Historical Saison Band 106

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DER LORD, DER MEIN HERZ STAHL von JANICE PRESTON

Die mittellose Debütantin Aurelia erbt überraschend ein Vermögen. Einzige Bedingung: Sie muss innerhalb eines Jahres heiraten – nur nicht den neuen Lord Tregowan! Doch ausgerechnet dessen heimliche Küsse lassen Aurelias Herz höherschlagen. Hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Verlangen muss sie sich entscheiden …

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  • Erscheinungstag 09.03.2024
  • Bandnummer 106
  • ISBN / Artikelnummer 8090240106
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Janice Preston, Christine Merrill

HISTORICAL SAISON BAND 106

1. KAPITEL

Miss Aurelia Croome hatte sich so an die Übelkeit gewöhnt, die einen überfällt, wenn man hungert, dass sie sie kaum bemerkte. Während sie auf dem Gehsteig stand und der Kutsche nachsah, die ihre zweite neugewonnene Halbschwester davontrug, waren die Gefühle, die ihren Magen aufwühlten, komplizierter – obwohl der Hunger, den sie so fürchtete, noch immer auf der Lauer lag. Eine Erinnerung an die Gefahren des Lebens für eine alleinstehende Frau.

Aber das würde bald der Vergangenheit angehören.

Sie konnte kaum glauben, wie sehr ihr Schicksal sich verändert hatte, seit sie im Anwaltsbüro Henshaw und Dent angekommen war. Henshaw hatte sie und die anderen beiden Anwesenden davon in Kenntnis gesetzt, dass sie nicht nur Halbschwestern waren, sondern, wie im Testament von Lady Tregowan angegeben, auch Erbinnen der Witwe ihres leiblichen Vaters, des verstorbenen Lord Tregowan.

Eine Erbin! Sie! Nach so vielen Jahren der Mühsal für sie und ihre Mama – vor dem Tod und nach dem Tod von Augustus Croome, dem Mann, der Aurelia aufgezogen hatte, als sie elf Jahr alt gewesen war. Das war dreizehn Jahre her. Er hatte sie völlig mittellos zurückgelassen, und Mama hatte bis zu ihrem vorzeitigen Tod im vergangenen Jahr unermüdlich arbeiten müssen, um sie beide zu ernähren.

Aurelia verdrängte die Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit. Sie wollte nicht länger daran denken, ebenso wenig wie an den Hunger. Oder die Furcht. Das alles würde jetzt vorbei sein. Jetzt hatte sie eine Zukunft und eine Familie – die zwei Halbschwestern, denen sie heute zum ersten Mal begegnet war. Heute hatten sie erfahren, dass die Männer, die sie für ihre Väter gehalten hatten, bestochen worden waren, um ihre drei Mütter zu heiraten, und zwar nachdem der inzwischen verstorbene Lord Tregowan sie vorher geschwängert hatte – eindeutig war er ebenso selbstsüchtig gewesen wie alle Adligen, die glaubten, sie könnten sich alles erlauben.

Ein beißender Wind fegte durch die Straße hier in Bristol und fand seinen Weg durch ihren fadenscheinigen Mantel. Aurelia erschauderte, schlang die Arme um die Taille und vergrub das Kinn unter dem Mantelkragen. Höchste Zeit, dass sie im Büro von Henshaw und Dent Zuflucht suchte. Mr. Henshaw hatte ihr zugesagt, sie könne hier auf seinen Schreiber warten, der ihr inzwischen eine Fahrkarte für die nachmittägliche Postkutsche nach London besorgte. Sie wandte sich vom Straßenrand ab und wurde fast von einem hochgewachsenen Mann in einem Wintermantel zu Boden geworfen. Als sie an der Gehsteigkante schwankte, wurde sie von zwei starken Händen nicht besonders sanft bei den Schultern gepackt und fand sich plötzlich an einer breiten, harten Brust wieder.

„Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!“

Bei dieser scharfen Rüge ging Aurelias Blick langsam nach oben. Sie atmete den Duft nach Seife, Staub und Sandelholz ein, und ihr wurde schwindlig. Etwas benommen sah sie jetzt zu den breiten Schultern auf und einem schlaffen Krawattentuch, einem markanten Kinn mit einem tiefen Grübchen in der Mitte und einem Anflug von Bartstoppeln. Die Lippen waren im Moment voller Missfallen zusammengepresst, waren aber dennoch so wunderbar geschwungen, so vollkommen, dass es Aurelia in den Fingern juckte, sie zu berühren.

Sie keuchte entsetzt auf, was sie wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. Hastig riss sie sich vom Anblick dieses aufregenden Mundes los und musste feststellen, dass sie selbst von einem Paar dunkelbrauner Augen finster angestarrt wurde. Als ihre Blicke sich jedoch trafen, wurde sein Ausdruck sanfter, seine Augen größer und erstaunlicherweise sogar noch dunkler. Aurelia bekam den Eindruck, dass er sie wirklich sah. Er sah sie so eindringlich an, dass sie unwillkürlich erschauerte.

Schnell löste sie sich von seinem Blick und brach den Zauber, mit dem er sie plötzlich belegt zu haben schien. Wieder Herrin ihres Verstands, musterte sie ihn eingehender. Ein Gentleman. Sofort erwachte ihr Misstrauen. Ein Gentleman wie Augustus Croome, besitzloser jüngerer Sohn eines Earls, der dafür bezahlt worden war, wie sie eben erfahren hatte, ihre Mutter zu heiraten, da sie ein Kind erwartete, und der daraufhin ihr und ihrer Mutter das Leben zur Hölle gemacht hatte. Kein Wunder, dass er seine junge Tochter verabscheut und sie offen verspottet hatte, wann immer sie versucht hatte, seine Aufmerksamkeit oder seine Anerkennung zu erringen.

Jetzt war es an Aurelia, den Fremden finster anzustarren.

„Dasselbe könnte ich zu Ihnen sagen, Sir.“

Der Mann hielt inne und hob die Augenbrauen. Dann trat er zurück, nahm kurz seinen Hut ab und enthüllte einen dunkelbraunen Haarschopf. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, und Aurelia bedauerte einen Moment ihr schäbiges, verhärmtes Aussehen. Doch sofort ärgerte sie sich über ihre unangebrachte Reaktion und darüber, dass ihr sein attraktives Aussehen überhaupt aufgefallen war. Auch Augustus war attraktiv gewesen, und ihre Mutter hatte ihn vergöttert, obwohl er sie wie Dreck behandelt hatte.

„Verzeihen Sie, Ma’am. Es war ganz allein meine Schuld. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Er verbeugte sich, ging um sie herum und setzte seinen Weg fort – direkt auf die Tür von Henshaw und Dent zu. Er klopfte laut an. Ungeduldig. Seine ganze Haltung spiegelte mühsam unterdrückte Wut wider. Aurelia blieb regungslos stehen, wo sie war, während ihr schnell klopfendes Herz sich langsam beruhigte, weil sie nicht verraten wollte, dass das Anwaltsbüro auch ihr Ziel war. Die Tür wurde geöffnet, und der Schreiber mit den hängenden Schultern, der sie vorhin zu Henshaws Büro geführt hatte, erschien auf der Schwelle.

„Lord Tregowan!“ Er verbeugte sich tief. „Er… erwartet Mr. Henshaw Sie, Mylord?“

Tregowan? Lieber Himmel! Aurelias Puls begann wieder zu rasen. Kein Wunder, dass er wütend ist.

„Jetzt ja“, knurrte Tregowan und betrat entschlossen das Haus.

Henshaw hatte ihnen vorhin enthüllt, dass Lord Tregowan der ursprüngliche Nutznießer der Erbschaft ihrer Ladyschaft gewesen war – bis sie völlig unerwartet und ohne Mr. Henshaws Wissen ein neues Testament hatte aufsetzen lassen, in dem sie Aurelia und ihre beiden Halbschwestern, Leah Thame und Beatrice Fothergill, ihren gesamten Besitz hinterließ.

Ich bin es Leah und Beatrice doch sicher schuldig, mehr über Lord Tregowan herauszufinden, bevor wir uns ihm stellen müssen, oder?

Indem sie so ihren Wunsch, mehr in Erfahrung zu bringen, gerechtfertigt hatte, eilte Aurelia über die Straße, bevor der Schreiber die Tür geschlossen hatte. Sie legte einen Finger an die Lippen, und er nickte und erlaubte ihr hereinzukommen, bevor er hinter Lord Tregowan hinterherjagte, der bereits halb die engen, steilen Stufen hinaufgegangen war.

Das Hauptbüro, wo Aurelia eigentlich warten sollte, befand sich hinter einer Tür zur Linken. Aurelia ignorierte sie. Sie wollte hören, was Tregowan zu sagen hatte. Also eilte sie die Treppe hinauf und zu Henshaws Büro. Die Tür stand leicht offen, und der Schreiber stand unsicher auf der Schwelle. Der wütende Lord Tregowan war eingetreten und seine gereizten Worte deutlich zu vernehmen. Aurelia huschte schnell einige Stufen weiter nach oben, um sich vor dem Schreiber zu verstecken, der jetzt das Büro verließ und die Tür hinter sich schloss. Während er nach unten ging, kam Aurelia wieder zurück und presste das Ohr an die Tür.

