Historical Gold Band 251

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Im Bann des irischen Kriegers von Willingham, Michelle
Bebend löst sich Brenna aus den Armen Quin MacEgans. Der starke irische Krieger weckt Gefühle in ihr, denen sie niemals nachgeben darf! Wenn sie den Pfad der Leidenschaft beschreitet, wird sie womöglich eine Hure wie ihre verhasste Mutter. Nein, Brenna will nur einen Mann heiraten, für den sie kein Verlangen verspürt! Und trotzdem fühlt sie sich in Quins Nähe immer wieder versucht, die Grenze zu überschreiten …

Eroberung und Verführung von Milan, Courtney
Wie sehr verachtet Lady Margaret den künftigen Duke of Parford! Dieser Emporkömmling, der Parford Manor für sich beansprucht, will ihre Familie ruinieren. Verkleidet als Hausmädchen wird sie ihn ausspionieren und sein Vorhaben vereiteln. Doch sein Lächeln bezaubert sie, in seinen Armen schmilzt sie dahin. Bald muss ihr Herz sich entscheiden - für die Familie oder den Mann, der ihr alles nehmen will …


  • Erscheinungstag 24.06.2012
  • Bandnummer 251
  • ISBN / Artikelnummer 9783864946639
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Courtney Milan, Michelle Willingham

HISTORICAL GOLD 251

Danksagung

Beim Verfassen dieses Buches bekam ich viel Unterstützung.

Aus dem Gespräch, das ich mit Tessa über die Ehe geführt habe, entstand das zentrale Thema dieses Buches; Tessa, Amy und Leigh besprachen mit mir eines kalten Morgens in Vail die Grundlagen, und die Northwest Pixies suchten bei einem freitagabendlichen Brainstorming nach einem Titel (Darcy Burke wurde schließlich fündig). Ohne Kristin Nelson, meine wunderbare Agentin, hätte ich überhaupt nichts zustande gebracht, und auch die drei anderen Agenturangestellten Sara, Anita und Lindsay waren unentbehrlich. Meine Lektorin Margo Lipschultz brachte mich dazu, für dieses Buch mein Bestes zu geben, und das Team von Harlequin Books hat bei der Herstellung des Buches und dem tollen Cover wieder einmal hervorragende Arbeit geleistet.

Die Vanettes, die Pixies, Destination Debut und The Loop that Must Not Be Named – ohne euch alle hätte ich durchgedreht.

Das wunderbare Personal von Montacute House beantwortete zahllose merkwürdige und dumme Fragen. Darren hat sich nach Kräften bemüht, mein entsetzliches Latein zu korrigieren. Franzeca Drouin hat wie immer weitaus mehr getan, als nur ihre Pflicht zu erfüllen. Elyssa Papa ist immer noch meine liebste Zweitleserin, und bei allem anderen verlasse ich mich meist auf Kim Castillo.

Schließlich möchte ich meinem Mann dafür danken, dass er sich Passagen des Manuskripts hat vorlesen lassen, ohne dabei das Gesicht zu verziehen, und meinem Hund dafür, dass er sich geduldig zu meinen Füßen zusammengerollt hat, wenn ich keine Zeit hatte, mit ihm Gassi zu gehen.

Bei der Katze bedanke ich mich nicht; ich habe immer noch Narben.

Für Mom, die immer fest daran geglaubt hat, dass ich alles schaffen kann, trotz zahlloser Gegenbeweise.

1. KAPITEL

Somerset, August 1837

So also fühlte es sich an, ein siegreicher Held zu sein.

Ash Turner – einst schlicht Mr Turner, nun, solange die Angelegenheit im Oberhaus in der Schwebe war, der zukünftige Duke of Parford – lehnte sich im Sattel zurück, als er den Kamm des Hügels erreicht hatte.

Das Landgut, das er erben würde, lag vor ihm im Tal. Die Hügelkuppe, auf der er mit seinem Pferd stand, bot Ausblick auf sanft geschwungene grüne Sommerwiesen, die von Steinmauern und Hecken gleichsam in einen Flickenteppich unterteilt wurden. Am Straßenrand stand ein kleines Cottage. Er konnte das gedämpfte Flüstern der Bauernkinder hören, die nach draußen gekommen waren und ihn mit großen Augen anstarrten.

Im Laufe der letzten paar Monate hatte er sich daran gewöhnt, angestarrt zu werden.

Hinter ihm kam das Pferd seines Bruders stampfend zum Stehen. Von oben blickten sie hinab auf Parford Manor, ein eindrucksvolles vierstöckiges, fünfflügeliges Gebäude, dessen Fenster im Sonnenlicht glitzerten. Zweifellos hatte jemand einen Dienstboten beauftragt, nach Ash Ausschau zu halten. In ein paar Augenblicken würde das Personal auf die Vordertreppe treten und sich in Positur stellen, um den Mann zu empfangen, der ihr neuer Dienstherr werden sollte.

Den Mann, der eine Herzogswürde geraubt hatte.

Ein Lächeln huschte über Ashs Gesicht. Wenn er das Erbe erst einmal angetreten hatte, würde ihn niemand mehr aufhalten können.

„Du brauchst das nicht zu tun“, drang es von hinten an sein Ohr.

Niemand könnte ihn mehr aufhalten, außer seinem kleinen Bruder, um genau zu sein.

Ash drehte sich im Sattel um. Mark hatte das Gesicht nach vorn gewandt, zu dem Herrenhaus unter ihnen. Er wirkte versonnen. Diese abgeklärte Konzentration ließ ihn uralt wirken, als fehlte nur noch der Bart eines Dorfältesten, um seine unerklärliche Weisheit zu unterstreichen, und gleichzeitig sah er unglaublich jung aus.

„Es ist einfach nicht richtig.“ Marks Stimme war bei dem Wind, der an Ashs Kragen zerrte, kaum zu hören.

Mark war sieben Jahre jünger als Ash, womit er in den Augen der Mehrheit als erwachsen galt. Aber trotz aller Erfahrungen, die er schon gemacht hatte, war es Mark irgendwie gelungen, sich einen Anschein beinahe schmerzlicher Reinheit zu bewahren. Er war Ashs Gegenteil – blond, während Ash dunkles Haar hatte, schlank, wohingegen Ash von jahrelanger harter Arbeit breite Schultern bekommen hatte. Vor allem aber wirkte Mark von Grund auf unschuldig, während Ash sich abgestumpft und verbraucht vorkam. Vielleicht war das auch der Grund, warum er als der Ältere in diesem siegreichen Augenblick seine moralischen Beweggründe nicht näher unter die Lupe nehmen wollte.

Ash schüttelte den Kopf. „Du hast mich gebeten, dir für die letzten Sommerwochen ein Haus auf dem Land zu suchen, damit du Ruhe zum Arbeiten hast.“ Er breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben. „Na bitte. Hier hast du es.“

Unten im Tal begannen die Dienstboten sich zu sammeln und auf der breiten Eingangstreppe Stellung zu beziehen.

Mark zuckte mit den Schultern, als ließe ihn dieser offensichtliche Wohlstand völlig kalt. „Ein Haus in Shepton Mallet hätte es auch getan.“

Ashs Magen verkrampfte sich. „Du gehst nicht nach Shepton Mallet zurück. Nie wieder gehst du dorthin. Glaubst du etwa, ich würde dich am Market Cross einfach aus der Kutsche werfen und dich den ganzen Sommer dir selbst überlassen?“

Da löste Mark endlich den Blick von dem Anwesen vor sich und sah Ash in die Augen. „Selbst du mit deinen hohen Anforderungen musst zugeben, dass das ein bisschen zu viel des Guten ist.“

„Meinst du, ich würde keinen guten Herzog abgeben? Oder billigst du die Methode nicht, mit der ich mir eine Sommereinladung ins herzogliche Herrenhaus verschafft habe?“

Mark schüttelte den Kopf. „Ich brauche das nicht. Wir brauchen es nicht.“

Und darin lag Ashs Problem. Er wollte seinen Bruder für sämtliche Entbehrungen entschädigen, die dieser in der Kindheit erlitten hatte. Er wollte jede entgangene Mahlzeit mit einem zwölfgängigen Dinner ausgleichen, tausend Paar Handschuhe schenken für jeden Winter ohne Schuhe. Unter Einsatz seines Lebens hatte er ein Vermögen aufgebaut, nur um seine Brüder glücklich zu machen. Und dann erklärten die beiden, sie seien mit ein paar schlichten Annehmlichkeiten durchaus zufrieden.

Schlichte Annehmlichkeiten würden Ashs Versagen nicht wiedergutmachen können. Daher hatte er es vielleicht ein wenig übertrieben, als Mark ihn endlich einmal um einen Gefallen gebeten hatte.

„In Shepton Mallet wäre es ruhig gewesen“, sagte Mark beinahe sehnsüchtig.

„Shepton Mallet ist so gut wie ausgestorben.“ Ash schnalzte seinem Pferd gerade in dem Augenblick, als der Wind sich legte. Das Geräusch, das als leiser Ansporn gedacht war, klang nun unangemessen laut. Das Pferd setzte sich Hügel abwärts Richtung Herrenhaus in Bewegung.

Mark spornte seine Stute zum Trab an und folgte seinem Bruder.

„Du hast die Sache nicht zu Ende gedacht“, erklärte Ash, über die Schulter gewandt. „Wenn Richard und Edmund Dalrymple nicht länger erben können, stehst du als Erbe der Herzogswürde an vierter Stelle. Das bringt eine Menge Vorteile mit sich. Es könnten sich allerlei Gelegenheiten bieten.“

„So würdest du also umschreiben, was du im letzten Jahr getan hast? Dass sie ‚nicht länger erben können‘?“

Ash ignorierte diese Spitze. „Du bist jung. Du bist attraktiv. Bestimmt gibt es in Somerset viele hübsche Milchmädchen, die entzückt wären, einen Mann kennenzulernen, der so kurz vor der Herzogswürde steht wie du.“

Kurz vor dem Tor zum Park zügelte Mark sein Pferd. Ash verspürte leisen Ärger ob dieser Verzögerung, doch auch er brachte sein Pferd zum Stehen.

„Sprich es aus“, verlangte Mark. „Sag, was du den Dalrymples angetan hast. Du hast diese Sache von Anfang an immer nur schöngeredet. Wenn du nicht einmal fertigbringst, es in Worte zu fassen, hättest du es niemals tun dürfen.“

„Himmel. Du redest ja, als hätte ich sie umgebracht.“

Doch Mark sah ihn nur an. Seine blauen Augen glühten. In dieser Stimmung und während die Sonne sein blondes Haar zum Leuchten brachte, wäre Ash nicht überrascht gewesen, wenn sein Bruder ein flammendes Schwert aus der Satteltasche gezogen und ihn für immer aus dem Garten Eden verbannt hätte. „Sprich es aus“, wiederholte Mark.

Außerdem bat sein kleiner Bruder ihn so selten um irgendetwas. Ash hätte Mark alles gegeben, was dieser sich wünschte, solange er es sich … nun ja, wünschte.

