Hochzeit - ohne Liebe?

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Um den süßen kleinen Ben dreht sich alles bei Tess und Rafael. Sie möchte dem Kind ihrer überforderten Nichte Chloe ein behütetes Zuhause geben. Aber Rafael erhebt Ansprüche, denn der Junge ist der Sohn seines verstorbenen Bruders Alec. Ziemlich unromantisch schlägt Rafael Tess vor, seine Frau zu werden. Nur zögernd willigt sie ein, denn von einer reinen Vernunftehe träumt sie wirklich nicht! Außerdem hat ihr eine heiße Nacht mit ihm bewiesen, wie leidenschaftlich er sein kann. Sie will ihn! Doch wenn er ihr nicht endlich gesteht, dass er sie aus Liebe heiratet, wird sie die Hochzeit platzen lassen!


  • Erscheinungstag 12.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759278
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Das Dorf lag im Dunkeln, als Rafael Farrar auf dem Weg zu seinem Großvater durch den kleinen Ort fuhr. Für Tagesausflüge gerade ein wenig zu weit von den beliebten Stränden entfernt, war das Dorf relativ unberührt von Modernisierung und Tourismus geblieben.

In diesem verschlafenen, kleinen Nest hatte Rafael seine Kindheit verbracht. Seit dem Tod seines älteren Bruders Alec und dem Umzug seines Vaters an die Riviera war sein Großvater der einzige Farrar, der das Herrenhaus am Ortsrand bewohnte. Er hatte sich vor Kurzem aus Altersgründen aus dem internationalen Bankgeschäft zurückgezogen und kam mit dem Ruhestand nicht gut zurecht. Als schwarzes Schaf der Familie hatte Rafael sich nur ungern zu diesem Pflichtbesuch aufgerafft.

Eigentlich hatte er einen Gast mitbringen und seinem Großvater vorstellen wollen, Claudine, die seine Frau hätte werden sollen. Doch sie hatte sich inzwischen von ihm getrennt, und er grübelte nun darüber nach, wie es dazu gekommen war. Normalerweise ein vorsichtiger und umsichtiger Fahrer, war er an diesem Tag so in Gedanken versunken, dass er schneller durch die schmalen, nächtlichen Gassen fuhr als gewohnt und das Tier viel zu spät sah, um noch rechtzeitig zu bremsen.

Nur seinen schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass er den Hund, der plötzlich vor ihm über die Straße lief, an der Seite traf und nicht überfuhr. Dass er dabei von der Straße abkam und einen Baum streifte, war eine andere Sache. Fluchend sprang er aus dem Wagen und sah sich den Schaden an. Ein Frontscheinwerfer war beschädigt, und der Hund lag zitternd auf dem Grasstreifen am Straßenrand.

„Alles in Ordnung, alter Junge“, sprach Rafael beruhigend auf ihn ein. Dann tastete er den mageren Körper ab. Das mächtige Tier ließ es sich gefallen, ohne sich zu rühren. Rafael war zwar kein Experte, aber doch ziemlich sicher, dass es eher einen Schock als eine lebensbedrohliche Verletzung erlitten hatte.

„Sieht aus, als hättest du noch mal Glück gehabt.“ Er kraulte den Hund hinter dem Ohr. Das Tier sah anbetend zu ihm auf. Rafael brauchte nicht erst auf der Marke nachzusehen, um zu wissen, wer der Besitzer war.

Der Hund sah aus wie ein gemeiner Straßenköter von der Sorte, die im Tierheim verblieben, nachdem alle einigermaßen ansprechend aussehenden Tiere ein Zuhause gefunden hatten. Sein schmutzigweißes Fell glänzte nicht, und es war voller Narben. So ein Hund konnte nur einem Menschen gehören: Tess Trelawny. Schon als sie und Rafael noch Kinder gewesen waren, hatte sie sich aller herrenlosen Hunde im Umkreis von zehn Meilen angenommen.