„Was zum Teufel bedeutete das erste Schreiben, Henshaw? Sie teilten mir ausdrücklich mit, dass ich Sarahs Erbe sei. Aufgrund dieses Schreibens sicherte ich mir ein Darlehen. Wissen Sie überhaupt, welchen Ärger Sie damit verursacht haben?“

Noch einer jener Aristokraten, die gedankenlos Schulden machen und sie dann mit geliehenem Geld zurückzahlen wollen.

„Ich kann mich nur demütig entschuldigen, Mylord. Es war wirklich nicht meine Absicht, Sie zu täuschen. Aber Sie werden sich an die genaue Wortwahl in meinem ersten Brief erinnern, in dem es hieß, dass Lady Tregowan, soweit ich wüsste, kein anderes Testament gemacht habe als das, über das wir im vergangenen Jahr sprachen. Falls Sie aufgrund einer nicht bestätigten Angelegenheit finanzielle Entscheidungen getroffen haben, können Sie mich kaum dafür verantwortlich machen. Lady Tregowans neuestes Testament wurde von einem anderen Anwaltsbüro erstellt, aber es besteht kein Zweifel an seiner Echtheit.“

„Und wer zum Henker sind diese Betrügerinnen, die Sarah gegen mich aufgebracht und gestohlen haben, was rechtens mir gehört?“

Betrügerinnen? Gestohlen? Die Unverfrorenheit dieses Mannes!

„Es sind drei junge Frauen, aber ich kann Ihnen leider nicht mehr verraten, Mylord. Die Schweigepflicht erlaubt es nicht, Sie verstehen.“

Das leise Klirren von Glas auf Glas erreichte Aurelias Ohren, und ihr Magen knurrte plötzlich. Sie musste etwas essen, bevor sie die Postkutsche nahm, die laut Henshaw um vier Uhr vom Gasthaus in der Corn Street abfuhr. Aurelia war die einzige der drei Schwestern, die direkt nach London weiterreisen würde. Die anderen beiden wollten zunächst nach Hause zurückkehren, um ihre Angelegenheiten zu ordnen, bevor sie – wie es eine der Bedingungen des Testaments verlangte – den Rest der bevorstehenden Saison in Tregowan House und unter dem wachsamen Auge von Mrs. Butterby, Lady Tregowans ehemaliger Gesellschafterin, verbringen würden.

Sie können von Glück sagen, dass sie ein Zuhause haben, dachte Aurelia niedergeschlagen. Aber wenn sie jetzt an Beatrices Zaghaftigkeit und ihrer offensichtlichen Angst vor ihrem Bruder dachte, traf das in ihrem Fall wohl nicht zu. Aurelia selbst hatte keinen Grund, nach Bath zurückzukehren, wo sie seit einem Monat in einer verwahrlosten Unterkunft gelebt und sich verzweifelt gefragt hatte, wie sie genug zum Überleben verdienen sollte, ohne – wie so viele mittellose Frauen in ihrer Lage – zu jener traditionellen, uralten Beschäftigung Zuflucht nehmen zu müssen.

Sie erschauderte, wenn sie überlegte, wie kurz davor sie in ihrer Verzweiflung gewesen war, ihren Körper zu verkaufen, um die Schulden zurückzuzahlen, die sich während Mamas Krankheit unbarmherzig angesammelt hatten. Und das obwohl Aurelia neben der Pflege ihrer Mutter auch in ihrem Putzmachergeschäft gearbeitet hatte. Als ihre Mutter starb, war Aurelia nichts anderes übriggeblieben, als ihr Misstrauen gegen die Menschen, und vor allem gegen Männer, zu überwinden. Sie hatte den Vermieter ihres Geschäfts angefleht, es ihr zu denselben Bedingungen wie ihrer Mutter zu vermieten und ihm versprochen, Tag und Nacht zu arbeiten, bis sie abbezahlen konnte, was sie schuldete. Doch statt ihr zu helfen, hatte er ihre verzweifelte Situation ausgenutzt und die Miete verdoppelt, nur um ihr dann anzubieten, sie zu senken, wenn Aurelia ihm erlauben würde, sie in ihren Räumen zu besuchen, wann immer ihm danach war.

Sie erschauderte bei dem Gedanken. Als sie ihn zurückwies, hatte er sie noch am selben Tag vor die Tür gesetzt und Mamas gesamten Warenbestand behalten, um die ausstehenden Mieten auszugleichen. Danach hatte Aurelia sich an die Nachbarn gewandt – Putzmacherinnen und Schneiderinnen und, wie sie geglaubt hatte, Freunde – und um Arbeit gebeten. Überall wurde ihr ein erbärmlich niedriger Lohn angeboten, den sie angenommen hatte, weil ihr keine andere Wahl geblieben war, der sie aber oft dazu gezwungen hatte zu hungern.

„Was haben sie mit Falconfield vor?“

Falconfield Hall war das Gut in Somersetshire, das Aurelia und ihre Halbschwestern zusammen mit Tregowan House in London und einer beträchtlichen Summe Geldes geerbt hatten.

Fünftausend Pfund im Jahr. Ein nie gekanntes Hochgefühl erfüllte Aurelia. Sie würde nie wieder hungern müssen.

„Das weiß ich nicht, Mylord.“ Henshaws Stimme verriet seine Unruhe, und Aurelia stellte sich vor, wie der wütende Earl ihn anfunkeln musste. „Wirklich nicht. Für sie war alles auch ganz neu. Sie wussten nichts von dem Erbe oder von den Bedingungen, die daran geknüpft sind.“

„Bedingungen?“ Tregowans Eindringlichkeit war fast bemitleidenswert. Fast. „Was für Bedingungen? Wenn sie die nicht einhalten, gibt es also noch eine Chance für mich, wenigstens etwas zu erben?“

Wie sehr Aurelia wünschte, es wäre Augustus gewesen, dessen Hoffnungen so enttäuscht worden wären. Aber er hatte nichts daraus gelernt, als seine Familie ihn enterbt hatte. Genau wie auch Tregowan jetzt sehr wahrscheinlich nichts dazulernte. Zweifellos würde er weiterhin sorglos Schulden machen und ehrliche Händler nicht bezahlen, die genau wie Mama und sie für jeden Penny hatten hart arbeiten mussten.

„Ich fürchte, mehr kann ich wirklich nicht dazu sagen, Mylord“, antwortete Henshaw.

„Wenn ich nur wüsste, wo ich sie finden kann, Henshaw. Sie sagten doch, sie seien jung. Ich könnte eine von ihnen heiraten. Eine reiche Erbin wäre genau das, was ich im Augenblick brauche.“

Aurelia unterdrückte gerade eben noch ein erstauntes Lachen und hoffte, dass Henshaw ihm nichts über die anderen Bedingungen verraten würde – von denen eine seinen zynischen Plan vollkommen zunichtemachte. Denn die drei Erbinnen mussten nicht nur innerhalb eines Jahres heiraten, sonst würden sie ihren Anteil verlieren – eine entsetzliche Bedingung für Aurelia, weil sie den Gedanken hasste, dass ein Mann so viel Kontrolle über sie ausüben durfte –, es gab noch eine letzte Bedingung, die Lord Tregowan persönlich anging. Es wurde ihnen verboten, den gegenwärtigen Lord Tregowan zu heiraten, der ein entfernter Cousin des verstorbenen Lord Tregowan war, weil sie auch dann ihren Anteil am Erbe verlieren würden. Aurelia hätte wieder fast höhnisch gekichert. Als ob sie so dumm sein würden, auf die Lügen und das Süßholzgeraspel eines solchen Mannes hereinzufallen.

„Ich kann nur sagen, dass sie während der Saison in London sein werden, Mylord. Für jede weitere Information sind meine Lippen leider versiegelt.“

Ein Stuhl wurde über den Boden gezogen, und hastig trat Aurelia von der Tür zurück.

„Sie haben mein Mitgefühl, Mylord. Ich sehe ein, dass es ein fürchterlicher Schlag für Sie gewesen sein muss, aber leider kann ich nicht mehr tun. Ich entschuldige mich für das Missverständnis, aber wie ich schon erklärte, ich sprach von dem Testament, das ich kannte. Sobald ich das jüngste Testament in Händen habe, werde ich Ihnen sofort schreiben.“

„Gut. Ich sehe, meine Reise nach Bristol war sinnlos. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Henshaw.“

Aurelia lief auf Zehenspitzen zur Treppe und erreichte die letzte Stufe, bevor oben die Tür geöffnet wurde. Im Hauptbüro sah der gebückte Schreiber erstaunt auf.

„Ich fragte mich schon, wo Sie sind, Miss“, sagte er.