„Also schön.“ Er sah seinem Bruder in die Augen. „Ich habe dem Kirchengericht Beweise vorgelegt, dass der Duke of Parford bereits verheiratet war, als er sich mit seiner zweiten Frau vermählte, diese zweite Ehe also ungültig ist. Die Kinder, die dieser Ehe entsprossen, wurden für illegitim und erbunwürdig erklärt. Woraufhin der verhasste entfernte Vetter des Dukes – ich also – zum mutmaßlichen Erben wurde.“ Ash setzte sein Pferd wieder in Bewegung. „Ich habe den Dalrymples überhaupt nichts angetan. Ich habe nur ans Licht gebracht, was ihr eigener Vater ihnen vor langen Jahren angetan hat.“

Und dafür würde er sich nicht entschuldigen.

Mark schnaubte und spornte sein Pferd an. „Du hättest es nicht tun müssen.“

Doch, das hatte er. Ash glaubte nicht an Vorhersagen und spirituellen Hokuspokus, aber hin und wieder hatte er gewisse … Vorahnungen, auch wenn das Wort einen okkulten Beigeschmack hatte, der ihm nicht behagte. Besser vielleicht, man charakterisierte es als Gespür, als verriete ihm ein Naturtrieb tief im Innersten Wahrheiten, welche die menschliche Intelligenz, stumpf geworden durch die Zivilisation, nicht erkennen konnte.

Als er das von Parford herausgefunden hatte, war ihm mit überdeutlicher Gewissheit klar geworden: Wenn ich der neue Duke of Parford werde, kann ich meine Brüder endlich aus dem Gefängnis befreien, das sie für sich errichtet haben.

Sobald dies in der Waagschale lag, konnte es durch keinerlei moralische Bedenken mehr aufgewogen worden. Die enterbten Dalrymples hatten keine Bedeutung. Außerdem, was hatten Richard und Edmund seinen Brüdern nicht alles angetan? Also wirklich! Er vergoss keine Träne über deren Verlust.

Die Dienstboten hatten sich inzwischen versammelt und hielten sich kerzengerade, während Ash die Auffahrt hinauftrabte. Sie waren zu gut geschult, um ihn anzustarren, zu höflich, um eine feindselige Haltung einzunehmen. Höchstwahrscheinlich legten sie zu viel Wert auf ihren Lohn, sodass sie höchstens hinter vorgehaltener Hand über den Emporkömmling nörgelten, den ihnen das Gericht aufgezwungen hatte.

Lang würde es nicht dauern, bis sie ihn ins Herz geschlossen hätten. Das taten schließlich alle.

„Wer weiß?“, sagte er leise. „Vielleicht gefällt dir eines der Dienstmädchen. Du kannst haben, wen du willst.“

Mark warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Hebe dich, Satan, von mir!“, sagte er und schüttelte den Kopf.

Ashs Pferd kam zum Stehen, und er stieg langsam ab. Das Herrenhaus wirkte kleiner, als Ash es in Erinnerung hatte, und die honiggelbe Fassade machte keineswegs einen düsteren und einschüchternden Eindruck, sondern sah warm und freundlich aus. Das Haus hatte nichts mehr von der uneinnehmbaren Festung, die Ashs Erinnerungen jahrelang verdüstert hatte. Es war einfach nur ein Haus. Zugegeben, ein ziemlich großes Haus, aber nicht das dunkle, bedrohliche Gebäude, das ihn nicht mehr losgelassen hatte.

Die Dienstboten hatten sich ordentlich vor ihm aufgereiht. Ash nahm sie in Augenschein.

Nach seiner Schätzung standen über hundert Angestellte vor ihm, alle in Grau gekleidet. Ihm war ebenso nüchtern zumute, wie sie aussahen. Diese Leute waren jetzt von ihm abhängig – beziehungsweise würden es sein, wenn der gegenwärtige Duke verstarb. Er war für sie verantwortlich. Ihr Wohlergehen hing ab von seinen Launen, genau, wie das seine einmal abhängig gewesen war von Parfords Launen. Es war eine große Verantwortung.

Ich werde es besser machen als dieser alte Mistkerl.

Es war ein Schwur, und es war ihm ebenso ernst damit wie mit dem letzten Versprechen, das er beim Anblick dieses alten Gemäuers gemacht hatte.

Er wandte sich dem Butler zu, um ihn zu begrüßen. Der Dienstbote tat einen Schritt nach vorn, und in diesem Augenblick sah er sie. Sie stand auf der obersten Treppenstufe, ein paar Zoll abseits von den anderen Angestellten. Sie hatte den Kopf hoch erhoben. Der Wind frischte auf, als hätte das gesamte Universum bis zu diesem Moment den Atem angehalten. Sie blickte ihn direkt an, und Ash hatte das Gefühl, als täte sich in seiner Brust ein riesiger Hohlraum auf.

Er hatte die Frau nie zuvor gesehen. Das war einfach nicht möglich, denn er hätte sich daran erinnert, wie ihr Anblick sich anfühlte, wie richtig sie sich anfühlte. Sie war hübsch, selbst wenn ihr Haar streng nach hinten gekämmt und unter dem weißen Spitzenhäubchen zu einem Knoten aufgesteckt war. Doch es war nicht ihr Äußeres, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Ash hatte genug schöne Frauen zu sehen bekommen. Vielleicht waren es ihre Augen, die ihn so streng fixierten, als wäre er die Ursache allen Übels auf dieser Welt. Es mochte auch daran liegen, wie sie das Kinn reckte, so unnachgiebig, so entschlossen, während all die anderen Gesichter ringsum Unsicherheit verrieten. Was es auch war, irgendetwas an ihr brachte tief in ihm eine Saite zum Erklingen.

Es erinnerte ihn an die Misstöne, die ein Orchester beim Stimmen der Instrumente verursachte: Dissonanz, die sich ganz plötzlich in Harmonie auflöste. Oder an das leise Grollen, mit dem sich ein Gewitter am Horizont ankündigte. An all das. Und doch an nichts von alledem. Es war reiner Instinkt, der ihn urplötzlich gepackt hielt. Sie. Sie.

Bisher hatte Ash seine Instinkte noch nie ignoriert – kein einziges Mal. Der Butler kam auf ihn zu, und er schluckte hart.

„Eines noch“, flüsterte er seinem Bruder zu. „Die Frau in der letzten Reihe, ganz rechts – die gehört mir.“

Bevor sein Bruder ihm einen strengen Blick zuzuwerfen oder Ash das prickelnde Gefühl unterdrücken konnte, das durch seine Adern rann, stand der Butler vor ihnen, verneigte sich und stellte sich vor. Ash atmete tief durch und konzentrierte sich auf den Mann.

„Mr … ich meine, My…“ Der Mann hielt inne, offensichtlich unsicher, wie er Ash anreden sollte. Da der Herzog noch am Leben war, war Ash einfach ein entfernter Vetter ohne eigenen Titel. Andererseits war er als Erbe des Herzogtitels zu ihnen gekommen, auf ausdrückliche Anordnung eines Gerichts. Ash konnte sich denken, was in dem Butler vorging: Sollte er riskieren, den Mann zu beleidigen, der möglicherweise sein nächster Dienstherr wurde? Oder sollte er sich streng an die Etikette halten?

Ash warf die Zügel einem Stallburschen zu. „Sie können mich einfach Mr Turner nennen. Es besteht keinerlei Anlass, sich Sorgen darüber zu machen, wie Sie mich ansprechen müssen. Ich weiß ja selbst kaum, wie ich mich nennen soll.“

Der Mann nickte, und seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. „Mr Turner, wünschen Sie zuerst eine Führung durch das Haus, oder möchten Sie und Ihr Bruder zunächst einen kleinen Imbiss einnehmen?“

Ashs Blick wanderte zu der Frau in der letzten Reihe. Sie begegnete seinem Blick. Ihre Miene wirkte unerbittlich, und ein merkwürdiger Schauer überlief ihn. Er empfand nicht direkt Lust, eher eine Vorahnung von Begehren, als raunte ihm der Wind, der an seinem Krawattentuch zerrte, leise ins Ohr: Nimm sie. Sie.

„Viel Glück“, brummte Mark. „Ich habe nicht den Eindruck, als könnte sie dich besonders gut leiden.“

Das hatte Ash bereits aus der Art geschlossen, wie sie das Kinn reckte.

„Keinen Imbiss“, sagte Ash laut. „Keine Verzögerung. Ich möchte alles wissen, je eher, desto besser. Ich werde auch mit Parford reden müssen. Am besten fange ich so an, wie ich weiterzumachen gedenke.“ Er warf der Frau einen letzten Blick zu und sah dann zu seinem Bruder. „Schließlich liebe ich die Herausforderung.“

Von ihrem Standort oben auf der kalten Steintreppe konnte Anna Margaret Dalrymple nur wenig von den beiden Herren erkennen, die sich dem Haus hoch zu Ross näherten. Doch was sie sah, verhieß für ihre Zukunft nichts Gutes.

Ash Turner war sowohl größer als auch jünger, als sie erwartet hatte. Margaret hatte eher mit einem übertrieben unmännlichen und peinlich prunkvollen Auftritt gerechnet, etwa dass er in einer juwelenbesetzten Kutsche mit Achtergespann vorfuhr, wie es seinem Ruf als Nabob entsprochen hätte. Der Mann, der ihr alles genommen hatte, hätte eine bucklige Gestalt mit Glatze und höhnisch grinsender Fratze sein müssen.

Doch dieser Mann saß mit der Anmut und Lässigkeit eines geübten Reiters auf seinem Pferd, und weit und breit war kein einziger protziger Edelstein auszumachen.

Verflixt.

Als Mr Turner näher trabte, hielten die Dienstboten – es fiel ihr schwer, sie als ihr Gleichgestellte zu betrachten, nachdem sie so lange ihr gedient hatten – den Atem an. Kein Wunder. Dieser Mann hatte durch seine ruchlosen Machenschaften ihren Bruder verdrängt, den rechtmäßigen Erben. Wenn Richard bei seinem Versuch scheiterte, die Kinder des Duke of Parford durch das Parlament legitimieren zu lassen, würde Mr Turner hier der neue Herr sein. Und wenn ihr Vater starb, wäre Margaret ein heimatloser Bastard.

Behände stieg der Eindringling vom Pferd und warf die Zügel einem Stallburschen zu, der herankam, um ihn zu begrüßen. Während er ein paar Worte mit dem Butler wechselte, spürte sie die Unruhe ringsum, die durch das allgemeine Füßescharren und unsichere Händereiben nur noch verstärkt wurde. Was für ein Mensch war er?

Sein Blick umfasste sie alle, hart und streng. Einen Augenblick ruhte er auf Margaret. Natürlich bildete sie sich das nur ein – ein reicher Kaufmann, der hergekommen war, um sein Erbe zu inspizieren, würde sich kaum für eine Dienstbotin interessieren, die ein formloses graues Gewand trug und ihr Haar unter einem strengen Häubchen versteckt hatte. Doch es schien, als blickte er ihr direkt ins Herz, als könnte er jeden einzelnen Tag der letzten schmerzhaften Monate sehen. Es war, als könnte er den schwachen Widerhall der Dame erkennen, die sie einst gewesen war. Ihr Herz tat einen schweren Schlag.