Rafael hob den Hund hoch und legte ihn auf den Rücksitz. Es war schade um die hellen Lederbezüge, aber da ließ sich jetzt nichts machen. Dann stieg er wieder ein und fuhr zu dem gemütlichen, kleinen Cottage, das Tess vor vier Jahren von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Auch wenn kein Licht im Haus gebrannt hätte, hätte er keine Skrupel gehabt, sie zu wecken. Er freute sich sogar, dass er nun einen legitimen Grund hatte, seinem Ärger Luft zu machen. In dieser Nacht war ihm sehr danach zumute. Auf Tess brauchte er keine Rücksicht zu nehmen. Sie war ohne Weiteres imstande, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Den Hund im Arm, trat er heftig gegen die Küchentür. Sie ging unter lautem Knarren und Ächzen auf, das einem Horrorfilm Ehre gemacht hätte.

„Du könntest ruhig mal deine Tür ölen“, sagte Rafael und trat über die Schwelle in die hell erleuchtete Küche. „Was ist denn hier los? Hat jemand bei dir eingebrochen?“, rief er dann verblüfft. Es schien die beste Erklärung für das Durcheinander im Raum zu sein. Der Inhalt sämtlicher Schränke schien in kleinen und größeren Häufchen auf dem Fußboden verteilt zu sein.

Die kleine, schlanke Person, die nur ein kurzes Baumwollnachthemd und gelbe Küchenhandschuhe trug, ignorierte seine Frage. „Baggins!“, rief sie erschrocken und wandte sich dann vorwurfsvoll an Rafael. „Was hast du mit ihm gemacht?“

„Warum schließt du deine Tür nicht ab?“, stellte er die Gegenfrage. „Ich hätte ja sonst wer sein können.“

Tess warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. „Aber nun bist du es ja nur“, sagte sie. „Da habe ich noch mal Glück gehabt.“

„Lass das“, schimpfte Rafael, als sie ihm den Hund abnehmen wollte. „Er ist viel zu schwer für dich. Außerdem kann das arme Tier ganz gut selbst laufen.“ Er setzte den Hund ab. „Ich habe ihn nur getragen, um zu verhindern, dass er mir ausreißt und noch einmal einem nichts ahnenden Autofahrer vor den Wagen läuft.“ Er schloss die Tür hinter sich.

„Oh!“ Tess beruhigte sich etwas, als Baggins sich sofort verspielt wie ein Welpe verhielt. „Ich habe den Zaun repariert, aber er gräbt sich immer wieder drunter durch. Bestimmt hast du ihn mit deinem großen Angeberauto angefahren.“

„Ich habe ihn nur ganz leicht gestreift.“ Was für kleine, schmale Füße sie hat, überlegte er. Genauso zierlich wie die ganze Tess. Zierlich und schlank, aber nicht dünn, sondern mit weichen, vollen Rundungen an genau den richtigen Stellen – und das überall! Sie sah richtig sexy aus!

Kaum war er in Gedanken so weit gelangt, da schien es nur natürlich, dass er sich vorstellte, wie sie wohl unter dem leichten Nachthemd aussah. Verwirrt versuchte er, seine Gedanken in eine unverfänglichere Richtung zu lenken. Er hatte nichts gegen Sex. Und auch nichts gegen Tess. Aber Tess und Sex? Das war ihm bisher noch nicht in den Sinn gekommen.

„Erspare mir einen Vortrag darüber, dass Baggins sein Leben nur deinen schnellen Reflexen verdankt!“

Rafael verbarg seine Verwirrung hinter einem ironischen Lächeln. „Das ist also der Dank für das Opfer, das ich gebracht habe.“

„Welches Opfer?“

„Ein kaputter Scheinwerfer. Und danke für die Nachfrage, nein, mir ist glücklicherweise nichts passiert.“ Erleichtert stellte er fest, dass er ihr wieder in die Augen sehen und sie wie gewohnt als gute alte Freundin betrachten konnte. Der kurze, lustvolle Moment war bestimmt auf seine Trennung zurückzuführen. Liebeskummer konnte die merkwürdigsten Folgen haben, das wusste ja jeder.