„Ich …“

Sie hielt abrupt inne, als die schweren Schritte von Tregowan auf der Treppe zu hören waren, und sah den Schreiber flehentlich an. Er lächelte schief und machte ihr ein Zeichen, im hinteren Teil des Büros zu warten. Allerdings war es nicht nötig, sich zu verstecken, denn die Vordertür wurde zugeworfen, ohne dass Tregowan sich die Mühe gemacht hätte, den Kopf hereinzustecken.

„Danke“, sagte Aurelia.

„Er wäre wohl nicht sehr erfreut gewesen, Sie zu sehen, Miss. Mr. Smith hat übrigens Ihre Fahrkarte gekauft.“ Er hielt ihr ein Papier hin. „Ihr Name steht auf der Passagierliste, aber die Kutsche fährt um Punkt vier ab, auch wenn Sie nicht an Bord sind.“

Aurelia nahm die Fahrkarte entgegen und steckte sie in ihr Retikül, wo sich auch die versiegelte Nachricht von Henshaw an Mrs. Butterby befand, ein Exemplar des Testaments und die Geldbörse, von der jede Halbschwester eine bekommen hatte. Und auch ihre ganze Habe – eine Bürste, ein Kamm und das Nadelkissen von ihrer Mama – hatte darin Platz gefunden.

Sie holte die Lederbörse hervor und öffnete sie. „Wie viel schulde ich Ihnen?“

Der Schreiber winkte ab. „Sie müssen jetzt nichts zahlen, Miss. Mr. Henshaw sagt, es wird Ihnen später von Ihrem Anteil des Erbes abgezogen.“

Ein ungewohntes Gefühl schnürte Aurelia die Kehle zu. Wann hatte sie sich das letzte Mal so in Sicherheit gefühlt? Dieses Erbe war genau das für sie – Sicherheit. Nie wieder würde sie fürchten, am Rand eines Abgrunds entlangzutaumeln. Viel zu lange hätte ein falscher Schritt genügt, und die Katastrophe wäre ihr sicher gewesen. Und das würde sie niemals vergessen.

„Danke.“ Sie holte drei Sixpence-Münzen aus der Börse und gab jedem der Schreiber je eine. „Vielen Dank und auf Wiedersehen.“

Sie trat auf die Straße hinaus und ging in Richtung Corn Street weiter. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter war ihr leicht ums Herz. Sie kannte den Weg, da sie mit ihrer Mutter bereits mehrere Male mit der Kutsche nach Bristol gekommen war – es war nicht weit entfernt, und sie freute sich darauf, im Gasthaus The Bush etwas zu sich zu nehmen, bis sie vollkommen satt war, bevor die Kutsche nach London abfuhr.

2. KAPITEL

Max Penrose, der vierte Earl of Tregowan, ging mit langen Schritten aus dem Anwaltsbüro hinaus, ohne auf die Richtung zu achten, die er einschlug. Was machte es schon aus? Tief in seinem Herzen hatte er gewusst, dass diese impulsive Fahrt nach Bristol reine Zeitverschwendung sein würde, aber … Gereizt schüttelte er den Kopf.

Was zum Henker sollte er jetzt tun?

Henshaw hatte recht. Er hätte niemals ein Darlehen aufnehmen sollen, bevor er sich des Tregowan-Erbes wirklich völlig sicher sein konnte. Aber er hatte Sarah vertraut, als sie sagte, sie würde ihm helfen, nachdem der dritte Earl seiner Witwe vor acht Jahren seinen gesamten Besitz vermachte, der nicht zum Fideikommiss gehörte. Somit waren Max als seinem rechtmäßigen Erben nur der Titel und das dazugehörige völlig heruntergekommene, stark verschuldete Gut in Cornwall geblieben. Was das Gut in den Jahren seines Vorgängers eingebracht hatte, war abgezweigt und für Falconfield Hall und seine Länder verwendet worden, um dem alten Tregowan und Sarah ein luxuriöses Heim in Somerset zu verschaffen.

Max stieß die Tür zur ersten Bierschenke auf, an der er vorbeikam. Im Inneren war es trübe, und es gab keine weiteren Gäste, was ihm nur entgegenkam. Er hielt auf einen Tisch in der Ecke zu und setzte sich, wie es seine Gewohnheit war, mit dem Rücken zur Wand. Eine Magd kam zu ihm.

„Ein Bier und einen Teller von Ihrem Mittagsmahl bitte.“

Er warf eine Münze auf den Tisch, ohne die Frau auch nur anzusehen, da er nicht in der Stimmung für kokette Blicke war.

Wo in aller Welt sollen wir alle leben? Wenn Mama es sich doch nicht in den Kopf gesetzt hätte, nach England zurückzukommen.

Wenn er nur aufrichtig gewesen wäre, was den Zustand von Tregowan anging. Aber Mama, die meist einen Rollstuhl brauchte, und Max’ Schwester Leticia hatten fast zehn Jahre in Italien gelebt. Max hatte nie damit gerechnet, dass sie zurückkommen würden, selbst nachdem seine italienischen Großeltern gestorben waren, und so hatte es keinen Grund für ihn gegeben, sie wegen seiner heiklen finanziellen Lage zu beunruhigen.

Doch Mama hatte sich wegen Letty Sorgen gemacht, die ihr Leben damit verschwendete, sich um ihre Mutter zu kümmern, und so hatte sie entschieden, dass sie für ihre fünfundzwanzig Jahre alte Tochter einen Ehemann finden müsse. Und wo würde sie das besser tun können als in London während der Saison? Da sie allerdings selbst nur über geringe Mittel verfügte, hatte sie Max geschrieben und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ein liebevoller Bruder – jetzt noch dazu ein Angehöriger des Hochadels – seiner kleinen Schwester mindestens eine Saison finanzieren müsse.

Wenigstens würden Mama und Letty bei Lady Langbrook – Mamas alter Schulfreundin und Max’ Patentante – wohnen können, während sie in London waren, aber von Max würden sie erwarten, dass er für alle Ausgaben aufkam. Nach der Saison, wie Mama ihm klargemacht hatte, sah sie ihre Zukunft auf Tregowan, und die von Letty ebenfalls, sollte es ihr nicht gelingen, einen Ehemann zu finden.

Das Serviermädchen kam mit einem Tablett zurück, auf dem eine dampfende Schüssel, einige Scheiben Brot und ein Bierhumpen standen. Sie setzte es mit einem Knall auf Max’ Tisch ab und beugte sich vor, wobei sie ihren tiefen Ausschnitt zur Schau stellte. Max wandte den Blick ab, worauf das Mädchen mit einem eingeschnappten Schnauben davonstürmte.

Max leerte den Humpen bis zur Hälfte, schmeckte das Bier aber kaum, das er schluckte. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, riss ein Stück Brot ab und tunkte es in die Schüssel mit dem Eintopf – dem Geruch nach war es Hammelfleisch.

Der Brief, der Lady Tregowans Tod verkündet hatte, erreichte ihn kurz nach dem Brief seiner Mutter, in dem sie ihm ihre bevorstehende Rückkehr nach London mitteilte. Max hatte mit beiden Händen nach der Rettungsleine gegriffen und keinen Moment länger gewartet, um bei der East Cornwall Bank in Liskeard ein Darlehen aufzunehmen, das an sein zu erwartendes Erbe geknüpft war. Allerdings war Mr. Robins, der Seniorpartner, nicht leicht zu überreden gewesen. Sofort hatte Max eine Gruppe von Baumeistern und Arbeitern engagiert, die Tregowan Place zu einem bewohnbaren Ort für den Earl of Tregowan und seine Nachkommen verwandeln sollten.

Er aß einen oder zwei Löffel vom Eintopf und zog dann eine Grimasse und schob die Schüssel von sich, leerte den Bierhumpen und machte ein Zeichen, dass ihm neu aufgefüllt werden sollte.

Er hatte alles geplant. Nach Ende der Saison sollten Mama und Letty auf Falconfield Hall wohnen, bis die Renovierung von Tregowan Place abgeschlossen war. Im Augenblick war es unbewohnbar. Es roch nach Moder und Verfall, das Dach war an unzähligen Stellen undicht und ein ganzer Flügel musste abgerissen und neu erbaut werden. Max selbst wohnte zurzeit im alten Pförtnerhaus, das wenigstens ein wetterfestes Dach aufwies, aber nicht groß genug war, um auch Mama und Letty aufzunehmen. Er würde ihnen ein Haus in Liskeard mieten müssen. Oder in Launceton. Er rieb sich die Stirn.

Als Henshaws zweiter Brief angekommen war, waren die Arbeiten auf Tregowan Place bereits weit fortgeschritten. Die Hälfte des Daches war bereits abgetragen worden. Mama hätte sich zu keiner schlimmeren Zeit entscheiden können, nach England zu kommen, wenn er ihre Sorge um Lettys Zukunft auch gut verstehen konnte. Wie in aller Welt sollte er ihr die Lage erklären? Wieder rieb er sich die Stirn. Er war das Haupt der Familie, und er würde sie genauso enttäuschen, wie es sein Vater mit seiner Spielsucht und seinen Affären getan hatte.