Sie hatte sich darauf verlassen, dass sie in dieser Verkleidung unsichtbar für ihn wäre.

Doch dann ließ er seinen Blick weiterwandern, als wäre sie im breiten Strom seines Lebens nur ein kleiner Wirbel gewesen, und begutachtete den Rest der Dienstboten. Das Zimmermädchen neben ihr hielt den Atem an. Margaret wünschte sich, er würde endlich zum Ende kommen und dann etwas Ekelhaftes sagen, damit sie ihn alle hassen konnten.

Doch er lächelte. Es wirkte ungezwungen, freundlich, und er strahlte eine solche Fröhlichkeit aus, dass Margaret sich nun gerade ärgerte. Gelassen streifte er die schwarzen Reithandschuhe ab und begann zu sprechen.

„Dieses Haus“, sagte er mit ruhiger, tragender Stimme, „macht einen hervorragenden Eindruck. Man sieht gleich, dass das Personal zum Besten von England gehört.“

Margaret beobachtete, wie die Wirkung dieser Worte wellengleich durch die versammelte Menge lief. Die Leute richteten sich gerader auf, entspannten sich. Hände wurden entkrampft. Jedermann beugte sich ein Stück in seine Richtung, als wäre zwischen düsteren Wolken die Sonne aufgeblitzt.

Wieder einmal hatte er ihr etwas genommen, einfach so. Diesmal waren es das Vertrauen und die Unterstützung ihrer altgedienten Hausangestellten.

Mr Turner schien diese Grausamkeit gar nicht bewusst zu sein.

Er zog den Reitrock aus, offenbarte dabei breite, gerade Schultern – Schultern, die sich eigentlich unter der Last seiner eigenen Schurkerei hätten krümmen sollen. Schließlich wandte er sich wieder an den Butler. Er tat ganz so, als würde er sich nicht auf das Land der Parfords stehlen, als hätte er dem Gericht nicht erst vor wenigen Wochen das Recht abgerungen, hierher zu kommen und sich ein Bild von der, wie er es ausgedrückt hatte, wirtschaftlichen Verschwendung zu machen.

Smith, der Verräter, schien sich in seiner Gegenwart schon recht wohlzufühlen.

Margaret hatte angenommen, dass das Personal ihr gehörte. Nach all den Jahren, in denen sie mit ihrer Mutter das Haus geführt hatte, hatte sie geglaubt, sie seien in ihrer Loyalität nicht zu erschüttern.

Doch Smith nickte zustimmend, nachdem Mr Turner etwas zu ihm gesagt hatte. Langsam drehte sich der Butler um – ihr alter, treuer Butler, der ihrer Familie schon in sechster Generation diente – und sah in ihre Richtung. Er streckte die Hand aus, und Mr Turner schaute zu ihr hoch. Diesmal blieb sein Blick auf ihr haften. Ein Windstoß peitschte ihr die Röcke um die Beine, als hätte die Intensität seines Blicks eine Sturmböe ausgelöst.

Sie hörte nicht, was Smith sagte, aber sie konnte sich vorstellen, wie er in seiner nüchternen Art erklärte: „Das da drüben ist Anna Margaret Dalrymple, die Tochter Seiner Gnaden. Sie ist in Parford geblieben, um ihren Brüdern zu berichten, was Sie hier alles treiben. Oh, und sie gibt sich als die Pflegerin des alten Herzogs aus, weil sie befürchten, Sie könnten den Mann umbringen, um die Nachfolge in Ihrem Sinne zu regeln.“

Mr Turner legte den Kopf zur Seite und sah blinzelnd zu ihr hoch, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Er wusste, wer sie war, er musste es wissen, sonst würde er sie nicht so anschauen. Und er würde nicht auf sie zukommen, geschmeidig wie ein Tiger. Nun konnte sie das windzerzauste Haar sehen, sein kräftiges Kinn. Als er noch näher kam, vermochte sie sogar die Fältchen um seinen Mund auszumachen, die sein Lächeln dort hinterlassen hatte.

Es schien vollkommen verkehrt, dass ein so schrecklicher Mensch so attraktiv sein sollte.

Mr Turner baute sich vor ihr auf. Margaret hob das Kinn, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, und wünschte sich, sie wäre ein wenig größer.

Er sah sie an und wirkte dabei leicht verwirrt. „Miss?“, fragte er schließlich.

Smith kam ebenfalls hinzu und stellte sich neben Margaret. „Ah ja. Mr Turner, das ist Miss …“ Er hielt inne und sah sie an, und in diesem Augenblick platzte die Blase des Verrats; sie erkannte, dass er ihr Geheimnis nicht verraten hatte. Ash Turner wusste nicht, wer sie war.

„Miss Lowell.“ Sie dachte sogar daran, zu knicksen und den Kopf zu senken, wie es einer Dienstbotin anstand. „Miss Margaret Lowell.“

„Sie sind Parfords Pflegerin?“

Pflegerin, Tochter. Bei seiner Krankheit lief es auf dasselbe hinaus. Sie war der einzige Schutz, den ihr Vater vor diesem Mann hatte, da ihre Brüder vor dem Parlament um ihr Erbe kämpften. Ruhig begegnete sie Mr Turners Blick. „Ja.“

„Ich möchte ihn gern sprechen. Smith sagt, Sie seien sehr streng, was die Einhaltung des Tagesplans beträfe. Wann würde es Sie denn am wenigsten stören?“

Er schenkte ihr ein umwerfendes, strahlendes Lächeln, das sich anfühlte, als hätte er eben die Tür zur Brennkammer des Küchenherds geöffnet. Auch wenn sie ihn ganz und gar nicht leiden konnte, war es ihr unmöglich, sich seiner Wirkung zu entziehen. So also war es diesem Mann, der kaum älter war als sie selbst, gelungen, derart schnell ein Vermögen zusammenzuraffen. Selbst sie hätte am liebsten Haltung angenommen und sich bemüht, ihm zu Gefallen zu sein, damit er ihr noch einmal dieses Lächeln schenkte.

Stattdessen sah sie ihn unerbittlich an. „Ich bin nicht streng.“ Sie richtete sich noch ein Stück auf. „Streng legt nahe, dass etwas unnötig ist, aber ich versichere Ihnen, dass meine Pflege durchaus nötig ist. Seine Gnaden ist alt. Er ist krank. Er ist schwach, und ich dulde keinen Unsinn. Ich lasse nicht zu, dass er gestört wird, nur weil irgendein alberner Herr es anordnet.“

Mr Turners Lächeln wurde noch breiter. „Genau“, sagte er. „Sagen Sie, Miss …“, er hielt kurz inne und senkte ein Lid zu einem trägen Zwinkern, „… Miss Margaret Lowell, reden Sie immer so mit Ihren neuen Dienstherren, oder ist das eine Ausnahme, die Sie nur mir angedeihen lassen?“

„Solange Parford am Leben ist, sind Sie nicht mein Dienstherr. Und wenn er …“ Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, und ihre Lunge brannte, als sie daran dachte, an welchem Grab sie zuletzt gestanden hatte.

Reiß dich zusammen, schalt sich Margaret im Stillen, sonst errät er noch vor heute Abend, wer du wirklich bist.

Sie räusperte sich und sagte bedächtig: „Und wenn er nicht mehr ist, werden Sie meine Dienste wohl kaum benötigen. Es sei denn, Sie haben vor, selbst bettlägerig zu werden. Liegt das denn im Bereich des Wahrscheinlichen?“

„Ungestüm und auch noch intelligent.“ Er stieß einen leisen Seufzer aus. „Wenn ich im Bett liege, werde ich Ihre Dienste vermutlich nicht benötigen. Zumindest nicht als Pflegerin. Daher haben Sie vollkommen recht.“

Seine Wimpern waren unverschämt dicht. Sie beschatteten seine Augen, die so dunkel waren, dass sie die Pupillen nicht ausmachen konnte. Es dauerte einen Moment, ehe ihr klar wurde, dass seine Bemerkung weit über einen harmlosen Flirt hinausging. Smith hüstelte unbehaglich. Er hatte das Ganze mitbekommen, angefangen vom unglücklichen Kompliment bis zur unanständigen Anzüglichkeit. Wie entsetzlich. Wie entmutigend.

Und dennoch nistete sich die Vorstellung ungebeten bei ihr ein – Mr Turner, wie er sich ohne all die Lagen dunkelblauer Wolle und makellosen Leinens golden von den weißen Laken abhob. Er lag auf der Seite, und sein strahlendes Lächeln galt nur ihr.

Wie verlockend.

Margaret presste die Lippen aufeinander und stellte sich vor, wie sie den Nachttopf über seinem nackten Leib ausleerte. Endlich eine Vorstellung, die ihr ein gewisses Maß an Befriedigung schenkte.

Er beugte sich vor. „Sagen Sie, Miss Lowell, ist Parford einer kleinen Unterhaltung gewachsen? Sie können mich ins Zimmer begleiten und darüber wachen, dass ich ihn nicht zu sehr aufrege.“

„Vorhin war er recht munter.“ Tatsächlich hatte ihr Vater betont, dass er diesen Teufel Turner gleich nach dessen Ankunft zu sehen wünschte. „Ich schaue nach, ob er wach ist und mit Ihnen sprechen will.“

Sie wandte sich ab, doch er griff nach ihrem Handgelenk. Widerstrebend drehte sie sich noch einmal um. Seine nackte Hand fühlte sich warm an auf ihrer Haut. Sie wünschte, er hätte seine Handschuhe nicht abgelegt. Sein Griff war nicht fest, aber er war stark.

„Eine letzte Frage.“ Sein Blick suchte den ihren. „Warum hat der Butler vorhin gezögert, ehe er Ihren Namen genannt hat?“

Ihr war das auch aufgefallen. Unter den gegebenen Umständen gab es nichts als die Wahrheit.

„Weil“, erklärte sie seufzend, „ich unehelich geboren bin. Niemand weiß so genau, welchen Namen ich tragen sollte.“

„Wie? Keine Familie? Niemand, der für Sie einsteht und Ihren Ruf schützt? Keine Brüder, die unerwünschte Verehrer fernhalten?“ Seine Finger fassten ihr Handgelenk fester, sein Blick huschte kurz zu ihrem Dekolleté, ehe er ihr Gesicht wiederfand. „Also, das ist aber eine Schande.“ Er lächelte sie noch einmal an, als wollte er sagen, dass dies keineswegs eine Schande sei, zumindest nicht für ihn.

Und dieses Lächeln, dieses verflixte Lächeln. Nach all dem, was er ihr angetan hatte, glaubte er, er könne einfach hier hereinmarschieren und sie mit in sein Bett nehmen?

Doch er seufzte und ließ ihre Hand los. „Eine schreckliche Schande. Für mich ist es Ehrensache, mich wehrlosen Frauen niemals aufzudrängen.“

Beinahe traurig schüttelte er den Kopf, drehte sich um und winkte. Der junge Mann, der mit ihm gekommen war, stieg daraufhin die Treppe hinauf.