„Dass du nicht verletzt bist, ist offensichtlich.“

„Ich habe den Eindruck, dass es dir lieber wäre, wenn ich mir den einen oder anderen Knochen gebrochen hätte. Empfängst du Gäste öfter so? Dann wundert es mich, dass überhaupt noch jemand vorbeikommt.“

„Vielleicht wäre ich glücklicher, wenn keiner käme“, entgegnete sie scharf.

„Ach, haben wir vor, uns ganz von den Menschen zurückzuziehen?“

„Du bist zwar der Gutsherr und das Ergebnis von Generationen der Inzucht, aber geht es nicht doch ein bisschen weit, wenn du das königliche ‚Wir‘ verwendest?“

„Ich habe nicht von mir gesprochen. Und ehe du mir noch mehr Beleidigungen an den Kopf wirfst, möchte ich daran erinnern, dass unter diesem kräftigen, männlichen, der Inzucht zu verdankenden Äußeren eine empfindsame Seele wohnt.“ Er nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. „Da, ich bin aus Fleisch und Blut.“

Tess konnte zwar seine Seele nicht fühlen, aber sie spürte seine Wärme und den langsamen, gleichmäßigen Herzschlag. Wie erstarrt blickte sie auf ihre Finger. Der Moment schien eine Ewigkeit zu dauern. Es machte sie seltsam nervös, so zu stehen. Nach einer Weile wurde ihr schwindelig. Verwirrt hob sie den Blick und sah ihn an. Seine Gesichtszüge verschwammen vor ihren Augen.

Rafael erwiderte ihren Blick und ließ hastig ihre Handgelenke los. Er räusperte sich. „Dir ist das vielleicht nicht klar, aber zwischen angeberisch und echter Klasse besteht ein Riesenunterschied.“

„Ach was, ein Spielzeug für kleine Jungs.“ Ich hätte wirklich etwas essen sollen, dachte sie, dann wäre mir nicht so schwindelig.

„Wenn du mein Auto beleidigst, beleidigst du mich.“

Sie lächelte schalkhaft. „Ich würde lieber dich beleidigen.“

„Das habe ich mir beinah gedacht.“

Sie zuckte die Schultern. Natürlich wusste sie, dass ihr Ärger ihrer Nichte Chloe galt, aber da Rafael im Gegensatz zu Chloe zur Hand war, ließ sie ihren Zorn eben an ihm aus. Zum Glück besaß er ja breite Schultern. Sehr breite sogar.

„Ich habe gestern mit angesehen, wie du den armen Mann fertiggemacht hast.“

„Hast du etwa einen Fernseher? Das passt gar nicht zu deinem Lebensstil. Ich dachte, du wärst jetzt ganz zu Naturkost und einem natürlichen Leben übergegangen.“

Dass er sich darüber amüsierte, verletzte sie. Er kam offensichtlich nicht auf die Idee, dass ihr der eine oder andere Konzert- oder Theaterbesuch fehlte, Dinge, die einst ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen waren.

„Gran hatte keinen Fernseher. Ich besitze ein kleines, tragbares Gerät. Dass ich mein eigenes Gemüse anbaue, bedeutet noch lange nicht, dass ich all meine Interessen aufgegeben habe. Und spar dir deine Kritik. Ich handle wenigstens aus Überzeugung.“ Oder weil sie sich Biogemüse nicht leisten konnte.

„Willst du damit sagen, dass ich das nicht tue?“

„Zumindest hattest du vor Nicola nicht das geringste Interesse daran, den Planeten zu retten.“ Nicola, eine aktive Umweltschützerin, war seine erste feste Freundin gewesen. Abgesehen von ausgeprägten Ansichten, hatte Nicola, ebenso wie alle Freundinnen, die nach ihr kamen, sehr lange Beine, eine Traumfigur und wallendes blondes Haar. „Du hast sie doch nicht etwa vergessen?“

Nicola lag lange Zeit zurück, und er erinnerte sich nur vage an sie. Trotzdem lächelte er. „Ein Mann vergisst ein Mädchen wie Nicola nicht so leicht. Sie besaß jede Menge Schwung.“

Ganz zu schweigen von bemerkenswerten Brüsten, dachte Tess.

