenen Schimmer auf die grob gewebten Kleidungsstücke des Mannes.

Erneut blitzte eine Erinnerung in ihr auf, und sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Mann einst kannte, sogar näher kannte. Vielleicht war es gut, dass ihr Messer nicht mehr so leicht zu fassen war.

„Ich heiße Sorcha.“ Stolz sprach sie ihren Namen aus, obwohl ihr Vater nichts unversucht gelassen hatte, in ihr Reue für ihre Taten hervorzurufen. „Und ich versichere Euch, dass Eure Verhandlungen mit ihm günstiger für Euch ausgehen werden, wenn Ihr in seinem Beisein meinen Namen verschweigt. Lebt wohl, Sir.“

Sie hob sich Conn auf die Hüfte, achtete darauf, dass der Dolch im Ärmel blieb, und wandte sich zum Gehen. Sie brauchte Abstand zu dem Fremden, der gemischte Gefühle in ihr hervorrief – in ihre Furcht schlich sich auch Ärger darüber, dass er sie hier in ihrem Wald gestört hatte. Gleichzeitig quälte sie die Sorge, dieser Mann könnte ein Verwandter ihres ehemaligen Geliebten sein. Bei diesem Gedanken zuckte sie zusammen. Die Zeit der Verbannung gab ihr viel zu viel Gelegenheit, über frühere Fehler nachzudenken und sich um das Wohl ihres Jungen zu ängstigen. Da brauchte sie keine weiteren Sorgen. Ihr blieb keine andere Wahl, als diesen Unbekannten mit den dunklen Augen so rasch wie möglich zu vergessen.

„Und meinen Namen wollt Ihr gar nicht erfahren?“, rief der Fremde ihr nach.

„Wir werden uns nicht wieder begegnen“, erwiderte sie, ohne sich umzuschauen.

„Sorcha?“

Seufzend drehte sie sich um.

„Ja?“

„Ihr müsst die Klinge seitlich am Körper verbergen. In den Falten Eures Gewandes.“

„Wie bitte?“

Sie erschrak, als sie sah, dass er sie unverhohlen musterte. Sein Blick verweilte auf ihrer Hand, mit der sie den Dolch verbarg.

„Eure Haltung ist zu verkrampft. Wenn ihr das Messer in den Stofffalten verbergt, könnt Ihr die Waffe schneller einsetzen. Wenn ich zum Beispiel jetzt auf Euch zukomme …“

Er trat einen Schritt vor.

„Bleibt, wo Ihr seid!“ Sie setzte Conn wieder ab. Mit einer Bewegung schüttelte sie den Dolch aus ihrem Ärmel, um ihn im Notfall benutzen zu können.

Bei Gott, sie würde niemanden an ihren Jungen heranlassen. Und schon gar keinen Mann, der dem Vater ihres Kindes so ähnlich sah.

„Ich wollte damit nur sagen, dass Ihr nicht schnell genug seid, wenn Ihr den Dolch im Ärmel tragt.“ Er blieb stehen, doch Sorcha befürchtete, dass der Fremde sich kaum von ihrer Klinge einschüchtern ließe. „Ich hoffe, dass Ihr nie Eure Waffe benutzen müsst, aber wenn Ihr sie einsetzen möchtet, dann solltet Ihr das Blut Eures Gegners vergießen und nicht Euer eigenes. Lebt wohl, Sorcha.“

Der Söldner machte auf dem Absatz kehrt. Erst da sah Sorcha, dass er kein Schuhwerk trug, sondern sich Leinenstreifen um die Füße gewickelt hatte. War er wirklich ein so mittelloser Ritter? Oder ein gemeiner Strolch, der ein Spiel mit ihr trieb? Sie konnte sich nicht erklären, wie ein gewöhnlicher Mann sich so gewählt auszudrücken vermochte, sein Akzent war der eines Normannen. Aber vielleicht war das nicht weniger seltsam als ein normannischer Krieger ohne eigenes Pferd und Stiefel, der durch das Gebiet ihres Vaters streifte.

Wie dem auch sei, jetzt war sie den Fremden los und schwor sich, in Zukunft besser achtzugeben. Hatte man sie nicht gewarnt, dass der Krieg alsbald nach Connacht kommen würde? Und wie eigentümlich es doch war, dass die Vorstellung von Männern, die das Land ihres Vaters erobern wollten, sie weniger ängstigte als eine Bedrohung ihrer Person durch diesen fremden Eindringling.

Und damit auch ihres Sohnes.

Nun nahm sie Conn wieder auf den Arm und eilte zum Cottage, froh über jeden Tag, den sie nicht ins Kloster musste und mit ihrem Kind zusammen sein konnte.

2. KAPITEL

Sie kannte ihn, zumindest wusste sie von ihm. Dessen war Hugh gewiss.

Er schritt unruhig auf und ab, wobei er sich in dem leeren Vorraum innerhalb der Mauern von Tir’a Brahui befand, der an der Küste gelegenen Burg, die Tiernan Con Connacht gehörte. Da er die Burg nicht im Dunkeln hatte erreichen wollen – man hätte ihn für eine Gefahr halten können, und das wollte er nicht herausfordern –, hatte er im Wald genächtigt. Er hatte tatsächlich sein Pferd und sein Schwert verloren, nicht aber an Räuber, wie er Sorcha erzählt hatte. Er hatte beides gegen verschiedene Vorräte, die er für die lange Reise brauchte, eintauschen müssen, da er über keine nennenswerten Mittel verfügte. Erst letzten Abend hatte er im Licht der untergehenden Sonne überall nach Nahrung gesucht, wobei er den Wunsch unterdrückte, ein Feuer zu machen. Auf ähnliche Weise hatte er auf der Wanderschaft während der vergangenen zwei Monate so manche Nacht zugebracht.