„Ah, ja“, sagte er. „Miss Lowell, gestatten Sie, dass ich Ihnen meinen kleinen Bruder vorstelle, Mr Mark Turner. Er begleitet mich in diesem schönen Sommer aufs Land, damit er genügend Ruhe hat, um das philosophische Traktat abzuschließen, an dem er gerade arbeitet.“

„Eigentlich ist es nicht direkt ein philosophisches Traktat.“

Im Gegensatz zu seinem Bruder war Mark Turner recht schmächtig – nicht dünn, aber drahtig und sehnig. Er war ein paar Zoll kleiner als sein älterer Bruder, und sein Aussehen stand in scharfem Kontrast zu dessen gebräuntem Teint und dem dunklen Haar, denn er war blass und blond.

„Mark, das ist Miss Lowell, Parfords Pflegerin. Zweifellos braucht sie all ihre Geduld für den alten Misanthropen, sei also nett zu ihr.“ Turner grinste, als hätte er etwas sehr Witziges geäußert.

Mark Turner schien sich nicht darüber zu wundern, dass sein Bruder ihm eine Dienstbotin vorgestellt hatte. Er sah den Älteren nur an und schüttelte langsam den Kopf, wie um ihn zu tadeln.

Ash Turner streckte die Hand aus und zauste ihm das Haar. Mark quittierte diese Berührung nicht mit einem finsteren Blick, wie es ein Jüngling getan hätte, der den Erwachsenen nur spielte; er sonnte sich auch nicht in dieser Berührung wie ein Kind, das von seinem älteren Bruder bemerkt wird. Er konnte nicht viel älter sein als vierundzwanzig, so alt wie Margarets zweitältester Bruder. Und doch stand er da und betrachtete seinen Bruder mit ruhigem, alterslosem Blick.

Es wirkte, als hätten sie mithilfe dieser Gesten ein langes Gespräch geführt. Und Margaret verachtete den älteren Turner nur noch mehr, als sie die offensichtliche Zuneigung zwischen den Brüdern bemerkte. Er hätte nicht so attraktiv sein dürfen. Nicht so menschlich. Er hätte überhaupt keine guten Eigenschaften besitzen dürfen.

Eines jedoch war sicher: Ash Turner würde sich als verdammtes Ärgernis erweisen.

2. KAPITEL

Turner erwies sich auch weiterhin als Ärgernis, als Margaret ihn die breite Treppe zum Krankenzimmer ihres Vaters hinaufführte. Zuerst sagte er nichts. Stattdessen nahm er alles mit der lässigen Miene des künftigen Besitzers in Augenschein, zunächst die steinerne Treppe, dann die Porträts in der oberen Galerie. Was sie in seinem Blick sah, war jedoch nicht Begehrlichkeit, das hätte sie ihm noch verzeihen können. Aber er war ein Eindringling auf Parford Manor, und er sah sich mit dem blasierten Blick eines Käufers um – auf der Suche nach Makeln, als wollte er um jeden Preis vermeiden, ein Kompliment zu machen, weil das den Preis zu sehr in die Höhe treiben könnte.

Er schaute aus den Bleiglasfenstern. „Hübsch gelegen“, meinte er.

Hübsch gelegen. Parford Manor war Mittelpunkt eines großen Anwesens – fünfzig Morgen Parkland in einer der bezauberndsten Hügelgegenden Englands, umgeben von Pachtbauernhöfen. Der Park war das Lebenswerk ihrer Mutter, ein lebendiges Denkmal für eine Frau, die jetzt schon in der Erinnerung der Leute verblasste. Und er fand, das Anwesen sei schlicht „hübsch gelegen“?

Er war ein Rüpel.

„Gut erhalten“, sagte er, als sie an einem Gobelin vorbeikamen.

Sie verdrehte die Augen, was er glücklicherweise nicht sehen konnte, da sie vor ihm ging.

„Allerdings müsste hier einiges modernisiert werden.“

Margaret blieb stocksteif stehen, wagte nicht einmal, in seine Richtung zu sehen. Er holte auf und drehte sich zu ihr.

„Finden Sie nicht? All die dunklen Holztäfelungen unten. Das sollte man rausreißen und die Wände hell tapezieren.“ Er deutete nach oben auf die Decke der Galerie. „Neue Kronleuchter. Himmel, abends im Winter ist es hier bestimmt stockfinster. Was meinen Sie?“

Er war absolut unerträglich. „Die Galerie wurde vor einem Jahrzehnt von der Herzogin persönlich renoviert. Ich möchte meinen Geschmack wirklich nur ungern an einer so kultivierten Empfindsamkeit messen.“

Er runzelte die Stirn. „Aber Sie haben doch sicher eine Meinung dazu?“

„Gewiss. Und ich habe ihr, glaube ich, soeben Ausdruck verliehen.“

In ihrem Ton lag eine Spur Bitterkeit, und er warf ihr einen überraschten Blick zu. Natürlich – eine Pflegerin würde sich niemals so offen und unverblümt ausdrücken. Jedenfalls nicht gegenüber dem Erben einer Herzogswürde. Nicht einmal einem reichen Kaufmann gegenüber, der ihr Geschick in seinen zu großen Händen hielt.

Aber er sagte nur: „Aha. Ich bin also ein Rüpel, wenn ich Veränderungen überhaupt in Betracht ziehe. Ich glaube gern, dass ich mich gegen viele Traditionen stelle. Aber doch nur, um etwas zu verbessern, Miss Lowell. Nur um etwas zu verbessern.“

Margarets Leben war sicher nicht besser geworden, seit er sie zum unehelichen Kind gemacht hatte. Das jedoch konnte sie nicht sagen. Stattdessen seufzte sie. „Sind Sie Dienstboten gegenüber immer so redselig?“

„Nur wenn sie hübsch sind.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu und grinste. „Hübsch und intelligent.“

Ihr Herz tat einen Satz, ehe Margaret sich anschickte weiterzugehen. Die Galerie hinunter und in den dahinterliegenden Flur. Vor einer breiten Tür blieb sie stehen. „Wir betreten jetzt ein Krankenzimmer, daher möchte ich Sie bitten, Ihre Tändelei einzustellen. Seiner Gnaden geht es nicht gut.“

Turner schüttelte den Kopf, plötzlich ernst geworden. „Bedauerlich. Ich hätte ihn lieber gesund und munter in seinem Arbeitszimmer gesehen. Einen Invaliden zu besiegen bringt wenig Ehre.“

Margaret legte die Hand auf den Türgriff aus Messing. Sie konnte Turner nicht ansehen, weil sie befürchtete, er würde an ihrer starren Miene die Wahrheit ablesen. Schwer wog das Medaillon ihrer Mutter, das an der Kette um ihren Hals hing, sehr schwer. „Haben Sie es deswegen getan? Haben Sie deshalb die dreißig Jahre währende Ehe des Herzogs und der Herzogin wegen Bigamie für ungültig erklären lassen, ihre unschuldigen Kinder damit zu Bastarden gemacht und enterben lassen?“ Ihre Stimme bebte. „Sie behaupten, Sie hätten zu viel Ehre, um sich einer Frau ohne Familie aufzudrängen, aber ein Mann braucht nur über einen Herzogtitel zu verfügen, um sich das Recht herauszunehmen, ihn zu … zu besiegen?

Hinter ihr war es lange still. „Sind Sie Ihren Dienstherren gegenüber immer so redselig? Ich hätte eigentlich gedacht, dass die Dalrymples Ihnen das gleich von Anfang an ausgetrieben hätten. Und, nein, Miss Lowell, ich würde den verkommenen Nachwuchs Ihres Dienstherrn nicht als unschuldig bezeichnen.“

Margaret schloss die Augen. Sie war also verkommen? Womit hatte sie es nur verdient, dass ein Mann, den sie an diesem Tag zum ersten Mal gesehen hatte, sie derart beleidigte. „Ich habe der Herzogin gedient, als sie krank war.“ Das stimmte; sie hatte beinahe alle wachen Stunden im Krankenzimmer ihrer Mutter verbracht. „In den letzten Jahren war sie nie sonderlich gesund gewesen, aber als Sie aller Welt erklärt hatten, ihr Ehemann sei ein Bigamist und sie selbst habe die letzten dreißig Jahre praktisch als eine Ehebrecherin gelebt, haben Sie sie zerstört. Sie hat jeden Lebenswillen verloren. Ein paar Monate später war sie tot. Sie jetzt so lässig über die Umstände reden zu hören, die letztlich zu ihrem Tod geführt haben, ist absolut widerlich.“

Turner antwortete nicht, worauf sie sich zu ihm umdrehte. Er hatte die Lippen zusammengepresst und betrachtete sie ernst. Er sah aus, als hörte er ihr tatsächlich zu, als hätte sie etwas Wichtiges zu sagen. Vielleicht war das der Grund, warum sie fortfuhr.

„Nicht Sie waren derjenige, der sie drängen musste, etwas zu essen. Sie haben nicht zusehen müssen, wie das Licht in ihren Augen schwächer wurde und dann erlosch. Ihr Männer seht nie, welche Folgen euer Handeln nach sich zieht. Für euch zählt nur, dass ihr am Ende den Titel und den Besitz einsackt. Das ist gewiss nicht ehrenhaft.“

Wieder folgte eine längere Pause. „Sie haben völlig recht“, sagte er schließlich. „Es war nicht ehrenhaft. Es war Rache. Ich bezweifle, dass Sie die komplexen Familienverhältnisse verstehen. Aber zumindest lag es nicht in meiner Absicht, der Herzogin den Tod zu bringen. Parford hingegen …“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Ich glaube nicht, dass Parford dasselbe von meiner Schwester sagen könnte, wenn Sie ihn zu dieser Sache befragen würden. Und was diese nichtsnutzigen Knaben angeht, die er seine Söhne nennt? Ehrlich gesagt, nach dem, was sie meinen Brüdern in Eton angetan haben, hätte ich ihnen noch viel Schlimmeres gewünscht.“

„Richard und seine Freunde müssen aber schon ziemlich grässlich gewesen sein, wenn Sie damit den Verlust des Titels rechtfertigen.“

„Richard? Sie nennen den ehemaligen Marquess of Winchester beim Vornamen?“

Statt darauf zu antworten, öffnete Margaret entschlossen die Tür. „Seine Gnaden wartet.“

Turner warf ihr einen letzten forschenden Blick zu. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, während er sie nachdenklich betrachtete. Ihm war doch bestimmt klar, was dieser kleine Versprecher zu bedeuten hatte. Aber er schüttelte nur den Kopf und ging ins Zimmer. Sie folgte ihm.

Im Laufe der letzten Monate hatte Margaret zu verbergen gelernt, wie sehr sie der Anblick ihres Vaters entsetzte. Natürlich wusste sie, dass er krank war. Doch in den Intervallen zwischen den Besuchen – und wenn es nur eine Stunde war – vergaß sie immer wieder aufs Neue, wie dünn und gebrechlich er in seinem Bett lag. Das Bild, das sie von ihm hatte, war das eines gesunden, robusten Mannes, überlebensgroß und unergründlicher als der Himmel. Diese Erinnerung haftete in ihrem Gedächtnis und ließ sich von etwas so Trivialem wie dem Wandel der Zeit nicht vertreiben. In ihrem Herzen blieb er immer derselbe. Ihr Vater war größer als sie, stärker als sie, beängstigender als sie.