In diesem Moment wischte Baggins mit dem Schwanz über einen Stapel Teller und fegte den obersten vom Tisch. Rafael fing ihn geschickt auf, ehe er auf den Boden fallen und zerbrechen konnte.

„Dieser Hund ist eine Gefahr“, sagte er unwirsch.

„Wenn du meinen Hund beleidigst, beleidigst du mich“, griff sie seine Bemerkung von zuvor auf. „Vielleicht sollte ich den Tierarzt anrufen, um ganz sicherzugehen, dass ihm nichts passiert ist?“

„Wenn er ein Pferd wäre, hätte man ihn schon längst zu Hundefutter verarbeitet.“

„Nicht, wenn er mein Pferd wäre.“

„Du bist zu sentimental, Tess.“

„Und das von dir! Dabei führt dein erstes Pony ein Luxusleben.“

„Es lebt in angemessenem Komfort“, korrigierte Rafael und zeigte ihr damit, dass sie mit ihrer Bemerkung ins Schwarze getroffen hatte. „Wenn du dir wirklich Sorgen machst, rufen wir Andy an. Er macht bestimmt gern einen Hausbesuch.“

Das ganze Dorf wusste, dass der Tierarzt, der um einiges älter war als Tess, ihr, seit er die Tierarztpraxis übernommen hatte, den Hof machte. Rafael hatte ihn nur einmal kurz kennengelernt und ihn sofort als einen selbstgerechten, aufgeblasenen Langweiler eingestuft.

Tess errötete. „Hast du nicht gehört, dass Andy die Praxis wieder verkauft hat? Er ist in den Norden gezogen.“ Sie wusste, dass Rafael genau das dachte, was jeder andere im Dorf auch gedacht hatte. Und wenn er es wagte, ihr mit Mitleid zu kommen, dann würde sie …

Bloß weil sie Single, weiblich und beinahe dreißig war, nahmen alle an, sie würde nur darauf warten, dass jeder halbwegs gut aussehende Mann mit ihr eine romantische Beziehung anfing. Zugegeben, halbwegs gut aussehende Männer waren Mangelware, und sie hatte Andrews Gesellschaft genossen. Aber obwohl sie nur gelegentlich zusammen essen gegangen waren, hatte die gesamte Nachbarschaft viel mehr in dieser Freundschaft gesehen. Das hatte sie den vielsagenden Blicken und anzüglichen Bemerkungen entnommen.

„Ich fand schon immer, dass er ein aalglatter Typ war.“

„Vielleicht tröstet es dich, dass er auch nicht viel von dir gehalten hat.“

Rafael streichelte den Hund, der hingebungsvoll zu ihm aufsah. „Wo hast du den her?“

„Er hat Mr. Pettifer gehört. Erinnerst du dich an ihn?“

Rafael nickte, obwohl er sich nur schwach an den hinfälligen Achtzigjährigen erinnerte.

„Keiner wollte den Hund nehmen.“

„Das wundert mich aber!“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass viele Familien gern so ein hässliches Untier aufgenommen hätten.

Tess strich sich ärgerlich das dichte kastanienbraune Haar, dem ein Haarschnitt gut getan hätte, aus dem Gesicht und sah Rafael an. „Er hat einen wunderbaren Charakter.“

„Sein Atem stinkt.“

„Egal, Ben liebt ihn.“ So, wie sie das sagte, war klar, dass es keine bessere Empfehlung gab. Irgendwie kam ihr Rafael diesmal verändert vor. Sie wusste nicht, was es war, aber … „Hast du etwas getrunken?“, sprach sie ihren Verdacht laut aus.