Das Mädchen schenkte ihm nach, und er nickte mit einem Dank. Nachdenklich starrte er in den Humpen, während ihm alle möglichen Ideen und Lösungen durch den Kopf gingen. Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen und gegrübelt hatte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, aber am Ende wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als jemand sich ihm gegenüber an den Tisch setzte.

„Sie sehen wie ein Mann aus, der Spaß an einem guten Spiel hat, Sir.“ Der Neuankömmling grinste und entblößte dabei eine Reihe langer gelber Zähne in einem dünnen Gesicht, während er ein Kartendeck auf den Tisch legte. „Hätten Sie Lust zu einer oder zwei Runden?“

„Ich spiele nicht“, knurrte Max.

Nur um mein Erbe, dachte er verbittert. Lieber Himmel, er hatte verdient, was ihm jetzt zustieß.

Er hatte Sarah gern gemocht. Er hatte ihr vertraut! Und sie schien auch von ihm angetan gewesen zu sein. Sie hatte nicht dieselben Vorurteile gegen seinen Vater – einen unverbesserlichen Spieler – gehabt wie ihr verstorbener Mann, und so auch nicht gegen Max selbst. Außer ihm hatte sie keine anderen Verwandten, und sie hatte ihm versichert, dass sie alles ihm vermachen würde! Warum hätte er also Henshaws ersten Brief anzweifeln sollen? Aber wie es aussah, hatte Sarah ihn zum Narren gehalten, wenn er auch nicht begriff, warum sie ihm einen so grausamen Streich spielen musste. Er spürte wieder den heftigen Schlag, den ihm Henshaws zweiter Brief versetzt hatte – in dem es hieß, dass er nicht mehr Sarahs Erbe war, dass sie ihn vollkommen aus ihrem Testament gestrichen hatte. Ihm wurde übel bei dem Gedanken an die Katastrophe, die ihm bevorstand.

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf, wobei er seinen Bierhumpen leerte. „Das Kartenspiel ist etwas für Dummköpfe“, fügte er noch hinzu. Er sah auf die Uhr auf dem Kaminsims. Viertel vor vier! Wann war die Zeit vergangen? „Und ich muss jetzt gehen.“

„Wie Sie meinen.“ Der Mann zuckte die Achseln. „Hab ja nichts davon gesagt, dass es um Geld geht, oder?“

Max verließ das Gasthaus, ohne sein Mahl zu beenden. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, sah er noch, wie der Mann sich über die Schüssel mit dem Eintopf hermachte, und sein schlechtes Gewissen wegen seiner Unfreundlichkeit legte sich. Wenigstens konnte der Bursche sich den Magen füllen. Er sah aus, als wäre er sehr hungrig.

Dieser Gedanke erinnerte Max an die Frau, die er vorhin vor dem Anwaltsbüro gesehen hatte. Auch sie war sehr hager gewesen. Ihre wütenden blauen Augen – wie das Blau des Meeres an einem Sommertag und umrahmt von hellen Augenbrauen und langen Wimpern – hatten in ihrem hübschen, herzförmigen, aber blassen Gesicht mit den ungesund eingefallenen Wangen viel zu groß ausgesehen. Er erinnerte sich auch an die Anziehungskraft, die sie trotz allem auf ihn ausgeübt hatte, als ihre Blicke sich trafen. Sein Puls hatte sich beschleunigt, und ihm war ganz heiß geworden. Und ein lächerlicher Drang, sie zu küssen und zu besitzen, hatte ihn gepackt.

Mit einem leisen Fluch verdrängte er sie aus seinen Gedanken und blieb dann unentschlossen stehen. Er durfte keine Zeit verlieren, aber ihm wurde klar, dass er nicht wusste, wohin er gehen musste.

„Wie komme ich zur Corn Street bitte?“, fragte er einen Passanten.

Der Mann sog nachdenklich den Atem ein. „Corn Street …“ wiederholte er stirnrunzelnd.

„Ich habe einen Platz in der Kutsche nach London reservieren lassen.“ Max versuchte, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Die Postkutsche fuhr um vier Uhr, und er wusste, dass sie nicht auf ihn warten würde.

„Ah, Corn Street!“, rief jetzt der Mann. „Hier entlang, Sir. Zuerst links und dann wieder links.“

Max tippte sich an die Hutkrempe. „Vielen Dank.“

Während er weitereilte, musste er wieder an die Frau von vorhin denken und daran, wie knochig ihre Schultern sich unter seinen Händen angefühlt hatten. Er fragte sich, weswegen sie wohl am letzten Januartag auf einer Straße in Bristol gelandet war, lediglich einen fadenscheinigen schwarzen Mantel und schäbigen Strohhut getragen und ausgesehen hatte, als hätte sie seit Tagen keine anständige Mahlzeit zu sich genommen.

Ihr Akzent hatte verraten, dass sie von vornehmer Herkunft sein musste, und wohl nur eine Dame seiner eigenen Klasse hätte es gewagt, ihm auf so selbstbewusste Weise zu antworten. „Dasselbe könnte ich zu Ihnen sagen. Sir.“ Die Ironie in jenem letzten Wort ließ ihn jetzt lächeln, wenn er zu der Zeit auch alles andere als in der Stimmung gewesen war zu lächeln. Er war in Gedanken zu sehr mit Henshaws zweitem Brief beschäftigt gewesen – dem Brief, der alle seine Hoffnungen zerstört hatte.

Max beschleunigte seine Schritte und lächelte wieder, diesmal eher freudlos. Zwei mittellose, glücklose Menschen, deren Wege sich gekreuzt hatten und die sich wohl nie wieder begegnen würden.

Er bog in die Corn Street ein und erkannte die Fassade des Gasthauses The Bush. Die Postkutsche war zum Abfahren bereit, und Max begann zu laufen. Der Wachmann, leicht an seiner roten Jacke mit den goldfarbenen Litzen und dem Dreispitz zu erkennen, stand neben der Kutsche.

„Wie lange noch bis zur Abfahrt?“, fragte Max keuchend.

Der Wachmann sah auf seine Taschenuhr. „In vier Minuten, Sir.“

„Bin gleich wieder da.“

Max wusste, dass sie nicht auf ihn warten würden. Die Königliche Post würde pünktlich abfahren, ob ein zahlender Passagier nun an Bord war oder nicht. Der Pförtner des Gasthauses erkannte ihn und tippte sich an die Mütze. „Ich verstau schon mal Ihre Reisetasche, Sir.“

„Danke.“

Max schnipste ihm einen Penny zu und verschwand im Abort, da er wusste, dass er während der Reise, die die ganze Nacht über dauern würde, kaum Zeit finden würde, sich zu erleichtern. Der zweite Humpen wäre nicht nötig gewesen. Hastig lief er wieder hinaus und kletterte keine Sekunde zu früh in die Kutsche, denn der Wachmann blies schon in sein Horn. Die Kutsche setzte sich ruckelnd in Bewegung, und Max ließ sich in den einzigen noch leeren Sitz fallen – natürlich war es einer mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Er holte sein Taschentuch hervor, nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann setzte er den Hut wieder auf und sah aus dem Fenster, während sie durch Bristol rasten.

„Fast hätten Sie sie verpasst, Sir“, meinte eine fröhliche Stimme. „Die hätten nicht auf Sie gewartet, wissen Sie.“

„Dessen bin ich mir bewusst.“

Der Mann, dem die Stimme gehörte, saß ihm gegenüber, ein älterer Gentleman von beträchtlichem Leibesumfang und roter Gesichtsfarbe, offensichtlich ein wohlhabender Farmer.

Er grinste Max zwinkernd zu und hob abwehrend die Hände. „Nichts für ungut, Sir. Werden Sie nicht gleich wütend. War nur eine freundliche Bemerkung.“

Max nickte. Er hatte diesen sanften Tadel verdient, denn seine Reaktion war unabsichtlich abrupt gewesen. „Verzeihen Sie, Sir.“ Er streckte die Hand aus. „Tregowan.“

Max Hand wurde begeistert geschüttelt. „Ah, Cornwall, nicht wahr? Die schönste Gegend. Sage ich das nicht immer, meine Liebe?“

Eine füllige Frau, die neben dem Gentleman saß, lächelte zufrieden. „In der Tat, mein Lieber.“

„William Austerly, zu Ihren Diensten, Mylord. Und dies hier ist meine liebe Gattin, Mrs. Austerly. Wir kommen aus der Nähe von Redruth, Gwenhaven. Sie haben vielleicht schon davon gehört?“

Max hob die Augenbrauen. Gwenhaven war eins der größten, reichsten Güter in Cornwall, weit westlicher als Tregowan gelegen, und seine Länder schlossen mehrere sehr gewinnbringende Zinn- und Kupferminen mit ein.

„Das habe ich wirklich. Es besitzt einen beneidenswerten Ruf.“ Max lüpfte den Hut. „Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen, Sir. Und Sie ebenfalls, Mrs. Austerly.“

Der Gedanke an Austerlys erfolgreiche Minen versetzte seiner Selbstachtung einen weiteren Schlag, weil sie ihn an seine eigene klägliche Niederlage erinnerten. Als er den Titel und das Gut erbte, hatte er die Zinnmine Wheal Rowenna – nach einer früheren Lady Tregowan benannt, wieder in Betrieb genommen, weil er begierig war, seinen Pächtern und Nachbarn, von denen viele in tiefer Armut dahinsiechten, die so nötigen Arbeitsplätze zu verschaffen.