Jetzt am Vormittag durchmaß er den kargen Raum, dessen einziger Schmuck farbige Wandteppiche waren, die aber schon alt und abgenutzt aussahen. Das unbedeutende kleine Königreich, über das Sorchas Vater herrschte, war seinerseits einem höheren Herrscher untertan. Mehr wusste Hugh allerdings nicht über die Machtverhältnisse in dem Land. Er war viel zu sehr damit befasst gewesen herauszufinden, wer er selbst war und wie er den Weg überstehen könnte, als dass er sich mit Politik und den dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den kleineren Königreichen beschäftigen konnte.

Da er nun Irland erreicht hatte, hoffte er, jemanden anzutreffen, an den er sich würde erinnern können. Von Tiernan Con Connacht hatte er bislang keinen vorteilhaften Eindruck gewonnen, und er hoffte, dass nicht irgendeine Beziehung zwischen ihnen bestand. Welcher König ließ es schon zu, dass seine Tochter ungeschützt in den einsamen Grenzbereichen seines Reiches lebte? Hugh konnte sich nicht vorstellen, dass die Frau und ihr Sohn angesichts der normannischen Eindringlinge, die ihm auf den Fersen waren, lange würden überleben können.

Der Gedanke, dass ihr etwas zustoßen könnte, bereitete ihm großes Unbehagen. Tatsächlich fühlte er sich so stark zu ihr hingezogen, dass sie sich nach seinem Dafürhalten bereits begegnet sein mussten. Und doch hatte sie abgestritten, ihn zu kennen. Aber selbst wenn keine Verbindung zwischen ihnen bestehen sollte, so fühlte er dennoch den starken Drang, Sorcha zu beschützen. Lange nach Einbruch der Finsternis hatte er noch daran denken müssen, wie wild entschlossen sie ihr Messer umfasst hatte. Der Krieger in ihm erkannte, dass sie ihren Sohn um jeden Preis beschützen würde. Hugh hatte keinen Zweifel daran, dass sie die Waffe rücksichtslos eingesetzt hätte, wäre er für sie zur Bedrohung geworden.

Hatte er eine Frau zurückgelassen, die sich hingebungsvoll für ihre Familie einsetzte? Noch ganz in diesen Gedanken gefangen, blieb er vor einem ausgeblichenen Wandteppich stehen, auf dem ein Mann und eine Frau dargestellt waren, die ihren Jagdfalken aufsteigen ließen. Zart strich Hugh mit einer Hand über das Gesicht der Frau. Er hatte bis vor Kurzem noch gar nicht daran gedacht, dass er womöglich verheiratet war. Erst als ihm beim Anblick von Sorcha das Blut in Wallung geriet, musste er diese Möglichkeit in Betracht ziehen.

Konnte er wirklich eine Ehefrau und ein Kind vergessen haben?

„Ihr könnt den König nun sprechen“, verkündete ein Mann, und Hugh drehte sich erschrocken herum. Dort stand ein Diener, der ein Gewand in einem lebhaften Rot und Blau trug. Es glich der Kleidung aller anderen in diesem eigenartigen Land.

„Danke.“ Hugh atmete erleichtert aus, hoffte er doch, endlich Antworten zu erhalten, die Aufschluss über seine Herkunft gaben.

Am Eingangstor zu Tir’a Brahui hatte er einen falschen Namen angegeben: Hugh Fitz Henry. Ein durchaus geläufiger Familienname, der immer dann einem Bastard gegeben wurde, wenn die Mutter damit dessen Vater kenntlich machen wollte. Ansonsten wurde der Name Henry zur Ehre eines Königs gewählt, immerhin saß schon seit vielen Jahren ein Regent dieses Namens auf dem englischen Thron.

Bedauerlich war indes, dass Hugh sich besser an den englischen Thron erinnerte als an seinen eigenen Platz in der Welt.

„Folgt mir“, sagte der Diener und entschwand in den Gang, der von einer Fackel erhellt wurde. Da die schmalen Fensteröffnungen des Burgfrieds nur sehr wenig Sonne hereinließen, blieben die Gänge recht dunkel.

Hugh blinzelte, um sich an die schwache Beleuchtung zu gewöhnen, und dachte darüber nach, wie er bei dem bevorstehenden Treffen am besten vorgehen sollte. Er musste sofort auf den König zugehen, um zu sehen, wie dieser sich verhalten würde. Er durfte ihm keine Zeit geben, seine natürliche Reaktion bei seinem Anblick hinter einer Maske zu verbergen.

Vielleicht war der König ein Freund. Was aber, wenn er in irgendeiner Weise etwas mit meiner gegenwärtigen schlimmen Lage zu tun hat? überlegte Hugh. Die schmerzenden Stellen an seinem Kopf, die nur langsam heilten, zeugten unmissverständlich davon, dass jemand ihn überfallen haben musste. War sein Gedächtnisschwund darauf zurückzuführen? Er wusste, dass er durchaus kein Dummkopf war, da er in der Lage war, eine Waffe geschickt zu führen. Zudem hatte er auf der langen Reise nach Irland umsichtig für sein Überleben gesorgt.

„Bitte hierher, Sir.“ Der Diener blieb neben einer geöffneten Tür stehen und trat zurück, um den Besucher vorgehen zu lassen.

Hugh blieb kurz auf der Schwelle stehen. Licht strömte aus dem Raum. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand hing eine Anzahl glänzend polierter und einsatzbereiter Schwerter. Er wappnete sich innerlich für das bevorstehende Zusammentreffen und betrat den Saal.

Wenn er erwartet hatte, einen gekrönten Herrn auf einem hohen Thron zu sehen, so wurde er enttäuscht. An einem Tisch saßen zwölf Männer, doch keiner von ihnen war erhöht platziert. Mit prüfendem Blick betrachtete Hugh die Gesichter. Der Reihe nach sah er sie sich an, dabei hatte er das Gefühl, dass der kostbar gewandete Mann in der Mitte der König sein musste.