Die Wirklichkeit war grausam gewesen. Er war zu einem bloßen Schatten seiner selbst geworden, der gleichwohl mit derselben Hartnäckigkeit am Leben festhielt, mit der er nun aufrecht im Bett saß. Eigentlich hätte er sich hinlegen sollen.

„Parford“, sagte Turner. Er steckte die Hände in die Taschen und starrte den alten Mann finster an. All seine muntere Redseligkeit war verschwunden. Düster und still stand er da und blickte zum Bett. Diese starre Haltung wollte gar nicht zu seinem lockeren Verhalten passen, das er eben gegenüber einer vermeintlichen Dienstbotin gezeigt hatte.

Träge hob ihr Vater den Kopf und sah ihn an. „Turner.“

Der starrte ihn lange an, wandte sich dann ab und betrachtete ein Becken auf einem Tisch in der Nähe. Als ihn das nicht länger fesseln konnte, wanderte sein Blick weiter zu einer Ansammlung von Medizin in braunen Apothekerfläschchen.

Er nahm eine in die Hand und drehte sie um. „Tja. Die ausgefeilte Ansprache, die ich all die Jahre aufgespart habe, scheint auf einmal doch zu groß für diesen Raum.“

„Ach, nun reißen Sie sich mal am Riemen und seien Sie ein Mann. Worauf in Gottes weiter Welt warten Sie denn?“ Der scharfe, autoritäre Ton ihres Vaters ging Margaret durch Mark und Bein. „Bringen Sie es einfach hinter sich, Turner. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und lassen Sie mich dann schlafen.“

„Es kommt mir unfair vor, mich vor einer Vogelscheuche in Bettlaken in meinem Triumph zu sonnen.“ Turner stellte das Laudanum ab und blickte zum Bett. „Aber Sie wollen es wohl nicht anders, wie?“

Ihr Vater stieß ein enerviertes Seufzen aus. „Nun machen Sie doch endlich, Turner. Mit mir geht es zu Ende. Ich habe keine Lust, meine letzten Tage damit zu verbringen, Ihnen dabei zuzuschauen, wie Sie zaudern und die Hände ringen. Wir wissen doch beide, wie das hier weitergehen soll – Auge um Auge. Erwarten Sie von mir, dass ich Sie anflehe, wie Sie mich einst angefleht haben?“

Margaret hatte keine Ahnung, wovon ihr Vater redete.

Doch Turner wusste offenbar Bescheid, denn seine Miene verfinsterte sich. „Sie machen eine Farce aus alledem.“

„Ihr Text geht anders“, fuhr Parford ihn an. „Sie müssen mir meine eigenen Worte vorwerfen. Was habe ich zu dem verwahrlosten Kind gesagt, das mich damals besucht hat? Ach ja: ‚Wir haben genauso viel gemeinsam wie die Königin mit einem Schweinezüchter.‘ Ich habe doch Schweinezüchter gesagt, oder?“

„Sie sagten Bergmann. Und damals hat noch König George regiert.“

„Verdammt. Meine Erinnerung ist löchrig wie ein Sieb. Trotzdem, Sie sind vom Text abgewichen. Hier stehen Sie nun und sind der Erbe des Herzogtitels trotz all meiner gegenteiligen Bemühungen. Wollen Sie mir das nicht unter die Nase reiben? Würde das Ihre Rachsucht befriedigen? Oder würden Sie mir lieber einen Dolch ins Herz stoßen und mein Blut trinken?“

Turner biss die Zähne zusammen und griff nach einem Säckchen, das an seiner Taille hing. Bei der plötzlichen Bewegung schrak Margaret zusammen, und sie sprang mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, um zu verhindern …

„Entspann dich, Mädchen“, brummte ihr Vater. „Was glaubst du wohl, was er in seinem Säckchen haben könnte? Den kleinsten Degen der Welt?“

Nur kurz sah Turner sie an, zog dann etwas aus dem Säckchen und warf es dem alten Mann hin. „Hier. Das gehört Ihnen.“

Es landete im Schoß des Herzogs, und mit einem Mal versiegte der Strom von harten Worten. Er starrte darauf und schloss dann die Hand darum. „Ein Sixpencestück? O nein! Jetzt haben Sie sich aber an mir gerächt!“

Das gesamte Gespräch war Margaret vollkommen schleierhaft.

Jene Sixpence“, erklärte Turner grimmig. „Als ich zu Ihnen kam und Sie darum bat zu intervenieren, haben Sie mir die Münze ins Gesicht geworfen und mir gesagt, das Einzige, was ich mit Ihrem Segen nehmen könnte, sei ein Bad. Meine Schwester starb, meine Brüder …“ Er schüttelte den Kopf. „Damals habe Ihnen ja gesagt, ich würde dafür sorgen, dass es Ihnen noch leidtut. Und hier bin ich.“

„Meinen Glückwunsch. Sie haben einen Herzogtitel gestohlen. Wieso sollte mir das etwas ausmachen?“

„Sie haben ihn selbst gestohlen. An mir liegt es nicht, dass Ihre Kinder unehelich sind. Dafür sind einzig und allein Sie selbst verantwortlich, weil Sie sich sicher waren, dass Ihre erste Ehe nie ans Licht kommen würde. Und nun ernten Sie die gerechte Strafe dafür.“

Margarets Vater lehnte sich zurück in die Kissen. „Ich? Strafe? Wohl kaum. Ich bin der Herzog – und das werde ich auch bleiben, bis ich sterbe, was hoffentlich bald der Fall sein wird.“ Er gähnte herzhaft. „Sobald ich in die nächste Welt hinübergewechselt habe, wird es mich wohl kaum noch interessieren, was in dieser Welt aus meinen erbärmlichen Bastarden wird.“ Er schloss die Augen.

Margarets Rücken verkrampfte sich vor Anspannung. Sie krallte die Hände in den Stuck hinter sich. Ihr Vater war auch früher nicht liebevoll mit ihnen umgegangen. Dennoch hatte sie immer geglaubt, dass er sie mochte, wenn auch nur auf seine autokratische Art. Bei seinen Worten wäre sie am liebsten mit der Wand verschmolzen und verschwunden. Ihr Haar, das zu diesem schrecklichen Knoten aufgesteckt war, riss an ihrer Kopfhaut.

Aber ihr Vater beachtete sie gar nicht. „Sie scheinen unter dem Eindruck zu stehen, dass ich mir etwas aus den Bälgern mache, die ich mit diesem bleichen Ding gezeugt habe, das ich als meine Braut ausgeben musste. Da täuschen Sie sich jedoch.“

Das „bleiche Ding“ war Margarets Mutter gewesen – lieb und sanft, warm und liebevoll. Man hatte sie vor kaum sechs Monaten unter die Erde gebracht. Margaret blickte starr geradeaus, die Hände verkrampft.

„Und wenn Sie mich jetzt genug beschimpft haben, möchte ich Sie bitten zu gehen. Sie langweilen mich.“ Ihr Vater lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

Turner starrte ihn noch ein paar Augenblicke mit zusammengebissenen Zähnen an. Schließlich verließ er nach einem letzten Blick auf Margaret den Raum. Sie schloss die Tür hinter ihm und drehte sich zu ihrem Vater um. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, als schliefe er. Das bezweifelte sie jedoch. Unschlüssig beobachtete sie, wie sich sein Brustkorb beim Atmen pfeifend hob und senkte; sie wusste nicht, was sie glauben sollte.

Was, in aller Welt, hatte Mr Turner mit seinen Worten gemeint? Dies war offenbar nicht das erste Mal gewesen, dass die beiden miteinander geredet hatten. Hinter der ganzen Angelegenheit steckte mehr als eine für ungültig erklärte Ehe und ein gierig nach dem Titel greifender Verwandter, aber Margaret hatte keine Ahnung, worum es dabei gehen mochte. Wichtiger noch hatte ihr Vater die unfreundlichen Worte nur zum Schein geäußert, damit Mr Turner glaubte, dass er sich nichts aus seinen Kindern machte, um sie vor seiner Rache zu schützen? Oder hatte er schlicht gesagt, was er dachte?

Als spürte er ihre Fragen, schlug ihr Vater die Augen auf. Anscheinend sah er ihr an, wie verletzt sie war, denn er stieß angewidert die Luft aus. „Ach, Himmel noch mal, Anna. Du bist schon ein Mädchen und unehelich geboren. Wenn du jetzt noch anfängst zu heulen, bist du dreifach nutzlos.“

Doch Margaret hatte keine Tränen mehr. Sie hatte sie schon vor Monaten vergossen, auch wenn es nichts geholfen hatte. Nun legte sich Schamesröte über ihre Haut wie ein brennendes Netz. Während der letzten Monate war ihr alles genommen worden: ihr Name, als herauskam, dass Lady Anna Margaret Dalrymple ein Bastard war. Ihre Mitgift, als das Gericht entschied, dass sie als uneheliches Kind keinerlei Anspruch auf das Erbe ihrer Mutter hatte.

Margaret atmete tief durch. Man hatte ihr alles weggenommen. Geblieben war ihr nur ihr wahres Selbst. Es ruhte tief in ihr wie ein stachliger kleiner Ball.

„Möchtest du einen Schluck Gerstenwasser?“, fragte sie unbewegt.

Vielleicht legte ihr Vater ihr diese ruhige Frage als Schwäche aus, denn er verzog verächtlich die Lippen. Er verstand es nicht. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht auf dem Absatz kehrtzumachen und aus dem Raum zu laufen. Denn in einem hatte Mr Turner recht gehabt: Es war selbstsüchtig von ihrem Vater gewesen – absolut und unglaublich selbstsüchtig –, ihre Mutter anzulügen, so zu tun, als heiratete er sie, und Kinder mit ihr zu zeugen, von denen er wusste, dass sie ihn nicht beerben konnten.

„Nicht schon wieder das lauwarme Gesöff“, warnte er sie.

Das Gerstenwasser war lauwarm, aber sie hatte nicht die Absicht, jemanden ins Eishaus zu schicken. In ihrer gegenwärtigen Verkleidung als einfache Pflegerin hätte sie am Ende noch selbst dorthin gehen müssen. Sie goss das Wasser ein, wie es war, ein winziger Akt des Aufbegehrens, ein Beweis, dass sie tief im Innersten immer noch Lady Anna Margaret war. Sie war keine namenlose Dienerin in einem großen Haus, die man nach Belieben herumkommandieren konnte.

Sie beugte sich über den Duke of Parford und hielt ihm das Glas an die Lippen.

„Pfui Teufel“, protestierte er, worauf ihm das Wasser am Kinn hinuntertropfte.

Aber er trank, und sie tupfte ihm das Rinnsal mit einem Taschentuch vom Kinn.

Ein argloser Künstler hätte dieses Tableau möglicherweise mit Vater und Tochter tituliert. Vielleicht hätte er die feine Struktur des Taschentuchs einfangen können, mit dem sie ihrem Vater das Gesicht abtupfte, die Hand, die sie ihm tröstend auf die Schulter gelegt hatte. Gut möglich, dass er jedes Detail wahrgenommen und auf seinem Bild als Gesten der Liebe interpretiert hätte.