Seitdem war die Arbeit in der Mine eher kraftlos dahingeschlichen und hatte ihm nichts als Verluste eingebracht, aber Max konnte sich nicht dazu durchringen, sie zu schließen. Zu viele Menschen würden ihren Lebensunterhalt verlieren. Im vergangenen Jahr hatte er Geld geliehen, als eine neue Kupferader entdeckt worden war, aber das Risiko hatte sich nicht ausgezahlt. Das Geld hatte nicht ausgereicht und er hatte den Versuch, die Mine weiter auszubauen, aufgeben müssen. Das neueste Darlehen, das er wegen der erhofften Erbschaft aufgenommen hatte, sollte nicht nur Tregowan renovieren, sondern auch die Mine finanzieren.

„Erlauben Sie mir, das vierte Mitglied unserer fröhlichen Reisegesellschaft vorzustellen“, sagte Mr. Austerly. „Dies ist Miss Croome.“

Max drehte sich leicht, um die Frau an seiner Seite anzusehen. Diese blauen Augen … Es war die Frau von vorhin! Er wollte schon lächeln, doch er zögerte, als er die Unsicherheit in ihren Augen las, und runzelte die Stirn, weil er sich an seine Unhöflichkeit erinnerte. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er zu ihr ebenso unnötig schroff gewesen war wie zu Austerly.

Das sollte ihm als Warnung dienen. Seine missliche Lage war nicht die Schuld dieser Fremden, und es war ungerecht von ihm, sie seine schlechte Stimmung und seine Sorgen spüren zu lassen. Er lächelte freundlich und lüpfte wieder den Hut.

„Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Croome.“

3. KAPITEL

Aurelia hatte die Angst zurückgedrängt, die sie überkam, als Lord Tregowan in die Kutsche stieg und sich in den Sitz neben ihr fallen ließ. Ohne dass es ihr richtig bewusst wurde, hatte sie die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihr Kiefer schmerzte. Sie wusste, dass Tregowan nicht ahnen konnte, wer sie war – Henshaw hatte die Namen der drei Erbinnen nicht erwähnt –, aber trotzdem erstarrte sie in den ersten Momenten vor Schreck.

Während er sich mit Mr. und Mrs. Austerly unterhielt, hatte sie die Zeit, sich zu beruhigen. Schon der Gedanke, dass sie gezwungen war, auf so engem Raum mit einem Mann zusammen sein zu müssen, der zornig auf sie war, ließ sie innerlich erbeben, aber sie rief den Trotz zu Hilfe, der ihr in all den Jahren gegen Augustus Croome beigestanden hatte – dem Schurken, der selbst auf dem Sterbebett noch vorgegeben hatte, ihr Vater zu sein.

Genau wie Lord Tregowan war auch er jähzornig gewesen und war oft auf jeden losgegangen, der in seiner Nähe war, wenn ihn der Mangel an Geld ärgerte und wenn er sich über Mama und ihre Tochter beschwerte, die er stets als schwere Last angesehen hatte. Nach seinem Tod – einem Segen, soweit es Aurelia anging – hatte sie sich geschworen, keinem Mann zu erlauben, sie so in Angst und Schrecken zu versetzen, wie es Augustus bei ihrer Mutter getan hatte.

Mrs. Austerly sah sie besorgt an, und sie lächelte ihr beruhigend zu. Sie würde auch diese Situation überleben wie schon so manche schlimmere Situation. Was konnte Tregowan ihr schon antun?

Er konnte ihr wehtun.

Unwillkürlich sah sie seine großen Hände an und zuckte zusammen, als sie sich an Augustus’ grausame Schläge erinnerte.

Aber er wird es nicht tun, flüsterte ihr die Stimme der Vernunft zu. Sie war in Sicherheit, solange er nicht wusste, wer sie war.

„Darf ich Ihnen Miss Croome vorstellen?“

Nachdem Mr. Austerly ihren Namen ausgesprochen hatte, verschwanden auch die letzten Reste von Panik. Aurelia wandte ihm das Gesicht zu, schob leicht ihr Kinn vor und hielt Tregowans Blick stand.

Seine braunen Augen waren so faszinierend, wie sie sie in Erinnerung hatte, aber attraktive Augen sagten nichts über den Charakter eines Mannes aus. Ihr fiel auf, dass er leicht die Stirn runzelte, aber schnell hellte seine Miene sich wieder auf und er lächelte sie an.

„Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Croome.“

Obwohl sie sich wegen ihres schäbigen Aufzugs schämte, neigte sie den Kopf, wie sie es bei den vielen Damen gesehen hatte, die das Putzmachergeschäft ihrer Mutter aufgesucht hatten.

„Mylord.“

Sein Lächeln ließ nach, aber seine Lippen zuckten, als hätte ihn etwas an ihrer Antwort amüsiert. Wieder spürte Aurelia jenes seltsame Flattern, und sie wandte sich demonstrativ an Mrs. Austerly.

„Sie erzählten mir gerade von Ihren Töchtern, Ma’am.“

Mrs. Austerly lächelte entzückt. „Es ist ein seltenes Vergnügen für uns, nicht wahr, mein Lieber?“

Ihr Mann nickte mit einem liebevollen Lächeln.

„Wir haben bei Mary, unserer Ältesten, und ihrer Familie gewohnt. Sie ist mit einem sehr angesehenen Bankier hier in Bristol verheiratet. Thomas Bell. Kennen Sie ihn?“

Aurelia schüttelte den Kopf, und Mrs. Austerly fuhr fort, ihr alles über Marys fünf Kinder zu berichten und wie sehr sie ihren Aufenthalt bei ihnen genossen hatten.

„Und jetzt“, fügte sie schließlich aufgeregt hinzu, „sind wir auf dem Weg nach London, um unsere jüngste Tochter Emma zu besuchen. Sie hat im vergangenen Jahr Lord Pewsey geheiratet. Er ist ein Baron, stellen Sie sich vor! Und wir sind eingeladen, die Saison über bei ihnen zu bleiben. Der liebe Pewsey ist überhaupt nicht hochnäsig und schämt sich nicht, Leute wie uns als seine Familie anzuerkennen.“

„Wie aufregend“, sagte Aurelia freundlich. „Aber ich sehe auch nicht ein, warum irgendjemand sich dafür schämen müsste, Sie und Mr. Austerly zu seiner Familie zu zählen, liebe Ma’am.“

Mrs. Austerly strahlte bei diesem Kompliment, errötete aber ein wenig. „Es tut mir leid, dass ich so lange auf Sie eingeredet habe, aber ich war noch nie in London, wissen Sie, und ich freue mich so sehr darauf. Ich kann mich kaum zügeln.“

Mr. Austerly tätschelte ihr die Hand. „Ich versichere dir, du wirst dich großartig unterhalten, meine Liebe. Doch jetzt genug von uns. Wir wollen Seine Lordschaft nicht langweilen. Tregowan? Das liegt am südöstlichen Rand von Bodmin Moor, habe ich recht?“

„Ja, das stimmt.“

Tregowans knappe Antwort hielt Mr. Austerly nicht von weiteren Fragen ab.

„Sie haben doch eine Mine, wenn ich mich richtig erinnere?“

„Ja. Die Wheal Rowenna. Zink und ein wenig Kupfer.“

„Ah, ja. Eine gute Gegend für Kupfer.“

Aurelia schloss die Augen, während die beiden Männer über Bergbau und Landwirtschaft zu reden begannen. Sie verstand kaum etwas von allem, was erwähnt wurde, aber sie begriff zumindest, dass Tregowan in einem schlechten Zustand war. Kein Wunder, dass der Earl so wütend war, Lady Tregowans Erbschaft verloren zu haben.

Aber das war sein Problem. Sie selbst freute sich auf das Abenteuer ihres neuen Lebens. Die Stimmen der Männer lullten sie langsam ein, und sie nickte ein.

Das Posthorn riss Aurelia abrupt aus dem Schlaf. Sie öffnete ein Auge. Im Inneren der Kutsche war es dunkel, und das einzige Geräusch war das leise Schnarchen von Mr. und Mrs. Austerly. Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie nach links geneigt dasaß und ihre Wange auf einer Art Stoff ruhte. Sie öffnete auch das andere Auge, als das Tempo sich verlangsamte, und sah Licht, das an den Rändern der Holzläden eindrang, die sie aufgehängt hatten, als es Nacht wurde. Die vertrauten Geräusche, die ihr verrieten, dass die Pferde gewechselt wurden, beruhigten sie. Sie waren an einer der Poststationen angekommen und würden bald wieder weiterfahren.

Eine Bewegung von jenem Stoff unter ihrer Wange weckte Aurelia endgültig auf, und als ihr ihre Lage klar wurde, setzte sie sich kerzengerade auf. Ihre Wangen brannten vor Scham.