Dieser trug an seinem Kragen eine mit Juwelen besetzte Brosche, und der Rubin in der Mitte gehörte zu den Edelsteinen, die nur sehr wenige Lords besaßen. In einem Land, in dem die Farben der Kleidung bedeutsam zu sein schienen, wiesen die Gewänder dieses Mannes die meisten Nuancen auf. Purpur und Gelb wetteiferten mit Grün und Blau. Das Rautenmuster auf seiner Tunika reichte als Zierde offenbar nicht aus, denn Streifen auf seinem karmesinroten Umhang kamen als Blickfang dazu. Jeder andere Ritter an dem Tisch trug einfachere Kleidung.

Hugh war überrascht, dass an diesem Hofe, an dem eine Kleiderhierarchie galt und dem Herrscher beliebig viele Farben zur Verfügung standen, um seine Stellung zu demonstrieren, der König nicht wenigstens am Kopfende der Tafel Platz genommen hatte.

Weiterhin hatte er in dem Gesicht des Burgherrn noch keine Regung wahrgenommen, die den Schluss zugelassen hätte, dass der ihn erkannt hatte. Obwohl Hugh enttäuscht war, wohl auch hier keine Antwort auf die Frage nach seiner eigenen Herkunft zu erhalten, spürte er, dass er sich innerlich entspannen konnte. Er musste nicht vorgeben, jemanden zu kennen, an den er sich nicht erinnerte.

„My Lord.“ Hugh machte eine tiefe Verbeugung. „Ich danke Euch dafür, dass Ihr mich empfangt.“

Insgeheim spürte er, dass Verneigungen nicht zu seiner Natur gehörten. Ein weiterer Hinweis darauf, dass er mehr Zeit im Kampf gegen Feinde verbracht hatte als damit, vor Königen zu kriechen.

„Wenn Ihr hierhergekommen seid, um über Frieden zwischen unseren Ländern zu sprechen, dann seid Ihr der seltsamste Botschafter, den ich je gesehen habe.“ Tiernan Con Connacht, der älteste Mann am Tisch, ergriff das Wort. Die Ritter lauschten ihm. „Ihr gleicht mehr einem Krieger als einem Friedensstifter.“

Die Männer um den König herum schienen geradezu darauf zu warten, jederzeit zu ihren Messern zu greifen.

„Nicht Frieden ist mein Geschäft. Ich bin erschienen, um Euch mit meinem Schwert zu dienen, falls Ihr einen Gefolgsmann braucht.“

Allerdings hatte er ja gar kein Schwert mehr. Auf seiner langen Wegstrecke nach Irland hatte er mit Lords wie auch mit Dieben verhandelt. Mit Kaufleuten und einmal sogar mit einem Kind, das sich durch Naschwerk hatte bestechen lassen, ihm die Waffensammlung seines Vaters zu zeigen. Doch letzten Endes hatte er keine Waffe entwendet, außer einem Dolch. Aber dieser war notwendig gewesen, um sich durchzuschlagen. Wegen all dieser Widrigkeiten war er nur langsam angekommen, aber schließlich hatte er doch Connacht erreicht.

Durch das Angebot, das er Tiernan Con Connacht unterbreitete, gedachte Hugh, sich einen Platz am Hofe zu verschaffen, um die hier lebenden Menschen kennenzulernen und herauszufinden, ob eine Verbindung zwischen ihnen und ihm bestand.

„Ich kann schwerlich glauben, dass Ihr das anbietet, was Ihr gar nicht besitzt.“ Mit scharfem Blick auf Hughs bescheidene Kleidung versuchte der König, ihn einzuschätzen. „Ich habe mit meinem Torwächter gesprochen und erfuhr, dass Ihr außer einem Dolch keine Waffe tragt. Ich wäre wirklich mehr als überrascht, wenn Ihr einem Schwertkämpfer mit einem solchen Messer ernsthaften Schaden zufügen könntet.“

„Ihr wäret erstaunt zu erfahren, was List zu vollbringen vermag, wenn sie sich mit einer solchen Waffe verbündet.“

Jemand am Tisch des Königs ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen.

„Und Ihr glaubt, mir genügt Euer Wort, um Euch diese Geschicklichkeit zuzutrauen?“ Der König zog eine Augenbraue hoch, und da wusste Hugh, dass er nicht weit davon entfernt war, fortgeschickt zu werden.

Er trug keine Kleidung mit Rautenmuster und auch keine Lederschuhe – ein schwerwiegender Nachteil.

„Ich gebe mich damit zufrieden, diese Behauptung zu beweisen.“

Einen Augenblick lang sprach niemand am Tisch. Dann aber brach der König in lautes Gelächter aus.

„Hofft Ihr vielleicht darauf, meine Männer innerhalb meiner Mauern niederzumachen, Normanne? Seid Ihr meiner Feinde letzte Waffe?“

Einer der Gefolgsleute des Königs stand auf. Er hatte seine Hand am Schwert, bereit, es jederzeit zu ziehen.

„Zuvor würde ich jeden Gegner vernichten, mein Gebieter“, schwor der junge Mann, der sich gerade erhoben hatte, und eine aufwallung von Zorn rötete seine Wangen.

„Nicht nötig, Donngal.“ Mit einem Wink bedeutete der König seinem draufgängerischen Ritter, sich wieder zu setzen, wobei er Hugh weiterhin prüfend anschaute. Inzwischen hatte der das Gefühl bekommen, einen Anflug von Aufmerksamkeit oder möglicherweise sogar von Respekt in dem Blick des Königs zu erkennen. „Ich bitte Fergus, die Ehrenpflichten zu übernehmen.“

Mit einem Nicken wandte Tiernan Con Connacht sich an den Mann zu seiner Rechten, was praktisch einem Kampfbefehl gleichkam.

„Ihr müsst wissen, dass Euer Torwächter mein Messer einbehalten hat“, sagte Hugh und blickte den Mann prüfend an, der mit Fergus angesprochen wurde, um seine Körpergröße und die Breite seiner Schultern abzuschätzen.

„Donngal, gib ihm deines.“ Der König trank einen Schluck Ale und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er schien eine spannende Darbietung zu erwarten.