Doch das waren sie nicht, nicht mehr. Margaret hatte ihren Vater einmal geliebt. Vielleicht liebte sie ihn noch. Aber derzeit konnte sie in sich keine Spur von diesem Gefühl entdecken. Was war noch da?

Pflichtgefühl. Ehre. Dankbarkeit. Vielleicht nur der perverse Wunsch, ihrem Vater zu zeigen: Siehst du? So macht man das, wenn man seine Familie nicht verraten will. Sie würde es ihm zeigen. Denn sie brauchte nicht als Adelige angesehen zu werden, um Adel des Herzens zu zeigen.

Wenn ihr alles andere geraubt worden war, blieb ihr zumindest das.

Ash verließ Parfords Krankenzimmer, nur um festzustellen, dass draußen eine Abordnung Dienstboten auf ihn lauerte. Die Haushälterin, eine Mrs Benedict, stellte sich ihm vor. Sie war in Begleitung von Mr Smith, dem Butler, und einem Mr Dunridge, offenbar der Gutsverwalter. Nach schöner alter Sitte sollte Ash nun herumgeführt werden und sein Erbe bewundern.

Es fiel ihm nicht schwer, gebührende Begeisterung zu zeigen. Parford Manor war ein wunderschön gepflegtes Haus. Man sah, dass darin gelebt wurde, ohne dass es einen heruntergekommenen Eindruck machte. Selbst die Parkettböden waren von einer zurückhaltenden Schönheit; sie zeigten jenen matten Schimmer, wie man ihn nur mit jahrzehntelanger guter Pflege und Bienenwachs erzielte.

Das Herrenhaus ist sogar noch älter als jenes lang zurückliegende Familienzerwürfnis zwischen den Turners und den Dalrymples, überlegte er, als er hinaus in den Barockgarten geführt wurde. Der Rasen war grün und elastisch unter seinem Tritt und zeigte eine robuste Gesundheit, die ebenfalls von jahrzehntelanger Sorgfalt kündete.

Sein Urahn war vor einigen Jahrhunderten hier Herr gewesen. Der Mann war vielleicht auf ebendiesem Weg entlanggeschlendert, um genau dieselbe mit Stechpalmen bewachsene Ecke gebogen und hatte dann den gemächlich dahinfließenden Fluss dahinter gesehen.

Diese lange Tradition wirkte ein wenig einschüchternd. Als er klein gewesen war, hatte sein Vater ihm von seinen vornehmen Verwandten erzählt, als machte diese uralte Familiengeschichte etwas Besonderes aus ihm, als wäre er dadurch interessanter als die anderen Fabrikbesitzerkinder. Aber jener glückliche Zufall, diese vornehme Herkunft, all das hatte den Turners nicht viel Gutes gebracht. Es hatte sie weder genährt noch mit Kleidern versehen. Vermögen waren verdient und dann in unbekümmerten Gesten wahnsinniger Wohltätigkeit wieder hinausgeworfen worden.

Nun stand Ash kurz davor, den Herzogtitel zu erben. Er hatte sich geschworen, dass er für jene sorgen würde, die von ihm abhingen – für alle, angefangen mit Mrs Benedict, die ständig innehielt, um das Häubchen festzustecken, das ihr immer wieder vom Kopf rutschte, bis zur geringsten Küchenmagd, die sich in der Spülküche über einen Kupferkessel beugte.

Parford hatte die Sache natürlich ganz falsch verstanden.

Ja, zuerst hatte er an Rache gedacht. Aber der Gedanke an eiskalte Rache war der harten Realität gewichen. Es hatte keinen Sinn, sich auf einen Handel Auge um Auge einzulassen, wenn er seine Brüder stattdessen durch den Handel mit Rubinen versorgen konnte.

All das lag in einer fernen Vergangenheit. Das Familienzerwürfnis datierte etwa auf die Zeit zurück, in der die mächtigen Ulmen an der westlichen Auffahrt gepflanzt worden waren. Ashs Vorfahr, ein jüngerer Sohn, hatte die Tochter eines reichen Handwerkers aus finanziellen Gründen geheiratet. Zum Ausgleich für das Vermögen hatte er den Namen Turner angenommen – was die übrigen Dalrymples sehr erbost hatte, sahen sie diesen Akt doch als Verrat an. Viel Zeit war seither verflossen. Die Ulmen reichten nun fast bis in den Himmel. Das ursprüngliche Turner-Vermögen war dahingeschwunden, ehe Ash ein neues Vermögen aufhäufte. Und dennoch hatte der alte Streit bittere Spuren hinterlassen, die immer noch schmerzten.

Nein, Ash wollte sich nicht einfach nur rächen. Er wollte auch für seine Familie sorgen. Bis zu diesem Morgen hatte er allerdings nur an seine Brüder und sein Geschäft gedacht. Ihm war nicht klar gewesen, wie viele Pflichten er erben würde.

Die allerdings nicht alle unangenehm waren. Man denke nur an Miss Lowell.

Miss Lowell war eine überraschend und entzückend widersprüchliche junge Frau. Sie war intelligent, ungestüm und loyal. Sie sah aus, als wäre sie an all den richtigen Stellen weich, aber wenn es um Menschen ging, an denen sie hing, konnte sie knallhart werden. Sie wirkte eindrucksvoll, und Ash mochte eindrucksvolle Frauen.

Und sie war geheimnisvoll. Ash würde es genießen, jeden einzelnen Hinweis zu entschlüsseln, bis er die nackten Tatsachen aufgedeckt hatte. In jeder Hinsicht.

Die Gruppe ging am Fluss entlang zum Herrenhaus zurück. Dort angekommen, verabschiedeten sich der Verwalter und der Butler. Mrs Benedict öffnete die Tür zum verglasten Wintergarten, wo sich Eimer mit Rosenablegern und Topfpflanzen türmten, die alle darauf warteten, ihren endgültigen Platz zu finden. Von dort aus geleitete sie ihn in einen Flur und dann in einen Salon. Vom Fenster aus konnte man in der Ferne den grauen Fluss ausmachen.

„Eine letzte Sache noch“, sagte Mrs Benedict und blieb stehen. „Ich habe gewisse Standards für die Bedingungen, unter denen meine Mädchen arbeiten müssen.“

„In meinem Haus in London haben meine Dienstboten jede Woche einen Nachmittag frei und jeden Monat zwei Tage.“

Sie stieß die Luft aus. „Das habe ich nicht gemeint.“ Energisch straffte sie die Schultern und sah auf. „Ich muss darauf bestehen, Mr Turner, als Voraussetzung dafür, dass ich hier weiter arbeite. Sie und Ihr Bruder sind junge, gesunde Männer. Ich erlaube nicht, dass Sie sich meinen Mädchen nähern. Sie kommen aus anständigen Familien. Es wäre nicht richtig, sie in eine Lage zu bringen, in der sie schlecht Nein sagen können.“

Aha. Diese Arbeitsbedingungen meinte sie also. Ash hatte so das Gefühl, dass Mrs Benedict ihm sympathisch war.

„Bei meinem Bruder brauchen Sie sich da keinerlei Sorgen zu machen“, erklärte Ash. Bedauerlicherweise. „Was mich angeht, wäre ich nicht so weit gekommen, wenn ich all meinen Bedürfnissen nachgegeben hätte. Außerdem hatte ich auch einmal eine Schwester. Ich könnte keine Frau unritterlich behandeln, ohne dabei sofort an meine Schwester denken zu müssen.“

Was er für Miss Lowell plante, konnte man wohl kaum unritterlich nennen. Im Gegenteil, er betrachtete es eher als Rundum-Minnedienst.

Doch von dieser unausgesprochenen Einschränkung wusste Mrs Benedict ja nichts. Sie nickte ihm heftig zu. „Sie sind nicht das, was ich erwartet habe.“

„Ich bin auch nicht das, was ich erwartet habe.“

Sie lachte scharf auf und griff dann in ihre Schürzentasche. Mit metallischem Klimpern zog sie einen großen, an einer Kette befestigten Ring mit zahllosen Schlüsseln hervor. „Ich glaube Ihnen.“ Sie suchte einen Schlüssel und löste ihn von dem Ring. „Hier.“

Er streckte die Hand aus.

„Das ist der Hauptschlüssel.“ Sie legte ihm den Schlüssel in die Hand. „Wenn Sie Missbrauch damit treiben, ziehe ich Ihnen die Ohren lang, ob Sie nun der Erbe des Herzogs sind oder nicht.“

Der Schlüssel war aus schwerem Eisen, die Raute war reich verschnörkelt. Darin hineinverwoben war das stilisierte Schwert, das auch das Wappen der Parfords schmückte. Irritiert starrte Ash den Schlüssel an und schob ihn dann in die Tasche. Mrs Benedict öffnete bereits die Tür zum langen Flur, ihre Strafpredigt war offenbar beendet. Wie ein General marschierte sie davon. Ash zuckte mit den Schultern und folgte ihr.

„Und nun“, sagte sie, als er sie erreicht hatte, „sagen Sie mir bitte, wie Sie es mit dem Dinner halten möchten. Soll ich die Speisenfolge selbst zusammenstellen, oder wünschen Sie, dass ich sie mit Ihnen bespreche?“

„Ich vertraue Ihnen. Aber wenn wir schon vom Dinner reden – ich finde, mein Bruder und ich geben keine ausgewogene Gesellschaft ab. Sobald meine Männer aus London angereist sind, kann man daran nichts mehr ändern, aber heute Abend …“ Er ließ die Worte einladend ausklingen.

Mrs Benedict runzelte die Stirn. „Nun, wir hätten die Damen Duprey, Amelia und Catherine zu bieten, sie wohnen nördlich von Yeovil. Sie wären entzückt von einer Einladung. Weiter weg hätten wir Lady Harcourts Töchter – die allerdings noch ein wenig jung sind, vierzehn und sechzehn. Obwohl Lady Harcourt keine Einwände hätte, sie kann es gar nicht abwarten, die beiden unter die Haube zu bringen.“

Ash hustete. Himmel. Eine Vierzehnjährige. Er wusste doch gar nicht, was er mit einem solchen Kind reden sollte.

„Nein“, stieß er hervor. „Lady Harcourt lieber nicht. Ihre Töchter bestimmt nicht.“ Wer sie auch sein mochten. Wenn er den Titel erbte, würde er in Erfahrung bringen müssen, wer all diese Leute waren. Er musste sich noch überlegen, wie er das bewerkstelligen sollte – eine Ausgabe des Debrett’s würde er wohl kaum lesen. „Die Damen Duprey auch nicht, wer sie auch sind. Der Mangel an weiblicher Unterhaltung wird sich schon in wenigen Stunden bemerkbar machen – und ich kann mir nicht vorstellen, dass Lady Harcourt mir verzeihen würde, wenn ich sie überginge. Nein, Mrs Benedict, ich habe da eher an … Sie gedacht.“

Die letzten Worte wurden geäußert, als sie aus dem Flur in die große Eingangshalle traten.