„Noch nicht.“ Suchend ließ er den Blick über die Küchenregale schweifen. „Wer sagt’s denn? Genau das, was ich suche.“ Er nahm eine angestaubte Flasche aus einem Fach und las das Etikett. „Holunderwein! Meine Lieblingssorte. Korkenzieher?“ Ungeduldig streckte er die Hand aus.

Du willst tatsächlich deine anspruchsvollen Geschmacksnerven Grans hausgemachtem Holunderwein aussetzen?“, neckte sie ihn.

„Ich trinke ihn nicht allein.“

„Eine echte Versuchung, aber es ist drei Uhr nachts.“ Sie sah automatisch auf ihre Armbanduhr, nur um zu entdecken, dass sie sie nicht umhatte. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie, abgesehen von dem kurzen Baumwollnachthemd, kaum etwas anhatte. Unwillkürlich zupfte sie am Saum, um ihre Beine ein Stückchen mehr zu bedecken.

Rafael dagegen sah perfekt angezogen aus wie immer. Die Uhrzeit machte für ihn offensichtlich keinen Unterschied. Er trug eine geschmackvolle und sicher sehr teure Kombination: eine dunkelolivgrüne Hose und dazu ein Polohemd. Dabei kam es auf die Einzelheiten nicht so sehr an, da er einen Meter neunzig maß und athletisch gebaut war mit langen Beinen, schmalen Hüften und breiten Schultern. Außerdem besaß er eine sinnliche Ausstrahlung, die es Frauen leicht machte, darüber hinwegzusehen, dass sein Gesicht einem Schönheitsideal nicht standgehalten hätte. Es war attraktiv, interessant und kraftvoll, aber nicht schön.

„Mir ist klar, wie viel Uhr es ist, Tess. Veranstaltest du eigentlich oft mitten in der Nacht einen Frühjahrsputz?“

„Ich konnte nicht einschlafen“, verteidigte sie sich, zog die Gummihandschuhe aus und warf sie auf die Spüle.

Ihr war es egal, ob er sie für exzentrisch hielt. Eigentlich kümmerte es sie überhaupt nicht, was er von ihr dachte. Sie fand, der Erfolg hatte ihn nicht zu seinem Vorteil verändert. Solange er ihr alter Freund Rafael gewesen war, zwei Jahre jünger als sie und ein Kind aus der Nachbarschaft, hatte sie ihn nett, wenn auch manchmal etwas anstrengend gefunden.

Doch über die Jahre war das Gefühl der Überlegenheit verschwunden, das sie ihm gegenüber als Kind empfunden hatte, da sie die Ältere war. Vermutlich gibt es kaum Menschen, die sich Rafael überlegen fühlen, dachte sie. Er besaß eine natürliche Autorität, sodass die Leute zu ihm aufsahen und ihn als Führungskraft akzeptierten, ohne dass er viel dazu tun musste. Aber sie zählte sich nicht zu jenen, die ihm jedes Wort unbesehen abnahmen.

Doch obwohl sie ihn oft mit seiner Herkunft und dem ehrwürdigen Namen seiner Familie aufzog, glich er nicht den anderen Farrars, die noch nach beinah mittelalterlichen Wertvorstellungen lebten. In seiner Familie wurde die Tradition hochgehalten. Das hieß, dass ein jüngerer Sohn zum Militär ging, während der älteste Sohn sich in dem Familienunternehmen, einer Investmentbank, hocharbeiten musste.

Rafaels älterer Bruder war der Tradition treu geblieben und in die Bank gegangen. Tess vermutete allerdings, dass sein Interesse an den Finanzen ausschließlich dem Geldausgeben galt. Seit Rafael von dem teuren Internat geflogen war, das die Farrars seit Generationen besucht hatten, hatte seine Familie sich sicher nicht gewundert, dass er alle weiteren Pläne der Familie für seine Zukunft ignorierte.