Hugh nahm sich vor, alles zu tun, um ihn nicht zu enttäuschen. Würde er als Gefolgsmann angenommen, erhielt er das Recht zum Verbleib am Königshof. Und dort musste es irgendeinen Hinweis auf seine Vergangenheit geben. Er würde sich das Recht erwerben, sich lange genug in Connacht aufzuhalten, um herauszufinden, warum Lady Sorchas Augen bei ihrem ersten Zusammentreffen aufleuchgeleuchtet hatten.

Donngal, der aufgestanden war, um Hugh zum Kampf herauszufordern, errötete noch stärker, als er seinen Dolch dem Normannen aushändigte.

„Danke.“ Hugh nahm die Waffe des jungen Ritters entgegen, bevor Fergus steifbeinig um den Tisch herum auf ihn zukam.

Ehe der Ritter die Gelegenheit hatte, sich ihm auf zehn Fuß zu nähern, handelte Hugh. Blitzschnell holte er zum Wurf aus und ließ den Dolch aus seiner Hand schnellen, ohne darüber nachzudenken, ob er das notwendige Geschick dafür überhaupt besaß. Die Waffe flog durch die Luft, traf zielgenau eine Stelle unterhalb von Fergus’ Arm und heftete den Stoff seiner Tunika und des Umhangs an die hinter ihm befindliche Wand.

Dadurch wurde der Ritter am Weitergehen gehindert. Das Klirren von Stahl brach sich an den Wänden, als zehn Männer daraufhin ihre Schwerter zogen. Hugh staunte selbst über seine Fertigkeiten – und dankte gleichzeitig allen Heiligen dafür, dass er den Krieger nicht getötet hatte. Jeden Tag hatte er mehr von seinen Talenten entdeckt und fühlte sich inzwischen in seiner Vermutung bestätigt, dass er einst ein kraftvoller und geschickter Ritter gewesen sein musste. Vielleicht sogar ein Heerführer oder ein gewiefter Taktiker.

„Halt!“ Der König hob einen Arm. Ein schwerer und mit zahlreichen Gravuren versehener Goldreif zierte sein Handgelenk. „Donngal, Ihr befreit Fergus und könnt Eure Waffe wieder einstecken. Männer, es ist nicht nötig, unseren unbewaffneten Freund mit Schwertern zu bedrohen.“

Als Donngal Anstalten machte, etwas zu erwidern, ließ Fergus ein drohendes Knurren vernehmen. Das genügte, um den jungen Mann zum Schweigen zu bringen.

„Verlasst uns, meine Freunde“, fuhr der König fort, wobei er seinen Rittern einen entsprechenden Wink gab.

Hugh beobachtete, wie die zehn Männer nacheinander hinausgingen. Einige blickten ihn böse an, andere beachteten ihn kaum. Nur Fergus und der König blieben in dem Raum. Hugh empfand das als gutes Vorzeichen. Wenn er zum Tode bestimmt gewesen wäre, dann hätte der König das Urteil hier und jetzt vor all seinen Männern verkündet.

„Gut gemacht, Sir.“ Die ganze Erscheinung des Königs war nun merklich verändert, als er Hugh näher zu sich heranwinkte. „Ich brauche einen Mann mit Euren Fertigkeiten im Zusammenhang mit meiner Tochter.“

Hugh hatte das Gefühl, als ob ihn eine innere Stimme warnte. Verachtete der König seine verbannte Tochter so sehr, dass er einen Krieger anheuern würde, um …? Er konnte den Gedanken nicht vollenden. Er würde keine Frau verletzen, auch nicht für die großzügigste Belohnung.

„Ich hatte gehofft, an Eurer Seite zu kämpfen, Sire.“ Er neigte respektvoll den Kopf, um mit seiner Bitte keinen Unmut hervorzurufen.

„Ihr habt meine Tochter schon kennengelernt.“

Hugh horchte auf.

„Sie mag verbannt sein, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht über sie wache.“

„Ja, wir haben einige Worte gewechselt“, gab Hugh zu.

„Ihr hättet sie töten können. Oder etwas Schlimmeres mit ihr anstellen können.“

„Ich würde nie einer Frau Schaden zufügen.“

„Genau deshalb eignet Ihr Euch als ihr Beschützer.“

Wer würde eine Prinzessin einem völlig unbekannten Mann anvertrauen?

„Warum beauftragt Ihr nicht einen Eurer Gefolgsleute?“, fragte er und fügte in Gedanken hinzu: warum nicht Fergus?

„Sie wird bislang aus der Ferne beschützt, das muss sich aber ändern. Meine Tochter war jedoch schon immer zu eigensinnig, um meine Wächter in ihrer Nähe zu dulden, auch als sie noch innerhalb meiner Mauern wohnte.“ Das Gesicht des Königs verdüsterte sich. „Einmal hat sie sich aus dem Burgfried weggeschlichen, um mit meinen Männern an einem Feldzug teilzunehmen. Sie ist dabei als Mann verkleidet durch unser halbes Land gezogen, ehe sie sich zu erkennen gab und Fergus darüber informierte, dass sie sich langweilte und wieder nach Hause wollte.“

Fergus stieß ein unfreundliches Grummeln aus und schüttelte in der Erinnerung daran missmutig den Kopf.

„Und ob Ihr es glaubt oder nicht: Sie weigerte sich, bei ihrer Rückkehr seine Begleitung anzunehmen. Immer wieder legte sie es darauf an, ihm zu entfliehen, bis er meine Tochter tatsächlich wie eine Gefangene behandeln musste.“

„Ein verwegenes und unkluges Verhalten von ihr, Sire, aber da sie nun auch Mutter ist …“

„Sie hat mich schändlich hintergangen. Sie ließ sich mit einem Mann ein, den ich bis heute nicht zu Gesicht bekommen habe. Denn sonst läge er jetzt in Stücke gehauen in seinem Grab.“ Der König presste eine behandschuhte Hand an seine Stirn und rief laut nach mehr Ale. „Sorcha ist eine Gefahr für sich selbst und möglicherweise auch für ihren Sohn, der keine Schuld an ihrem Fehltritt trägt. Zum Ende des Sommers will ich sie ins Kloster schicken, vorher nicht, denn ihr Sohn ist jetzt noch zu klein, als dass man ihn von ihr trennen könnte. Ich würde Euch großzügig entlohnen, wenn Ihr Euch bereit erklären würdet, während der nächsten zwei Monate über sie zu wachen. Aber ohne dass sie merkt, dass Ihr ihr Beschützer seid.“

„Und wieso denkt Ihr, dass ich Erfolg haben könnte, da doch die Versuche Eurer Männer fehlschlugen?“ Hugh war mehr als bereit, einen Auftrag zu übernehmen, der ihn in die Nähe der Prinzessin brachte. Denn bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte er an dem Aufblitzen in ihren Augen gesehen, dass sie irgendeine Erinnerung mit ihm verband.