„Wegen mir müssen Sie sich nicht aufsetzen“, bemerkte Tregowan leise, und seiner Stimme war seine Belustigung anzuhören. „Ich habe es sogar eher genossen, als Kopfkissen benutzt zu werden. Außerdem wärmten Sie mich auf. Jetzt werde ich mich wahrscheinlich verkühlen.“

Aurelia sah ihn aus dem Augenwinkel an. Er duftete angenehm – nach Sandelholz, wie sie sich noch von ihrer ersten Begegnung her erinnerte, und jetzt auch nach süßem, fruchtigem Bier. Die Dunkelheit in der Kutsche und die erzwungene Nähe hatte ihr aus irgendeinem Grund die Angst vor ihm genommen. Es war, als wären die mürrischen Worte bei ihrem ersten Treffen und der Zorn im Gespräch mit Mr. Henshaw von einem ganz anderen Mann gekommen als diesem Gentleman, der so freundlich mit Mr. Austerly geplaudert hatte.

„Ich bin sicher, Ihr Mantel wird Sie warm genug halten.“ Ihre leicht schnippische Antwort verlor ihren Sarkasmus, als Aurelia gleich darauf erzitterte.

„Was man von Ihrem Mantel nicht behaupten kann.“

Er hob den rechten Arm, machte aber keinen Versuch, sie zu berühren, sondern sah sie nur einladend an. Wenn sie mutig genug sein würde, könnte sie sich an seine Brust lehnen und sich von ihm wärmen lassen. Aurelia zögerte.

„Bitte glauben Sie mir, dass ich keine Hintergedanken hege“, sagte er. „Es ist niemand da, der es missbilligen könnte. Die Austerlys schlafen tief und fest, und ich werde Sie freigeben, bevor wir London erreichen.“

Aurelia starrte ihn nachdenklich an. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie sah deutlich die dunklen Augenbrauen, die schmalen Wangen und die leicht schiefe Nase, seinen wohlgeformten Mund und die ersten Anzeichen von Bartstoppeln auf seinem markanten Kinn mit dem reizenden Grübchen. Sie sollte ihm nicht vertrauen, denn er war alles, was sie verabscheute – ein Gentleman, noch schlimmer, ein Adliger. Sie wusste sehr gut, welcher Hochmut diese Männer erfüllte. Männer wie Augustus. Aber Aurelia versuchte immer, aufrichtig zu sein, und sie musste zugeben, dass ihr Gefühl ihr sagte, dass sie diesem Mann vertrauen konnte.

„Danke.“

Sie rutschte näher. Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie dicht an seine Seite, und sein Körper begann sofort, sie zu wärmen. Die Postkutsche setzte sich wieder in Bewegung, und Aurelia atmete Tregowans Duft ein. Sie genoss seine Wärme und auch das regelmäßige Pochen seines Herzens an ihrem Ohr, während sie die Augen schloss und sich in diesem Kokon der Sicherheit und Geborgenheit entspannte. Diese Gefühle waren natürlich nichts als eine Illusion, denn sie war sich bewusst, wenn er ihre wahre Identität wüsste, würde er nicht so schnell bereit sein, ihr seine Hilfe anzubieten. Sie stellte sich seine Reaktion vor, falls … nein, sobald sie sich in London wiedersehen würden und er die Wahrheit entdeckte.

Es war nur zu hoffen, dass er nicht lange bleiben würde, da London während der Saison sehr teuer sein musste und er seine Zeit gewiss viel lohnender auf seinem Gut in Cornwall verbringen könnte. Aber neue Zweifel erwachten ihn ihr. Vielleicht würde ja der Glaube an seine eigene Überlegenheit ihn davon überzeugen, dass es sein Recht war, sich in London zu amüsieren, obwohl ihn finanzielle Sorgen plagten.

Um sich wieder zu entspannen, lenkte sie ihre Gedanken von Tregowan ab, um sie stattdessen lieber auf ihre unverhoffte Erbschaft und ihre neuen Halbschwestern zu lenken. Ihr Herz machte einen Sprung vor Freude, als ihr die Begegnung mit ihnen einfiel.

Die Gouvernante Leah, zurückhaltend und eine wahre Dame, war hochgewachsen und schlank mit feuerrotem Haar, Sommersprossen auf den hohen Wangen und einer edlen Nase. Sie hatte sich nicht von Henshaws kaum verhohlener Verachtung einschüchtern lassen, sondern war genau wie Aurelia bereit gewesen, dem Anwalt die Stirn zu bieten.

Beatrice – zierlich, hübsch und mit attraktiven Rundungen, goldbraunem Haar und den gleichen Augen wie Aurelia, wenn auch eher graublau – unterschied sich sehr von ihren Halbschwestern, was ihren Charakter anging. Da sie eher schüchtern und offensichtlich nervös gewesen war, hatte sie kaum ein Wort gesagt, und als sie es dann doch getan hatte, war Aurelia klar geworden, dass Beatrices Ängstlichkeit etwas damit zu tun haben musste, wie sie zu Hause behandelt worden war. Aurelia hoffte sehr, dass Beatrice sich bald von ihrem Bruder, bei dem sie lebte, würde trennen können, um in London zu ihnen zu stoßen.

Genau wie Aurelia hatte auch Leah keine Familie mehr. Tiefe Zufriedenheit erfüllte Aurelia. Jetzt waren sie drei eine Familie, und sie konnte es kaum erwarten, bis sie alle zusammen in London sein würden.

4. KAPITEL

Max zog Miss Croome etwas fester an sich, schloss die Augen und atmete ihren sauberen Duft nach Seife ein. Sie benutzte offenbar kein Parfum, was auch nicht überraschend war, wenn man ihre fadenscheinige Kleidung bedachte und die Tatsache, wie dünn sie war. Er runzelte die Stirn, weil hier irgendetwas widersprüchlich war. Sie machte den Eindruck, sehr arm zu sein, und doch reiste sie mit der Postkutsche nach London – wohl kaum das billigste Transportmittel. Die Austerlys hatten viel über ihre Gründe, nach London zu reisen, gesprochen, aber Miss Croome war weniger mitteilsam gewesen. Von ihr wusste er nur, dass sie in Bath gelebt hatte, wo ihre Mutter eine Putzmacherin gewesen war.

Aber selbst wenn er mehr über sie wüsste, würde er ihr doch nicht helfen können, so sehr er es vielleicht gewollt hätte. Er konnte ja kaum sich selbst helfen, Himmel noch mal, und schon bald würde er sich auch noch um Mama und Letty Sorgen machen müssen. Wie es aussah, würde er die wahren Umstände nicht länger vor ihnen verheimlichen können, und er stellte sich schon lebhaft ihre Enttäuschung vor. Er war das Familienoberhaupt und sollte für die Frauen in seiner Familie sorgen können, aber er hatte sie im Stich gelassen und alles nur noch schlimmer gemacht, als er ein Darlehen aufgenommen hatte. Zwar hatte er noch nicht alles ausgegeben, aber die Reparatur für das Dach von Tregowan Place bereits in Auftrag gegeben. Wie in aller Welt würde er seine Schulden jemals zurückzahlen können?

Miss Croome rührte sich leicht und murmelte etwas Unverständliches, wobei sie sich noch dichter an ihn schmiegte. Unwillkürlich drückte er sie an sich. Es fühlte sich so selbstverständlich an, sie in den Armen zu halten. Doch weniger als eine Minute später setzte sie sich abrupt auf.

„Was ist geschehen?“, flüsterte sie. „Warum haben Sie sich plötzlich angespannt?“

„Habe ich das? Es ist nichts. Ich habe nur versucht zu schlafen.“

„Na ja“, sagte sie und ihrer Stimme war anzuhören, dass sie lächelte, „ich kann Ihnen verraten, dass Ihnen das nicht gelingen wird, wenn Sie so angespannt sind.“

„Ich werde versuchen, mich zu entspannen. Wie könnte ich mir je verzeihen, Sie vom Schlaf abzuhalten?“

Sie lachte leise, und er spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Und dann versuchte er wirklich, sich zu entspannen, aber seine Gedanken gingen ungebeten immer wieder zu dem, was die Zukunft für ihn bereithalten mochte. Er dachte an Wheal Rowenna und dass es für die Männer und Frauen Armut und Elend bedeuten würde, wenn er die Mine schließen müsste. Jeder Penny musste weise verwendet werden, wenn er die Renovierung des Hauses zu Ende bringen wollte, ganz zu schweigen von Lettys Saison. Sein Magen zog sich nervös zusammen, als ihm bewusst wurde, wie ungeheuerlich die Probleme waren, die er lösen musste. Letty hatte so viel geopfert, um sich um Mama zu kümmern. All die Jahre war sie mit ihr in Italien geblieben, wo das Klima für ihre Lungen besser war. Wie konnte er seine Schwester jetzt also enttäuschen? Sie hatte es verdient, einen Mann, Glück und Sicherheit zu finden.