Er hatte ihnen nicht einmal den Gefallen getan zu scheitern. Stattdessen arbeitete er sich in überraschend kurzer Zeit bei einer großen, überregionalen Tageszeitung nach oben und machte sich schließlich als Moderator einer Sendung zum Hintergrund von tagespolitischen Themen einen Namen.

Der Beruf eines Moderators war ihm wie auf den Leib geschnitten. Er befragte seine Interviewpartner weder aggressiv noch feindselig. Das brauchte er gar nicht. Denn Rafael besaß die seltene Gabe, selbst den unwilligsten Kandidaten auf charmante Art ehrliche Antworten zu entlocken. Und er tat es mit einer solchen Leichtigkeit, dass nur wenige seine Fähigkeiten zu würdigen wussten oder ahnten, wie viel Hintergrundrecherchen dazugehörten, um das Wissen zu sammeln, aufgrund dessen er seine Fragen so locker stellte.

Er war so beliebt, dass sich viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens danach drängten, von ihm befragt zu werden. Zweifellos hielten sie sich für zu schlau, um ihm auf den Leim zu gehen und sich in einem falschen Gefühl der Sicherheit zu wiegen. Allerdings hegte Tess den Verdacht, dass nicht nur Rafaels Fähigkeiten, sondern auch sein ungeheuer fotogenes Aussehen etwas damit zu tun hatte, dass er beinah über Nacht zum Star geworden war.

„Ich kann besser denken, wenn ich dabei etwas tue“, erklärte sie. Obwohl diese Nacht eine Ausnahme von der Regel zu sein schien, denn beim bloßen Gedanken an das Dilemma, in dem sie steckte, wurde ihr beinah übel.

Rafael sah sie forschend an. „Ich verspreche dir, nicht zu sagen, dass die Dinge mit der Zeit sicher besser werden. Das tun sie vermutlich nicht.“

„Du warst immer so ein sonniger Mensch. Woher kommt denn diese depressive Note plötzlich?“

„Ich bin eben Realist. Das Leben zehrt auch an mir.“ Er entkorkte die Flasche und schenkte eine ordentliche Menge des Holunderweins in einen Becher.

„Ich bin froh, dass du vorbeigekommen bist. Mir geht es schon viel besser.“ Geistesabwesend nahm sie den Becher. „Das schmeckt ja ganz gut“, bemerkte sie überrascht und trank einen größeren Schluck.

Rafael folgte ihrem Beispiel, schüttelte sich und beschloss, sie nicht über die tatsächliche Qualität des Getränks aufzuklären. „Was ist denn los in deinem Leben, dass du dich derart aufregst?“, fragte er achtlos und schenkte nach.

„Du bist immer noch der Alte“, sagte sie scharf. Beinah freute es sie, als sie merkte, dass es ihn irritierte. „Du übertriffst einfach immer alle. Selbst deine Trauer ist größer als die der anderen.“

„Und das heißt …?“

„Dass ich in meinem einfachen Leben unmöglich so große Höhen und so schreckliche Tiefen erleben kann wie du.“

Rafael sah sie verblüfft an. „Und das alles schließt du aus meiner harmlosen Frage?“

„Ja, weil du so gefragt hast, als ob dich die Antwort nicht wirklich interessiert.“ Sie trank ihren Becher leer. „Warum sollte sie auch?“

„Ich dachte, wir wären Freunde, Tess.“

„Das war einmal. Im Alter von zehn beziehungsweise acht Jahren“, sagte sie leicht verärgert. „In letzter Zeit hast du dich hier kaum sehen lassen.“

Das fand er unfair. Ehe Tess das Baby bekommen hatte, hatten sie sich regelmäßig getroffen. Doch seit sie wieder aufs Land gezogen war, hatte er sie nur ab und an zu einem Besuch in der Stadt eingeladen. Nachdem sie einige Male abgelehnt hatte, hatte er es aufgegeben.

„Du bist damals auch aus dem Dorf weggezogen“, erinnerte er sie.