„Ihr habt Euch Eurer Fertigkeiten hinreichend gerühmt. Habt Ihr keine Antwort auf das Angebot, einem reichen König zu dienen?“ Tiernan Con Connacht hielt seinen Becher hoch, als ein Mädchen mit feuerrotem Haar mit einem Krug hereinkam. „Und habt Ihr keine Idee, wie Ihr die Gunst einer Dame gewinnen könnt?“

„Ich bin ein Ritter und nicht irgendein Bänkelsänger, der einer Dame Loblieder singt.“

„Ihr werdet dennoch um sie werben. Darin sehe ich die einzige Chance, dass sie auch wirklich einen anderen Menschen um sich herum akzeptiert.“ Der König nahm einen kräftigen Schluck. „Bietet ihr an, sie überallhin zu begleiten.“

„Aber Ihr schlagt doch sicherlich keine echte Verbindung vor?“

„Natürlich nicht.“ Das Aufflammen in den grünen Augen des Königs ließ erkennen, dass er sich nicht vorstellen wollte, dass irgendein Mann seine verwöhnte Tochter berührte, unabhängig davon, wie sehr er ihren Eigensinn beklagte. „Ihr könnt als wohlhabender Mann von hier scheiden, wenn die Erntezeit kommt und ein Kloster willens ist, Sorcha aufzunehmen. Solange sie von Euch unberührt bleibt und Ihr meiner Tochter den wahren Zweck Eurer Anwesenheit bis dahin nicht offengelegt habt, könnt Ihr Eure Belohnung aus meiner Schatzkammer frei wählen.“

Eine eigensinnige Prinzessin durch die Sommermonate hindurch bewachen, bis er seine eigene Herkunft ergründet hatte? Hugh nahm an, dass bei dieser Aufgabe mit ernsthaften Rückschlägen zu rechnen war und dass der König unter seinen eigenen Männern niemanden hatte finden können, der fähig war, den schwierigen Auftrag zu erledigen. Sicher war davon auszugehen, dass Sorcha alle Ritter ihres Vaters kannte, indes natürlich diejenigen nicht, die neu in seine Dienste traten.

Wie auch immer, er würde jedenfalls als reicher Mann von hier gehen, selbst wenn er sein Gedächtnis nicht wiedererlangen sollte. Er konnte es sich nicht leisten, das Angebot abzulehnen.

„Wieso seid Ihr überzeugt davon, dass sie auf meine Werbung eingehen wird?“ Hugh ließ sich nicht von der irrigen Annahme leiten, er könne auf eine Frau, die als Prinzessin in der Burg Tir’a Brahui aufgewachsen war, in irgendeiner Weise anziehend wirken. Und andererseits würde es sein Stolz nicht zulassen, dass er um die Gunst einer Frau bettelte.

Der König lächelte. „Sie ist schon mehr als ein Jahr in der Verbannung. In der Vergangenheit lehnte sie die Werbung jeden Edelmannes ab. Aber ich glaube, sie könnte jetzt vielleicht zugänglicher sein, da die Anträge um ihre Hand schon vor langer Zeit aufgehört haben.“ Er grinste. „Ich denke, inzwischen würde sie selbst dem Teufel gestatten, sich ihr zu nähern, wenn das zur Folge hätte, dass sie ihren Aufenthaltsort verlassen dürfte.“

Sorcha breitete die Schriftrolle, die sie von ihrem Vater erhalten hatte, auf einem abgenutzten Tisch aus. Es war das erste Schreiben von ihm seit vielen Monaten.

Anfangs hatte sie jegliche Zeile von ihm verbrannt, da sie sich weigerte, auch nur ein einziges Wort zur Kenntnis zu nehmen, das er ihr nach der Verbannung zukommen ließ. Sie zürnte ihm, denn er hatte ihr gar nicht erst zugehört, als sie ihm hatte erklären wollen, warum sie guter Hoffnung war. Er hatte nichts davon wissen wollen, wie schmerzlich sie betrogen worden war, hatte sie doch geglaubt, wirklich verheiratet zu sein. In Wahrheit hatte ein falscher Priester die üblichen Worte gesprochen, um sie mit einem Mann zu verbinden, der, wie sie glaubte, für immer ihr Gemahl sein würde.

Aber die Zeit und ihre Mutterschaft hatte sie weniger ungestüm und voreilig werden lassen. Zwar würde sie es immer noch nicht zulassen, dass ihr Vater oder irgendeiner seiner Männer in ihre Nähe käme, aber die letzten drei Schreiben hatte sie wenigstens gelesen und erst danach ins Feuer geworfen. Sie enthielten keine Vorhaltungen oder Anschuldigungen mehr. Stattdessen hatte er sie wissen lassen, wie es seinen Schafen ging. Des Weiteren schrieb er ihr von den Verhandlungen mit seinen Verbündeten, um gemeinsam den zu erwartenden Ansturm der Normannen abzuwehren. Inzwischen vermisste Sorcha Nachrichten über das Königreich durchaus.

Einst hatte sie ihrem Vater gern vorgelesen. Sie war stolz auf die Erziehung, die er ihr zugestanden hatte, da doch die meisten Frauen ein solches Vorrecht nicht genossen. Ihr Vater hatte ihr sehr viel gegeben, dafür aber auch unbedingte Loyalität verlangt – eine Loyalität, die sie seiner Meinung nach verraten hatte.