„Mylord?“ Das Flüstern drang durch die Hoffnungslosigkeit, die ihn in ihrem Bann hielt. „Es ist dunkel in der Kutsche. Wenn es Ihnen hilft, über Ihre Sorgen zu sprechen, höre ich gern zu.“

Lieber Himmel. Es war so verlockend. Aber sie konnte nichts für ihn tun, und sein Stolz ließ es nicht zu, das volle Ausmaß seines Versagens bloßzulegen. Ganz besonders nicht vor einer Frau wie ihr, die offensichtlich ein hartes Leben geführt hatte und bei der er den unerklärlichen Wunsch verspürte, ihrer guten Meinung würdig zu sein.

„Es ist nichts. Ich bin nur hungrig, mehr nicht.“

„Oh.“ Er hörte ein Rascheln, und dann drückte sie ihm etwas in die Hand. „Hier. Das ist ein Stückchen Pastete. Ich habe im Gasthaus ausreichend Proviant gekauft, bevor ich in die Kutsche stieg. Bitte nehmen Sie. Ich habe noch sehr viel. Obst. Brot. Käse. Sie können gern davon haben.“

Er war wieder verblüfft über den Widerspruch, den diese Frau darstellte. Sie machte den Eindruck, seit Langem nicht richtig gegessen zu haben, und doch hatte sie genügend Mittel, um mit der Kutsche nach London zu reisen und auch noch reichlich Proviant für die Reise zu kaufen. Aber er stellte ihr keine Fragen, obwohl er sehr neugierig war, denn er war einfach zu hungrig dafür. Also streifte er die Handschuhe ab, um die kalte Fleischpastete auszuwickeln und mit Genuss hineinzubeißen.

„Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan, als ich vorhin mit Ihnen zusammenstieß?“

„Nein, überhaupt nicht. Und eigentlich sollte ich Ihnen danken, weil sie mich davor bewahrt haben, auf die Straße zu fallen.“

„Sind Sie auf dem Weg nach London, um Arbeit zu finden?“

Obwohl sie nicht mehr an ihm lehnte, spürte er doch, wie sie sich anspannte. „Sie brauchen nicht darüber zu reden, wenn Sie nicht möchten.“

„Ich … meine Pläne sind noch unklar. Aber ich stelle mir vor, es gibt größere Möglichkeiten für Arbeit in London als in Bath. Oder Bristol.“

„Ja, das glaube ich auch.“

War sie deswegen in Bristol gewesen? Um Arbeit zu suchen? Max schluckte den letzten Rest seiner Pastete und wünschte, er könnte ihr irgendwie helfen. „Sie sagen, Ihre Mutter war Putzmacherin? Haben Sie dasselbe Gewerbe gelernt?“

„Ich habe nicht ihr Talent für schöne Entwürfe geerbt, aber ich bin sehr geschickt mit der Nadel. Hätten Sie gern noch ein wenig Brot und Käse? Ich habe auch eine kleine Flasche Dünnbier, mit dem Sie alles hinunterschlucken können.“

„Ich kann Ihnen doch nicht Ihre ganzen Vorräte wegessen!“

„Das werden Sie schon nicht. Ich habe genug, um uns alle vier zu verköstigen. Sehen Sie.“ Er hörte, wie sie in einen Apfel biss. „Oder vielmehr hören Sie“, meinte sie lachend. „Tut mir leid. Das war ziemlich laut, oder?“

Er lachte auch. „Das macht mir nichts aus. Haben Sie noch einen Apfel? Mir schmecken Apfel und Käse zusammen sehr gut. Schon einmal probiert?“

„Nein. Moment.“ Gleich darauf spürte er einen kleinen Apfel in seiner Hand, und sein Mittelfinger prickelte unwillkürlich, weil er damit die Innenfläche ihres Handgelenks berührt hatte.

„Hier ist Ihr Apfel“, sagte sie leicht atemlos, als hätte sie die Berührung auch aufgewühlt. Sie räusperte sich. „Ich werde ein wenig Käse mit meinem Apfel essen und Sie mein Urteil wissen lassen.“

Nach einigen Minuten verkündete sie: „So was! Wirklich erstaunlich. Süß und salzig, knackig und glatt – die vollkommene Kombination. Wer hätte das gedacht?“ Sie lachte. „Gegensätze ziehen sich eben an, wie meine Mutter immer sagte.“

„Ach, Ihre Mutter auch? Das scheinen alle Mütter gemeinsam zu haben – für alle Situationen alle möglichen Sprichwörter parat zu haben. Meine Mutter kann es auch nicht lassen, aber da sie Italienerin ist, bringt sie sie oft durcheinander. Ihre Lieblingssprüche sind: Langer Rede kleiner Sinn, und man soll die Rechnung nicht ohne den Koch machen. Vor allem das Letztere bekam ich als Junge oft zu hören, wenn ich mir meiner Sache ein wenig zu sicher war.“ Bei der Erinnerung wurde ihm ganz warm ums Herz. Es war schön, an angenehme Dinge zu denken, selbst wenn sie ihn nur kurz von seinen Sorgen ablenken konnten.

Miss Croome lachte. „Die gefallen mir! Ich werde sie vielleicht selbst auch benutzen. Aber ich wusste nicht, dass Sie eine Mutter haben.“

Max runzelte die Stirn. Was für eine seltsame Bemerkung von einer Frau, die ihn eben erst kennengelernt hatte. „Nun ja, ich wurde nicht vom Storch gebracht“, meinte er trocken.

„Oh! Verzeihen Sie. Ich … ich habe nur Ihr Gespräch mit Mr. Austerly gehört, und es schien nicht … aber natürlich gibt es keinen Grund, weswegen Ihre Mutter nicht bei Ihnen wohnen sollte. Ich meine …“ Sie brach ab, und er hörte sie tief durchatmen. „Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht neugierig sein.“

„Meine Mutter hat die letzten zehn Jahre in Italien gelebt.“ Es war nicht nötig in Einzelheiten zu gehen, damit würde er nur riskieren, womöglich doch noch seine Niederlagen einzugestehen.

„Fehlt sie Ihnen nicht?“

„Manchmal schon. Aber Ihnen muss Ihre Mutter sehr fehlen. Sie erwähnten, dass sie letztes Jahr verstorben ist.“

„Ja.“

Er spürte, dass sie sich zurückzog und unterdrückte den Wunsch, ihr noch mehr Fragen zu stellen. Bisher hatte er ihr ruhiges, kameradschaftliches Gespräch in der dunklen Kutsche genossen. Er stellte sich ihr Gesicht vor, die schönen blauen Augen und die goldenen Locken, die unter ihrem Hut zu sehen waren, und fragte sich, wie sie wohl aussehen mochte, wenn sie sich gut ernähren würde und nach der letzten Mode gekleidet wäre. Hinreißend, war sein Urteil, und er fragte sich gleich darauf, wie eine offensichtlich wohlerzogene Frau in eine so missliche Lage hatte geraten können.

Sie riss ihn aus seinen Gedanken. „Möchten Sie noch etwas trinken, bevor ich versuche, noch ein wenig zu schlafen?“

Max nahm ihr Angebot an und respektierte ihren unverhohlenen Wunsch, das Gespräch nicht weiterzuführen. „Möchten Sie mich wieder als Kissen benutzen?“

Er rechnete eher damit, dass sie ablehnen würde, und war erfreut, als sie einverstanden war. Wieder rückte sie näher, erlaubte ihm, den Arm um sie zu legen, und legte den Kopf an seine Brust. Seine Hand berührte ihren Oberarm, und Max zwang sich, locker zu bleiben und ihn nicht zu drücken oder zu streicheln.

„Danke für die Erfrischungen“, sagte er noch. „Ich fühle mich viel besser.“

Und das stimmte auch. Er fühlte sich besser. Zufriedener. So flüchtig dieser Moment auch sein mochte, so angenehm war es doch, sie an seiner Seite zu spüren und sich von ihr wärmen zu lassen und zu wissen, dass auch er sie erwärmte. Jetzt war er auch bereit einzuschlafen. Er musste sich nur davon abhalten, über seine Sorgen zu grübeln. Aber sobald dieser Gedanke erschien, drängte sich die einzige Lösung für seine Probleme wieder in den Vordergrund.

Er musste heiraten. Er musste eine wohlhabende Frau finden, und das schnell. So sehr ihm die Vorstellung zuwider war, konnte er sich jetzt nicht mehr den Luxus erlauben, auf eine Liebesheirat zu hoffen. Er konnte nicht mehr auf seinen Stolz pochen.

Nachdem er sich also klargemacht hatte, dass es wenigstens eine Lösung für die Katastrophe gab, zu der sein Leben geworden war, entspannte er sich und schloss die Augen.