„Und wieder zurückgekehrt.“ Genau das war das Problem. Solange sie sich in der Stadt eine Karriere aufgebaut hatte, hatten sie viel gemeinsam gehabt. Und seit sich ihr Leben hauptsächlich um das Baby drehte, gab es kaum noch Gemeinsamkeiten. Sie empfand ihr Leben als erfüllend, aber sie war nicht so naiv zu glauben, dass andere sich ebenfalls für Bens Probleme beim Zahnen interessierten.

„Und wie würdest du das hier nennen?“, frage Rafael und wies auf seine mächtige Brust. „Ein Hologramm?“

„Einen Monarchen auf Besuch beim Volk.“ Mit einem spöttischen Lächeln verneigte sie sich vor ihm und merkte nicht, dass ihr weites Nachthemd ihm dabei einen großzügigen Blick auf ihre Brüste erlaubte. „Hast du deine neueste Freundin dabei, um sie mit der Familiengruft oder dem Schlossgespenst zu beeindrucken?“

Er wirkte plötzlich beinah verlegen. Tess lachte leise vor sich hin, weil sie seine Reaktion falsch auslegte.

„Ach, da liegt der Hase im Pfeffer! Sie wollte nicht mitfahren. Wenn du als frustrierter Liebhaber gekommen bist, ist mir klar, warum du hier so streitlustig hereinspaziert bist. Und dabei so sorgenvoll, als wärst du einer griechischen Tragödie entsprungen.“ Sie sah ihn forschend an. „Ich habe richtig getippt, stimmt’s?“ Solange sie über die Probleme eines anderen spekulierte, musste sie sich wenigstens nicht um ihre eigenen kümmern.

Da Rafael nun ziemlich genau wusste, was sie unter dem Nachthemd trug oder eben nicht trug, fiel es ihm noch schwerer als zuvor, nicht ständig daran zu denken. „Ist es so offensichtlich, dass sie mich hat fallen lassen?“, entgegnete er ärgerlich.

„Wie einen alten Schuh?“, neckte sie ihn. Sie hatte keine Lust auf Dramatik. Davon hatte sie schon mehr als genug mit ihrer Nichte Chloe erlebt. Sie fand es schwer, Mitgefühl mit ihm zu empfinden, wenn das Schlimmste, das ihm fehlte, ein neuer Haarschnitt war. Ärgerlich sah sie sein dichtes, glänzendes Haar an. „Man braucht keine Hellseherin zu sein, um zu merken, dass du auf einen Streit aus bist!“

Trotz seines Ärgers amüsierte sich Rafael über die Ironie der Situation. „Dann bin ich ja genau an der richtigen Adresse.“

Ebenso plötzlich, wie sie wütend geworden war, beruhigte sich Tess. Jetzt merkte sie, wie schwach sie sich fühlte. „Vielleicht hatte ich einfach keine Lust, mich von oben herab behandeln zu lassen. Sag mal, hat dich wirklich jemand abgewiesen?“

„Erheitert dich die Vorstellung?“

Es fiel ihr schwer, es zu glauben. „Du musst zugeben, dass es in gewisser Weise etwas Neues ist. Sieh es doch einfach von der positiven Seite.“

„Wenn du so weitermachst, erwürge ich dich“, warnte er sie.

„Ich zittere schon vor Angst.“

Rafael überlegte, wie es wäre, wenn er sie wirklich zum Zittern brächte, und zwar nicht, indem er ihr Angst machte.

„Vielleicht tut die Erfahrung dir sogar gut“, überlegte Tess laut. „Du hättest schon längst eine Dosis Bescheidenheit gebrauchen können.“

Zum ersten Mal in dieser Nacht betrachtete sie ihn aufmerksam. Er sah auf eine attraktive, vitale Art so aus, als führte er ein ziemlich wildes Leben. Sein harter Blick war ihr neu. War das der Preis für ein ausschweifendes Nachtleben?