Lieber Himmel, sie konnte nicht mehr nur in der Vergangenheit leben! Sorcha starrte auf das Blatt und las:

Tochter,

ich habe Dich in der vergangenen Zeit vor Bewerbern beschützt. Auch in Zukunft werde ich mein Verhalten nicht ändern, wenn Du es wünschst. Es scheint aber, dass Du meinen Rat nicht willst, und demzufolge werde ich ihn auch nicht anbieten. Hugh Fitz Henry, ein Söldner, der auf seiner Wanderschaft bei mir vorgesprochen und seine Dienste angeboten hat, wird heute in Deinem Cottage eintreffen.

Das Schreiben trug als Unterschrift alle Titel ihres Vaters, mit denen er üblicherweise ein offizielles Dokument versah: Herr von diesem, Baron von jenem und so weiter. Mit Schrecken starrte Sorcha auf die wenigen kargen Zeilen. Ihr Vater hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr irgendetwas Nettes zur Aufmunterung zu sagen.

Ein Fremder wollte um sie werben? Ein Söldner. Geringer ging es wohl nicht? Mit Sicherheit glaubte ihr Vater, dass sie einer standesgemäßen Verbindung nicht mehr würdig sei. Es überraschte sie, wie sehr sie das nach all dieser Zeit noch verletzen konnte.

Ihre Augen brannten. Wütend blinzelte sie die Tränen fort, fest entschlossen, so zu leben, wie sie es sich ausgesucht hatte. Sie bereute nichts. Ihr Sohn, der mit seiner Kinderfrau in der Kammer weilte, war ihr größtes Glück. Das wollte sie um jeden Preis erhalten. Doch wie schnell konnte sich das Leben einer Frau mit all ihren Illusionen schlagartig verändern!

Sorcha fühlte sich völlig betäubt und wusste nicht, wie lange sie in dem kleinen Vorraum ihres Cottages gestanden hatte. Sollte sie diesen Bewerber wegschicken, wie sie auch die anderen abgewiesen hatte? Allerdings musste sie sich eingestehen, dass es sich diesmal wohl nicht um ein weiteres Angebot ihres Vaters handelte. Wie konnte er nur schreiben, dass er sie vor den Annäherungsversuchen der Männer hatte beschützen wollen? Ganz im Gegenteil. Doch seine Mitteilung, dass ein Söldner sie aufsuchen werde, ließ darauf schließen, dass er anscheinend nicht mehr damit rechnete, dass sie sich ändern würde.

Konnte das einer seiner Schachzüge sein? Eine Art zu groß geratene Kinderfrau in Verkleidung, die sie ausspionieren sollte? Oder gab er ihr jetzt eine letzte Gelegenheit, bevor er seine Drohung wahr machte, sie in ein Kloster zu stecken?

Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Was war eigentlich aus den Tagen geworden, als sie nur ihrem Herzen folgte und ihren Gefühlen vertraute?

Sorcha sah aus einem der schmalen Fenster und suchte nach Anzeichen für die Anwesenheit von Männern ihres Vaters. Sie entdeckte aber niemanden, sah nur, dass draußen jemand auf der Schwelle stand.

Soweit sie es im Augenblick beurteilen konnte, schien es ein Krieger zu sein. Das Einzige, was sie durch das winzige Fenster zu erkennen vermochte, war der Anblick eines kräftigen Arms, der von einem aufwendig geformten goldenen Reif geschmückt war.

Ein kaum hörbarer Schreckensschrei löste sich aus ihrer Kehle, ehe sie ihren Mund mit der Hand bedeckte und einen Schritt zurücktrat. Bei unserer Lieben Frau! Obwohl Sorcha nicht einmal das Gesicht des Besuchers gesehen hatte, schlug ihr Herz schneller. Dieser Hugh Fitz Henry schien ein sehr kraftvoller Mann zu sein. Noch einmal schlich sie an das Fenster und betrachtete erneut den starken Arm des Mannes, dessen gebräunte Haut sich von dem helleren Gold des Schmuckreifs abhob. Die Enden zeigten zwei Stierköpfe, die wirklich zu jemanden passten, dessen Arme mit Leichtigkeit ein Langschwert führen konnten.

Als es wieder klopfte, steckte Sorcha das Pergament ihres Vaters in einen Lederbeutel, der an ihrem Gürtel hing, und öffnete die Tür.

Ein Mann von imposanter Körpergröße erwartete sie. Er reichte bis an den oberen Türrahmen, und er würde sich bücken müssen, um eintreten zu können. Ein weißes Leinenhemd wirkte in der Frühlingssonne besonders hell und frisch, und die kurzen Ärmel gaben den Blick frei auf die Arme, die sie schon bewundert hatte.

Der Krieger war bei Weitem attraktiver, als sie es von ihrem Zusammentreffen am Waldrand zwei Tage zuvor in Erinnerung hatte.

„Ihr seid es!“ Sorcha konnte ihre Überraschung nicht verbergen.

Der Krieger verbeugte sich, und trotz seiner eindrucksvollen Größe wirkten seine Bewegungen geschmeidig und elegant. Der Blick, mit dem er sie musterte, war alles andere als unterwürfig. Gleichwohl sagte er: „Hugh Fitz Henry, zu Euren Diensten.“

Die Muskeln spielten auf seinem Rücken und an den Schultern, als er sich bewegte, und sein Hemd spannte sich bei der Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, wanderte ihr Blick über seinen gesamten Körper.

Wie kraftvoll er war!

Die schiere Größe unterschied ihn von einem anderen Ritter, den sie einst gekannt hatte und dessen Gesicht in gewisser Weise dem seinen ähnelte. Aber aus der Nähe fand Sorcha Unterschiede, die sie an jenem Tag am Waldrand nicht gesehen hatte.

Diese äußerlichen Abweichungen bedeuteten jedoch nicht, dass die beiden Männer nicht das gleiche schwarze Herz hatten oder dieselbe Meinung über Frauen. Warum sollte dieser Mann ausgerechnet um sie werben – um eine gefallene Frau?