„An mich!“ Ungläubig sah die Haushälterin ihn an und blieb abrupt stehen. „Ich bin doch keine Dame, ich kann mich doch nicht mit der Herrschaft an den Tisch setzen. Ich bin Dienstbotin, Sir, und zwar eine gute. Ich wüsste nicht … das heißt, ich kann kein Gespräch mit dem Erben eines Herzogs führen.“

„Unsinn“, wiegelte Ash ab. „Genau das haben Sie doch die letzte halbe Stunde gemacht. Sie haben die Dalrymples beobachtet, nicht wahr?“

Auf ihr schwaches Nicken lächelte er. Sie war schon geneigt, ihn zu mögen, so zögernd das Gefühl auch sein mochte. Nun war es an der Zeit, dieses zarte Pflänzchen zu hegen.

Er hörte ein Geräusch von oben, als würde eine Tür geschlossen. Kurz darauf waren auf dem Flur oben leise Schritte zu hören. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf.

„Kann ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen? Sicher kennen Sie die Familiengeschichte – dass es zwischen den Turners und den Dalrymples böses Blut gegeben hat und meine Brüder und ich in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen sind.“

Sie schnaubte empört und wandte den Kopf ab. „In unserem Haushalt wird nicht über die Herrschaft geklatscht. Dafür sorge ich. Wenn Ihnen derartiges Gerede zu Ohren kommt, beachten Sie es bitte nicht. Kommen Sie nur gleich zu mir, ich ziehe den Schuldigen dann zur Rechenschaft.“

„Oh, nein. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie geklatscht hätten. Aber vielleicht haben Sie hin und wieder etwas über die vom Schicksal weniger begünstigten Verwandten gehört?“ Er schenkte ihr sein schmeichelndstes Lächeln, und sie wurde weich.

„Vielleicht“, räumte sie ein.

„Die Wahrheit ist die, ich fühle mich manchmal bei Dienstboten wohler als bei Angehörigen meines eigenen Standes. Dieser Wechsel kam für mich sehr plötzlich. Jemand wie Sie könnte eine Menge Gutes für jemanden wie mich bewirken. So, wie ich es sehe, sind Sie kaum eine Dienstbotin. In Wirklichkeit sind Sie doch eher die wahre Hausherrin.“

„Also.“ Mrs Benedict sonnte sich ein wenig in seinem Lob. Ash schenkte ihr noch ein Lächeln, und sie erwiderte den Blick. Sie wirkte leicht ermutigt.

„Ihre Manieren sind ausgezeichnet, Ihre Aussprache präzise. Sie unterscheiden sich gar nicht so sehr von einer Dame – Sie führen den Haushalt, sorgen dafür, dass alles getan wird, damit Ihr Herr es bequem hat. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und einer Lady ist der, dass Sie Lohn erhalten.“ Sie sah ihn mit großen Augen an; um ihre Lippen spielte ein leises Lächeln. Er konnte beinahe spüren, wie sie sich seinem Willen beugte – obwohl eine Haushälterin in einem so großen Anwesen, mit so vielen Dienstboten unter sich, beträchtliche Charakterstärke besitzen musste.

Er war immer überrascht, wenn er andere Kaufleute darüber klagen hörte, wie schwierig es sei, Dienstboten auf Linie zu halten oder fleißige Buchhalter zu finden. Ash hatte nie Probleme, die Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte.

Wenn man den Leuten Komplimente machte, neigten sie dazu, einen zu mögen. Wenn man ihnen etwas anvertraute, neigten sie ihrerseits dazu, einem zu vertrauen. Und wenn man sie um Hilfe bat, hatte man sie endgültig auf seiner Seite. Natürlich war es auch hilfreich, dass Ash tatsächlich fast jeden mochte. Die Leute spürten das; es war genauso gut wie der Hauptschlüssel am Schlüsselring der Haushälterin: Dieser Wesenszug öffnete einem die Herzen auch der bockigsten Zeitgenossen.

„Eine Dame? Ich?“ Sie fasste nach einer grauen Locke und drehte sie um den Finger. „Na, hören Sie mal.“ Ihre Worte sagten: Hören Sie bloß auf mit dem Unsinn. Doch sie lächelte und strafte ihren Protest damit Lügen.

Die Schritte, die er vorhin auf dem oberen Flur gehört hatte, hatten die Treppe erreicht. Er spürte, wie sie näher kam, spürte das prickelnde Bewusstsein ihrer Nähe. Er drehte sich nicht zu ihr um.

„Also“, fuhr Ash fort und sah Mrs Benedict direkt an, „es wäre eine große Hilfe für meinen Bruder und mich, wenn Sie sich zum Dinner mit uns an den Tisch setzen würden. Sie bewahren uns vor zahllosen Männerdiskussionen. Allein durch Ihre Anwesenheit bringen Sie mir bei, was ich wissen muss, um meine Würde als Duke of Parford zu wahren.“

Ash bezweifelte zwar nicht, dass Mrs Benedict eine nette Erweiterung seiner Tischrunde sein würde, doch die Frau, auf die er eigentlich gewartet hatte, kam soeben die Treppe herunter.

Ein Appell an Mrs Benedicts Stolz, ihre Empfindsamkeit und ihre treuen Dienste für die Parfords. Hatte er noch etwas zu bieten? Ach ja. Eine letzte Sache.

„Und ich kann jetzt schon sagen, dass Sie sich hier hervorragend auskennen. Sie kennen die Leute. Sie wissen, wer sie sind und was sie brauchen. Wenn ich der nächste Duke sein soll – und ich habe durchaus die Absicht, meine Aufgabe gut zu machen –, muss ich von Ihnen alles erfahren, was Sie wissen. Bitte sagen Sie, dass Sie mir die große Ehre erweisen werden, mit mir zu dinieren.“

Sie starrte ihn an, das Häubchen schon wieder verrutscht, als überlegte sie noch, was sie denken sollte. „Für einen Mann, der behauptet, er brauche jemanden, der ihm Finesse beibringt, sind Sie viel zu liebenswürdig“, erklärte sie trocken. „Plaudern Sie immer so viel mit Dienstboten?“

Beim letzten Wort trat Miss Lowell hinter ihn. Er spürte den leisen Luftzug, mit dem sich ihre Ankunft ankündigte, nahm ihren schwachen, süßen Duft wahr. Ash stellte sich vor, wie sie missbilligend die Hände in die Hüften stemmte. Er unterdrückte ein Grinsen und sagte mit weit tragender Stimme: „Nein, Mrs Benedict. Nur mit den hübschen.“

„Ach, jetzt hören Sie aber auf!“ Mrs Benedict drohte ihm mit dem Finger, als wäre er ein freches Kind. „Ich bin keinen Tag jünger als fünfundfünfzig und musste mit ansehen, wie jedes Haar auf meinem Kopf grau geworden ist.“

Ash sah sie tadelnd an und blickte auf die widerspenstigen Locken, die unter ihrem Häubchen hervorspitzten. „Silber“, sagte er. „Wie Mondlicht, meine ich.“

Da brach sie in Gelächter aus, und Ash wusste, dass er gewonnen hatte. Es war kein Flirt – zwischen ihm und der Haushälterin war keinerlei Funken zu spüren –, es war etwas Süßeres, Freundlicheres. Er hatte sie als Mensch gesehen, nicht als Dienstbotin, und sie wusste das.

„Na also“, erklärte Ash. „Dann ist es abgemacht. Sie speisen mit uns zu Abend.“

Mit einem Nicken stimmte Mrs Benedict zu, dass Ash eine gesellschaftliche Ordnung erschütterte, die älter war als Wilhelm der Eroberer.

Gelassen drehte Ash sich um und gab vor, Miss Lowell erst in diesem Moment zu entdecken. Er fuhr zusammen und machte große Augen, als hätte er gar nicht bemerkt, dass sie dicht hinter ihm stand. Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd, als wäre sie nicht sicher, worüber er und Mrs Benedict lachen könnten. Sie wusste nicht, dass er sie längst an dem zarten Rosenduft erkannt hatte, der sie umgab und die Eingangshalle erfüllte. Daran und an dem Umstand, dass sie über die Haupttreppe nach unten gekommen war. Kein anderer Dienstbote hätte das im Beisein der Haushälterin gewagt.

„Ah“, sagte Ash, „das löst die zweite Hälfte unseres Dilemmas, Mrs Benedict. Unsere Zahl ist immer noch nicht ausgewogen. Mein Bruder und ich könnten sich unmöglich nur mit Ihnen zu Tisch begeben. Wir würden Sie mit unserer dummen Männlichkeit ganz aus der Fassung bringen.“

„Ach ja?“

„Ja“, bekräftigte Ash mit großer Entschiedenheit. Und dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. „Da gibt es nur eine einzige Lösung. Miss Lowell wird sich wohl auch zu uns gesellen müssen.“

3. KAPITEL

Mr Turners Dinnereinladung trug wesentlich dazu bei, dass sich Margarets Befürchtungen legten. Er hatte so überzeugend gewirkt, so zungenfertig, dass sie schon begann, sich zu sorgen, er würde bald alle Dienstboten auf Abwege führen. Aber offenbar konnte er auch Fehler machen. Der hier würde ihm die Augen öffnen.

Es gab einen triftigen Grund, warum Dienstboten nicht mit ihrer Herrschaft bei Tisch saßen, und es hatte nichts mit Stolz oder Herablassung zu tun. Züchtig faltete Margaret die Hände im Schoß, während die Lakaien die Suppe servierten. Vor ihr lag ein Abend, bestimmt von verlegener Konversation.

Was sollte Mr Turner auch sagen? Er konnte Mrs Benedict schlecht nach ihrem Tag fragen. Und was sollte die Frau denn darauf antworten? „Nun, ich habe Ihre Wäsche gebügelt, Ihr Silberzeug poliert und dann die Zubereitung Ihrer Mahlzeit beaufsichtigt.“ Zweifellos glaubte Mr Turner, dieses Dinner sei die perfekte Gelegenheit, sich Margaret aufzudrängen. Sie unterdrückte ein grimmiges Lächeln.

Die gesellschaftlichen Schichten vermischten sich nicht.

Einstmals hatte sie das voll hochmütiger Selbstsicherheit geglaubt, im Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit. Nun empfand sie es eher als trostlose Wahrheit. Sämtliche Damen ihrer Bekanntschaft hatten aufgehört, auf ihre Briefe zu antworten – selbst Elaine, die einst so schüchtern an ihrem Rockzipfel gehangen hatte.

An den Wänden des Speisesaals hingen Porträts der Herzöge vergangener Zeiten. Sogar ihre eigenen Ahnen würden auf sie herabschauen, wenn sie sie mit ihren gemalten Augen sehen könnten.

Aber zu den Dienstboten passte sie auch nicht. Sie war sowohl Herrin als auch Bittstellerin, sowohl Tochter des Hauses als auch Pflegerin. Sie stand ganz und gar allein. Es mochte kleinlich von ihr sein, aber sie freute sich, dass Mr Turner in Kürze etwas von derselben bitteren Einsamkeit zu schmecken bekommen würde.