„Dann erzähle ich dir jetzt mal was zum Lachen“, sagte er wütend. „Die Frau, mit der ich Kinder haben und den Rest meines Lebens verbringen wollte, hat sich entschieden, doch bei ihrem Mann zu bleiben.“

Tess sah ihn verblüfft an.

„Reicht das für deinen Geschmack? Meinst du, dass diese Erfahrung eine charakterbildende Lehre für mich sein wird?“

2. KAPITEL

„Du hast eine Beziehung mit einer verheirateten Frau angefangen?“ Tess wusste nicht, was sie daran mehr störte: die Vorstellung, dass seine Freundin verheiratet war oder dass er an Hochzeit und Kinder gedacht hatte. „Und du wolltest Babys mit ihr haben?“ Sie sah ihn an, als hätte er eine besonders abstoßende Krankheit.

„Der Vollständigkeit halber sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich von ihrer Ehe nichts wusste, bis es zu spät war.“

„Zu spät wofür?“

„Um zu verhindern, dass ich mich in sie verliebte“, antwortete er wütend.

Tess sah ihn mit großen Augen an. Ihre Lippen bebten.

Oh nein, bloß kein Mitleid, dachte er entsetzt. Schnell packte er sie am Arm und schob sie zur Tür.

„Was soll das, Rafael?“

„Ich muss mich endlich mal hinsetzen, und so, wie du aussiehst, geht es dir nicht anders.“

Sie widersprach nicht, denn plötzlich merkte sie, wie wackelig sie sich auf den Beinen fühlte. Dass es mit dem Wein zu tun haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn.

Rafael sah erleichtert, dass ihr Frühjahrsputz vor dem kleinen, eichengetäfelten Wohnzimmer haltgemacht hatte. Er schob die Katze von dem mit Chintz bezogenen Sofa und ließ sich mit einem lauten Seufzer darauf nieder. Gleich darauf sprang er wieder auf, da ihn ein unangenehm spitzes Objekt gestochen hatte. Eine schnelle Suche förderte einen Spielzeugtrecker mit drei Rädern zutage.

„Oh wie schön“, rief Tess. „Den habe ich vorhin stundenlang gesucht.“ Sie drückte das verbeulte Stück an die Brust und blieb ganz still stehen.

„Weinst du etwa?“ Rafael hatte bisher weder Tränen noch überraschende Blicke auf unverhüllte weibliche Formen mit Tess verbunden und fühlte sich verunsichert.

Sie wandte ihm schnell den Rücken zu und verstaute das Spielzeug in einer übervollen, bunt bemalten Spielzeugkiste. Dann drehte sie sich wieder um. „Und wenn es so wäre?“

„Ben geht’s gut, oder?“, fragte er beunruhigt. „Er ist doch nicht krank?“ Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass es vielleicht nicht leicht war, allein ein Baby großzuziehen. Wie alt mochte Ben jetzt sein? Zwölf Monate? Oder schon mehr?

„Ja, Ben geht es gut. Er schläft.“ Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie konnte nichts dagegen tun. Also gab sie den Versuch auf, einen ruhigen und gelassenen Eindruck zu erwecken.

„Irgendwas ist aber los. Komm, Tess, erzähl schon.“

„Ach, wozu denn? Du kannst sowieso nichts daran ändern.“

„Seit wann bist du so kleingläubig?“

„Niemand kann mir helfen“, sagte sie düster. Der Alkohol hatte mit einem Schlag die Mauern zum Einsturz gebracht, die sie um sich herum aufgebaut hatte. Ohne Rafael anzusehen, setzte sie sich neben ihn und legte den Kopf an seine breite Brust. Mehrmals hieb sie mit ihrer kleinen Faust frustriert gegen seine Schulter.

„Ich halte es nicht aus, wenn sie ihn mir wegnehmen“, sagte sie und schluchzte. „Das überlebe ich nicht.“

Trotz ihrer Verzweiflung nahm sie noch wahr, dass Rafael sich fest und muskulös anfühlte und dass er verführerisch duftete.

Autor

Kim Lawrence
<p>Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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