Seine Beweggründe konnten unmöglich ehrenhaft sein.

„Euer Dienst ist hier im höchsten Grade verdächtig, Söldner. Ich schlage vor, dass Ihr zum Burgfried meines Vaters zurückkehrt.“ Damit trat sie einen Schritt zurück und schloss die Tür. Sie war nicht bereit, irgendeinen Gefolgsmann ihres Vaters in ihr Heim zu lassen, wie anziehend seine Erscheinung auch sein mochte.

3. KAPITEL

Der Krieger umfasste die Tür im letzten Moment mit den Fingern und hielt sie geschickt fest.

Die Bewegung war schnell, geräuschlos und unerwartet.

Er drückte die Tür wieder auf, und sein starker Arm wurde immer mehr sichtbar, bis Sorcha schließlich seine ganze eindrucksvolle Länge sehen konnte. Sie fand es ziemlich unverschämt, wie er sich verhielt.

Sie versuchte, ihr Temperament und ihre Beharrlichkeit wiederzubeleben – den starken Eigensinn, den ihr Vater während ihres halben Lebens beklagt hatte –, aber alles, was sie jetzt bei sich feststellte, war mütterliche Besorgnis um ihr Kind, das im Raum nebenan schlief. Sie war nicht willens, irgendeinen fremden Mann in die Nähe ihres Sohnes zu lassen, besonders keinen, der ganz gegen ihre Wünsche seine Kraft einsetzte.

„Vorsicht! Ich habe gerade wieder den Umgang mit meinem Messer geübt, und ich versichere Euch, dass ich es dank Eurer Beratung mit viel größerem Geschick zu führen weiß.“ Um den Eindruck zu bekräftigen, dass sie einen Dolch vor seinem Blick verbarg, hielt sie ihre Hand im Stoff ihres Gewandes verborgen.

„Nein, das kann nicht sein. Ihr habt mit dieser Hand die Tür zugemacht. Oder es wenigstens versucht.“ Er lächelte und ließ die Holztür los. Da er nun seinen starken Arm sinken ließ, fühlte sie sich nicht mehr so eingeschüchtert. Dazu trug auch die Erinnerung an ihr Zusammentreffen am Waldrand bei. Hugh Fitz Henry war geschickt darin, den Eindruck zu erwecken, er würde niemandem Schaden zufügen. Zweifellos hatte er es angesichts seiner Körpergröße für notwendig erachtet, dieses Talent von frühester Jugend an zu entwickeln.

„Ich habe das Messer in die Hand genommen, nachdem ich die Tür geschlossen hatte.“ Täuschungsmanöver waren ihr nicht fremd, wenn die Situation es erforderte.

Obwohl ihre Angst etwas nachgelassen hatte, konnte sie nicht vorsichtig genug sein.

„Lady Sorcha, vielleicht fühlt Ihr Euch draußen etwas ungezwungener?“ Dabei wies er auf ihr kleines Grundstück, auf dem seit dem Winter ein paar wilde Blumen erblüht waren. „Ich möchte nur mit Euch reden, und wenn Ihr meinem Antrag danach immer noch ablehnend gegenübersteht, dann verspreche ich Euch, zu gehen und Euch nicht mehr zu belästigen.“

Oh ja, Männer konnten so entgegenkommend sein, wenn sie wollten, nicht wahr? Sorcha blickte an Hugh vorbei auf das frische Gras und die aufbrechenden Knospen der Bäume. Der Frühling hatte in den letzten Tagen Einzug gehalten, doch die um sie herum erwachende Welt hatte sie kaum beachtet, da die Sorge um ihren Sohn stets im Vordergrund gestanden hatte.

Wäre es denn nun wirklich so gefährlich, mit diesem Mann im Garten zu sitzen, einem Mann, der bereits bewiesen hatte, ihr Wohlergehen nicht zu bedrohen? Seit ihrer Verbannung hatte sie schon lange kein Gespräch mit einer erwachsenen Person geführt, ausgenommen ihre Kinderfrau. Onora hatte sie besuchen wollen, aber Sorcha hatte befürchtet, dass ihre jüngere Schwester dann den Zorn ihres Vaters auf sich gezogen hätte. Daher hatte sie ihr jeden Besuch in ihrem Cottage verboten.

Sicherlich bin ich in der Lage, diesen Ritter auf Abstand zu halten, wenn seine Absichten nicht gewalttätiger Art sind, überlegte Sorcha. Nach ihrem ersten romantischen Zusammentreffen mit einem Mann hatte sie viel zu spät gelernt, dass eine Frau auch die Fähigkeit besaß, Nein zu sagen. Jetzt indes würde sie sich ihre Erfahrung zunutze machen.

„Ich komme gleich wieder zu Euch.“ Sie deutete nach links auf den Garten, der zum Verweilen einlud. „Dort steht eine Bank. Ich werde uns etwas Met holen.“

Den Kopf zurückgelegt, stieß Hugh ein kurzes, lautes Lachen aus.

„Und garantiert auch einen Dolch.“ Er nickte kurz und schritt hinaus in den Garten. Ihre Absicht hatte er offensichtlich unschwer erkannt.

War ihr Gesichtsausdruck während ihrer Abwesenheit vom Hofe so gut deutbar geworden, dass selbst ein Ritter mit ungehobelten Manieren sie auf Anhieb durchschaute? Offenbar war sie nach der langen Zeit ohne jede Gesellschaft genauso unbeholfen und ungehobelt wie er.

Vielleicht sollte sie Hugh Fitz Henry doch nicht einfach wegschicken, ohne etwas mehr nachzudenken. Unterhaltung würde ihr vielleicht guttun. Sie könnte ihre brachliegenden Fähigkeiten üben und ihren lange nicht geforderten Geist schärfen. Wenn sie überhaupt noch Hoffnung hatte, ihrem Vater den Klosteraufenthalt ausreden zu können, dann würde sie eine geschmeidige Zunge und einen scharfen Verstand brauchen.