Dessen Miene zeigte jedoch keinerlei Anzeichen, dass er wusste, welche Unannehmlichkeiten ihn erwarteten. Sein Kammerdiener war in der Kutsche der Diener angereist und hatte seinen Herrn prächtig herausgeputzt. Der dunkelblaue Rock hob die breiten Schultern hervor, sein dunkles Haar war auf das Kunstvollste zerzaust, und sein steifleinenes Krawattentuch bildete einen perfekten Kontrast zu seinen lockeren Manieren. Er war viel attraktiver, als gut für ihn gewesen wäre.

Doch trotz aller Attraktivität würde er bald herausfinden müssen, dass die Grenzen von Geburt und Privileg nicht einfach auf Anordnung überschritten werden konnten, so warm das begleitende Lächeln auch sein mochte. Es spielte keine Rolle, wo man aß. Diener blieben trotzdem Diener. Bastarde blieben Bastarde.

Doch niemand hatte Mr Turner auf diese unumstößliche Tatsache aufmerksam gemacht. Während die Lakaien Schalen mit Selleriesuppe vor sie stellten, wandte er sich Mrs Benedict zu. Die Haushälterin saß auf dem Ehrenplatz zu seiner Rechten. Als Margaret mit ihrer Familie diniert hatte, hatten sie den Tisch in seiner gesamten Länge verwendet. Mr Turner hatte offenbar andere Vorstellungen und einen kleineren Tisch aufstellen lassen. Er fühlte sich viel zu kurz und ungemütlich an, als befänden Sie sich auf einer überfüllten Dinnerparty. Ohne die dazu passende Gesellschaft allerdings.

„Mrs Benedict“, sagte Mr Turner, als die Lakaien die Abdeckhauben von den Suppenschalen hoben, „ich spiele mit dem Gedanken, in Baumwolle zu investieren, und wollte Ihnen dazu ein paar Fragen stellen.“

„Oh.“ Mrs Benedict lief rot an. „Mr Turner, ich weiß, wie man eine Gans mit Rizinusöl behandelt, und ich habe eine geheime Rezeptur, um Tafelsilber zum Glänzen zu bringen. Investitionen …“, sie sprach das Wort ganz vorsichtig aus, als hielte sie ein schmutziges Taschentuch in die Höhe, „… sind nichts für Leute wie mich.“

Insgeheim stimmte Margaret ihr zu.

„Da reden Sie besser mit einem Ihrer Standesgenossen oder einem Anwalt. Ich bin nur eine einfache Haushälterin.“

Turner nahm einen Löffel. „Unsinn. Mir ist an Ihrer Meinung gelegen. Meine Standesgenossen würden nur die Nase rümpfen und erklären, Leute aus gutem Hause trügen keine Baumwolle, ich solle mich nicht damit abgeben. Aber wenn ich die Vorurteile des Adels ignoriere, könnte ich damit gutes Geld verdienen. Ich könnte fünfhundertmal so viel an Leute wie Sie verkaufen. Sie sind ein wichtiger Faktor.“

Während Mr Turner sprach, konnte Margaret beobachten, dass mit Mrs Benedict ein Wandel vorging. Sie nahm eine entspannte Haltung ein, ihre Augen weiteten sich, und als Mr Turner ihr zum Abschluss ein strahlendes Lächeln schenkte, spielte ein seliges Grinsen um ihre Lippen.

„Nun.“ Sie hantierte mit dem Besteck und sah dann auf. „Zuerst mal braucht man Lumpen. Baumwolle ist sehr saugfähig, daher benutze ich sie als Spüllappen.“

Turner nickte. „Sprechen Sie weiter.“ Er kostete von seiner Suppe und richtete den Blick dann wieder auf Mrs Benedict, so konzentriert, als wäre sie der einzige Mensch im Universum. Sie fuhr fort, zögernd zuerst, dann mit größerer Selbstsicherheit. Während sie sprach, beugte sich Turner ein Stück vor, die Haushälterin fest im Blick. Jedes Detail seiner Miene sagte ihr: Sie bedeuten etwas. Sie sind wichtig. Ihre Beobachtungen haben einen Wert.

Es traf sie. Nicht allein deswegen, weil Turner Margaret ignorierte; ihr Stolz hatte in den letzten Monaten so viele Wunden davongetragen, dass sie diese Kränkung kaum noch spürte. Nein. Es traf sie, dass sie sich geirrt hatte. Weil er sich von einem Mann, der um Stimmen im Parlament buhlte, in jemanden verwandeln konnte, der sich mit einem Dienstboten zu Tisch setzen und angeregt zu plaudern vermochte. Dass er sich überall bei allen angenehm machen konnte, überall zu Hause war, während sie nirgends dazugehörte.

Mrs Benedict und Mr Turner kamen von der Baumwolle auf die Spinnerei im Dorf zu sprechen und von dort auf die Pächter. Margaret war die herrischen Forderungen ihres Vaters gewohnt. Er sprach nur im Befehlston, jedes Wort ein lautes Kommando, als müsste er schreien, um sich im Gewühl der großen, weiten, lauten Welt Gehör zu verschaffen. Mr Turner sprach leise, aber jeder lauschte gebannt, um seine Worte zu verstehen.

Selbst Margaret.

Er versteht es, andere für sich zu gewinnen, erkannte sie. Für ihre Zukunft verhieß das nichts Gutes. Was würde geschehen, wenn er diese strahlende Laune bei den Mitgliedern des Oberhauses versprühte, welche über die Frage der Legitimität entscheiden würden? Richard mochte ja toben und zetern und drohen, doch es kam nicht oft vor, dass das Oberhaus einen Vertreter wählen konnte. Wenn sie persönlich nicht betroffen gewesen wäre, hätte Margaret ebenfalls für Mr Turner gestimmt.

Grimmig starrte sie vor sich hin. Nach der Suppe wurden Buttererbsen serviert, auf die Erbsen folgte frisch gefangener Fisch, auf den Fisch Roastbeef. Sie sah zu, wie die Teller auf- und abgetragen wurden, unfähig, mehr als ein paar Bissen zu nehmen. Wenn ihr Bruder nicht legitimiert wurde, würde der größte Teil des in einem Fideikommiss gebundenen Familienvermögens an Mr Turner übergehen. Sie machte sich keine Illusionen über ihre eigenen Ansprüche: Ihre Brüder würden den traurigen Rest für sich einfordern.

Angesichts seiner verdammten Liebenswürdigkeit lösten sich all ihre Zukunftshoffnungen in nichts auf.

Mrs Benedict breitete die Hände aus, immer noch in ein Gespräch vertieft, dem Margaret inzwischen nicht mehr folgte. „Grenzstreitigkeiten hat es schon immer gegeben, Sir.“

„Dann rede ich eben mit ihnen.“ Mr Turner klang, als könnte man alle Probleme mit ein paar offenen Worten aus der Welt schaffen. Wahrscheinlich ist das bei ihm auch tatsächlich der Fall, dachte Margaret erbittert. Das Leben schien den Mann mit Geschenken nur so zu überschütten. Reichtum. Stellung. Legitimität.

Margaret wäre vermutlich nie auf die Idee gekommen, ihn nicht zu mögen, wenn er ihr nicht so viel genommen hätte. Sie wandte den Blick ab und kam sich mit einem Mal kleinlich vor.

„Miss Lowell. Ich bitte um Verzeihung. Wir langweilen Sie.“

Sie richtete den Blick auf ihn. „Nein. Natürlich nicht.“

„Doch, doch. Entweder das, oder wir regen Sie auf. Ich kann beides nicht dulden. Kommen Sie, sagen Sie mir doch, was los ist.“

„Es ist nur …“ Sie suchte nach einer Antwort, die ihn zufriedenstellen würde. Doch als sie ihm in die Augen sah, konnte sie nicht mehr lügen. „Sie sind ebenso freundlich, wie Sie skrupellos sind, eine Kombination, die mir im Leben so noch nicht untergekommen ist.“

Auf seinem Gesicht breitete sich ein entzücktes Grinsen aus, und er lachte. „Ebenso freundlich wie skrupellos. Das gefällt mir. Sollte ich das zu meinem Motto wählen? Würde es sich gut in meinem Wappen machen? Mark, wie sagt man ‚ebenso freundlich wie skrupellos‘ auf Lateinisch?“

„Nequam quidem sumus“, erwiderte sein Bruder. Das war das erste Mal, dass er an diesem Abend das Wort ergriff, und er klang verträumt. Bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, er sei der junge Gelehrte, als der er erschien – ein wenig abwesend und ziemlich hager. Doch Margaret hatte ihre Brüder erlebt, kurz, nachdem sie von Eton nach Hause kamen – und war daher durchaus in der Lage, eine lateinische Beschimpfung wie dieses „wir sind gewiss nichtsnutzig“ zu erkennen. Sie unterdrückte ein Lachen.

Mark sah sie über den Tisch hinweg an, ganz die strahlend blonde Erscheinung, und blinzelte ihr zu. Margaret revidierte ihr Urteil: Vor ihr saß kein strenger Gelehrter, sondern eher ein frecher Schuljunge.

„Das lässt doch sehr an Ausdruckskraft vermissen“, erklärte der ältere Mr Turner.

„Können Sie kein Latein?“, fragte Margaret überrascht.

„Ich war nie auf der Schule.“ Er lehnte sich zurück. „Dafür hatte ich nie Zeit. Ich bin mit hundertfünfzig Pfund in der Tasche nach Indien gereist, fest entschlossen, mit vierzehn ein Vermögen zu machen. Mark hingegen ist ein richtiger Gelehrter.“ Er wandte sich an seinen Bruder; und sein begeistertes Lächeln, seine ganze Miene verrieten, dass dies kein leeres Kompliment war. Egal, was sein Bruder eben auf Lateinisch gesagt hatte. „Wussten Sie, dass er ein Buch schreibt?“

„Ash“, mahnte Mark mit all dem Unbehagen eines kleinen Bruders, der gelobt wurde.

„Seine Essays sind im Quarterly Review veröffentlich worden. Inzwischen sind es schon drei.“

„Ash.“

„Vor zwei Monaten hat sogar Queen Victoria aus einem davon zitiert, das hat mir ein Freund erzählt.“

„Ash.“ Der jüngere Turner zog den Kopf ein und bedeckte das Gesicht mit der Hand. „Hören Sie nicht auf ihn. Es war nichts als Firlefanz. Elegant formuliert, aber keine Spur originell. Nichts, auf das man großartig stolz sein könnte. Außerdem konnte sie sich nicht einmal an meinen Namen erinnern.“

„Das kommt noch.“ Turners Augen glänzten. „Wenn du erst mal der Bruder eines Herzogs bist, wird sie wissen, wie du heißt, wann du geboren wurdest und wie viele Zähne man dir mit elf gezogen hat.“

Turner beugte sich bei seinen Worten vor, als leistete er einen Schwur.

Was er auch tat, wie ihr klar wurde.

Autor

Michelle Willingham
Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde. Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...
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Courtney Milan
„Ich liebe es, historische Romane zu schreiben“, sagt Erfolgsautorin Courtney Milan. „Ganz besonders faszinieren mich die Regency und viktorianische Epoche. In diesen Jahren hat sich unglaublich viel verändert. Und genau darin gleicht diese Zeit unserer heutigen. Die Traditionen verlieren an Gültigkeit. Und viele Menschen müssen neue Wege gehen.“ Courtney Milans...
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