Die Kutsche kam pünktlich vor dem Wirtshaus Swan with Two Necks in der Lad Lane in Cheapside an. Wie versprochen, hatte Max Miss Croome behutsam freigegeben, als sie sich der Mautschranke an der Hyde Park Corner näherten und sie sanft in die Ecke der Kutsche manövriert. Mr. und Mrs. Austerly schliefen noch immer tief und fest, und Max zog den Vorhang an seiner Seite zurück – die Läden waren inzwischen entfernt worden –, um hinauszusehen. Schon bald waren sie an ihrem Ziel angekommen, und seine Reisegefährten erwachten allmählich aus ihrem Schlummer. Miss Croome war genauso schön, wie er sie sich in der Nacht vorgestellt hatte – sogar noch schöner, da sie schon jetzt nicht mehr so blass war wie am Anfang. Er verdrängte die Enttäuschung darüber, dass ihre Wege sich wahrscheinlich nie wieder kreuzen würden, und erinnerte sich an seine Pflicht – er musste eine Frau mit einer großzügigen Mitgift heiraten.

„Na, so was.“ Mr. Austerly rieb sich das Gesicht und fuhr sich dann durch das graumelierte Haar. „Da sind wir ja schon, gesund und munter angekommen.“ Er streckte sich und gähnte herzhaft. „Das Wunder des modernen Reisens, was? Man schläft in Bristol ein und erwacht am nächsten Morgen in London. Wer hätte je gedacht, dass wir so große Entfernungen in so kurzer Zeit hinter uns bringen könnten, oder, meine Liebe?“

Seine Frau nickte. „Ja, wirklich.“ Wie alle Übrigen, begann sie, ihre Habseligkeiten einzusammeln, bevor sie aussteigen konnte. „Und was ist mit Ihnen, meine Lieben? Pewsey schickt uns seine Kutsche. Dürfen wir Sie irgendwohin mitnehmen?“

„Wenn es Ihnen keine Umstände macht, nehme ich Ihr freundliches Angebot sehr gern an“, sagte Max, während er ausstieg und sich umdrehte, um den beiden Damen herauszuhelfen. „Pewsey wohnt in Mayfair, sagten Sie doch, oder? Ich wohne ganz in der Nähe, also kann ich von dort zu Fuß weitergehen.“

Zu seinem Glück hatte sein Freund Simon Effingham ihm angeboten, ihn für die Zeit der Saison in seinem Haus am Portman Square aufzunehmen, was ihm ersparen würde, mit Mama und Letty in Lady Langbrooks Haus zu wohnen.

„Das stimmt“, antwortete Mr. Austerly stolz. „In der South Audley Street.“

Miss Croome schien ein wenig verlegen zu sein. „Danke, Ma’am, aber ich … es ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich habe Geld für eine Mietdroschke bekommen.“ Sie warf Max einen flüchtigen Blick zu, wandte ihn schnell wieder ab und runzelte die Stirn. „Ich komme allein zurecht.“

Max verbiss sich ein Lächeln, ahnte aber, dass sie keine Ahnung hatte, wie und wo sie eine Mietdroschke finden würde. Er gab einem vorbeigehenden Träger ein Zeichen. „Diese Dame braucht eine Mietdroschke. Seien Sie so freundlich und bringen Sie sie zu einer, mein Guter.“

„Jawohl, Sir. Ich zeige Ihnen den Weg, Miss … soll ich Ihr Gepäck nehmen?“ Er schaute auf die Taschen, die gerade von der Kutsche abgeladen wurden.

„Oh, ich … ich habe kein Gepäck.“

Max runzelte die Stirn. „Warum nicht? Was …“

„Keine Sorge, Mylord“, sagte sie hastig. „Ich komme zurecht.“ Sie wandte sich lächelnd an die Austerlys und drückte Mrs. Austerlys ausgestreckte Hand. „Vielen Dank für Ihre Gesellschaft. Ich hoffe sehr, dass Sie bei Ihrem Aufenthalt in London viel Spaß haben werden.“

„Aber meine Liebe …“ Mr. Austerly war offensichtlich ebenso besorgt wie Max. „Sind Sie sicher? Es ist schon seltsam, dass … ohne Gepäck … haben Sie einen Ort, wo Sie unterkommen können? Ich bin sicher, Pewsey kann eine Stellung für Sie finden, wenn Sie Arbeit suchen.“

„Nein!“ Miss Croome errötete heftig. „Nein. Ich verspreche Ihnen, es gibt keine Probleme, Sir. Auf Wiedersehen, und haben Sie noch einmal vielen Dank.“

Sie warf Max einen rätselhaften Blick zu und eilte dann dem Träger hinterher und war außer Sichtweite, als Max und die Austerlys auf die Lad Lane kamen und nach der Stadtkutsche Ausschau hielten, die auf sie wartete. Doch Miss Croomes Verhalten hatte wieder Max’ Neugier erweckt, und als er den Träger zurückkommen sah, konnte er nicht widerstehen.

„Nur einen Augenblick noch“, wandte er sich an die Austerlys. „Mir ist eben etwas eingefallen.“

Er fand den Mann auf dem von Menschen überfüllten Hof. „Haben Sie mitbekommen, welche Adresse die junge Dame dem Kutscher geben hat? Sie hat etwas in der Kutsche vergessen.“

„South Street, Mylord.“

5. KAPITEL

South Street? Es war wie ein Fausthieb in den Magen für Max, denn Tregowan House befand sich in der South Street. Jetzt ergaben alle Zufälle plötzlich einen Sinn – dass er vor Henshaws Büro mit ihr zusammengestoßen war, dass sie am selben Tag nach London reiste, und vor allem die Widersprüche, die ihm bei ihr aufgefallen waren. Sie war ärmlich gekleidet und sah aus, als wäre sie kurz vor dem Verhungern, hatte aber genügend Geld für eine Kutsche und Unmengen von Verpflegung bei sich. Konnte es sein? Konnte es wirklich sein?

Ein Wirrwarr an Gedanken brach über ihn herein wie eine Lawine, während er zu Pewseys Kutsche zurückkehrte. Warum war es ihm nicht vorher in den Sinn gekommen? Und sie musste natürlich wissen, wer er war, denn sie kannte seinen Namen, und sie wusste, dass die Erbschaft eigentlich ihm gehören sollte. Kein Wunder, dass sie so verschlossen über … nun, eigentlich über alles gewesen war. Konnte es denn eine andere Erklärung geben?

Er dankte dem Himmel, dass er ihr vorhin in der Kutsche nichts von seinen finanziellen Sorgen verraten hatte. Und inmitten seiner verwirrten Gedanken erwachte ein Hoffnungsschimmer. Er mochte sie ganz gern, obwohl sie sich jetzt natürlich als hinterlistig erwiesen hatte. Und offensichtlich fühlte er sich zu ihr hingezogen. Was wäre, wenn …

Wenn die Heirat mit einer Erbin die Lösung seiner Probleme war, warum sollte er dann nicht Miss Croome heiraten? Sie war attraktiv. Und der Gerechtigkeit wäre Genüge getan. Er verdiente diese Erbschaft. Sarah hatte sie ihm versprochen.

Aber zunächst musste er gewisse Tatsachen klarstellen. Es würde nutzlos sein, Miss Croome zu heiraten, wenn sie nur einen geringen Anteil von Lady Tregowans Besitz geerbt hatte. Um sein jetziges Dilemma zu beseitigen, musste er eine wirklich reiche Erbin zur Frau nehmen. Bisher war ihm der Gedanke, wegen des Geldes zu heiraten, immer zuwider gewesen. Seine romantische italienische Seite sehnte sich nach Liebe und Leidenschaft, und die katastrophale Verbindung seiner Eltern hatte ihm gezeigt, wie unglücklich die Folgen einer Ehe sein konnten, die nur auf finanziellen Interessen beruhte. Und natürlich könnte es auch sein, dass er sich vollkommen geirrt hatte. Es bestand vielleicht nicht die geringste Verbindung zwischen Miss Croome und Lady Tregowan.

„Fühlen Sie sich nicht wohl, Mylord? Sie sehen sehr blass aus.“ Mrs. Austerly musterte ihn besorgt, als er in die Kutsche stieg.

„Es geht mir gut, danke, Ma’am. Ich bin wohl nur müde, weil ich nicht so gut geschlafen habe.“

„Wenn Sie dem Kutscher Ihre Adresse nennen wollen, kann er Sie auch direkt vor Ihre Haustür fahren“, schlug Mr. Austerly vor.

„Nein, vielen Dank, Sir. Ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft wird mir guttun. Mr. Effinghams Haus liegt am Portman Square, der nicht weit von der South Audley Street entfernt ist.“

Und die South Street lag genau um die Ecke. Er könnte hingehen und einfach mal nachsehen. Zwar wusste er nicht, was er anderes zu sehen erwartete als die Fassade von Tregowan House, aber dennoch. Es konnte nicht schaden.

Bald erreichten sie die South Audley Street, und wie es das Glück wollte, befand sich Pewseys Haus am südlichen Ende, was bedeutete, dass Max’ Weg zum Portnam Square ihn an der South Street vorbeiführen würde.

„Sie müssen uns einmal besuchen und mit uns zu Abend speisen, Mylord.“ Mr. Austerly schüttelte Max kräftig die Hand, nachdem sie alle ausgestiegen waren. „Ich würde mich über die Gelegenheit freuen, wieder mit Ihnen über Ihre Mine...

Autor

Janice Preston
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Christine Merrill
Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
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