Sorcha befestigte einen Dolch mit Scheide an ihrem Strumpfband, anschließend suchte sie in der Küche eilig nach einem Tablett. Jetzt brauchte sie noch einen Krug mit süßem Met. Dazu frisch gebackenes Honigbrot. Nicht zu vergessen zwei Trinkgefäße. Als sie alles beisammen und auf das Tablett getan hatte, trug sie es in den Garten und stellte es auf die Bank.

Hugh war nirgends zu sehen.

Hatte sie ihn schon in die Flucht geschlagen? Vielleicht war eine Frau, die ihn mit einem Dolch bedrohte, nicht das gewesen, was er sich von einer Werbung erhofft hatte. Zu ihrer Überraschung merkte Sorcha einen stechenden Schmerz der Enttäuschung und war im Begriff, das Tablett wieder aufzuheben, als sie das Rascheln von Zweigen und das Knacken von Holz hörte.

„Sir?“ Sorcha sah sich überall im Garten um und blickte dann zum angrenzenden Wald. Sie entdeckte nichts.

Erst als sie nach oben blickte.

Dort saß Hugh Fitz Henry in einem Baum. Mit seinem großen Körper balancierte er auf einem dicken Ast herum. Mit einer Hand hielt er sich eng an den Eichenstamm gepresst, mit der anderen langte er nach einem schwarz-weißen Knäuel. Es war das acht Wochen alte Kätzchen ihres Sohnes.

„Oh!“ Schnell lief Sorcha zum Baum und stellte sich darunter; sie hatte Angst, das Tier könnte herunterfallen. „Das waghalsige kleine Ding! Es ist noch so winzig, und trotzdem klettert es hoch hinauf ins Geäst.“

Sorcha hielt ihren Rock weit nach vorn, um das Tierchen aufzufangen, sollte es seinen unsicheren Halt verlieren und fallen. Conn wäre untröstlich, wenn seinem kleinen Freund etwas zustoßen würde.

Aber Hugh reckte sich um eine Handbreit weiter und konnte das Kätzchen, das erbärmlich miaute, fassen. Sorcha spürte, wie eine Welle der Erleichterung sie überlief. Zwar waren noch andere Kätzchen aus dem Wurf da, aber dieses kleine Wesen war für ihren Sohn etwas ganz Besonderes. Und daher auch für sie.

„Danke.“ Sorcha wartete ungeduldig darauf, dass Hugh herunterkam. Schließlich nahm sie das Tier in Empfang, als der Ritter nur noch ein paar Fuß über dem Erdboden war. „Ihr habt ein Unglück abgewendet, Sir, und ich weiß das sehr zu würdigen.“

Sie setzte das miauende Etwas sanft auf den Boden.

Hugh sprang behände wie ein junger Schildknappe auf den Boden, obwohl sein Gesichtsausdruck kaum dem eines Jungen glich.

„Ihr solltet darauf achten, Eure Beine nicht zu entblößen, Mylady.“ Seine Stimme hatte einen grollenden Unterton, der sie mitten in der glücklichen Wiedervereinigung mit dem Kätzchen überraschte.

Und dann fiel ihr ein, dass sie ihre Röcke hochgehoben hatte. „Die Kleider einer Frau sind glücklicherweise so beschaffen, dass sie auf eine Stoffschicht verzichten kann, ohne – irgendetwas zu entblößen.“

„Ihr vergesst, dass Männer sich auch mit geringer Ermunterung die Form und Beschaffenheit weiblicher Oberschenkel vorstellen können.“ Damit stürmte Hugh an ihr vorbei, geradewegs auf den Metkrug zu, füllte einen Becher, leerte ihn rasch und ordnete dann seine Kleidung.

Und erhaschte einen Blick auf seine Schenkel!

Ein verlockender Anblick, der sich in ihr Gedächtnis brannte.

Hitzeschübe durchfuhren sie wie ein Sommerfieber, obwohl sie gar kein Recht hatte, sich etwas so – Körperliches an diesem kühnen und ungewöhnlichen Krieger vorzustellen. Rasch wandte sie ihre Augen ab, obschon sie nichts Unschickliches wirklich gesehen hatte.

Trotzdem war sie erregt – und unzufrieden mit sich selbst. Hatte sie diesen Mann etwa in seiner Meinung bestärkt, dass sie lose Moralbegriffe hatte? Bewusst hielt Sorcha Abstand von Hugh, als er sich neben das Tablett mit Brot und Met auf die Bank setzte. Sein missbilligender Gesichtsausdruck hätte sie beinahe zurück ins Haus getrieben. Hugh blieb jedoch auf seinem Platz sitzen, füllte seinen Becher zum zweiten Mal.

Der Mann besaß die Fähigkeit, sich zurückhalten zu können, wenn die Anspannung, die sich in seiner Kieferpartie zeigte, überhaupt einen Schluss darauf zuließ. Das sprach durchaus für ihn.

Trotzdem … wie sollte sie weiter verfahren? Sorcha hatte wirklich die Absicht gehabt, ihre Gesprächsführung zu schärfen und auf ihre Umgangsformen zu achten. Nun aber stand sie hier, sprachlos und mit einem im höchsten Maße unbehaglichen Gefühl.

Es half nichts, dass ihre Überlegungen inzwischen um angenehm Vertrauliches, wenn auch zugleich Beunruhigendes kreisten, wie dies offenbar bei Hugh Fitz Henry ähnlich der Fall war. Wie konnten die Gedanken einer Frau aber überhaupt rein bleiben, wenn ein Mann es nicht lassen konnte, über die Form ihrer … Beine zu sprechen?

„Verzeiht mir, dass i...

Autor

Joanne Rock
Joanne Rock hat sich schon in der Schule Liebesgeschichten ausgedacht, um ihre beste Freundin zu unterhalten. Die Mädchen waren selbst die Stars dieser Abenteuer, die sich um die Schule und die Jungs, die sie gerade mochten, drehten. Joanne Rock gibt zu, dass ihre Geschichten damals eher dem Leben einer Barbie...
Mehr erfahren
Suzanne Barclay
Mehr erfahren